Gudrun Aker Nun werden wir also evangelisch. Reformationszeit – Umbruchszeit im Raum Vaihingen (Text des Vortrags vom 20. 1. 2016 im evangelischen Gemeindehaus Vaihingen) Die Jahrzehnte um das Jahr 1500 sind eine Zeit des Aufbruchs. Amerika wird entdeckt, der Seeweg nach Indien gefunden. Die Erfindung des Buchdrucks revolutioniert die Verbreitung von Wissen und Informationen. Sie ist in ihrer Wirkung nur vergleichbar mit dem Internet. Autoritäten und Dogmen werden in Frage gestellt; und mit der Reformation beginnt eine regelrechte Bildungsexplosion. Wir sehen in dieser Epoche vor allem den Wandel. Das Mittelalter geht zu Ende, die frühe Neuzeit beginnt. Die Menschen damals aber sagten nicht: Wir stehen an der Wende zur Neuzeit. Sie waren davon überzeugt, in der Endzeit zu leben. Vieles deutete scheinbar darauf hin. Die Auswirkungen eines Klimawandels zum Beispiel. Im Mittelalter waren die klimatischen Bedingungen in Europa Jahrhunderte lang sehr günstig gewesen. Die Bevölkerung wuchs, neue Siedlungsgebiete wurden erschlossen. Doch seit dem 14. Jahrhundert war es damit vorbei. Es begann die so genannte Kleine Eiszeit. Die Winter waren kalt, die Sommer häufig kühl und nass mit Unwettern und Überschwemmungen. Missernten und Hungersnöte waren die Folge. Dazu kamen immer wieder verheerende Seuchenzeuge. Die Pocken oder die Pest, gegen die es kein Heilmittel gab, forderten regelmäßig viele Todesopfer. Seuchen, Naturkatastrophen und Kriege, aber auch wirtschaftliche und soziale Umbrüche und Krisen wurden als Auflösungserscheinungen der gottgegebenen Ordnung gedeutet, als Vorzeichen für den nahen Untergang der Welt. Wiesen nicht wundersame Himmelserscheinungen wie Kometen oder Sonnen- und Mondfinsternisse auf den Anbruch der letzten Tage hin? Formierten sich an den Grenzen des christlichen Abendlandes nicht schon längst die Horden des Antichrist − die Türken auf dem Balkan und die Sarazenen im Heiligen Land? Das Leben war unsicher und gefährdet. Überall lauerte der Tod. Als schauerlich grinsendes Knochengerippe wird er in der zeitgenössischen Kunst dargestellt. Er war allgegenwärtig und unbestechlich und raffte alle dahin: Alte und Junge, Reiche und Arme, Herren und Knechte. Niemals konnte man vor ihm sicher sein. Schönheit und Jugend waren vergänglich und endeten in Verwesung und Gestank. Weil der Tod alltäglich war, wurde er nicht tabuisiert und verdrängt. Sterben war ein zentrales Ereignis im Leben. Doch was kam danach? Die Menschen quälte die Furcht vor dem Fegefeuer. Wie konnte man Rettung finden? Wie den drohenden Höllenqualen entgehen? Was musste man tun, um sich einen guten Platz im Jenseits zu sichern? Durch teuer bezahlte Seelenmessen, durch Almosen, wohltätige Stiftungen und Wallfahrten versuchten die Gläubigen, Heilsgewissheit zu erlangen. Eine Verkürzung der Fegefeuerpein versprach der von der Kirche gewährte Ablass, den man für gute Werke und fromme Übungen erhielt. Man konnte ihn aber auch käuflich erwerben. Der schwunghafte Handel mit Ablassbriefen war einer der Missstände, an denen sich die Kritik Martin Luthers entzünden sollte. Die einfachen Leute betrachteten den Ablass als einen Ersatz für Reue und Buße und glaubten, dass sie sich durch den Kauf eines Ablassbriefes von aller Schuld befreien könnten. Dass der Ablass nur die Restbuße im Fegefeuer für bereute und in der Beichte vergebene Sünden verkürzen sollte, wurde ihnen von den geschäftstüchtigen Ablasshändlern nicht gesagt.1 Die Volksfrömmigkeit war geprägt vom Heiligenkult und Wunderglauben. Die Heiligen wurden ursprünglich nur als Fürsprecher und Vermittler verehrt, aber nicht angebetet. Inzwischen jedoch hatten sie einen nahezu göttlichen Status erhalten. Man rief sie an gegen Unwetter und Mäuseplage, bat sie um Schutz vor Krankheit, um eine glückliche Geburt, um eine reiche Ernte oder um den guten Ausgang einer Unternehmung. Auch die Marienverehrung hatte im Laufe des Mittelalters beständig zugenommen und im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht. Eng mit dem Marien- und Heiligenkult verbunden war das Wallfahrtswesen. Monatelange Pilgerreisen nach Jerusalem oder auf dem Jakobsweg nach Spanien konnten sich nur Angehörige des Adels und der städtischen Oberschichten leisten. Alle anderen waren auf Wallfahrtsstätten in der näheren Umgebung angewiesen. Im Raum Vaihingen gab es mehrere Wallfahrtsorte. Bei Enzweihingen wurde an der Straße nach Hochdorf ein in einen Birnbaum eingewachsenes Marienbild verehrt, dem man wundertätige Wirkung zuschrieb. Beim Abriss der Marienkapelle Mitte des 16. Jahrhunderts fand man dort zahllose aus Wachs gebildete Gliedmaßen, die Heilung suchende Pilger zurück gelassen hatten. Wallfahrten bestanden auch zu einer Johanneskapelle beim Leinfelder Hof und zu den Feldkapellen oder Feldkirchen bei Nussdorf, Unterriexingen und Sersheim; außerdem zum Augustinerinnenkloster auf dem Baiselsberg bei Horrheim und zur Pfarrkirche in Ensingen, wo jährlich am Veitstag, dem 15. Juni, eine Tanz- und Springprozession stattfand. Der Wunsch nach im Alltag gelebter Frömmigkeit fand seinen Ausdruck auch in der Gründung von Bruderschaften. Ihr Zweck war die Sorge für das Seelenheil ihrer lebenden 1 Der Zustand der römischen Kirche vor der Reformation lässt sich nicht vergleichen mit der katholischen Kirche in nachreformatorischer Zeit. Das ist hier ausdrücklich zu betonen! Die katholische Kirche hat im Zuge der Gegenreformation einen tiefgreifenden Reformprozess durchlaufen und die von den Reformatoren kritisierten Missstände überwunden. Damals aber befand sich das Papsttum in einer schweren Krise. Kirchenführer lebten wie weltliche Fürsten und kirchliche Ämter wurden an Verwandte und Günstlinge vergeben oder an den Meistbietenden verkauft. und verstorbenen Mitglieder. In Vaihingen gab es an der Wende zur Neuzeit zwei Bruderschaften. 