Vögel und Delfine im Auf und Ab Optimierung in der Natur (II)

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Vorlesung Bionik I im Winter 00/01 - Ingo Rechenberg, TU Berlin
Vögel und Delfine im Auf und Ab
Optimierung in der Natur (II)
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Fliegen wie „Zappelphilipp“
Wer einmal eine Meise, einen Sperling oder eine Lerche beim Hin- und
Herfliegen genau beobachtet, stellt überrascht fest, dass diese Kleinvögel scheinbar recht unvernünftig fliegen. Auch längere Flugstrecken
werden keinesfalls im kontinuierlichen Schwingenflug zurückgelegt.
Vielmehr fliegen diese Kleinvögel in einer hektischen Girlandenbahn
bergauf und bergab (Bild 6-1). Der Vogel schlägt seine Flügel und steigt,
und schon – als wenn müde geworden – lässt er sich wieder fallen.
Bild 6-1:
Flug einer
Meise.
Sieht man genau hin, so zeigt sich, dass der Vogel während der Zeit
des Fallenlassens seine Flügel dicht an den Körper anlegt. Der Biologe,
inspiriert durch das Bild des Nur-Rumpf-Fliegens, spricht vom Bolzenflug. Der Luftwiderstand des Vogels ist während dieser Flugphase natürlich besonders gering. Vielleicht, so könnte man spekulieren, ist diese Flugtaktik gar nicht so schlecht und hilft Energie sparen. Vielleicht
sollte zukünftig ein Atlantiküberflug – mögen die Passagiere noch so
sehr leiden – in Girlandenform erfolgen. Wir wollen versuchen, das Verfahren des intermittierenden Vogelfluges mathematisch zu analysieren:
2
Widerstandsanalyse des Vogels
Am Anfang steht die Aufgabe, die aerodynamischen Kräfte am fliegenden Vogel aufzulisten. Auf den Vogel werden die Regeln des Flugzeugentwurfs angewendet. Das heißt, auf die Eigenart des Schwingenflugs
wird nicht eingegangen. Der Schwingenantrieb sei dem Propeller- Düsenoder Raketenantrieb gleichgesetzt. Wir konstruieren einen Modellvogel,
bestehend aus einem separaten Rumpf, einem separaten Flügel und
einem separaten Antrieb (Bild 6-2). Interferenzen mögen nicht auftreten. Wir zählen die energieverzehrenden Widerstände auf:
z
z
z
Form- und Reibungswiderstand des Rumpfes WR .
Form- und Reibungswiderstand des Flügelprofils WP .
Induzierter (Randwirbel-)Widerstand des Flügels Wi .
A
t
Wi
WP
b
F
WR
Bild 6-2:
S
mg
P
Kräfte am
Modell-Vogel.
Wir wollen die Kräfte tabellieren. Nach den klassischen Regeln
der Aerodynamik gilt:
A
WP
Wi
WR
ρ 2
v
2
ρ
= cwP F v2
2
ρ
= cwi F v2
2
ρ
= cwR S v2
2
= ca F
ca
= Flügel-Auftriebsbeiwert
cwP = Profil-Widerstandsbeiwert
cwi =
ca2
πΛ
2
mit
Λ=b
F
cwR = Rumpf-Widerstandsbeiwert
3
Energie-Hamstern – eine technische Analogie
Was gilt es zu minimieren? Eilfertig mögen viele auf die Summe der
Widerstände setzen.
WP + WR + Wi = (cwP F + cwi F + cwRS )
ρ 2
v .
2
Die mathematische Diskussion der Aufgabe min {WP +WR +Wi } führt
jedoch zu der unsinnigen Lösung: F → ∞ und v → 0. Mit anderen Worten: Der „stehende Flug“ ist widerstandsminimal! Es erinnert an die
„Rufer“ nach dem stehenden Autoverkehr als unfallminimale Lösung.
