Hintergründe des Lernateliers (Text Hansjürg Donatsch, Sekundarlehrer und Supervisor Meilen) Das Kerngeschäft bleibt der Unterricht. Die Frage stellt sich heute immer mehr: Was ist denn das Kerngeschäft? Stoff vermitteln, Techniken und Fertigkeiten vorzeigen und einüben lassen, Fragen und Aufgaben stellen, damit die Kinder etwas Lernen können? Gute Lektionen vorbereiten und dann durchziehen, anschliessend Prüfungen schreiben lassen und den Anspruch haben, dass durch meine Korrektur die Schüler/innen wirklich etwas gelernt, nicht nur auswendig gelernt, haben? Unterrichtsforschung und das Lernatelier Aus unzähligen Versuchen und Beobachtungen haben sich einige Kriterien herauskristallisiert, die das Lernen während dem Unterricht fördern und unterstützen. Dazu gehören: • Ruhig und konzentriert arbeiten. Keine Störungen und wenig Einflüsse von aussen wie Administration, Blätter verteilen, warten, bis alle ihr Material haben etc. • Hilfreiches Material bereitstellen und wenn nötig fachliche Unterstützung durch die Begleitperson anbieten. • Aufbauende Rückmeldungen geben und eine persönliche wertschätzende Beziehung zu den Lernenden aufbauen. • Lernbegleitung legt den Schwerpunkt auf die Prozessbegleitung. Dabei sind vor allem gewünschte Schritte und Veränderungen sichtbar zu machen. Das sind die zentralen Punkte, die das Lernen ermöglichen und unterstützen. Hattie hat weltweit die Forschungsergebnisse zu Unterrichtsqualität gesammelt und ausgewertet und er hat die oben erwähnten Punkte als die wesentlichen Merkmale für guten Unterricht zusammengetragen. Im Lernatelier versuchen wir diese Merkmale so weit wie möglich umzusetzen. Während dem Lernatelier soll möglichst nicht geschwatzt werden. Ruhig und entspannt ist die Lernatmosphäre. Höchstens so leise flüstern, dass niemand gestört wird, heisst die Devise. Die Lernenden können ihr Thema, ihre Arbeit selbst auswählen und sich dafür ihr Material zusammensuchen oder noch besser in die Lernatelier-Stunden mitnehmen. Ihre Ziele, die sie in das Lernjournal schreiben und das eigene Verhalten während der Lernatelierzeit wird vom Begleiter, der Begleitern schriftlich und aufbauend kommentiert. Oft entsteht ein schriftlicher Dialog. Der Lernende wird auf seinem Lernweg begleitet, durch persönliche Rückmeldungen. Dabei konzentrieren sich die Begleiter auf unterstützende und wertschätzende Formulierungen, die auch die Beziehung zu den Lernenden fördern. Einige Punkte sollen nun ein wenig ausführlicher beschrieben werden, weil sie durch die neueren Forschungen und durch die langjährigen Erfahrungen ins Zentrum der Unterrichtsentwicklung gerückt sind. Spieglein, Spieglein an der Wand, ..... Neurologie (Spiegelneuronen) und Lernatelier Seit der Entdeckung der Spiegelneuronen wissen wir, dass wir Menschen schnell und zuverlässig nachahmen. Die Mutter öffnet ohne zu merken den Mund, wenn sie dem Kleinkind den Löffel voll mit Brei in das offene Mündchen steckt. In die lachende Menge, nach einem guten Witz, stimmen wir ein, ohne den Witz verstanden zu haben. Oder wenn etwas Schlimmes passiert ist, trauern wir mit, wenn wir mitten in der trauernden Gruppe stehen. (Bauer; Warum ich fühle, was du fühlst) So übernehmen die Schüler die Stille für das Schreiben der Ziele und die notwendige Ruhe während dem Arbeiten in der Lernatelierzeit. Auch die schriftlichen Rückmeldungen, die Anregungen von den Lernbegleitern sollen als Modell wirken. Wir Lehrpersonen sind viel mehr Modell, als wir bis anhin wahrhaben wollten. So wie wir mit den Schüler/innen umgehen hat Vorbildcharakter. Schreiben wir Kommentare, die aufbauend