1480 wurde eine Marienbruderschaft gegründet, die auch Frauen offen stand. Zu den Aufgaben ihrer Mitglieder gehörte es u. a., in der Marienkirche ständig eine brennende Wachskerze zu unterhalten. 1519 folgte die Gründung der Sebastianbruderschaft. Ihr Schutzpatron war der Heilige der Schützen, er wurde aber auch als Nothelfer gegen die Pest verehrt. In der Marienkirche stand ein Sebastianaltar. Einmal im Jahr feierten die Mitglieder der Bruderschaften aufwendige Gottesdienste und spendeten für die Armen der Stadt. Wer alle Verpflichtungen gewissenhaft befolgte, durfte jeweils mit einem Ablass von 40 Tagen rechnen. Die Vaihinger Marien- oder Frauenkirche ist die heutige Stadtkirche. Sie wurde im 13. Jahrhundert gegründet, war zunächst aber nur eine sehr große Kapelle. Pfarrkirche der Stadt war zunächst noch die viel ältere Peterskirche, die nach dem Bau der Stadtmauer außerhalb der Ummauerung lag. Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Pfarrechte von der Peterskirche auf die innerstädtische Frauenkirche übertragen. Neben dem Hauptaltar, der dem Schutzpatron der Kirche geweiht war, gab es etliche Seitenaltäre, die wohlhabende Bürger gestiftet hatten. Diese Heiligenaltäre waren häufig mit einer Kaplaneipfründe versehen. Zu einer solchen Pfründe, die dem Lebensunterhalt des Kaplans diente, gehörten Grundbesitz, ein Wohnhaus in der Stadt und Einkünfte aus Liegenschaften. Dafür musste er zwei- oder dreimal in der Woche auf seinem Altar eine Frühmesse lesen. Manch einer betrachtete seine Pfründe allerdings als reine Geldquelle und war gar nicht anwesend. Zum Messelesen stellte er für einen kargen Lohn einen Hilfsgeistlichen ein, der noch keine eigene Pfründe erhalten hatte. An den beiden Vaihinger Kirchen gab es vor der Reformation neben der Pfarrpfründe zwölf Kaplaneipfründen. Dazu kamen zwei Kaplaneipfründen am Spital. Die Kirchherrschaft über die Stadt Vaihingen und die Dörfer Enzweihingen und Riet lag beim Deutschen Orden. Er war einer der großen Ritterorden, die zur Zeit der Kreuzzüge gegründet wurden, und hatte seinen Hauptsitz inzwischen in Mergentheim. Der Orden verlieh alle Pfründen und setzte den Pfarrer und die Kapläne ein. Etliche Kapläne waren Vaihinger Bürgersöhne. Sie hatten in der Regel nicht Theologie studiert, sondern bis zum Alter von etwa 15 oder 16 Jahren die hiesige Lateinschule besucht und anschließend ein zwei- bis dreijähriges philosophisches Grundstudium an einer Universität absolviert. Auch ein Pfarrer musste nicht Theologe sein. Trotz der vielen Kleriker stand es daher um die geistliche Versorgung der Gläubigen nicht gut. Die lateinischen Messen verstanden sie nicht und deutsche Predigten hörten sie nur selten. Der Rat der Stadt stellte daher einen Prädikanten ein, der teils aus der Stadtkasse, teils von der Sebastianbruderschaft besoldet wurde. Er wird wohl wie die Prädikanten anderer südwestdeutscher Städte Theologe gewesen sein. Die Prädikantengottesdienste waren Wortgottesdienste in deutscher Sprache, bei denen die Predigt und die Auslegung der Bibel im Mittelpunkt standen. Vor drei Jahren haben wir hier in Vaihingen ein Jubiläum gefeiert. 500 Jahre Stadtkirche oder besser gesagt: Stadtkirchenumbau, denn am 2. August 1513 wurde der Grundstein für die Vergrößerung der Kirche gelegt. Aus dem anfangs unbedeutenden Städtchen Vaihingen war längst eine blühende württembergische Amtsstadt geworden. Trotz regelmäßiger Pestwellen hatte sie im 15. Jahrhundert ein starkes Bevölkerungswachstum und eine rege Bautätigkeit erlebt. Auch im 16. Jahrhundert nahm die Bevölkerung stetig zu. Um 1470 zählte Vaihingen etwa 1.200 Einwohner, im Jahr 1545 rund 1.600. Mitten durch die Stadt verlief ein bedeutender europäischer Fernhandelsweg, der von Oberitalien über Augsburg und Ulm bis in die Niederlande führte. Da die Kaufleute hinter der Grenzstadt Vaihingen das Herzogtum Württemberg verließen, befand sich hier eine ertragreiche Zollstation. Die Grundlage der städtischen Wirtschaft waren freilich wie in allen württembergischen Landstädten Ackerbau und Weinbau. Es gab aber auch eine zünftige Handwerkerschaft und neben vielen armen Leuten eine selbstbewusste, wohlhabende Oberschicht. Man konnte sich eine Vergrößerung der Marienkirche leisten und ihren Umbau im modernen spätgotischen Stil. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, lautete das Motto des Jubiläumsjahres. Als die Vaihinger ihre Kirche vergrößerten, um Platz für die vielen Heiligenaltäre zu schaffen, wurde die Freiheit eines Christenmenschen von Martin Luther wieder entdeckt. Luther verstand diese Freiheit als geistliche Freiheit. Wir sind durch den Kreuztod Christi frei geworden von Sünde und Schuld. Unsere Gerechtigkeit können wir uns nicht selbst verdienen. Was auch immer wir tun, es reicht niemals aus. Es rechtfertigt uns nicht. Doch Gott rechnet uns die Gerechtigkeit Christi zu. Wenn wir das Geschenk der Gnade im Glauben annehmen, werden wir gerecht. Wir müssen keine fromme Leistung erbringen. Allein Christus, allein die Gnade, allein der Glaube machen frei. Luther wandte sich heftig gegen alle, die aus der Freiheit eines Christenmenschen auch politische Forderungen ableiteten. Himmlische und irdische Herrschaft durften nicht vermischt werden. Auch der freie Christenmensch musste der von Gott gesetzten Obrigkeit gehorchen. Luther hatte daher kein Verständnis für die Bauern, die gegen die Obrigkeit rebellierten. Die ländliche Bevölkerung war schon lange unzufrieden. Sie stöhnte über eine hohe Abgabenlast und vielfältige Frondienste. Ihre politischen Mitwirkungsmöglichkeiten waren gering, und durch eine Reihe von Missernten war ihre ohnehin schwierige wirtschaftliche Lage noch schlechter geworden. Als der verschwendungssüchtige Herzog Ulrich von Württemberg auch noch eine neue Verbrauchssteuer auf Lebensmittel erhob, brach im Mai 1514 im Remstal eine Revolte aus. Der Aufstand des „Armen Konrad“ erfasste bald das ganze Land. Er richtete sich nicht nur gegen die herzogliche Regierung, sondern auch gegen die städtische Oberschicht, die so genannte Ehrbarkeit. Auch in Vaihingen fand er einzelne Anhänger. Zu einem organisierten Widerstand und blutigen Auseinandersetzungen kam es hier aber offenbar nicht. Mit Hilfe der städtischen Eliten konnte Ulrich die Revolte niederschlagen. Dafür musste er der württembergischen Ehrbarkeit im Tübinger Vertrag im Juli 1514 weitgehende Mitspracherechte einräumen. Die Bauern profitierten nur vom Recht auf freien Zug, das für alle württembergischen Untertanen galt. Das heißt sie durften von nun an ihren Wohnort selbst bestimmen. Im Übrigen blieb für sie alles beim Alten. Herzog Ulrich war in den ersten 16 Jahren seiner Regierungszeit ein schlechter und gewalttätiger Herrscher. Selbst vor einem Mord an seinem Stallmeister Hans von Hutten schreckte er nicht zurück. Durch seine Misswirtschaft trieb er das Land an den Rand des Ruins. Beamte, die ihn kritisierten, ließ er als Hochverräter zum Tod verurteilen. Als er im Frühjahr 1519 die freie Reichsstadt Reutlingen überfiel, marschierte der Schwäbische Bund2 in Württemberg ein. Der Bund, aus dem Ulrich ausgetreten war, setzte den rechtsbrüchigen Herzog ab. Ulrich musste fliehen. Vaihingen ergab sich den Bundestruppen im April 1519. Monatelang bis weit in den Spätherbst hinein lagen die Soldaten in der Stadt und mussten von der Bevölkerung unterhalten werden. Der Schwäbische Bund trat das Herzogtum Württemberg 1520 an den Kaiser ab, der es seinem Bruder Erzherzog Ferdinand von Österreich übergab. So geriet Vaihingen unter die Herrschaft der Habsburger. Bürgermeister, Gericht und Rat der Stadt, die schwer unter Ulrichs Misswirtschaft gelitten hatten, weinten dem Herzog keine Träne nach, denn die österreichischen Beamten brachten Ordnung in die Landesverwaltung und sanierten die zerrütteten Staatsfinanzen. Nur der Vaihinger Untervogt Philipp Syblin, der vorübergehend verhaftet wurde, verließ Württemberg und begab sich zu Ulrich ins Exil. Gegen die Parteigänger des vertriebenen Herzogs gingen die Habsburger mit großer Härte vor, ebenso gegen alle Anhänger der Reformation. Geistliche, die mit Luther sympathisierten, wurden abgesetzt und bestraft.3 Manche Württemberger, die in der Nähe einer bereits evangelisch gewordenen freien Reichsstadt lebten, besuchten dort heimlich die Gottesdienste, etwa in Reutlingen, Esslingen, Ulm oder Heilbronn. Auch in Vaihingen sickerte reformatorisches Gedankengut ein. Ein ehemaliger Mönch, der den evangelischen Glauben angenommen und geheiratet hatte, wurde von der habsburgischen Regierung samt seiner Frau aus Württemberg ausgewiesen. Andere Anhänger der lutherischen Lehre wurden in Vaihingen in den Turm gelegt und erst nach ihrer Rückkehr in den Schoß der römischen Kirche wieder auf freien Fuß gesetzt. 2 Der Schwäbische Bund war ein Zusammenschluss süddeutscher Landesfürsten, Reichsritter und freier Reichsstädte zum Schutz des Landfriedens in Schwaben. 3 Zum Beispiel der Augustinermönch Johann Mantel, der in der Leonhardskirche in Stuttgart reformatorische Predigten hielt. 