Wir müssen die Aufgabe genauer stellen. Bleiben wir beim Auto: Der
Ortswechsel zahlt sich aus, durch Gewinn an Freude oder Gewinn an
Geld. Wir betrachten den Gewinn an Geld und konstruieren folgendes
Beispiel: Gegeben sei eine sehr lange Autostraße. Alle 10 Kilometer
befindet sich auf dieser Straße eine Tanksäule, an der kostenlos 1 Liter
Benzin gezapft werden darf (Bild 6-3). Ein Autofahrer möchte auf
dieser Straße billig seinen Tank füllen. Am ersten Tag fährt er mit
100 km/h in 10 Stunden 100 Zapfsäulen ab. Er hamstert so 100 Liter
Benzin. Da sein Auto 5 /100 km Benzin verbraucht, und er 1000 km
gefahren ist, verbleiben 50 Liter im Tank. Am nächsten Tag rast unser
Autofahrer mit 200 km/h in 10 Stunden 2000 km die Tanksäulenstraße
entlang. Damit kommt er an 200 Zapfstellen vorbei und kann 200 Liter
tanken. Doch sein Auto verbraucht nun doppelt so viel (10 /100km),
was 200 auf 2000 km ergibt. Es verbleiben 0 Liter im Tank. Aber das
heißt nicht, je langsamer je besser. Denn am dritten Tag bummelt
unser Autofahrer mit 50 km/h 50 Zapfsäulen ab. Er schafft in 10 Stunden 500 km und sammelt 50 . Zieht man den Verbrauch ab, ergib sich
in jedem Fall weniger als am ersten Tag.
10 km
10 km
Bild 6-3: Benzin-Hamstern auf der Zapfstraße.
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Die Benzin-Gewinn-Formel für unseren Autofahrer lautet:
Gewinn[/Tag] = { Tanken[/km] – Verbrauch[/km] } . v[km/Tag].
Ich sehe eine Parallele zwischen dem Autofahrer und einem
Vogel. Dem Vogel bringt der fliegende Ortswechsel Nahrung ein. Eingesammelte Nahrung ist Energie, die dem Vogel aber nicht voll zugute
kommt. Ein Teil wird im Fluge verbraucht, wenn der Vogel von der
Futterstelle A zur Futterstelle B wechselt. Die Energie-Gewinn-Formel
für den Vogel lautet:
Gewinn[kJ/Tag] = { Nahrung[kJ/km] – Flugarbeit[kJ/km] } . v[km/Tag].
Optimale periodische Energieaufnahme
Es sei N die Nahrungsenergie, die der Vogel pro km Flugstrecke sammelt. Sind W der Flugwiderstand und s der zurückgelegte Weg des
Vogels, dann bestimmt sich die Flugarbeit zu W .s. Aber für die Flugarbeit pro Wegeinheit ergibt sich wieder W. Wir erhalten für den Energie-Gewinn Q pro Zeiteinheit die Optimierungsformel:
Q = ( N – W ) v → Max.
Jetzt muss W durch die Anteile WP, WR, Wi ersetzt werden. Dabei
gilt es zu berücksichtigen, dass unser Vogel die Methode des Girlandenfluges anwendet.
Bild 6-4:
Aerodynamische
Kräfte im
Girlandenflug.
Es sei T die Schwingungsweite der Girlandenbahn. Während des
Zeitanteils aT schlägt der Vogel seine Flügel und steigt nach oben. Und
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während der restlichen Zeit (1– a)T legt der Vogel seine Flügel an den
Rumpf an und fällt nach unten. Damit der Höhenverlust des freien
Falls wieder rückgängig gemacht wird, die Flugbahn also im Mittel
waagerecht bleibt, muss während des Flügelschlagens eine Auftriebskraft A = mg/a erzeugt werden. Diese Beziehung lässt sich leicht aus
den Fallgesetzen ableiten. Die Kontrolle der Formel zeigt, dass für a = 1
der Auftrieb erwartungsgemäß gleich der Schwerkraft ist (A = mg).
