Prof. Dr. Karl-Heinz Sahmel Fachhochschule Ludwigshafen „Wohin steuert die Pflegeausbildung? Eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Modellprojekten“ Referat auf der Fachtagung der Bundesagentur für Arbeit und der Metropolregion Rhein-Neckar “Zukunft der Pflegeberufe – Impulse zur Deckung des künftigen Fachkräftebedarfs“ am 1. Dezember 2010 im SRH Seminarzentrum Heidelberg Vorbemerkung: Der Untertitel des Referates könnte suggerieren, hier gehe es um die Präsentation von Ergebnissen diverser Modellprojekte zur Pflegeausbildung. Dem möchte ich gleich zu Beginn entgegentreten: Jedes Modellprojekt der letzten Jahre (je nach Zählung sind es 40, 60 oder mehr!) hat für sich diskussionswürdige Ergebnisse hervorgebracht. Diese können hier auch nicht bruchstückhaft dargestellt werden! Um dem Ausdruck zu verleihen, habe ich auf Powerpoint-Folien insgesamt verzichtet. Es soll lediglich um einzelne Aspekte aus diesen Projekten gehen, die ich zu Linien zusammenfügen möchte. Hieraus ergeben sich sodann einige Optionen zur Zukunft der Pflegeausbildung, die ich gerne zur Diskussion stellen möchte. Ich werde also zunächst ganz pointiert auf einige Aspekte der Reformansätze in der Pflegeausbildung eingehen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dabei erscheint es mir sinnvoll, zunächst auf ein älteres Modell hinzuweisen, das von erheblichem Einfluss war. Ich spreche vom Modellversuch der Caritas in Essen. Der Caritasverband für das Bistum Essen hat bereits 1994 das Modellprojekt einer „Gemeinsamen (Grund-)Ausbildung Kinderkrankenpflege“ initiiert, dessen in der Curriculum Alten-, Kranken- anschließend von und einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Uta Oelke konzipiert wurde. Zwischen 1997 und 2000 wurde das Modellprojekt an einer Krankenpflegeschule und einem Fachseminar für Altenpflege in Essen durchgeführt. Uta Oelke und Marion Menke 2 haben Zwischenergebnisse der Evaluation des Modellversuchs wie vor allem des Curriculums für die (gemeinsame) theoretische Ausbildung zwischenzeitlich mehrfach einer interessierten Fachöffentlichkeit präsentiert und auf Tagungen und Kongressen diskutiert. Schließlich wurde im Herbst 2002 der Abschlussbericht des Modellprojekts veröffentlicht (Oelke/Menke 2002). In diesem Modellprojekt kam es auf der Basis der damals bestehenden unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen (dem Krankenpflegegesetz von 1985 und dem nordrhein-westfälischen Altenpflegegesetz) zu einer Integration in einer gemeinsamen Grundstufe von 17 Monaten sowie einer differenzierten Spezialisierungsstufe mit den Abschlüssen Altenpflege, Krankenpflege und Kinderkrankenpflege. In der gemeinsamen Grundstufe (17 Monate) wurden 1.050 Unterrichtsstunden erteilt, 1.355 Stunden dienten der praktischen Ausbildung. Bedingt durch die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen bezüglich Theoriestunden und praktischen Ausbildungsanteilen kam es in der (19monatigen) differenzierten Spezialisierungsstufe sodann zu deutlichen Unterschieden: In der Krankenpflege und in der Kinderkrankenpflege wurden sehr viel weniger Theorie-Stunden (772) Unterricht erteilt und 1.923 Stunden dienten der praktischen Ausbildung, während in der Altenpflege 1.332 Stunden Unterricht 1.363 Stunden praktische Ausbildung gegenüberstanden. Diese von den Modell-Initiatoren nicht zu verantwortende Inkongruenz ist in Diskussionen oftmals kritisch hervorgehoben worden ebenso wie die Tatsache, dass der Modellversuch an zwei verschiedenen Bildungseinrichtungen durchgeführt worden ist. Die Unterschiede in der Einschätzung wie auch die Kritik etwa an der unzulänglichen Theorie-Praxis-Verknüpfung sind in der Evaluation differenziert herausgestellt worden - bei einer insgesamt positiven Gesamteinschätzung des Modellversuchs durch die beteiligten Lehrerinnen und Auszubildenden (vgl. Oelke/Menke 2002, S. 37ff.). Gerade die Tatsache nun, dass der Modellversuch an zwei kooperierenden Schulen durchgeführt wurde, kann zugleich als erste „Hürde“ für die Einschätzung der Wirksamkeit (und der Grenzen) des entwickelten Curriculums für die gemeinsame (Grund-)Ausbildung angesehen werden. Curricula wird seither eine herausragende Bedeutung zugemessen. 