Kata no Bunkai – Zur Analyse der Formen

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Kata no Bunkai – Zur Analyse der Formen
– verfasst von Matthias Golinski –
Wie wohl die meisten anderen Kampfkünste weltweit, entwickelte sich auch das Karate vorrangig aus
dem Schutzbedürfnis des Menschen heraus. Während das traditionelle japanische Bujutsu speziell zur
Ausbildung der Kriegerkaste für den Kampf auf dem Schlachtfeld entwickelt wurde, entstand das
Karate im wesentlichen als Schutzinstrument der Zivilbevölkerung. Demnach sind die Prinzipien und
Trainingsformen auch genau auf diese Bedürfnisse ausgerichtet: Als Mittel zum Schutz vor Räubern,
Schlägern und anderen Aggressoren; sprich zum Schutz vor möglichen Angriffen im Alltag. Im
Umkehrschluss ist Karate somit bereits vom Grundgedanken her nicht für die Anwendung gegen
ausgebildete Kämpfer auf dem Schlachtfeld, oder im sportlichen Wettkampf gedacht!1
Nach Ansicht des Autors ist dies genau der ursprüngliche Sinn des Tôde (oder Karate) und zugleich
der Grundgedanke aller Kampfkünste: Dem Schüler, unter Berücksichtigung seiner körperlichen und
psychischen Fähigkeiten, Strategien (Heiho) und Prinzipien (Genron) zu vermitteln, um sich in einer
Notsituation erfolgreich verteidigen zu können. Ziel der Technik ist es hierbei, körperliche
Differenzen zu relativieren; sprich dem (körperlich) schwächeren Verteidiger bessere Möglichkeiten
gegen den (körperlich) überlegenen Angreifer zu geben. Die Technik fungiert in dieser Notsituation
stets nur als Werkzeug zum Sieg und stellt keinen Selbstzweck dar.
Für viele Karateka ist eine Kata heute nicht mehr, als eine simple Aneinanderreihung von Techniken.
Oberflächlich betrachtet ist dies auch zweifelsfrei richtig. Die Art, wie und welche Techniken dort
kombiniert wurden, und die Frage warum dies gerade in dieser Form passierte, sind jedoch von
besonderem Interesse. „Die Techniken aus denen die Kata besteht sind, sind natürlich
zusammengesetzt und lediglich für den Gebrauch zur Selbstverteidigung bestimmt“ sagt Patrick
McCarthy Hanshi (8. Dan), einer der weltweit bekanntesten Kampfkunst-Historiker hierzu2.
Es gibt bestimmte Angriffe, die ungeübte Angreifer vorwiegend benutzen (36 Akte der körperlichen
Gewalt; wie etwa Schwinger, Griffe etc.). Auf diese wurden nun „Antworten“, sprich Konter
entwickelt. Man übt dieses „Wechselspiel“ dann mit dem Partner (Angreifer & Verteidiger), um es zu
verfestigen. Lässt man nun den Partner weg und reiht mehrere dieser Verteidigungen aneinander, so
kommt man dem Phänomen, welches wir im Karate als Kata kennen, schon recht nahe.
Diese fertige Kata stellt dann eine Art Ansammlung von „Ideallösungen“ dar. Diese Verteidigungen
gehen von einem idealisierten Umfeld und passenden Verteidigungsgegebenheiten aus. Dies wird
besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass das ursprüngliche japanische Schriftzeichen (Kanji) für
Kata nicht nur „Form“, sondern auch „Modell“ bedeutet. Dieses Modell kann dann als Grundlage an
jeden Schüler unterrichtet, und später von diesem auf seine individuellen Bedürfnisse angepasst
werden.
Wenn es um die Umsetzung dieser Solo-Techniken am Partner geht, gilt es, zuerst einmal die Begriffe
„Bunkai“ und „Ôyô“ klar voneinander abzugrenzen. Hier passieren in der Praxis häufig
Verwechselungen. Der Begriff „Bunkai“ bedeutet im japanischen lediglich „Analyse“ und meint im
Kampfkunstbereich, die Anwendungsmöglichkeiten der Kata-Bewegung am Gegner herauszuarbeiten.
Geht es dann darum, das Ergebnis dieser Analyse am Partner umzusetzen und mit diesem zu üben,
spricht man hingegen von „Ôyô“ (Anwendung).
Heute versuchen sich viele Trainer durch die Entwicklung eigener Anwendungen abzuheben oder in
der Karateszene zu profilieren. Dementsprechend gibt es auch eine Vielzahl von Bunkai-Varianten
und Anwendungsbeispielen ‚auf dem Markt’. Nimmt man die ursprüngliche Idee des Karate, nämlich
die praktische Anwendbarkeit in der Selbstverteidigung, als Maßstab, sind manche Anwendungen
auffallend gut, die meisten aber eher schlecht. Um es dem Leser leichter zu machen, hier die Spreu
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vom Weizen zu trennen, bzw. selbst die stileigenen Formen zu analysieren, sind nachfolgend einige
Bewertungsmaßstäbe und Fakten aufgeführt3:
•
Kata ist nicht Selbstverteidigung! Der reale Zweikampf ist viel zu komplex, um ihn in einigen
Techniken umfassend behandeln zu können. Vielmehr lehrt die Kata anhand einzelner
Techniken grundlegende Prinzipien für die Selbstverteidigung, welche, einmal verstanden,
universell in jeder Phase der realen Konfrontation angewandt werden können. „Übe die
Formen korrekt, im wirklichen Kampf ist das eine andere Sache“ sagte Funakoshi Gichin
(1968-1957), der Urvater des Shôtôkan in seinen „Zwanzig Paragraphen der Leeren Hand“4.