Und für a = 0,5 muss der Auftrieb während des Flügelschlagens gerade
doppelt so hoch sein (A = 2mg). Auch das leuchtet ein. Denn für die
ersten 50% der Zeit zieht die Schwerkraft mg den Vogel nach unten.
Dann muss für die restlichen 50% der Zeit die Auftriebskraft zum einen
die Schwerkraft mg kompensieren und zum anderen mit dem Überschuss mg den Vogels heben.
Ein echter Vogel fliegt deutlich flacher bergauf und bergab als es
im Bild 6-4 illustriert wird. In der Näherungsrechnung möge deshalb
der Auftrieb immer in die Lotrechte weisen. (Definitionsgemäß steht
der Auftrieb eigentlich senkrecht zur Anströmung). Ferner sei angenommen, dass sich die Geschwindigkeit v vom Gipfel zum Tal nicht
ändert. Es gilt nun, die Widerstandskräfte zu ermitteln, die auf den
Vogel während der beiden Flugphasen einwirken. Während der Steigphase
aT erzeugen Rumpf und Flügel Widerstand. Der Flügelwiderstand
wiederum setzt sich aus dem Profilwiderstand und dem Randwiderstand zusammen.
Wa = ( cwRS + cwP F + cwi F )
ρ 2
ρ
2 (mg )2
v = ( cwRS + cwP F ) v 2 + 2
.
2
2
a F π Λρ v 2
In der Beziehung cwi = ca2 / (πΛ ) wurde ca durch das Gewicht mg ersetzt.
Betrachten wir nun den Sturzflug. Hier legt der Vogel seine Flügel an
den Rumpf an, so dass nur noch Rumpfwiderstand zu verzeichnen ist.
Zur Vereinfachung der Rechnung sei angenommen, dass sich durch das
Flügelanlegen Form und Querschnitt des Rumpfes nicht ändern. Der
Widerstand beträgt somit während der Fallzeit (1– a)T:
W1−a = cwR S
ρ 2
v .
2
6
Der Widerstand werde über die gesamte Schwingung T (gewichtet)
gemittelt:
W = aWa + (1 − a )W1−a = a F cwP
ρ 2 2 (mg )2
ρ
v +
+ cwRS v2 .
2
2
a F πΛ ρ v2
Wir setzen W in die Optimierungsformel ein:
Q = ( N – W ) v → Max .
Welche Größen sind für die Optimierung verfügbar? Es sind dies
die Geschwindigkeit v, die Flügelfläche F und der Intermittenzfaktor a.
Da a immer in der multiplikativen Verknüpfung mit F auftritt, führen
wir die neue Variable u = aF ein. Nach den Regeln der Extremwertbestimmung werden die ersten Ableitungen gleich Null gesetzt:
∂Q
= ⋅⋅⋅ = 0 ,
∂u
∂Q
= ⋅⋅⋅ = 0 .
∂v
Was folgt ist eine langwierige Rechnung, die schließlich zu den
Formeln führt:
( aF )opt =
1
3c S
⋅ wR ,
Θ − 1 2 cwP
und
mit der abgekürzten Größe
2
vopt
=
Θ=
4 mg cwP
3 cwR Sρ π Λ
(Θ − 1)
N
2mg cwP ( πΛ )
Die Größe Θ lässt sich in Beziehung bringen mit dem gesamten Flügelwiderstand während der Periode T. Es gilt im Optimalpunkt:
aWFlügel = ( cwP + cwi )
ρ 2
vopt ( aF )opt = = 2 mg cwP / ( π Λ ) .
2
Damit lässt sich die Kenngröße Θ physikalisch interpretieren: Theta
gibt den tragflügelbezogenen Energieprofit an:
Θ=
N
Energie − Einnahmen ( Nahrung )
.