3 Basierend auf den Grundannahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft und der von Wolfgang Klafki präferierten Handlungsforschung im Schulfeld (vgl. Oelke 2002, S. 43), erfolgte in Essen die praxisnahe Curriculumentwicklung in mehreren Phasen: Nach der Entwicklung eines Testcurriculums wurde dieses prospektiv und retrospektiv schrittweise überprüft und weiterentwickelt, bis es schließlich nach abschließender Überarbeitung neustrukturiert und kommentiert veröffentlicht wurde. Im Zentrum dieses Entwicklungsprozesses standen viele „Diskurs-Sitzungen“ von beteiligten Lehrerinnen und Wissenschaftlerinnen (vgl. Oelke 2002, S. 43ff.; Oelke/Menke 2002, S. 19, 95). Als übergreifende verständigte sich Bildungsziele die für Curriculum-AG den gesamten schon früh Modellausbildungsgang auf das Konzept der Schlüsselqualifikationen (vgl. Oelke/Menke 2002, S. 19f). Das Curriculum orientierte sich an den von Uta Oelke bereits 1991 zur Diskussion gestellten fünf Lernbereichen: • Lernbereich I: Pflegerische Grundqualifikationen • Lernbereich II: Die Pflegenden • Lernbereich III: Die Pflegebedürftigen • Lernbereich IV: Das pflegerische Umfeld • Lernbereich V: Pflegerische Spezialqalifikationen. Der Prozess der Curriculumkonstruktion – und das halte ich unter erziehungswissenschaftlichen Gesichtspunkten für besonders wichtig – war durch drei Merkmale charakterisiert: (1) Offenheit, (2) Fächerintegration und (3) Erfahrungsorientierung. Meiner Einschätzung nach ein vielversprechender Ansatz, die Frage nach den möglichen Zielsetzungen einer integrativen Pflegeausbildung, nach den Themen und Inhalten sowie den Methoden und der Möglichkeit einer Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis nicht nur theoretisch zu beantworten, sondern auch praktisch auszuprobieren. 4 Kaum war der Modellversuch der Caritas in Essen von Uta Oelke und Marion Menke umfassend dokumentiert (2002), da kam Bewegung in die Pflegeausbildung durch die Verabschiedung des Krankenpflegegesetzes von 2003 und – nach Abschluss des Normenkontrollverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht – das erste bundeseinheitliche Altenpflegegesetz (ebenfalls von 2003). Überlegungen zu einer grundlegenden Neuordnung der Pflegeausbildung, wie sie in zeitlicher Nähe zum bildungspolitischen Diskussionsprozess um Reformen (nämlich im November 2000) eine Arbeitsgruppe im Auftrag der Robert Bosch-Stiftung unter dem Titel „Pflege neu denken“ vorgelegt hat – in der etwa einer zweijährigen neu konzipierten Ausbildung eine vierjährige Qualifikationsstufe an die Seite gesetzt wurde -, gingen dabei ebenso wenig in die Reformen ein, wie Impulse aus der „Münchener Erklärung“ der Weltgesundheitsorganisation / WHO, in der eine Neuausrichtung der Pflegeausbildung in Richtung „Familien-Gesundheits-Pflege“ vorgeschlagen wurde, obgleich diese Erklärung im Jahre 2000 von der damaligen Gesundheitsministerin (Andrea Fischer) lauthals begrüßt worden war. (Vielleicht kommt von daher der Name „Gesundheitspflegerin“ im neuen Gesetz?) Ich will auf diesen Reformprozess nicht näher eingehen, obgleich sich hier etliche versäumte Möglichkeiten aufweisen