Ähnlich dachte wohl auch Motobu Chôki (1870-1944), einer der bekanntesten Kämpfer
Okinawas, als er sagte: „Man muss lernen, wie man die Prinzipien der Kata anwenden und
wie man sie den Gegebenheiten anpassen muss“5. Die Ausführung der Technik kann sich je
nach Situation und/oder Kampfverlauf ändern, das jeweils grundlegende Prinzip bleibt jedoch
bestehen.
•
Die Kata lehren nicht den Kampf gegen mehrere Gegner, welche aus unterschiedlichen
Richtungen angreifen! Mabuni Kenwa (1889-1952), der Begründer des Shitô-Ryû, bezeichnete
diese Idee sogar als „Unsinn“6. Und dies aus gutem Grund, denn ein derartiger
Mehrfrontenkampf gegen sechs oder gar acht Gegner ist selbst für einen Meister kaum zu
schaffen. Schließlich greifen die Gegner in der Realität normalerweise gleichzeitig an und
warten nicht ab, bis ihr Freund niedergeschlagen wurde und sie nun angreifen „dürfen“.
•
Die Kata beinhalten Strategien und Methoden für jede Phase der kämpferischen
Auseinandersetzung. Also sind nicht nur Stoß- (Tsuki-Waza), Schlag- (Uchi-Waza), Block(Uke-Waza) und Tritttechniken (Keri-Waza), sondern auch Greiftechniken (Torite-Waza),
Hebel
(Kansetsu-Waza),
Würfe
(Nage-Waza),
Würgetechniken
(Shime-Waza),
Kontertechniken (Gyaku-Waza), Kontrolltechniken (Katame-Waza), Bodenkampf (Ne-Waza)
sowie der Druck auf empfindliche Körperregionen (Kyusho-Jutsu) enthalten. In den Kata
„sind alle Techniken untergebracht. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Seele des
Weges der Leeren Hand in diesen Formen liegt“ schrieb der Funakoshi-Schüler Takagi
Masatomo (1913-1996)7. Dieser Umstand sollte unbedingt bei der Analyse berücksichtigt
werden.
•
„Die Bewegungen der Kata sind dazu gedacht, in einer realen Konfrontation eingesetzt zu
werden [...]“ sagte Mabuni Kenwa8. Folglich lehren die Kata nicht die Verteidigung gegen
Karate-Angriffe wie Chudan Gyaku-zuki oder Jodan Mawashi-geri! Es ist ausgesprochen
unwahrscheinlich, dass uns jemals ein ausgebildeter Karateka im Alltag angreift. Wozu also
das Ganze? Zum Miteinanderkämpfen haben wir schließlich schon das Jiyû Kumite!
•
Die Verteidigung sollte simpel sein. Komplexe Kombinationen erfordern übermäßig viel
Training und funktionieren unter Stress in der Regel dennoch nicht. Ebenso sind auch
Anwendungen, die stark auf einer passenden, bewussten Reaktion des Gegner basieren, zu
vermeiden.
•
Bei der Analyse der Kata ist die Bewegung wesentlich wichtiger, als die Bezeichnung! Ein
„Block“ ist genauso wenig immer eine Abwehr, wie eine „Wendung“ stets ein
Richtungswechsel ist.
•
Die ‚Ökonomie der Bewegung’ ist eines der wesentlichen Prinzipien im Karate. Jede KataTechnik/Sequenz ist grundsätzlich so konzipiert, dass sie sich zur Verteidigung gegen
verschiedene Angriffe eignet. „Die Technik ist unerschöpflich, der Hochmut ist unerwünscht“
schrieb Mabuni Kenwa dazu9. Derartige Anwendungsvarianten werden auf japanisch als
„Henka“ bezeichnet. Genauso können auch verschiedene Kata-Bewegungen zur Verteidigung
gegen denselben Angriffstyp verwendet werden. Hier gilt es nicht, alle möglichen
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Anwendungen zu können, sondern die, für die persönlichen Ansprüche, geeignetsten
herauszunehmen.
•
Die Anwendungssequenz sollte der Kata-Bewegung möglichst ähnlich sein und jeden TeilAspekt einbeziehen. Die „freie Gestaltung“, Zuhilfenahme anderer Techniken oder der
Ausschluss von Bewegungen deutet meistens auf einen Fehler in der Analyse hin! Sakumoto
Tsuguo, 7. Dan Ryûei-Ryû und dreimaliger Kata-Weltmeister, sagt dazu: „Je mehr du das
verstehst was du tust, desto weniger musst du ändern oder modifizieren“10.