=
a WFlügel Energie - Ausgaben ( Flügelwiderstand )
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Noch ist das Ziel nicht erreicht. Es gilt, den optimalen Intermittenzfaktor zu bestimmen. Die Formel für (aF)opt liefert deshalb ein aopt ,
weil über die Tragflügelfläche F nicht frei verfügt werden kann. Es ist
die Start- und Landebedingung, die ein so großes F erfordert, dass der
Optimalwert (aF)opt nur durch ein a < 1 erreicht werden kann.
Bei der theoretischen Diskussion des Girlandenfluges sollte man
zweckmäßig den Weg der Evolution nachgehen: Unser Modellvogel
muss erst einmal vom Boden wegkommen, um zu fliegen. Es gibt eine
Geschwindigkeit v0 , bei der unser Vogel laufend und flügelschlagend
abheben muss. Die Abhebe-Fluggeschwindigkeit v0 berechnet sich nach
der Formel:
v0 =
2 mg
.
ρ ca F
Gewiss soll die Flügelfläche klein gehalten werden, denn sie kostet
etwas. Deshalb wird der Vogel (und auch das Flugzeug) beim Start den
Flügel so weit anstellen, dass sein Auftriebsbeiwert das Maximum erreicht. Wir erhalten dann als notwendige (minimale) Flügelfläche:
F∗ =
2 mg
.
ρ ca max v02
Damit berechnet sich aopt zu:
aopt =
1
3 cwR S .
⋅
Θ − 1 2 cwP F ∗
Zurück zu unserem Wert Theta. Für den Vogel muß sich das
Fliegen energetisch rechnen. Theta gleich Eins reicht nicht. Die
Energie-Einnahmen (Wirkungsgrad mit eingerechnet) würden bereits
durch den Widerstand des in der Zeit a ausgefahrenen Tragflügels
kompensiert werden. Und der Rumpfwiderstand ließe die Energiebilanz
ins Minus rutschen. Wir wollen annehmen, dass der über die gesamte
Schwingung (T = 1) wirksame Rumpfwiderstand mindestens so groß ist
wie der halbe Gesamtwiderstand des Flügels (WR ≥ WP = Wi). Fliegen
lohnt also sich nur, wenn Θ ≥ 1,5 ist. Diese Behauptung erscheint
sinnvoll, denn der Vogel muss Energie auf Vorrat tanken.
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Wir wollen Zahlen sehen. Gegeben sei eine ganz alltägliche Meise
(cwP = 0,05, cwR = 0,15, F/S = 0,1). Wir berechnen für verschiedene Θ -Werte
die optimalen Intermittenzfaktoren:
Θ = 1,5
Θ = 2,0
Θ = 3,0
Θ = 4,0
Θ = 5,0
☞
☞
☞
☞
☞
aopt = 0,90
aopt = 0,45
aopt = 0,23
aopt = 0,15
aopt = 0,12
In lateinischer Sprache würde EUKLID zum Schluss schreiben: q. e. d.
(quod erat demonstrandum). Für uns heißt das Ende des Beweises: Der
Girlandenflug ist eine Optimallösung der Evolution.
Girlandenflieger, Flugzeug der Zukunft?