1523 wurde er gefangen genommen und eingesperrt. Weil die Stuttgarter Bevölkerung versuchte, ihn zu befreien, wurde er schließlich außer Landes geschafft. Verfolgt wurden auch die Täufer oder Wiedertäufer. Sie waren eine religiöse Randgruppe, denen die Reformation nicht weit genug ging. Ihren Namen erhielten sie, weil sie die Kindertaufe für ungültig erklärten und Erwachsene noch einmal tauften. Die lutherische Rechtfertigungslehre, nach der der Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt ist und zu seiner Rettung der göttlichen Gnade bedarf, lehnten sie ab. In der Welt der Täufer gab es keine Gnade. Nur ein gesetzliches, bußfertiges und sündenfreies Leben sollte vor der Verdammnis bewahren. Auf dem Reichstag von Speyer wurde 1529 die Todesstrafe für alle Anhänger der Wiedertaufe verfügt. Sie sollten als Ketzer auf dem Scheiterhaufen sterben. In Vaihingen wurde 1531 mindestens ein Todesurteil an einem Täuferführer aus Sindelfingen vollstreckt. Seine schwangere Ehefrau wurde begnadigt, musste das Herzogtum Württemberg aber verlassen. Andere Mitglieder der Sekte, die hier wegen ihres Glaubens ins Gefängnis kamen, widerriefen ihr Bekenntnis und erhielten ihre Freiheit zurück. Bei ihrer Entlassung mussten sie schwören, sich in Zukunft treu zum alten Glauben halten. Wer einen solchen Urfehdeschwur brach, musste mit einer harten Strafe rechnen, mindestens aber mit dem Landesverweis. Zu Beginn des Jahres 1525 versuchte Ulrich, nach Württemberg zurück zu kehren. Er nahm Balingen ein, konnte seine Schweizer Söldner aber nicht bezahlen und musste seinen Vorstoß abbrechen. Kurz darauf erhoben sich die Bauern erneut. Sie forderten eine Verringerung der Abgaben und Frondienste, die Abschaffung der Leibeigenschaft, freie Jagd, freien Fischfang und Holzeinschlag − und das Recht, den evangelischen Glauben anzunehmen. Der Bauernkrieg in Württemberg begann mit einem blutigen Fanal. Am Ostermontag 1525 brachten die Aufständischen in Weinsberg 22 Adelige und Reitknechte um. Auch der Vaihinger Obervogt Konrad Schenk von Winterstetten wurde durch die Spieße gejagt, bis er tot zusammenbrach. Dieser grausame Mord rief in Vaihingen großes Entsetzen hervor. Das Stadtregiment sandte einen Hilferuf nach Stuttgart und bat die österreichischen Beamten um Schutz vor dem Bauernheer, das bereits über Lauffen, Bönnigheim und Horrheim auf Vaihingen zu zog. Horrheim stand in kirchlicher Hinsicht unter der Herrschaft des Domstifts Speyer. Das Stift verlieh die Pfarrpfründe und die drei Kaplaneipfründen und verfügte über Güter und Einkünfte im Ort. Den Besitz des Domstifts verwaltete der Horrheimer Bürger Caspar Reich. Die Bauern forderten ihn auf, Keller und Scheuer des Domstifts zu öffnen und die Vorräte heraus zu geben. Als er sich weigerte, schlugen sie ihn tot. Sein Schicksal erschreckte den Verwalter des Deutschen Ordens in Vaihingen und den Herrenalber Klosterpfleger offenbar so sehr, dass die beiden keinen Widerstand leisteten, als die Bauern am nächsten Tag die Stadt Vaihingen einnahmen und die Vorräte plünderten. Einzelne Vaihinger Bürger schlossen sich dem Bauernheer an. Es war inzwischen auf 8000 Mann angewachsen und zog schon am folgenden Tag über Enzweihingen und Schwieberdingen weiter. Am 12. Mai wurde es in der Schlacht bei Böblingen von den Truppen des Schwäbischen Bundes vernichtend geschlagen. Wer am Leben blieb und nicht fliehen konnte, wurde ins Gefängnis gesperrt. Der Bauernkrieg in Württemberg war damit schon nach einem Monat vorbei. Und was macht Luther? Als er hört, dass sich die Bauern in Süddeutschland und Thüringen erhoben haben, verfasst er seine Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“. Sein Urteil ist hart: Wer sich zu Teufelswerk hat verführen lassen, hat sein Leben verwirkt und muss von der Obrigkeit bestraft werden. In Vaihingen fanden etliche Prozesse gegen Teilnehmer des Bauernkrieges statt. Die meisten kamen gegen einen Urfehdeschwur wieder frei. Dabei mussten sie geloben, in Zukunft keine Waffen mehr zu tragen, keine Wirtshäuser und Versammlungen zu besuchen und der Obrigkeit gehorsam zu sein. Wer sich besonders hervor getan hatte, wurde an den Pranger gestellt, mit Ruten geschlagen und des Landes verwiesen. Geistliche, die es mit den Bauern gehalten hatten, wurden von den Schergen des Schwäbischen Bundes gejagt und umgebracht. Das gleiche Schicksal drohte ihnen, wenn sie als Parteigänger des vertriebenen Herzogs galten oder sich zur Reformation bekannten. Vor allem einer der Verfolger hat sich in der aufgeheizten Stimmung nach dem Bauernkrieg einen zweifelhaften Ruhm erworben: Berthold Aichelin, dem zwischen 1525 und 1535 rund 40 reformatorisch gesinnte Pfarrer, Kapläne oder Prädikanten zum Opfer fielen. Dabei spielen sich dramatische Szenen ab. In unserer Gegend lyncht er den Horrheimer Geistlichen Melchior Reich, der sowohl als Anhänger der Reformation wie Herzogs Ulrichs gilt. Aichelin zerrt ihn aus der Clemenskirche und knüpft ihn an einem Baum an der Landstraße auf. Doch der Ast ist zu schwach. Er bricht. Es kommt zu einem Tumult. Reich nutzt die Gunst der Stunde und flieht; versteckt sich in den Wäldern. Aber es nützt ihm nichts. Er wird gesucht und gefunden und ein zweites Mal aufgehängt. Diesmal mit Erfolg. Die Herrschaft der Habsburger über Württemberg endete nach 14 Jahren im Mai 1534. Ulrich hatte im Exil den evangelischen Glauben angenommen. Dabei spielten sicher auch politische Gründe eine Rolle, denn Unterstützung gegen den katholischen Kaiser ließ sich nur im Lager der evangelischen Fürsten finden. Ulrich gewann den Landgrafen Philipp von Hessen als Verbündeten. In einer Schlacht bei Lauffen fügte er mit Philipps militärischer Hilfe den Österreichern eine entscheidende Niederlage zu. Schon drei Tage später zog er als Sieger in Stuttgart ein. Am 16. Mai 1534 wurde dort der erste