Die Heian-/Pinan-Katas I. Bedeutung des Namen Heian (sprich: „heejan“) ist die japanische Aussprache der zwei Wörter „heiwa“ und „antei“ und bedeutet „Fieden und (innere) Ruhe“, „Gemütsruhe“, „Seelenfrieden“ oder „friedfertiger Geist“. Geschrieben wird „heian“ mit zwei chinesischen Kanji-Schriftzeichen: „heiwa“ = Frieden „antei“ = Ruhe Die chinesische Aussprache dieser beiden Schriftzeichen lautet „píng ān“, die okinawanische „pinan“, und bedeutet neben „Frieden und Ruhe“ auch soviel wie „gesund und munter“ oder „sicher und störungsfrei“, „ausgewogen“. II. Die Heian-Zeit (794 bis 1185 bzw. 1192) Als Heian-Periode wird eine Epoche (794–1185 bzw.1192) der japanischen Geschichte bezeichnet, in der Japan sich außenpolitisch zumeist (insbesondere mit China) im Frieden befunden hat. Vor allem aber ist die Heian-Periode die Blütezeit der Entwicklung der japanischen Kultur und Künste. Der Grundstein der goldenen Heian-Zeit wurde im Jahre 794 gelegt, indem der Kaiserhof in den Heian-Palast von Nara nach Heian-kyō verlegt wurde. Mit dem Umzug nahmen die Beziehungen zum Kaiserreich China ab, was zu einer Zeit nationaler Gesinnung führte. Heian-kyō („Kaiserliche Residenzstadt des Friedens und der Ruhe“) war der ursprüngliche Name für die heutige Stadt Kyōto, die von 794 bis 1868 Sitz des kaiserlichen Hofes und damit die Hauptstadt Japans war. Am Hof von Heian wurden die japanische Kultur, Kunst und Sitten zu höchster Verfeinerung geführt. Die Heian-Zeit gilt als die klassische Periode der japanischen Literatur. Während die höfische Kultur blühte, nahm die Macht des Kaiserhofes immer mehr ab und die von Adelsfamilien immer mehr zu. Charakteristisch für die Heian-Zeit sind die mehreren politischen Machtzentren. Mitte des 12. Jahrhunderts nahmen die Machtkämpfe zwischen den rivalisierenden Adligen immer mehr zu. Es bildeten sich Kriegerklans, Konflikte wurden nun auch auf militärische Weise zu lösen versucht. Während dieser Zeit begann auch die Ära der Samurai. Diese waren ursprünglich Wachen des kaiserlichen Palastes und Schwertträger. Ihnen war es vorgeschrieben, fortwäh- rend ihre Beherrschung der Kampfkunst zu verbessern. Im Jahre 1185 fand die Seeschlacht von Dan-no-ura statt, bei der die Samurai-Familie Minamoto den Adeligenklan Taira besiegte und sich so ihre Herrschaft über Japan sicherte. Im Jahr 1192 wurde Minamoto no Yoritomo zum ersten Shogun Japans ernannt. Damit endete die Heian-Zeit. III. Die Heian-/Pinan-Katas Der Begriff „Heian“ bezeichnet im Shotokan-Karate eine Reihe von fünf Kata (also stilisierten Kämpfen gegen imaginäre Gegner). In anderen Karate-Stilrichtungen sind diese noch unter dem ursprünglichen Namen „Pinan“ bekannt, weshalb im Folgenden zunächst von den „Pinan-Katas“ die Rede sein wird. Trainiert werden die Pinan-Katas heute in verschiedenen Ausprägungen in Karate-Stilen, die auf das Shorin-ryu zurückgehen, u.a. im Shotokan, Wado-ryu, Shito-ryu, Kyokushinkai, wobei nur im Shotokan der Name „Heian“ gebraucht wird. Auch im koreanischen Karate Tang Soo Do werden die Katas trainiert, sie heißen dort „Pyungan“. III.a Enstehung der Heian-/Pinan-Katas Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Karate bzw. Okinawa-te auf Okinawa geheim betrieben. Die Kampfkunst bzw. die Katas wurden von den jeweiligen Meistern dem Schüler weitergegeben, schriftliche Aufzeichnungen gab es deshalb so gut wie keine. (Das erste Karatebuch der Welt „Karate-Do Kyohan“ von Funakoshi Gichin erschien erst 1935.) Da auf Okinawa über die Entstehungen der Katas nichts niedergeschrieben wurde, gibt es über die Entstehung der Pinan-Katas nur Mutmaßungen. Allen gemein ist allerdings, dass Itosu Yatsutsune „Ankō“ (1839 - 1916), ein Meister des Shorin-ryu aus Shuri dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat. Wegen seines harten und ausdauernden