sind, übernehmen das die Schüler/innen. Bewältigen Schwierigkeiten und Probleme mit bestimmten Haltungen und Techniken, werden das die Schüler/innen auch übernehmen. Das alte Sprichwort von den Vorbildern ist aktueller denn je. Im Lernatelier versuchen die Begleiter/innen Vorbild zu sein. Sie sind ruhig und schweigsam. Sie suchen neue Formen von Kommunikation wie Schreiben, Symbole, Pantomime. Auch die Kommentare und die Anregungen im Lernjournal sollen vorbildlich wirken. Wenn ich als Begleiter ganze Sätze schreibe, aufbauende und anregende Fragen stelle, wird der Schüler eher neugierig. Wenn ich mit den Schüler/innen am Anfang persönlich Kontakt aufnehme und ich ihnen zeige, dass sie so wie sie sind ganz tolle junge Menschen sind, werden sie aktiv. Wenn die Hormone verrückt spielen Während der Pubertät werden unsere Schüler/innen von den Hormonen Testosteron, Progesteron, Oestrogen etc. überschwemmt. Sie suchen neue Werte, loten Grenzen aus, setzen sich in Szene und versuchen alles, um Halt und Aufmerksamkeit zu erlangen. „Heranwachsende müssten also in der Schule ermutigt, eingeladen, inspiriert werden, ihrer angeborenen Entdeckerfreude und Gestaltungslust nachzugehen. Nur so können all jene Kompetenzen erfahrungsabhängig in ihrem präfrontalen Cortex verankert werden.“ (Hüther; Männer 2009) Im Lernatelier ermuntern wir die Schüler/innen eigenen Themen und eigenen Fragen nachzugehen. Sie sollen ausprobieren und persönliche Lernerfahrungen machen. Auch während der Woche verweisen bei spannenden Aufgaben und Themen auf das Atelier: „Das wär doch ein Atelierthema.“ Auch Rituale geben Halt und Struktur Vor allem während der Pubertät, wenn die Werte neu erfunden und ausprobiert werden, wenn die Beziehung zur Aussenwelt wichtiger wird als die Verarbeitung der eigenen Erfahrungen und Erlebnisse sind feste Strukturen und Rituale eine Hilfe. Im Lernatelier richten wir feste Abläufe und immer wiederkehrende Strukturen ein. Wir sitzen am Anfang der Doppellektion im Kreis und warten, bis alle ganz ruhig sind und fragen pantomimisch, ob alle wissen, was sie heute tun möchten. Jede und jeder hat dann seinen eigenen Arbeitspatz. Dort schreibt er zuerst seine Vorhaben und seine Ziele auf, bevor die Arbeit beginnt. Nach ungefähr 60 Minuten, bei uns dauert die Lernatelierzeit zwei Lektionen zu je 45 Minuten, versammeln wir uns wieder im Kreis und besprechen die Erfahrungen gemeinsam, jetzt wieder in normaler Sprachlautstärke. Neugierde, der Motor jeglichen Lernens Verschiedene Autoren weisen auf die Wichtigkeit der Neugierde hin. Leider verlieren zu viele Menschen während ihrer Kindheit durch die zu vielen Angebote, durch die Ueberflutung durch die Medien und durch die zu grosse Vielfalt an Vorschlägen in der Familie, in der Schule und in der Freizeit ihre spontane und natürliche Neugierde. Leider erleben wir, dass ein grösserer Teil der Sekundarschüler auf Anweisungen und auf Erklärungen warten. Sie verstummen, wenn sie selbst gefragt sind, wenn sie eigene Themen oder eigene Fragen notieren sollen. Die Faktoren für ein Lernen, das auf eigener Erfahrung beruht und nachhaltig ist wird gefördert, wenn folgende Bedingungen berücksichtig werden: „Es schliesst persönliches Engagement ein – die ganze Person steht mit den Gefühlen und mit den kognitiven Aspekten im Lernvorgang. Es ist selbst-initiiert – sogar dann, wenn der Antrieb von aussen herrührt. Es durchdringt den ganzen Menschen – ändert das Verhalten, die Einstellung. Es wird vom Lernenden selbst bewertet. Sein wesentliches Merkmal ist Sinn.