evangelische Gottesdienst gefeiert, dessen Schlichtheit nicht allen Stuttgarter Bürgern gefiel. Das evangelische Bekenntnis wurde nun zur Staatsreligion und verbindlich für alle Württemberger. Musste man unter der österreichischen Regierung katholisch sein, so musste man nun evangelisch werden. Wer den Übertritt zur neuen Konfession verweigerte, war gezwungen, das Land zu verlassen. Kaum jemand konnte es sich leisten, Bürgerrechte und Existenzgrundlage aufzugeben, um in ein katholisches Territorium zu ziehen. Die städtische Ehrbarkeit, die zum Teil noch viel Sympathie für den alten Glauben zeigte, konnte freilich nicht so ohne weiteres des Landes verwiesen werden, denn aus dieser Schicht kamen die Beamten und Räte, die der Herzog brauchte. Einige vermögende Familien aus Vaihingen haben Württemberg aber offenbar freiwillig mit ihrem Hab und Gut den Rücken gekehrt. Zumindest sind sie nach der Reformation nicht mehr nachweisbar. Mit der Durchführung der Reformation im Land betraute Ulrich die beiden Reformatoren Erhard Schnepf und Ambrosius Blarer. Schnepf, den die Habsburger aus seinem Prädikantenamt in Weinsberg entlassen hatten, war Theologieprofessor in Marburg und Lutheraner. Der ehemalige Alpirsbacher Mönch Blarer dagegen war ein Vertreter der sogenannten „oberdeutschen Theologie“, die nicht nur von Luther, sondern auch vom Schweizer Reformator Ulrich Zwingli geprägt war. Der für den nördlichen Landesteil zuständige Erhard Schnepf rief am 1. Februar 1535 alle Pfarrer des Amtes Vaihingen in der Frauenkirche zusammen. Er las ihnen die evangelischen Glaubensartikel vor und fragte sie, ob sie sich in Zukunft dazu bekennen wollten. Johannes Fritz, der vom Deutschen Orden eingesetzte Pfarrer der Kirche, lehnte den Übertritt zum evangelischen Glauben ab und wurde daraufhin vom Herzog entlassen. Auf seine Stelle berief Ulrich im August 1535 den evangelischen Geistlichen Konrad Dolphin. Dessen Besoldung gestaltete sich jedoch äußerst schwierig, denn der Orden, der nach wie vor im Besitz der Vaihinger Pfründen war, weigerte sich, ihn aus der Pfarrpfründe zu besolden. Die Stadt wollte ihn nicht bezahlen, hatte sie doch schon 1534 den aus Pforzheim vertriebenen Johann Wieland als evangelischen Prädikanten eingestellt. Die vielen Vaihinger Kapläne wurden nun arbeitslos, ihre vom Deutschen Orden verliehenen Pfründen blieben ihnen aber vorerst erhalten. Sie behielten ihr Auskommen, durften aber keine Messen mehr lesen. Die Beamten des Herzogs versuchten selbstverständlich, die Pfründurkunden an sich zu bringen, hatten dabei aber nur mäßigen Erfolg. Einigen Kaplänen gelang es sogar, ihre Pfründbriefe heimlich nach Mergentheim zu schicken. Die treibende Kraft war der Pfleger des Deutschen Ordens, Martin Emhart, der zugleich Kaplan der Peterspfründe war. Er sollte 1537 auf herzoglichen Befehl verhaftet werden, konnte jedoch in letzter Minute aus Vaihingen fliehen. Dass er dabei wichtige Dokumente in einer Truhe unter seinem Bett zurücklassen musste, blieb den herzoglichen Beamten lange verborgen. Der Streit mit dem Orden zog sich fast 20 Jahre hin. Erst 1553 fand er nach einer militärischen Auseinandersetzung durch einen Vergleich ein Ende. Die Kirchherrschaft über Vaihingen, Enzweihingen und Riet kam an Württemberg, doch Grundbesitz und Einkünfte hatte der Orden hier weiterhin. Sie wurden nun von einem Pfleger verwaltet, der zur städtischen Ehrbarkeit gehörte und selbstverständlich evangelisch war. Die lateinische Messe wurde mit der Einführung der Reformation abgeschafft. An ihre Stelle trat aber nicht die lutherische Deutsche Messe. Der württembergische Gottesdienst ist seit jeher ein schlichter Predigtgottesdienst mit einer überaus sparsamen Liturgie. Sein Ablauf wurde in der ersten Kirchenordnung von 1536 geregelt. Dabei spielte nicht nur die oberdeutsche Theologie Ambrosius Blarers eine entscheidende Rolle, sondern auch die Tradition der süddeutschen Prädikantengottesdienste.4 Mit dem Heiligenkult verschwanden auch die zahlreichen Heiligenfeiertage. Was sollte man aber nun mit den vielen Seitenaltären, den Heiligenbildern und Statuen machen? Lutheraner wie Schnepf wollten die Altäre behalten und Bilder dulden, sofern sie nicht der Heiligenverehrung, sondern der Erbauung dienten. Die Vertreter der oberdeutschen Theologie dagegen beriefen sich auf das alttestamentliche Bilderverbot. Sie forderten radikal, alle Altäre und Bilder zu verbieten. Auf dem Uracher Götzentag konnte man sich 1537 nicht einig werden. Herzog Ulrich entschied daher drei Jahre später im Alleingang. Die Seitenaltäre in den Kirchen sollten abgebaut und die Heiligenbilder entfernt werden; Darstellungen biblischer Szenen oder Portraits von Aposteln und Evangelisten blieben erlaubt. Das war eher im Sinne Blarers, der damals allerdings schon nicht mehr in Württemberg war. Die Unterschiede zwischen der lutherischen und der oberdeutschen Theologie waren doch zu konfliktträchtig geworden.5 Zum Herrschaftsverständnis eines evangelischen Landesfürsten gehörten die Verbreitung des Evangeliums unter seinen Untertanen und die Sorge für deren Seelenheil. Zu diesem Zweck wurden von Herzog Ulrich verschiedene neue Gesetze erlassen. Der