ließen. Auf jeden Fall haben wir zumindest in der Struktur nunmehr deutliche Ähnlichkeiten zwischen Krankenpflege und Altenpflege: - die einheitliche Dauer von drei Jahren, - die gleichen Zugangsvoraussetzungen, nämlich ein mittlerer Bildungsabschluss, - 2.100 Theoriestunden und 2.400 Praxisstunden, - die Einführung der Pflegewissenschaft in die Zielbestimmungen, - es gibt keine Fächer mehr sondern Themenbereiche (wenn wir auch von den berufspädagogisch definierten Lernfeldern noch recht weit entfernt sind!), - ausdrücklich gilt für beide Ausbildungsgänge die Nicht-Anwendung des Berufsbildungsgesetzes (neben etlichen Berufsverbänden haben sich hier insbesondere im Krankenpflegebereich die Vertreter der Krankenhäuser durchgesetzt, die die Ausbildung nicht „aus den Händen“ geben wollten – hier wird eine interessante Entwicklungsperspektive ausdrücklich ausgeklammert!) und - wichtig für meine Ausführungen: 5 - der § 4 Abs. 6 (gleichlautend in Altenpflege- und in Krankenpflege-Gesetz): „Zur zeitlich befristeten Weiterentwicklung Erprobung der von Pflegeberufe Ausbildungsangeboten, unter die Berücksichtigung der der berufsfeldspezifischen Anforderungen dienen sollen, können die Länder“ unter bestimmten Voraussetzungen und mit bestimmten Einschränkungen von bestimmten Festlegungen der Gesetze abweichen. Diese Modellklausel eröffnete nun einer ganzen Reihe von Modellversuchen Tür und Tor. Dabei sollte man beachten, dass es schon bald vornehmlich nicht darum ging, in verschiedenen Modellen zu überprüfen, wie die neuen Bestimmungen der neuen Gesetze in der Krankenpflege und in der Altenpflege ausgeformt werden sollten, sondern quasi mit der Verabschiedung der neuen Gesetze wurde sogleich deren grundlegende Revision angestoßen. Denn die meisten der nun folgenden Modellversuche zielten auf Integration. Unter diesem Zauberwort wurde auf der einen Seite die im Krankenpflegegesetz vorgesehene Zusammenführung von Krankenpflege und Kinderkrankenpflege ohne weitere Diskussion konsequent umgesetzt. Auf der anderen Seite ging es um die Zusammenführung von Krankenpflege und Altenpflege. Dies lief und läuft unter den Überschriften „integrativ“, „integriert“ oder „generalistisch“. Ein wichtiges Problem blieb dabei allerdings erhalten: egal, in welcher Form die Ausbildung durchgeführt wird, sie endet mit der Erteilung der Erlaubnis zum Führen einer Berufsbezeichnung, wenn auch in einigen Modellen zwei oder sogar drei Abschlüsse erworben werden können. Daneben eröffnete die Modellklausel auch Möglichkeiten, die Pflegeausbildung mit einem Hochschulstudium zu verknüpfen, Ansätze, mit denen man Anschluss an die internationale Entwicklung der Pflege (insbesondere im angloamerikanischen Bereich) zu finden hofft. Nach meiner Einschätzung hätte es der Pflegeausbildung gut getan, wenn man nach der Verabschiedung der Gesetze den Ausbildungsstätten mehr Raum gelassen hätte für die Ausgestaltung der neuen Ausbildungen. Den Umbruchprozessen – vor allem auf curricularer Ebene – wurde zu wenig Raum gegeben, pädagogische Prozesse in den Schulen mussten oftmals „en passant“ erfolgen, neben dem normalen Lehr- und Prüfungsbetrieb. Hier wurden zumeist keine Entlastungen für Teams bereit gestellt, 6 stattfindende Veränderungen wurden zumeist nicht wissenschaftlich begleitet oder evaluiert. Die „Normalpraxis“ befand sich schon bald auf dem „Abstellgleis“. Stattdessen galt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dem „Besonderen“ – den Modellen. An dem (im Internet wie in Druckform gut dokumentierten) Modellvorhaben „Pflegeausbildung in Bewegung“ waren insgesamt acht Projekte von acht verschiedenen Trägern in acht Bundesländern beteiligt (der