Der Bioniker denkt an die technische Anwendung. Denn was für den
Vogel als Nahrungs-Gewinn zählt, das bedeutet für die Fluggesellschaft
der Geld-Erlös. Für sie gilt es, den
Erlös[¼/Tag] ={Passagierpreis[¼/km] − Flugkosten[¼/km]} . v[km/Tag]
zu maximieren. Das Optimierungsziel der Vogelflug-Evolution deckt sich
mit dem Optimierungsziel der Fluggesellschaft. Dennoch müssen wir
zukünftig nicht alle in Girlandenart über den Atlantik fliegen. Denn die
Analyse des Problems ohne intermittierende Flugtaktik zeigt: Maßgeblich
ist, die Flügelfläche so auszulegen, dass bei der geflogenen Geschwindigkeit der Profilwiderstand des Flügels WP gleich dem Randwiderstand
Wi wird. Hoher Erlös erfordert hohe Fluggeschwindigkeit v. Ist aber v
groß, wird (zur Erfüllung von WP = Wi ) die Flügelfläche F klein. Das
Ergebnis ist, dass das Flugzeug nicht in die Luft bzw. nicht heil
herunter käme. Der Intermittenzfaktor a ist es, der beim Vogel aus
einer großen Flügelfläche während des Fliegens scheinbar eine kleine
macht. Aber der Flugzeugkonstrukteur löst das Problem der Flächenverkleinerung im Flug auf andere Art. Er vermindert nach dem Starten
die Flügelfläche, indem er Landeklappen einfährt. So einfach ist das.
Ein Musterbeispiel dafür, dass evolutionäre Lösungen nicht bloß abgekupfert werden sollten.
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Es sei angemerkt, dass die Vogel-Evolution diese „Patentlösung“
auch entwickelt hat. Ein Vogel schiebt seine Flügel-Federn auseinander, wenn er startet oder landet. Ferner wird er, wie das Flugzeug,
zugleich die Profilwölbung erhöhen, um ein hohes ca max zu erzielen.
Aber diese Maßnahmen reichen wohl nicht aus, um mit der regulären
(verkleinerten) Fläche optimal schnell zu fliegen. Deshalb hat die biologische Evolution zusätzlich den Girlandenflug erfunden.
Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass der Bioniker die biologischen Phänomene versteht, die er kopieren möchte. Der Naturschwärmer, der das schwingende Auf und Ab des Kleinvögel-Fluges als ein
„sich Einwiegen in den Biorhythmus der Natur“ deutet, würde das
Girlanden-Flugzeug allen Ernstes bauen. Wer aber das hinter dem
Girlandenflug steckende Prinzip erkennt, entwirft ein Flugzeug mit
Start- und Landeklappen. Das ist die technisch einfachere Lösung.
Schließlich wird die Austauschbarkeit von a und F mathematisch
dadurch belegt, dass diese Größen in den Optimierungsgleichungen
stets im Produkt a.F verbunden sind.
Zugegeben, wir mussten lange rechnen, um den Bolzenflug der
Vögel zu analysieren. Das Problem wäre bedeutend einfacher gewesen,
wenn nicht so nachdrücklich auch nach der optimalen Geschwindigkeit
gefragt worden wäre. Angenommen, die Geschwindigkeit werde durch
eine „höhere Instanz“ vorgegeben. Mit aopt fliegen heißt dann, bei der
gegebenen Geschwindigkeit mit minimalem Widerstand zu fliegen. Und
mit minimalem Widerstand fliegen bedeutet, bei vorgegebener Flugarbeit W.s die größte Flugstrecke s herauszuholen. — So, als sei die
Geschwindigkeit von einer „höheren Instanz“ vorgegeben, wollen wir im
folgenden Abschnitt über den Schwimmstil der Delfine spekulieren.
Schwimm-Springen der Delfine
Das Biologie-Regal jeder größerer Buchhandlung ist gefüllt mit Bildbänden über Wale und Delfine. Außen auf dem Buchumschlag sehen
wir den springenden Delfin (Bild 6-4). Und drinnen finden wir
dutzendweise Photos von Delfinen, wie sie in Reih und Glied bogenförmig über die Wasseroberfläche fliegen. Die Meinungen der Biologen
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über den Sinn dieses Schwimmstils gehen auseinander. Die einen meinen,
hier sei spielerische Lebensfreude am Wirken. Andere sagen, dass das
Springen Energie spare. Wer selbst einmal schwimmspringende Delfine
Bild 6-4:
SprungSchwimmstil
eines Delfins.
hat beobachten können, wie sie sich Kilometer um Kilometer zielstrebig
in diesem Stil fortbewegen, kann nicht recht an ein Spielen glauben.