Gottesdienstbesuch an Sonn- und Feiertagen wurde zur Pflicht. Wer ihn versäumte, musste ein Strafgeld bezahlen. Während des Gottesdienstes hatte in der Stadt absolute Ruhe zu herrschen. In den Wirtshäusern durfte weder getrunken noch gespielt oder getanzt werden. Das Herumgehen oder Herumstehen in den Gassen und Straßen war verboten. Die Sittenzuchtgesetze in der Landesordnung wurden deutlich verschärft. Gotteslästerung, Fluchen, Schwören, Trunksucht, Spielen um Geld, Ehebruch und Kuppelei galten als sittliche Vergehen und wurden unter Strafe gestellt. Verboten waren nun auch das Fastnachtstreiben und die damals noch weit verbreiteten Maskenläufe in der Adventszeit und in den so genannten Zwölfnächten zwischen Weihnachten und dem Dreikönigsfest. Alle Gesetze und Verordnungen mussten von den Kanzeln herab verlesen werden, und die Pfarrer waren verpflichtet, den weltlichen Behörden die Verstöße ihrer Gemeindeglieder zu 4 Die Reformatoren haben diese Tradition aufgegriffen, nicht nur im Herzogtum Württemberg. In der freien Reichsstadt Reutlingen z. B. hat der Reformator Matthäus Alber, der ab 1549 an der Stuttgarter Stiftskirche predigte, bereits Mitte der 1520er Jahre den deutschen Predigtgottesdienst als sonntäglichen Hauptgottesdienst eingeführt. Luther, der vom Rat der Stadt Reutlingen um ein Urteil gebeten wurde, hat das als süddeutsche Sonderform ausdrücklich gebilligt. 5 Bereits um die Wende zum 17. Jahrhundert war die Bilderfeindlichkeit in Württemberg überwunden. Deshalb konnte anlässlich des Reformationsjubiläums 1617 die Vaihinger Stadtkirche komplett mit biblischen Szenen ausgemalt werden. Leider ist davon nichts erhalten, weil die Kirche schon ein Jahr später beim Stadtbrand von 1618 vollständig zerstört wurde. An eine Wiederherstellung der Wandmalereien war nicht zu denken, denn nun kam der Dreißigjährige Krieg, in dem die Vaihinger andere Sorgen hatten. Mit dem bescheidenen Vaihinger Wohlstand war es von da an vorbei. melden. Befolgt wurden diese strengen Regeln aber offenbar nur zögerlich. Das kann man zumindest aus ihren häufigen Wiederholungen schließen. So erließ Herzog Ulrich 1542 ein landesweites Mandat, dass auch der Vaihinger Untervogt allen Pfarrern und Schultheißen auf einer eigens einberufenen Amtsversammlung verkünden musste. Darin wurde an die Pflicht zum Kirchgang erinnert und die Einhaltung der Landesordnung angemahnt. Ein paar Jahre später erlitt die Reformation noch einmal einen herben Rückschlag. 1546 kam es zu einem Religionskrieg in Deutschland, in dem die evangelischen Länder und freien Reichsstädte dem Heer Kaiser Karls V. unterlagen. Im Januar 1547 musste sich Herzog Ulrich unterwerfen und die Landesfestungen übergeben. Ein Teil Württembergs, darunter auch das Amt Vaihingen, wurde von spanischen und italienischen Truppen besetzt. Die Offiziere quartierten sich in den städtischen Häusern ein; in die Dörfer wurde wie üblich die Reiterei gelegt, eine wilde Horde, die die Bevölkerung drangsalierte und großen Schaden anrichtete. Die Soldaten verbrauchten alle Vorräte aus den Kellern und Scheuern. Sie zerschlugen Hausrat und landwirtschaftliche Geräte, schlachteten das Geflügel und das Vieh, mähten das Gras von den Wiesen und Weiden ab und trieben ihre Pferde sogar in die Gemüsegärten. Felder wurden verwüstet und die unreifen Trauben vom Stock gerissen. Widerstand war zwecklos. Wer sich wehrte, wurde umgebracht. Nach dem Abzug der Besatzer hofften die Württemberger, dass sie evangelisch bleiben könnten. Im August 1547 erließ Ulrich eine Synodalordnung, die das Herzogtum in 23 Diözesen aufteilte. Zu diesen Urdekanaten gehört auch die Diözese Vaihingen. Doch die Hoffnung trog. Auf dem Reichstag von Augsburg ließ der Kaiser 1548 das Interim verkünden. Diese neue Kirchenordnung war eine Zwischenlösung, die den Evangelischen zwar den Laienkelch beim Abendmahl ließ, ansonsten aber eine Rückkehr zur katholischen Lehre bedeutete. Ulrich, der sich zunächst weigerte, sah sich Ende Juli 1548 gezwungen, das Interim auch in Württemberg einzuführen. Als Druckmittel hatte der Kaiser erneut Besatzungstruppen eingesetzt. Auch in Vaihingen lagen 20 Wochen lang spanische Soldaten im Quartier, für deren Unterhalt sich die Stadt verschulden musste. Auf kaiserlichen Befehl wurde im November schließlich wieder die katholische Messe eingeführt. Alle Pfarrer, die sich dem Interim nicht beugen wollten, wurden entlassen. Obwohl Württemberg erst seit 14 Jahren evangelisch war, nahmen die meisten Geistlichen lieber den Verlust ihres Amtes in Kauf als wieder katholisch zu werden. Auch die Bevölkerung kehrte nicht wirklich zum alten Glauben zurück. In vielen Gemeinden fand nun überhaupt kein Gottesdienst mehr statt, weil nicht überall auf die Schnelle ein katholischer Priester zur Verfügung stand. Der Herzog stellte aber die entlassenen evangelischen Pfarrer als so genannte Katechisten wieder ein. Offiziell durften die Katechisten nur Unterricht in der Heiligen Schrift erteilen, in Wirklichkeit hielten sie die gewohnte evangelische Predigt. In Vaihingen gab es einen Priester, der die Messe las, und zunächst einen, ab 1549 sogar zwei Katechisten. Auf dem Konzil von Trient legte