Föderalismus lässt grüßen). Da die Berufsausbildungsgesetze keine andere Möglichkeit zulassen, wurde in allen Modellen nach Abschluss der dreijährigen Ausbildung der Berufsabschluss in einem der drei Pflegeberufe vergeben. Allerdings wurden verschiedene Formen der Integration erprobt: - in drei Fällen (Berlin, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) wurden alle drei Ausbildungsgänge – Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege – zusammengeführt, in den übrigen fünf ging es lediglich um die Integration von Krankenpflege und Altenpflege, - drei Modelle (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz) erprobten eine generalistische Ausbildung (mehr als 90 % gemeinsame Anteile), in den übrigen ging es um eine integrierte Ausbildung (mit über 60 % gemeinsamen Anteilen), - in drei Modellversuchen (Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz) bestand die Möglichkeit, durch ein Aufbaumodul von 6 Monaten einen zweiten Berufsabschluss zu erwerben. Ein breiter Strauß von Möglichkeiten. Welche Möglichkeit ist die beste? Die Anforderungen an die Curricula, die in allen Modellversuchen entwickelt wurden, waren sehr hoch: „Neben den kurativ-pflegerischen bzw. sozialpflegerischen Aufgaben und der Berücksichtigung der verschiedenen Lebens- und Pflegesituationen sowie der unterschiedlichen Lebens- und Versorgungsbereiche waren beratende, präventive, palliative und weitere Aspekte, die sich aus dem erweiterten Pflegebegriff ergeben, zu berücksichtigen. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Qualifikationsbereich `Pflege älterer Menschen`“. (Abschlussbericht S.25). Wäre weniger vielleicht mehr gewesen? 7 In den Modellprojekten ist von den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern ein hohes Maß an didaktischer Phantasie entwickelt worden und es gibt eine Reihe von curricularen Bausteinen, die unbedingt weiter entwickelt werden sollten. Ich zweifle aber, ob der zugrunde liegende „umfassende Pflegebegriff“ in sich konsistent ist! Nach intensivem Suchen findet man im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung auch einige wenige kritische Äußerungen. Sie stammen von Absolventinnen und Absolventen, die vor allem Oberflächlichkeiten beklagen: „`Es wird zuviel vermischt`… / `Weil alles nur oberflächlich behandelt werden kann, zuwenig Struktur.` / `Hätte lieber reine Krankenpflege gelernt, da man in der praktischen Phase viele Defizite aufweist.`/ `Kinderkrankenpflege fällt unter den Tisch.` / `Konnte den Umgang mit alten Menschen und ihren speziellen Bedürfnissen üben, hatte aber zu wenig Zeit, um im Krankenhaus den Überblick zu bekommen.`“ (Abschlussbericht, S.146). Die wissenschaftliche Begleitforschung (durchgeführt durch das „Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung“ / DIP und das „Wissenschaftliche Institut der Ärzte Deutschlands“ / WIAD) kommt demgegenüber zu einem durchgängig positiven Urteil: „Im Modellvorhaben hat sich gezeigt, dass mit einer integrierten Pflegeausbildung eine berufsfeldbreite Qualifizierung sichergestellt und gleichwohl eine berufsfachliche Vertiefung ermöglicht wird.“ (Abschlussbericht S.206) Und zieht sofort eine bildungspolitische Konsequenz: „Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird dem Gesetzgeber empfohlen, die zukünftige Pflegeausbildung als eine integrierte Pflegeausbildung mit generalistischer Ausrichtung auszugestalten. Es sollte sich um ein bundeseinheitliches Pflegeausbildungsgesetz handeln, das eine dreijährige Ausbildung mit einem Berufsabschluss festlegt.