Wir wollen das Springen der Delfine mathematisch analysieren:
Wir werfen einen Stein. Im Physikbuch findet sich die Formel für
die Weite l des Wurfs in Abhängigkeit vom Abwurfwinkel α.
2
l = vg sin (2α ) .
Ein Delfin, der mit der Geschwindigkeit v unter dem Winkel α aus dem
Wasser schießt, wird die Strecke l praktisch widerstandslos überbrücken. Er taucht schließlich mit dem (komplementären) Winkel (-)α
in die Meeresoberfläche ein. Wieder im Wasser muss der Delfin seine
Geschwindigkeit v halten. Es gilt, zum erneuten Sprung den Eintauchwinkel (–)α auf den ursprünglicher Absprungwinkel α zurückzudrehen. Wir wollen annehmen, dass die Unterwasser-Wendung in
einem Kreisbogen der Länge b erfolgt.
Bild 6-5:
Über- und Unterwasserbahn eines
Delfins.
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Man beachte, dass auch der Unterwasser-Kreisbogen die Wasseroberfläche unter dem Winkel α schneidet ! Dies bedeutet, dass der Bogen b den Bogenwinkel 2α bildet. Wir wollen die recht weitgehende Annahme machen, dass der Delfin seinen Unterwasser-Schwimmbogen
b = 2α r stets gleich lang hält. Der Weg b sei notwendig, um durch Flossenpropulsion Geschwindigkeit aufzuholen. Wir erhalten mit w/2 = r.sin α
= b/(2α). sinα für die gesamte horizontal zurückgelegte Strecke:
v2
b sin α .
l + w = g sin ( 2α ) + α
Es sei ein real erscheinendes Beispiel konstruiert: Der
Unterwasser-Wendebogen eines Delfins betrage konstant b = 10 Meter.
Das heißt: Ist der Absprung- und Eintauchwinkel flach (α ≅ 0o), liegt
der horizontal projizierte Unterwasserweg auch nahe bei 10 m. Sollte
der Delfin dagegen senkrecht aus dem Wasser springen und wieder eintauchen (α = 90o), bildet die 10 m lange Unterwasserkehre einen Halbkreis, und der horizontal zurückgelegte Weg verkürzt sich auf
w = 10/(π/2) = 6,4 m.
Aus „ballistischer“ Sicht ist α = 45o der am weitesten führende
Absprungwinkel (l = lmax). Es gilt jedoch, l + w zu maximieren; und die
Unterwasserweite w hat sich für α = 45o auf 9,0 m verkürzt. Wie sieht
der optimale Kompromiss aus? Wir stellen l+w in Abhängigkeit von α
in einem Diagramm dar (Bild 6-6):
Bild 6-6:
α grad
Weggewinn des
SchwimmSprung-Stils der
Delfine.
w = Wasserweg
l = Luftweg
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Das Ergebnis in Worten: Angenommen, der Delfin schwimmt im
Wasser mit 20 km/h. Er schwimmt geradlinig unter der Oberfläche
10 Meter weit (α = 0o, w = b = 10 m), wofür er die Schwimmarbeit W.w
(W = Widerstand) aufwendet. Wenn er nun seinen Stil ändert und
einen 10-Meter-Bogen (b = 10 m) schwimmt, um mit optimalem Winkel
(α = 35o) aus dem Meer aufzutauchen, bleibt die Schwimmarbeit W.b
dieselbe. Aber er kann nun 3,0 Meter im Flug durch die Luft zurücklegen. Zwar hat sich durch die gebogene Kehre der im Wasser zurückgelegte Weg auf 9,4 m verkürzt. Doch 9,4 + 3,0 ergeben 12,4 m; das sind
2,4 geschenkte Meter!
Allerdings, die Theorie besitzt eine Unbekannte. Der Delfin, der
aus dem Meer herausschnellt und eintaucht, erzeugt Gischt und Wellen.