Württemberg mit der von Johannes Brenz verfassten Confessio Virtembergica eine eigene Bekenntnisschrift vor. Danach wurde das Interim nach und nach außer Kraft gesetzt und im Juni 1552 endgültig aufgehoben. Der Reichstag von Augsburg verabschiedete 1555 einen Religionsfrieden, der es jedem deutschen Landesherrn erlaubte, die Konfession seines Territoriums zu bestimmen. Für die Bevölkerung bedeutete das: Wer in einem evangelischen Land lebte, musste evangelisch sein, in einem katholischen Land katholisch. Herzog Ulrich war inzwischen gestorben und sein Sohn Christoph hatte im November 1550 die Herrschaft angetreten. Er berief den Haller Reformator Johannes Brenz an die Stuttgarter Stiftskirche und beauftragte ihn mit der Neuorganisation der Landeskirche. Johannes Brenz und Herzog Christoph gaben dem evangelischen Württemberg seine Gestalt. Das machte sich auch äußerlich bemerkbar. Die Kirchen wurden nun systematisch leer geräumt. Im Dezember 1555 befahl Christoph, alle noch verbliebenen katholischen Überreste zu entfernen. Erwähnt werden in diesem Mandat überzählige Altäre, Monstranzen, Weihwasserbecken, Fahnen und Bilder, die es also in einigen Kirchen immer noch gab. Auch die letzten noch bestehenden Wallfahrtskapellen und Wegkreuze wurden nun abgerissen. Die unter Ulrich vorgenommene Verstaatlichung des Kirchenvermögens wurde von Christoph rückgängig gemacht. Er schuf eine eigene kirchliche Finanzverwaltung, das so genannte Kirchengut, das die Liegenschaften und Einkünfte aller Pfarreien umfasste. Auf der Ebene der Ämter wurde parallel zur weltlichen Verwaltung eine Geistliche Verwaltung installiert. Sie verwaltete die kirchlichen Güter und zog den Großen Zehnt ein, also die Abgaben von Getreide und Wein. In den Gemeinden gab es jeweils einen Heiligenpfleger, also einen Kirchenrechner, der allerdings nicht nur kirchliche Aufgaben wahrnahm. Er war zuständig für die Unterstützung der Armen und Waisen, die Besoldung der Lehrer und Mesner und die Unterhaltung der kirchlichen Gebäude und der Schule. Eine klare rechtliche Trennung zwischen kirchlicher und bürgerlicher Gemeinde bestand in Württemberg nicht, auch das Vermögen war nicht getrennt. Als kirchliches Leitungsamt in den Diözesen wurde 1551, also noch vor dem offiziellen Ende des Interims, das Amt des Dekans oder Spezialsuperintenden geschaffen. Im Jahr 1559 erschien die Große Kirchenordnung, die nicht nur das kirchliche, sondern auch viele Bereiche des weltlichen Lebens regelte: die Gottesdienste, die Feiertage, die Visitation der Gemeinden durch die Dekane, das Armenwesen, das Eherecht, die Schulen oder das Gesundheitswesen. Selbst den Stadtschreibern ist eine eigene Verordnung gewidmet oder den Hebammen. In seiner Vorrede zu diesem Staatsgrundgesetz bezeichnet der Herzog die Sorge für das ewige Heil als die Hauptaufgabe eines Landesherrn. Sie sei, so schreibt er, wichtiger als die Sorge für das zeitliche Wohl der Untertanen. Für Christoph, der kraft Amtes Bischof und Oberhaupt der Kirche war, waren politisches Handeln und christliche Lehre eine Einheit. Eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen sollte aus seinen Landeskindern gute und gottgefällige Menschen machen. Sein Ziel war eine vollkommene christliche Gesellschaft, in der Gottesfurcht, tätige Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Gemeinsinn herrschten. Fromm, ehrlich, sparsam und fleißig wollte der Herzog seine Württemberger haben. Ausmerzen wollte er Gottlosigkeit, Eigennutz, Untreue, Betrug, Verschwendungssucht, Faulheit und lose Sitten. Dazu erließ er zahlreiche Verbote, deren Einhaltung durch ein ausgeklügeltes Visitationssystem überwacht wurde. Bei den Kirchenvisitationen wurde der Lebenswandel der Pfarrer und Lehrer erforscht, der Beamten, der Ratsmitglieder und sämtlicher Gemeindediener bis hinunter zum Nachtwächter. Einmal im Vierteljahr sollte ein vom Vogt geleitetes Rügegericht stattfinden, bei dem jeder die ihm bekannten Gesetzesverstöße zu melden hatte. Geringe Vergehen wurden mit einer Geldbuße oder einer Haft im Diebsturm geahndet. Schwere Straftaten kamen vor das Vaihinger Kriminalgericht. Ob dieses System immer funktionierte, steht freilich auf einem andern Blatt. Nicht jeder wird bereit gewesen sein, seine Nachbarn, Freunde und Bekannte anzuzeigen. Neben den Kirchenvisitationen gab es auch eine weltliche Visitation, bei der aber die gleichen Fragen gestellt wurden. Und weil das alles nicht den gewünschten Erfolg zeigte, befahl Christoph 1557 eine allgemeine Landvisitation, sozusagen eine Visitation über alle Visitationen, und 1562 schließlich eine Generalvisitation des ganzen Herzogtums. Der unmittelbare Anlass dafür war ein verheerender Hagelschlag im August 1562, der im Stuttgarter Raum und im Remstal Felder und Weinberge verwüstete. Dieses Unwetter fiel in eine seit Jahren anhaltende Schlechtwetterperiode und wurde von den württembergischen Theologen als Strafgericht Gottes und Mahnung zur Umkehr und Buße gedeutet. 