“ (ebd.) Welch dezidierte Einschätzung! Ich bin da sehr viel vorsichtiger! Weder die skizzierten Ergebnisse des Modellvorhabens „Pflegeausbildung in Bewegung“ noch die vorliegenden Ergebnisse einer integrativen Ausbildung im „Stuttgarter Modell“, noch die 2006 vorgelegten Ergebnisse des Modellprojektes Integrierte Pflegeausbildung können meiner Einschätzung nach dahingehend 8 interpretiert werden, dass sich aus den Ergebnissen der Modelle eindeutige Schlussfolgerungen ziehen lassen. Eine differenzierte Analyse dieser Modellversuche ergibt, dass sie nicht wesentlich weiter gekommen sind, als Oelke/Menke im Caritas-Modellversuch von 1996-2001. Gerd Dielmann hat in seiner im Mai 2009 veröffentlichten Stellungnahme zu „Pflegeausbildung in Bewegung“ darauf hingewiesen, dass im Schlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung der Modellprojekte zwar eine Vielfalt von Ergebnissen veröffentlicht wurden, eindeutige Aussagen jedoch fehlen: „Wir hätten gerne gewusst, ob eines oder gegebenenfalls welches der sehr unterschiedlichen Modelle besser auf die beruflichen Anforderungen in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern der Pflege vorbereitet als die herkömmliche Ausbildung nach dem Altenpflege- und dem Krankenpflegegesetz. Kompetenzmessungen ohne Vergleichsgruppe sind da, wenn überhaupt, nur begrenzt hilfreich.“ (Dielmann 2009, 47) Ohne die Durchführung von breit angelegten wissenschaftlich begleiteten Modellversuchen zur Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege und in der Altenpflege, die einen Vergleich ermöglichen, bleibt es, wie Dielmann zu Recht kritisiert, bei schlichten Behauptungen, die Modellausbildungen seien besser. Einen weiteren Aspekt möchte ich hier kritisch hervorheben: dieser hängt mit dem unkritischen Gebrauch des Begriffes „Integration“ zusammen. Es erscheint fast selbstverständlich, dass alle drei traditionellen Ausbildungsgänge – Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege – zusammengeführt werden müssen. Aber ist diese Zusammenführung denn tatsächlich systematisch begründet? Wahrscheinlich ist unter Expertinnen und Experten relativ schnell ein Konsens darüber herzustellen, dass die Orientierung der drei Ausbildungsgänge an Krankheiten bzw. Defiziten von Kindern, Erwachsenen und Alten zu kritisieren und zu überwinden ist. Daraus folgt allerdings noch nicht notwendig, dass die Ausbildungsgänge auch integriert werden müssen! Ein Blick auf die gegenwärtigen Tendenzen in Ausbildungseinrichtungen nährt den Verdacht, dass „Integration“ von Ausbildungsgängen nicht primär aus qualifikatorischen (oder gar pfle- gepädagogischen) Gründen präferiert wird, sondern aus pragmatischen und (vor allem) finanziellen Gründen. 9 Demgegenüber sei hier auf eine systematische Schwierigkeit der Integration von Ausbildungsgängen hingewiesen. Die Entwicklung der Kinderkrankenpflege wie die Entwicklung der Altenpflege haben im Verlaufe der letzten Jahrzehnte zur Entfaltung einer spezifischen Disziplinarität geführt, die nunmehr bedeutungslos zu werden scheint. Dabei gibt es noch lange keine Einigung darüber, welches Pflegeverständnis einer integrierten Ausbildung Pflegetheorie-Entwicklung zugrunde ist liegen eine soll. In Pflegewissenschaft deutliche Dominanz und von „Krankenhauskrankenpflege“ feststellbar (vgl. Becker 1996, S.90). Integration darf aber nicht bedeuten, dass mehrere Ausbildungsgänge einseitig auf akute und vorrangig somatische Behandlung von Krankheit in einem einzigen Versorgungssystem (vorrangig dem Krankenhaus) konzentriert werden, es ist vielmehr notwendig, den Akzent der Altenpflege (Betreuung und Beratung) in gemeinsamen Ausbildungsgängen hervorzuheben. Birgit Hoppe hat in ihrer bereits 1992 vorgetragenen Argumentation gegen eine gemeinsame Grundausbildung hervorgehoben, dass