Dies bedeutet zusätzlichen Widerstand, der nicht eingerechnet wurde.
Es wäre gewagt, aus Bild 6-6 abzulesen zu wollen, dass sich SchwimmSpringen ab v = 15 km/h lohnt. Ich würde eher schätzen, dass es sich ab
20 km/h rechnet, springend den 800 mal geringeren Widerstand im Medium Luft auszunutzen. Aber vielleicht ist die Evolution raffinierter als
wir ahnen. Ein ins Wasser zurückgleitender Delfin schleppt einen Luftschleier mit sich. Aus schiffbautechnischen Untersuchungen ist bekannt,
dass Luftblasen, in eine Grenzschicht injiziert, den hydrodynamischem
Reibungswiderstand vermindern. Es wäre denkbar, dass dieser zusätzliche Effekt den Gischt- und Wellenwiderstand mehr als aufhebt.
Im Sportschwimmen bedeutet Delfinstil, sich wie ein Delfin aufund abtauchend an der Wasseroberfläche fortzubewegen. Dieser Stil ist
nach dem Brustkraulen die zweitschnellste Schwimmart des Menschen. In
der Natur sind es nicht nur die Delfine, die sich der gemischten LuftWasser-Fortbewegung bedienen. Kontinuierliches Schwimmspringen lässt
sich auch bei den Pinguinen beobachten (Bild 6-7).
Bild 6-7:
Pinguine im
„Delfinstil“.
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Manta- und Adlerrochen machen hohe Sätze über das Wasser.
Eher sporadisch springen kleinere Fische, z. B. Lachse und Forellen.
Denn kleine Fische haben es schwer. Sie schwimmen zu langsam. Die
Erdgravitation ist zu groß, um bei kleinerer Geschwindigkeit ballistisch
Strecke zu gewinnen*. Nur in Sondersituationen (z. B. Flucht), wenn
unökonomisch schnell geschwommen werden muss, lohnt sich der zusätzliche Sprungfortschritt.
Zusammengefasst: Der Girlandenflug der Meise und das Schwimmspringen eines Delfins mögen dem Ingenieur als Kuriosum erscheinen.
Er würde seine mobilen Systeme so nicht konstruieren. Erst die Optimierungsrechnung macht klar: Beide Male ist die exotische Fortbewegung Ergebnis der Optimierung der Evolution: Das Auf und Ab der
Fortbewegung spart Energie. Selbst Tintenfische (Bild 6-8) bedienen sich dieser Technik.
Bild 6-8:
Sprung
eines
Kalmars.
Die Flugbahn des Albatros
Es erinnert an ein Perpetuum mobile, wenn Vögel ohne Flügelschlag
unentwegt dahingleiten ohne Höhe zu verlieren. Aber wir wissen, dass
es aufsteigende Luftströme gibt, die Vögel und Segelflugpiloten gleicherweise nutzen. Wind strömt einen Berghang hinauf; erwärmte Luft
steigt als Thermik nach oben; und die Dichteschichtung der Atmosphäre führt hinter einem Bergmassiv zum auf und ab von „Schwere* Bei Kleinfischen hat die Evolution den Tragflügel hinzuerfunden. Durch ausgebreitete, evolutiv vergrößerte Brustflossen, die der Aquarienfisch Pantodon bucholzi
sogar aktiv bewegt, wird die ballistische Flugstrecke durch Auftrieb wirksam
verlängert.
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wellen“ des Windes. Wenn aber der Albatros flügelschlaglos stundenlang dicht über dem Meer seine Höhe hält, und das nachweislich ohne
Aufwärtskomponente des Windes, erscheint dies rätselhaft. Segelflugpiloten träumen davon, Gleiches zu vollbringen.