“ (Rogers; Lernen in Freiheit) Diese anspruchsvollen Faktoren versuchen die Lernbegleiter im Atelier zu berücksichtigen. Sie wissen, dass nur ein entspanntes und möglichst wertfreies Klima, zu eigenständigem und selbstverantwortlichen Lernen führen kann. Neugierde entsteht erst, wenn sich ein Mensch verstanden und nicht bewertet fühlt, wenn er merkt: hier darf ich so sein, wie ich bin, hier werde ich geachtet und geschätzt mit all meinen Stärken und Schwächen und hier wird mich niemand beoder gar verurteilen. Durch die freie Themenwahl und dank der von Noten befreiten Lektionen kann ein solches Lernklima ermöglicht werden. Auch bemühen sich die Begleiter ehrliche und auf Beobachtungen beruhende Rückmeldung zu schreiben. Rückmeldungen, die anregen, unterstützen, bewusst machen oder / und die Beziehung fördern. Lernen wird vom Lernenden selbst bewertet Bewertungen von anderen können höchstens eine Richtschnur sein. Echte Bewertung, die auch zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beiträgt, ist die Selbst-Bewertung. Wer sich realistisch einschätzen und bewerten kann, weiss, was er kann und wo er steht. T. Gordon und M. Rosenberg weisen uns immer wieder darauf hin, wie Lob und Tadel einerseits die Beziehungen stören und andererseits die Jugendlichen entweder abwerten oder unselbständig machen. Im Lernatelier werden die Schüler/innen eingeladen und angeleitet, sich selbst zu bewerten. Sie sollen ihr Arbeitsverhalten, ihre Lernschritte oder ihr Benehmen und Verhalten während der Atelierzeit überdenken und zu bewerten. Wie konnte ich mich heute auf mein Thema einlassen? Wie intensiv habe ich heute gelernt? Konnte ich heute für mich etwas Neues erleben, erfahren oder herausfinden? Lernen von den andern. Zuhören und für sich selbst lernen. Die Reflexion ist eine Schlüsselkompetenz in der Entwicklung für uns Menschen und für das aktive Lernen. Die beiden Pädagogen X. Roth und H. Berner weisen in ihren Schriften auf die zentrale Kompetenz der Reflexion hin. Wer seine Arbeit, sein Verhalten und seine Leistungen selbst überblicken und beschreiben kann, sozusagen aus einer Aussensicht noch einmal schauen kann, was ich gemacht habe, beginnt zu lernen und sich zu entwickeln. Im Lernatelier, besprechen wir die letzten 20 Minuten die eigene Arbeit. Die Schülerinnen und Schüler besprechen und erzählen, was sie erlebt haben, wie sie gearbeitet haben, was ihnen Probleme gemacht hat und woran sie noch arbeiten möchten. Wir als Lernbegleiter können zentrale Themen eingeben: wer kann in eine Arbeit abtauchen und eine Stunde nichts mehr hören und sehen ausser seine Arbeit? Wie findet ihr neue Themen? Wie entstehen neue Ideen für die Arbeit? Wenn es den Lernbegleitern gelingt, aktuelle Themen zu erspüren und anzusprechen wachsen spannende und lernintensive Momente. Unser Hirn lernt immer, es kann gar nicht anders Verschiedene Hirnforscher (M.Spitzer, J. Bauer, G. Hüther, M. Lux) erklären den Aufbau und die Vernetzung in unserem Gehirn. Alle sind sich einig, dass unser Gehirn neue Informationen an Bekanntem anknüpft, dass Informationen zuerst beurteilt werden und dann verknüpft werden. Auch ist bekannt, wie wichtig die Beziehung, die Gefühle und die Möglichkeit der Aufnahme von neuen Informationen sind. „... was sie mehr als alles andere brauchen, um sich mit anderen Menschen und dem, was sie in der Welt erleben, in Beziehung zu setzen: Vertrauen. Nichts ist in der Lage, das Durcheinander im Kopf besser aufzulösen und die zum Lernen erforderliche Offenheit und innere Ruhe wieder herzustellen, als dieses Gefühl von Vertrauen.