Altenpflegerinnen nicht vornehmlich Krankenpflegekräfte sind, sondern zu Fachkräften für Altenhilfe ausgebildet werden (sollen). „Altenpflege ist keine Krankenpflege. Arbeit mit alten Menschen meint, die Lebensqualität im Rahmen vorhandener Möglichkeiten zu erhalten und zu fördern. Es geht um Wohnen, Freiheit, Armut und Rehabilitation, Krankheits- und Krisenbewältigung. Die Krankheit eines alten Menschen in den Mittelpunkt zu stellen hieße letztlich, die gesamtgesellschaftliche Abwertung des Alters - hinfällig, minderwertig, leistungsreduziert - ins Berufsfeld zu übernehmen“ (Hoppe 1992, S. 309). Insbesondere die Entwicklung der Altenpflege hat dieser in den letzten Jahren gerade weil sie keine Pflege von Kranken ist (!) - eine interessante Stellung zwischen Pflege und Sozialarbeit zukommen lassen mit der Gerontologie als zentraler Bezugswissenschaft. Angesichts der Tatsache, dass sich in Pflegeeinrichtungen zunehmend multimorbide Schwerstkranke befinden, droht diese Perspektive aus dem Blickfeld zu geraten. Obgleich Alternativen denkbar sind droht unter dem Stichwort der „Integration“ möglicherweise eine „Kolonialisierung“ der Altenpflege durch die Krankenpflege (vgl. Becker 1996, S. 90). Annette Riedel hat in ihrer materialreichen Dissertation „Professionelle Pflege alter 10 Menschen“ (2007) meines Erachtens konsistent nachgewiesen, dass die Entwicklung der Altenpflegeausbildung deren wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung alter Menschen belegt. Die Autorin wagt allerdings nicht, die These zu vertreten, dass die Entwicklung der Altenpflegeausbildung konsequent weiter betrieben werden müsste. Ist eine solche These heute nicht mehr diskussionswürdig? Nehmen wir einmal die zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre (vgl. Abschlussbericht S.20): Natürlich kann im Rahmen der Krankenpflege-Ausbildung der Anstieg der Zahl älterer multimorbider Menschen ebenso angemessen thematisiert werden wie die Zunahme an chronischen Erkrankungen und die Fortschritte in Medizin und Pflegewissenschaften. Demgegenüber scheinen mir grundlegende sozialwissenschaftliche wie insbesondere gerontologische Erkenntnisse zum Wandel der Generationenbeziehungen, zur Individualisierung der Lebensstile, zu neuen Arten und Formen der Versorgungseinrichtungen vornehmlich zentrale Gegenstände vor allem der Altenpflege-Ausbildung. Auch sollte die Altenpflege den Umgang gerontopsychiatrischen mit der Erkrankungen steigenden nicht zu Zahl von Hilfskräften Menschen mit umgeschulten Langzeitarbeitslosen überlassen, sondern als ihre zentrale Aufgabe ansehen und entsprechend dafür qualifizieren! Den Herausforderungen zu begegnen gilt es allerdings nicht nur im theoretischen Unterricht; die praktische Ausbildung, in der ja auch nach Einschätzung der Vertreter von Modellprojekten viele Aspekte thematisiert werden sollen, erscheint mir bislang ein „Stiefkind“ der Reform zu sein. In diesem Bereich sind noch etliche Aspekte zu thematisieren; die praktischen Ausbildungsanteile sollten nicht weiterhin Sozialisationsinstanzen sein, sondern als integrativer Teil der Ausbildung verstanden werden! Für die weitere Entwicklung der Pflegeausbildung lassen sich aus den Modellprojekten einige Konsequenzen ziehen. In einem Projekt unter Leitung von Stefan Görres haben Martina Stöver und andere im Rahmen einer Synopse evaluierter Modellprojekte „Qualitätskriterien für Best Practice in der Pflegeausbildung“ herausgestellt. Dies sind: 11 (1) Curricula mit Modularisierung und Orientierung am Lernfeldansatz (2) Innovative Formen des Lehrens und Lernens (3) Kompetenzorientierung und Förderung der Persönlichkeit (4) Wandel des Pflegeverständnisses (5) Dynamisierung des Theorie-Praxis-Transfers (6) Akzeptanz auf dem Arbeitsmarkt (7) Ausgewogenes Verhältnis von Kosten und Nutzen und (8) Durchlässigkeit. Die Autoren der Evaluationsstudie heben hervor, dass es zur Zeit eine große Variationsbreite innovativer Ausbildungsmodelle gibt (S.39) – empfehlen dann aber die Auflösung der drei bisherigen traditionellen Berufsbilder und die Zusammenführung innerhalb einer dreijährigen generalistischen Ausbildung (S.49). Mir geht das zu schnell! Ich plädiere demgegenüber für eine Fortsetzung von Modellversuchen – etwa mit stärkerem altenpflegerischem Schwerpunkt. Noch liegen außerdem keine Erkenntnisse über die Dualen Pflegestudiengänge vor. Das Studium stellt sicherlich nicht die eine Alternative zur Ausbildung dar, aber eine sinnvolle Ergänzung. Hier sollten wir vergleichende Evaluationsstudien durchführen. Meine kritischen Äußerungen zu den Modellvorhaben sollten nun nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich Reformen des Krankenpflegegesetzes bzw. des Altenpflegegesetzes grundsätzlich ablehne. Oh nein! Ich denke allerdings, dass eine Reform tiefer zu gehen hat. Wir müssen – wie Stefan Görres 2006 in der Einleitung zur Dokumentation des Bremer Modellprojekts geschrieben hat – eine neue Lernkultur in den Ausbildungsstätten entwickeln und dafür sorgen, dass sich Schule wie Ausbildungspraxis dahingehend entwickeln, dass Lernen und Bildung sich ändern. Hierzu Görres: „Bildung und Lernen haben allgemein das Ziel, Menschen in ihrer Lebensgestaltung zu befähigen, den Veränderungen, welche die gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt, gewachsen zu sein. Lernen kann jedoch nicht bedeuten, auf funktionale Anpassung hin zu lernen. Es soll vor allem Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung und zu selbst verantworteter Lebensgestaltung eröffnen. Dies gilt auch für die berufliche Bildung.“ (Görres 2006, 12 13) An dieser Grundvorstellung ist die weitere Diskussion um Reformen der Pflegeausbildung zu messen. Ich komme zum Schluss. Der angekündigte Titel meines Vortrages „Wohin steuert die Pflegeausbildung?“ hat möglicherweise die Vorstellung hervorgerufen, die Pflegeausbildung steuere auf ein bestimmtes Ziel zu. Hier möchte ich aber warnen: Ich glaube, wir wissen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht, welches das Ziel dieses Entwicklungsprozesses ist. Und: Wer steuert eigentlich diesen Prozess? Landes- oder Bundespolitiker? Die Trägervertreter? Die Vertreter von Berufsverbänden oder Gewerkschaften? Die AusbilderInnen, LehrerInnen, PraxisanleiterInnen? Oder gar die Wissenschaftler? Schon diese Aufzählung zeigt, dass hier wohl nicht von einem Steuerungsprozess gesprochen werden kann, sondern eher von Treiben, Getriebenwerden. Müsste es also genauer heißen: Wohin wird die Pflegeausbildung getrieben? Etwas konkreter darf man doch wohl nachfragen, welche Interessen sich hinter verschiedenen Reformvorschlägen verbergen. Wenn es auch sehr schwierig ist, überhaupt die Akteure des Reformprozesses zu identifizieren. Warum will „das“ Bundesministerium für Senioren eine Integration der Altenpflege- in die Krankenpflegeausbildung? Will Frau Ministerin Schröder das? Was will eigentlich „das“ Bundesministerium für Gesundheit, das keine Reformmodelle durchgeführt hat, aber verantwortlich ist für das Krankenpflegegesetz? Herr Minister Rösler sprach vor kurzem von der Notwendigkeit einer „Annäherung“ von Kranken- und Altenpflege – wörtlich: „Wir wollen die strenge Trennung von Altenpflege und Krankenpflege in der Ausbildung teilweise aufheben“ wird er am 15. November diesen Jahres von der „Rheinpfalz“ zitiert. Sind wir da nicht schon etwas