•
Tipps wie das „Rückwärtsausführen“ oder gar das „Spiegelverkehrte Rückwärtsausführen“
sind bloße Schikane. Sie erhöhen selten das Verständnis der Bewegung und führen meist nur
zu Frust und Unmut. Oder glaubt irgendjemand ernsthaft, dass die Bedeutung der Formen
durch solche Maßnahmen besser entschlüsselt werden kann?
•
Es gibt grundsätzlich keine falschen Anwendungen. Fraglich ist erst einmal, in wie weit die
Anwendung für die Verwendung in der Selbstverteidigung zweckdienlich ist. Unter dieser
Prämisse ist jede Interpretation richtig, solange sie sinnvoll ist und die Bewegungsreihenfolge
der Kata eingehalten wird.
•
Wie so oft im Karate gilt auch im Anwendungsbereich das Motto: „Qualität vor Quantität“.
Viele Kata und Anwendungen oberflächlich zu ‚können’ war noch nie das Ziel der
Kampfkünste. „Mit weniger Kata, kann mehr Zeit und Mühe dem Bunkai gewidmet werden“
meint der Karate-Historiker Charles Goodin11. Mabuni sah dies ähnlich: „Wenn du dich
spezialisierst und nur wenige Kata studierst, wirst du ein ernsthafter Schüler des Karate-Jutsu
sein“12. Die alten Meister beschäftigten sich also aus gutem Grund lediglich mit zwei oder drei
Kata.
Die Analyse der Kata und Erklärung der Bewegungen mit realistischen, praxistauglichen
Anwendungen ist heute wohl eine der größten Herausforderungen für den fortgeschrittenen Karateka.
Es ist keine Übertreibung wenn man sagt: Die Kata verstehen heißt Karate verstehen. Richtig
verstanden, ist die Kata ein unerschöpflicher Quell neuen Wissens.
Unbedingt herauszustellen ist noch, dass die Analyse der Formen und das Erkennen der
Anwendungsmöglichkeiten lediglich den erste Schritt und keinesfalls das Endziel markiert. „Sobald
eine Form gelernt wurde, muss sie kontinuierlich geübt werden, bis sie in einem Notfall angewendet
werden kann. Lediglich die Abfolge einer Form zu kennen ist im Karate nutzlos“ schrieb Funakoshi
Gichin ziemlich eindeutig13. Folglich müssen die Anwendungen ständig geübt, verfestigt und
unbedingt auch unter Stress erprobt werden. Nur so kann das, in der Kata enthaltene, Wissen einmal
effektiv zur Verteidigung genutzt werden.
Lernen heißt umdenken, überdenken und leider oft auch verwerfen. Man sollte den Geist offen halten
und alles prüfen, was man sieht.
Endnoten
1
Vgl. Patrick McCarthy Hanshi (8. Dan) in Fraguas, Jose M., Karate Masters, Unique Publicatins, Burbank
2001, S. 198
2
Patrick McCarthy, Ebenda, S. 200
3
Hierbei handelt es sich lediglich um die eigenen Überlegungen und Forschungen des Autors und keinesfalls
um, für die Allgemeinheit verbindliche, universelle Richtlinien.
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4
“Karate nijukkajô” oder auch „Karatedô nijukkun“, Nr. 18. Vgl. Bittmann, Heiko, Karate-Dô – Der Weg der
Leeren Hand; Meister der vier großen Schulrichtungen und ihre Lehre, Verlag Heiko Bittmann, Ludwigsburg
2
2000, S. 131
5
Vgl. Abernethy, Iain, The Magnitude of Kata (www.iainabernethy.com/articles/article_21.htm)
6
Mabuni, Kenwa, Nakasone, Genwa, Karatedô nyûmon. Betsumei: Karatejutsu kyôhan, Tôkyô 1938, S. 139
7
Takagi in Bittmann, S. 147
8
Mabuni Kenwa, McKenna, Mario (Trans.), Seipai no Kenkyu, (www.mariomckenna.com), 2004, S. 8
9
Mabuni in Bittmann S. 179
10
Sakumoto in Fraguas (2001), S. 317
11
Goodin, Charles C, Motobu Chôki: Setting the Record Straight, Part 2, in Koryu Journal #25, International
Ryukyu Karate Research Society, Brisbane 2001, S. 7
12
Mabuni, Kenwa, McKenna, Mario (Trans.), Kôbô Jizai Goshinjutsu Karate Kenpô – The Free Self-defense
Art of Karate Kenpô, (www.mariomckenna.com) 2002, S. 19
13
Funakoshi, Gichin, Karate-Dô Kyôhan – The Master Text, Kodansha International, Tôkyô 1973, S. 39
© Matthias Golinski, 2003-2004
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Erstveröffentlichung: 10. Juli 2003
Zweite (überarbeitete und ergänzte) Version: 16.12.2004
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