Trainings entwickelte sich Itosu zu einem unbesiegbaren Karateka. Die „heilige Faust des Shuri-te“ Itosu war einer der größten okinawanischen Karate-Meister aller Zeiten, er wurde im Kampf niemals besiegt. Seine bedeutendster Beitrag waren seine Kata: „Karate ist eine Art zu leben, ein Weg, um absolute Sicherheit und Furchtlosigkeit zu erlangen. Ein Mensch, der die Kata übt, kann [...] seine individuellen Fähigkeiten bis zur äußersten Grenze verbessern. In den Kampfkünsten gibt es keine Entwicklung, wenn ein Übender es versäumt, seine Kata zu perfektionieren.“ Im Gegensatz zu vielen anderen Kata des Okinawa-te kann die Gründung der Pinan-Serie recht konkret historisch bestimmt werden. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts machte Itosu den ersten und wichtigsten Schritt zur Popularisierung der vormals geheim praktizierten Kampfkunst und erreichte schließlich ab 1901 die Einführung des Okinawa-te als Körperertüchtigung an den Grundschulen in Shuri und in der Lehrerausbildung. Itosus Hauptargument bei den Behörden in diesem Verfahren (nachzulesen in seinem berühmten Brief an das japanische Kriegs- und Erziehungsministerium von 1908) war, dass die Übung des Okinawa-te die Jugend hervorragend auf zukünftige militärische Einsätze vorbereitet, indem es zur Körperausbildung und Gesunderhaltung beitrage sowie solche Tugenden wie Tapferkeit und geistige Stärke ausbilde. Daher erscheint eine Übersetzung von „pinan“ mit „gesund und munter“ zumindest für den Ursprung der Kata-Serie plausibler als die mit „Frieden und Ruhe“, zumal sich Itosu trotz seiner japanophilen Einstellung offenbar für die an das chinesische „píng ān“ klar anlautende Intonation „pinan“ entschieden hat. Für Itosu sollte es jetzt möglich sein, Karate als „Weg der Kunst“ zu üben, anstatt als „Weg der Waffe“. Das Kämpfen spielte in diesen Kata nicht mehr die entscheidende Rolle. Die 1905 eingeführten fünf Pinan-Katas sollten den Kampfkunstschülern den Einstieg ins Training erleichtern. Woher Itosu die Pinan-Katas übernommen hat, gibt es mehrere Vermutungen: Meister Itosu soll sie vor allem aus der Kata „Kushanku“ (jap. „Kanku“) mit Elementen aus „Passai“ und evtl. noch weiteren Katas entwickelt haben. Laut anderen Quellen taucht im Zusammenhang mit der Entstehung der Pinan-Katas immer wieder eine chinesische Kata namens „Channan“ auf. Der Name „Channan“ ist die okinawanische Aussprache des chinesischen Namen „chiang nan“. Aber auch über die Verbindung der Pinan-Reihe mit dieser Channan gibt es mehrere Vermutungen: • Itosu entwickelte die Pinan auf Basis der chinesischen Kata Channan. • Itosu begründete die Channan und nannte sie später in „Pinan“ um. • Itosu gründete die Pinan-Reihe auf Basis der auch „Channan“ genannten Kata „Kushanku“. • Itosu entwickelte die Pinan aus der chinesischen Kata Channan und erweiterte diese mit Elementen aus Kushanku. Eine weitere Quelle berichtet, dass Itosu gar nicht der Begründer der Pinan war, sondern sein Lehrer Meister Matsumura Sokon, genannt „Bushi“ (ca. 1796 - 1893), der Begründer des Shorin-ryu. Dieser soll Pinan 1 bis 4 aus den beiden chinesischen Katas „Channan“ und „PyonAn“ abgeleitet haben. Die fünfte Pinan-Kata soll dann wiederum Meister Itosu aus Kushanku und Jion als Ergänzung entwickelt haben. Denn Meister Itosu maß seiner KataReihe die Bedeutung bei wie die fünf Finger einer Hand zu: Jede einzelne ist wichtig, aber nur fünf ergeben eine geniale Einheit. Woher letztlich die Pinan-Katas auch stammen, ihr Ursprung ist in jedem Fall eng mit dem Namen Itosu Yatsutsune verknüpft. Es wird vermutet, dass sich Itosu durch die Namengebung Pinan bzw. Heian verewigen wollte. Die silbe „an“ wird als Kanji genauso geschrieben wie in seinem Pseudonym „Anko“. Itosu führte die Pinan-Katas für ein allgemeines Lehrsystem ein, um