weiter? Was wollen die Träger der Ausbildungen? Was will „die“ Praxis? Und was wollen Wissenschaftler? Oder sind diese zur Neutralität verpflichtet? Ich nehme mir als Wissenschaftler die Freiheit, zumindest kritische Fragen zu stellen: 13 - An erster Stelle steht sicherlich die Frage: Welche Ausbildung nutzt längerfristig den PatientInnen und BewohnerInnen, also den Klienten der Pflege am besten? - Über welche Kompetenzen sollten qualifizierte Pflegekräfte verfügen? Und: Wie können diese optimal erworben werden? - Geht es tatsächlich um Akademisierung oder um den Aus- und Umbau des Berufsbildungssystems in der Pflege? - In welchen Bereichen werden welche Fachkräfte wie eingesetzt? Wo landen z.B. Bachelor of Nurse oder Personen mit Doppelqualifikationen? Wo brauchen wir bestens qualifizierte Krankenpflegekräfte, in welchen Bereichen werden eher Personen mit einer Expertise in der Altenpflege benötigt? - Wie sehen die Qualifikationsgänge aus? Einheitlich oder unterschiedlich? - Wenn es weiterhin verschiedene Ausbildungsgänge gibt, wie Ernst nimmt man dann die Forderung nach Durchlässigkeit? Ist hier Modularisierung der Weisheit letzter Schluss? - Wie steht es um die Reform der praktischen Ausbildung? - Vergessen wir vor lauter Höherqualifikation die Anstrengungen um Helferqualifikationen? - In welcher Trägerschaft findet die Ausbildung zukünftig statt? - Wer definiert die Bedarfe nach Qualifikation? - Wie wird die Qualifizierung nachhaltig finanziert? Diese Frage stelle ich als letzte, weil gerade an dieser Problematik sich deutlich zeigen lässt, dass sowohl Politik als auch Träger oftmals Fragen der Qualität hinter ökonomischen Fragen verschwinden lassen. Diese Gefahren sollten offen diskutiert werden! 14 Literaturhinweise Abschlussbericht: Wissenschaftliches Institut der Ärzte Deutschlands / Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Pflegeausbildung in Bewegung. Ein Modellvorhaben zur Weiterentwicklung der Pflegeberufe. Schlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung, Berlin 2008 Becker, Wolfgang (1996): Stand und Perspektiven der curricularen Entwicklung bei gesundheits- und sozial-pflegerischen Berufen, in: Monika Martens u.a. (Hrsg.): Didaktisches Handeln in der Pflegeausbildung. Dokumentation des 1. Kongresses zur Fachdidaktik der Gesundheit, Bremen, S.84ff. Dielmann, Gerd (2009): Keine brauchbaren Erkenntnisse. Modellversuche zur Reform der Ausbildung in den Pflegeberufen, in: Dr. med. Mabuse, 34.Jg., Nr.179, S.46ff. Görres, Stefan (2006): `Neues` Lernen in der Pflege – Erfordernisse des strukturellen Wandels, in: des. U. a. (Hrsg.): Pflegeausbildung von morgen – Zukunftslösungen heute. Das Modellprojekt „Integrierte Pflegeausbildung in Bremen“ im Diskurs – wissenschaftliche Beiträge und praktische Erfahrungen, Lage Görres, Stefan (Leitung) / Stöver, Martina u. a. (2009): Qualitätskriterien für Best Practice in der Pflegeausbildung – Synopse evaluierter Modellprojekte – Abschließender Projektbericht, www.ipp.uni-bremen.de/downloads/ abteilung3/abschlussbericht_best_practice.pdf Hoppe, Birgit (1992): Altenpflege wird dequalifiziert, in. Altenpflege, 17.Jg., H.5, 309f. Oelke, Uta (2002): Gemeinsame Ausbildung. Das evaluierte Curriculum Zwei Teile, in: Pflegemagazin, 3.Jg., H.1, S.42ff. und H.2, S.38ff. Oelke, Uta / Menke, Marion (2002): Gemeinsame Pflegeausbildung. Modellversuch und Curriculum für die theoretische Ausbildung in der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege, hrsg. vom DiCV, Bern Riedel, Annette (2007): Professionelle Pflege alter Menschen. Moderne (Alten-) Pflegeausbildung als Reaktion auf gesellschaftlichen Bedarf und die Reformen der Pflegeberufe, Marburg