“ (Hüther, in Lernen und Gehirn) Alle Autoren, die sich mit der Gehirnforschung auseinandersetzen, stellen immer wieder die Umgebung, das sich Wohlfühlen, das ehrliche, entspannte Klima für das Lernen ins Zentrum. Im Lernatelier versuchen die Begleitpersonen durch wertschätzende Rückmeldungen, durch eine offene Kontaktaufnahme am Anfang der Lektionen und durch neugieriges und Anteil nehmendes Verhalten das Vertrauen in die einzelnen Schüler/innen und das Lernklima im Klassenzimmer zu fördern. Das A und O scheint die Beziehung Und wenn das Vertrauen und die entspannte, nicht laufend bewertende und belehrende Umgebung eine so zentrale Rolle spielt, damit Neugierde wachsen kann, damit die Bereitschaft zum Lernen und zum Ueben wachsen kann, lohnt sich die Frage: wie können echte und ehrliche Beziehungen angeregt werden? Wie kann ich mit den Schülerinnen und Schülern umgehen, damit sie neugierig und „lernbereit“ werden? Mögliche Antworten zeigt uns C.R. Rogers auf. Damit ehrliche und tragende Beziehungen möglich werden, sind neben einer positiven und humanen Grundhaltung folgende Bedingen hilfreich: Kongruenz Das erste Element könnte man als Echtheit, Unverfälschtheit oder Kongruenz bezeichnen. Je mehr die Lehrerin, der Lehrer in der Beziehung zu sich selbst ist, das heisst kein professionelles Gehabe und keine persönliche Fassade zur Schau trägt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Schülerin, der Schüler äussern und auf konstruktive Weise wachsen wird. Das bedeutet, dass der Lehrer offen die Gefühle und Einstellungen darbietet, die ihn im Augenblick bewegen. Der Begriff der „Transparenz“ wird diesem Sachverhalt gerecht: Der Lehrer macht sich gegenüber dem Schüler transparent; der Schüler kann ohne weiteres sehen, was der Lehrer in der Beziehung ist; der Schüler erlebt kein zurückhalten seitens des Lehrers. Was den Lehrer betrifft, so ist das, was er oder sie erlebt, dem Bewusstsein zugänglich, kann in der Beziehung gelebt und, falls angebracht, kommuniziert werden. Es besteht also eine genaue Übereinstimmung oder Kongruenz zwischen dem körperlichen Empfinden, dem Gewahrsein und den Äusserungen gegenüber den Schülern. Akzeptanz Die zweite Voraussetzung für ein Klima, das Veränderung fördert, ist das Akzeptieren, die Anteilnahme oder Wertschätzung - das, was ich als „bedingungslose positive Zuwendung“ bezeichnet habe. Wenn der Lehrer eine positive, akzeptierende Einstellung gegenüber dem erlebt, was der Schüler in diesem Augenblick ist, dann wird es mit grösserer Wahrscheinlichkeit zu therapeutischer Bewegung oder Veränderung kommen. Der Lehrer ist gewillt, den Schüler sein jeweiliges momentanes Gefühl ausleben zu lassen – Verwirrung, Groll, Furcht, Zorn, Mut, Liebe oder Stolz. Eine solche Zuwendung der Lehrperson ist nicht besitzergreifend. Der Lehrer bringt dem Schüler eine totale, keine an Bedingungen geknüpfte Wertschätzung entgegen. Empathie Der dritte förderliche Aspekt einer solchen Beziehung ist das einfühlsame Verstehen. Das bedeutet, dass der Lehrer genau die Gefühle und persönlichen Bedeutungen spürt, die der Schüler erlebt, und dass er dieses Verstehen dem Schüler mitteilt. Unter optimalen Umständen ist der Lehrer so sehr in der privaten Welt des anderen drinnen, dass er oder sie nicht nur die Bedeutungen klären kann, deren sich der Schüler bewusst ist, sondern auch jene knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Diese Art des sensiblen aktiven Zuhörens ist äusserst selten in unserem Leben. Wir glauben zuzuhören, aber es geschieht sehr selten mit wirklichem Verständnis und echter Einfühlung. Dennoch ist diese ganz besondere Art des Zuhörens eine der mächtigsten Kräfte der Veränderung die ich kenne.