damit Karate einer breiteren Masse zugänglich zu machen. Er entschärfte die Ursprungskata, indem er die gefährlichen Techniken entfernte und den gesundheitlichen Aspekt (Qi-gong) in den Vordergrund stellte. Itosu sammelte viele Kata. Er überarbeitete, verfeinerte und systematisierte die meisten Shuri-te-Kata. So sorgte er auch gleichzeitig für ihre Verbreitung. Das war zu diesem Zeitpunkt nicht nur unüblich, es war sogar undenkbar. Manche Kata wären ohne ihn sicherlich nicht mehr bekannt. Er vereinfachte auch viele Kata. So teilte er die Naihanchi in die drei Tekki-Kata, schuf aus der Passai die Bassai, aus Kushanku wurde Kanku. Neben den genannten Kata wurden in seiner Schule noch Wanshu (Enpi), Chinte, Seisan (Hangetsu), Chinto (Gankaku), Jutte (Jitte), Jion, Rohei 1 – 3 (Meikyo) und Gojushiho unterrichtet. Itosus Schüler Funakoshi Gichin führte die Tradition seines Lehrers fort, zur Unterrichtung der Kampfkunst insbesondere von Anfängern die Katas einzusetzen. Und dabei bediente er sich hauptsächlich der PinanReihe. Durch Funakoshi kam es zu einer Akzentverlagerung, als dieser sich im Zusammenhang mit mehreren anderen Umbenennungen der chinesischen bzw. okinawanischen Kata-Namen für die japanische Lautung „heian“ und den damit verbundenen Implikationen an die geschichtsträchtige japanische Epoche entschied. Da die Pinan Nidan aber wesentlich einfacher zu erlernen ist als die Pinan Shodan, wurde sie von Funakoshi Gichin an den Anfang gestellt und erhielt den Namen Heian Shodan, und Pinan Shodan wurde Heian Nidan. III.b Charakteristika der Heian-/Pinan-Katas Die fünf Heian-Kata sind wichtige Kata im Shotokan-Karate. Sie sind die ersten Kata, die der Schüler nach den Taikyoku-Kata lernt. Sie sollen dem Schüler die Grundlagen des Shotokan-Karate lehren, die wichtigsten Bewegungen und Techniken. Der Schwierigkeitsgrad baut sich nacheinander auf, von der ersten Heian Shodan bis zur schon recht schwierigen Heian Godan mit ihrem Sprung. Nach und nach lernt der Schüler anhand der Kata neue Techniken, Haltungen und Bewegungen kennen. Der Grad der Komplexität der Bewegungen steigt von der ersten zur fünften an. Während in der Heian Shodan nur Einzelfausttechniken vorkommen, nehmen von Heian Nidan bis Heian Godan Techniken mit beiden Armen gleichzeitig zu (z.B. Kosa uke, Juji uke, Manji uke). Das Schrittdiagramm der Heian-Kata entspricht einem T bzw. Doppel-T in verschiedenen Variationen und eignet sich aufgrund dieser überschaubaren und leicht nachzuvollziehenden Struktur für die Ausbildung von Anfängern. Alle fünf Kata beginnen mit einem 90°-Schritt vorwärts nach links, die Anfangssequenz wird nach einer 180°-Wendung seitenverkehrt wiederholt, was dem KataNamen auch die Bedeutung „ausgewogen“ bemisst. Darüber hinaus sind die Heian-Katas von vielen Wiederholungen geprägt, sei es in der beschriebenen Art auf den Schmalseiten des Enbusen oder als Dreifach-Wiederholungen auf dessen Längsbahnen, was ihren didaktischen Wert für den Anfängerunterricht unterstreicht. Der Charakter der Heian-Katas ist offensiv. Abwehr und Angriffstechniken bewegen sich immer auf den imaginären Gegner zu. Es gibt keinen richtigen Schritt rückwärts. Die Heian-Kata unterscheiden sich nur wenig von den Pinan-Kata. Die ursprünglichen Pinan-Kata haben teilweise andere Techniken und Stellungen. So werden in der Pinan Nidan (entspricht Heian Shodan) die Shuto uke im Gedan (wie Kanku dai) ausgeführt, die erste Technik ist Tettsui uchi. Auch sind die Stellungen beim Angriff (Oi zuki) höher als im Shotokan. Jeder der Heian Kata hat eine bestimmte Bedeutung und steht für ein bestimmtes Übungsprinzip. In jeder Kata wird eine bestimmte Sache geübt. 