6 Nun ist eine Zunahme von Ordnungsgesetzen in Württemberg wie auch in anderen deutschen Ländern schon seit dem 15. Jahrhundert zu beobachten. Der sich konstituierende Territorialstaat musste die Verwaltung ordnen, die Justiz, das Gewerbe, die Armenfürsorge, ja das gesamte soziale und religiöse Leben. Christophs Regelungswut überstieg jedoch jedes Maß. In den 18 Jahren seiner Regierungszeit erließ er 80 Gesetze. Zum Vergleich: In den beiden badischen Markgrafschaften wurden im selben Zeitraum nur 19 Gesetze verabschiedet. Die herzoglichen Beamten und Räte äußerten durchaus Zweifel daran, dass sich das Böse durch Regeln und Verbote aus der Welt schaffen ließe. Doch Christoph war nicht davon abzubringen. Die sündenfreie Gesellschaft musste doch durch obrigkeitsstaatliche Maßnahmen zu erzwingen sein. Dieses Projekt, das mit seiner strengen Gesetzlichkeit geradezu ein Gegenentwurf zur christlichen Freiheit war, war zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Es wirkte in Württemberg aber lange nach. Auch die am Ende des Dreißigjährigen Krieges eingerichteten Kirchenkonvente atmeten diesen Geist der Überwachung und Bestrafung. 6 Die Bevölkerung machte für dieses Unglück allerdings die Hexen verantwortlich, obwohl die württembergischen Theologen Wetterzauber nicht für möglich hielten. (Siehe dazu den angegebenen Aufsatz über Hexenverfolgung und Hexenprozesse in SRV 9.) Nachhaltig positive Folgen hatten Christophs Bestimmungen über das Schulwesen. Es wurde durch die Große Kirchenordnung neu geregelt und der Aufsicht der Kirche unterstellt. Fast jedes Dorf bekam nun eine eigene, die sogenannte Deutsche Schule. Eine allgemeine Schulpflicht gab es in Württemberg ab 1649 und damit deutlich früher als in fast allen anderen deutschen Ländern; doch schon zu Christophs Zeit sollten möglichst alle Kinder zur Schule gehen, denn alle sollten den Katechismus und das Gesangbuch lesen können. Der Katechismus von Johannes Brenz diente auch als Fibel. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen hatte selbstverständlich der Religionsunterricht eine zentrale Stellung. Die Lehrer waren in der Regel auch Mesner, läuteten die Glocken und warteten die Kirchturmuhr. Außerdem waren sie für die Kirchenmusik zuständig. Die örtliche Schulaufsicht lag beim Pfarrer, der die Schule wöchentlich besuchen musste. Einmal im Jahr hielt er ein Katechismusexamen ab, bei dem die Kenntnisse der Schüler geprüft wurden. Die seit dem Spätmittelalter bestehenden städtischen Lateinschulen wurden beibehalten und in das landeskirchliche Schulsystem integriert. Sie waren reine Knabenschulen. Der Zugang zur höheren Bildung war Mädchen verwehrt. So durften sie auch nicht die Klosterschulen besuchen, die 1556 in den ehemaligen Männerklöstern eingerichtet wurden. Dem Besuch einer Klosterschule folgte in der Regel das Theologiestudium im Tübinger Stift und an der Landesuniversität Tübingen, so dass die württembergische Landeskirche von Anfang an über einen gut ausgebildeten Pfarrernachwuchs verfügte. 1557 (und nochmals 1558) erging die Anweisung an die Pfarrer, Taufbücher anzulegen. Auf diese Weise ließen sich uneheliche Geburten ermitteln, aber auch die Wiedertäufer aufspüren, die ihre Kinder ja nicht zur Taufe brachten. Im evangelischen Württemberg wurden die Täufer nicht mit der Todesstrafe bedroht. Das widersprach sowohl den Reichsgesetzen wie der Auffassung Martin Luthers, der die Verbrennung der Ketzer befürwortete. In Württemberg wollte man sie stattdessen zum rechten Glauben zurückführen. Die Pfarrer hatten den Auftrag, die Täufer zu belehren und über ihren Irrtum aufzuklären. Nur hartnäckige Anhänger der Sekte und ihre Anführer wurden eingesperrt und regelmäßig von evangelischen Geistlichen besucht. Selbst führende Köpfe der Landeskirche waren sich für diese Gefängnisbesuche nicht zu schade. Ganz aussichtslose Fälle wurden des Landes verwiesen. Die Zeit der Reformation geht in Württemberg mit dem Tod Herzog Christophs 1568 zu Ende. Die von ihm und Johannes Brenz geschaffene Ordnung von Kirche und Gesellschaft hatte rund 250 Jahre lang Bestand. Sie prägte das Land und seine Menschen. Auch der schwäbische Fleiß hat hier seine Wurzeln, denn er galt als wichtige christliche Tugend. Ebenso die sprichwörtliche schwäbische Sparsamkeit. Trotz aller Veränderungen der modernen Zeit wage ich die Behauptung: Die Mentalität der Württemberger wäre heute eine andere, wenn in diesem Land nicht Jahrhunderte lang ein so strenges kirchliches Regiment geherrscht hätte. Der Vortrag basiert auf folgenden Veröffentlichungen: Gudrun Aker: Kirchengeschichte der Stadt Vaihingen bis zum Dreißigjährigen Krieg. In: Die Stadtkirche in Vaihingen an der Enz. Kirchliches Leben unter dem Kaltenstein in acht Jahrhunderten, Vaihingen 2013, S. 9−60; Gudrun Aker: Gesellschaftliche Erneuerung und Glaubenskriege. Vaihingen 1534 bis 1693. In: Geschichte der Stadt Vaihingen an der Enz, Vaihingen 2001, S. 155−242. Der Mord am Geistlichen Melchior Reich um 1525/26 ist ausführlich behandelt in: Gudrun Aker: Ein Pfarrermord in Horrheim. In: Schriftenreihe der Stadt Vaihingen an der Enz (SRV) 12, 2008, S 61−68. − Zu den Täufern siehe: Gudrun Aker: Die Täufer im Vaihinger Raum – ein Nebenweg der Reformation. In: SRV 10, 1998, S. 39−72. − Zur Hexenverfolgung: Gudrun Aker: Hexen und Hexenverfolgung im Gerichtsbezirk Vaihingen. In: SRV 9, 1995, S. 97−126.