1. Heian Shodan = Pinan Nidan In der Heian Shodan lernt der Schüler erste grundlegende Elemente des Karate. Es werden die ersten Techniken eingeführt (Gedan barai, Oi zuki, Age uke, Tettsui uchi, Shuto uke). Diese Techniken werden im Zenkutsu dachi oder Kokutsu dachi ausgeführt. Ziel ist es, dem Schüler beizubringen, größere Distanzen mit einem Schritt zu überbrücken, da diese Kata den Kampf in größeren Abständen lehrt. Ein weiterer Effekt der Heian Shodan ist das Lehren von Drehungen um die eigene Achse. Diese fördern das Gleichgewichtsgefühl und sollen den Schüler beibringen, in alle Richtungen kämpfen zu können. Dazu ist auch wichtig, die Haltung besonders des Oberkörpers zu üben, denn nur so sind schnelle Drehungen um die eigene Körperachse ohne Gleichgewichtsverlust möglich. 2. Heian Nidan = Pinan Shodan Die Heian Nidan ist im Shotokan-Karate die zweite Kata. Es wird nochmal intensiv Shuto uke geübt. Aber es wird auch das technische Repertoire des Schülers um einige neue Techniken erweitert. Zum einen werden erstmals Handtechniken mit beiden Armen gleichzeitig und zusätzlich Fußtritte verwendet. Das sind einmal Mae geri und zusätzlich noch Yoko geri keage. Diese Tritte werden teilweise mit Fausttechniken kombiniert. Neu ist weiterhin das Gyaku-Prinzip, auf das in dieser Kata besonderen Wert gelegt wird. Statt die Hüfte geradlinig wie in Heian Shodan einzusetzen, wird hier bei Techniken wie Gyaku zuki oder Gyaku uchi uke die Hüfte gegenseitig eingesetzt. Da- durch wird der Einsatz der Hüfte besonders gut geübt, um kräftige Techniken möglich zu machen. Diese Kata lehrt Techniken und Konzepte der mittleren Distanz. 3. Heian Sandan Der Nahkampf ist Inhalt der dritten Kata Heian Sandan. Sie enthält viele Techniken der Nahdistanz, in ihr sind auch Techniken der Kakie (klebende Hände) versteckt, wie die Anfangsbewegung Kosa uke. Sie enthält auch einen neuen Stand, nämlich Kiba dachi. Hier werden verschiedene Bewegungsformen kombiniert: mit großen Schritten vor, Rückwärtsbewegungen und auch erstmals das Gleiten auf Füßen (Suri ashi). Diese Kata bildet die Grundlage für die Tekki, Jion, Jitte und Ji'in. 4. Heian Yondan Die Heian Yondan ist eine sehr dynamische Kata, die zusätzlich doppelte Abwehrformen sowie den Gebrauch von Fußtechniken lehrt. Sie wurde wahrscheinlich aus der Kanku entwickelt. Als neue Stellung wird Kosa dachi eingeführt. Die Kombination von Uraken uchi, Yoko geri keage und Empi uchi ist sehr komplex und verlangt ein gutes Gleichgewichtsgefühl. Sie taucht zwar schon rudimentär in der Heian Nidan auf und soll nun den Schüler auf spätere Katas vorbereiten, denn diese Kombination taucht insgesamt in sechs Shotokan-Katas auf: Heian Nidan und Heian Yondan, Kanku dai und Kanku sho, Gankaku, Sochin). 5. Heian Godan Die letzte und auch komplexeste Kata der Heian-Reihe ist Heian Godan. In ihr sind viele verschiedene Grundprinzipien des Karate vereinigt. Die Haltung Mizu nagare gamae (Haltung des fließenden Wassers) ist ein sehr wichtiges Karateprinzip. Charakteristisch sind auch wechselnde Abwehrtechniken auf den verschiedenen Stufen Jodan, Chudan, Gedan. Neu sind auch Nagashi-Techniken, sowie die Haltung Manji gamae. Diese taucht insgesamt in zehn Shotokan-Katas auf: Heian Godan, Bassai dai, Bassai sho, Jion, Jiin, Jitte, Sochin, Gankaku, Kanku dai, Kanku sho. Da Heian Godan sehr umfangreich und schwierig in der Ausführung ist – nicht nur allein auch wegen des Sprunges, entspricht sie schon einem sehr umfangreichen Kampfstil. Die Meister Kase Taiji und Shirai Hiroshi haben die charakteristischen Teile der fünf Heian-Katas zu einer langen Kata „Heian Oyo“ mit sieben Kiai zusammengefügt. Sie verlangt vom Schüler höchste Konzentration und gute Ausdauer. Das Pendant außerhalb des Shotokan-Karate nennt sich „Pinan dai“. Neben den Kata-Reihen Heinan/Pinan 1 bis 5 und Taikyoku 1 bis 6 existieren noch weitere Grundkata-Reihen wie z.B. Junro 1 bis 5 oder Joko 1 bis 5.