Welche mysteriöse Kraft hält den Albatros auf Höhe? Es war Lord
RAYLEIGH, der bereits 1883 in der Zeitschrift Nature das Prinzip
beschrieb. Und es war P. IDRAC, Professor an der École Polytechnique
in Paris, der mit seiner Reise in das Südpolarmeer 1924 den Nachweis
erbrachte: Albatrosse beziehen mittels einer raffinierten Flugbahn
Energie aus dem Scherprofil des Windes, wie es sich nahe der Meeresoberfläche ausbildet. Um das Prinzip anschaulich zu machen, möchte
ich ein Modell entwickeln, das zunächst mit dem Albatrosflug nichts zu
tun hat. Gegeben seien zwei große Eisschollen, in die eine haarnadelförmige Rinne eingelassen ist. In der Eisrinne kreise ein Bobschlitten.
Wie im Bild 6-9 zu sehen ist, gleitet die linke Eisscholle mit der
Geschwindigkeit w der rechten (stehenden) Scholle entgegen. Der Bob
fahre mit der Geschwindigkeit v von rechts nach links auf die bewegte
Scholle zu und springe schließlich auf diese hinüber. Im reibungsfreien
Idealfall behält der Bob für den bezugsfesten äußeren Beobachter seine
Geschwindigkeit v bei. Ein Beobachter auf der bewegten Eisscholle, der
sich mit der Geschwindigkeit w bewegt, sieht den Bob mit der
Geschwindigkeit v + w von rechts nach links an sich vorbeifahren. Diese
Geschwindigkeit bleibt nach dem Durchfahren der Haarnadelkurve für
den bewegten Beobachter erhalten. Sie hat nur ihre Richtung gewechselt. Der Schlitten gleite nun wieder auf die feste Scholle hinüber. Was
beobachten wir Außenstehende? – An uns zieht der Bob mit der Geschwindigkeit v + 2w von links nach rechts vorbei. Und v + 2w (von
rechts nach links) ist auch seine Geschwindigkeit nach der 180°-Wende.
Der Schlitten gewinnt pro Runde die Geschwindigkeit 2w. Um den
Vorgang am Laufen zu halten, möge die rechte Eisscholle sich im
Wellengang des Meeres wiegen und gerade zurückgleiten, während der
Bob auf der stehenden Scholle kurvt. Es ist also die 90°-Bobkurve auf
der wiegend bewegten Eisscholle, die dem Bobschlitten jedes Mal beim
Durchfahren einen „Kick“ gibt.
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Bild 6-9:
Zwei Eisschollen und
ein Bobschlitten „üben“
den dynamischen
Segelflug.
Das Fliegen in Haarnadelkurven ist die Strategie des Albatros.
Der Albatros möchte keine Höhe verlieren und gleite deshalb wagerecht
dahin. Das Halten gleicher Höhe ist mit dem Aufzehren von Geschwindigkeit verbunden. Aus der Bewegungsgleichung folgt:
m
c
dv
W
=W ≡
mg ≡ w mg
ca
dt
A
➦
dv cw
=
g,
dt c a
cw
= Gleitwinkel .
ca
Ein Albatros hat einen besten Gleitwinkel von 1/20. Da das nachfolgend
beschriebene Flugmanöver erfordert, dass der Albatros an unterschiedlichen Punkten seiner Tragflügelpolaren fliegt, setzen wir als Mittel
den schlechteren Wert von cw /ca = 1/15 an. Damit nimmt nach der
obigen Formel die Geschwindigkeit des Albatros pro Sekunde um 0,65
m/s ab. Sehen wir, ob dieser Geschwindigkeitsverlust durch ein
Manöver à la Bobfahrer wettgemacht werden kann. — Dem mit 20 m/s
über Grund fliegenden Albatros komme – statt der Eisscholle – eine
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Luftmasse mit der Geschwindigkeit w = 5 m/s entgegen. Er taucht in
diesen Gegenwind ein. Nach der flugmechanischen Geschwindigkeitsformel
v=
2mg 1
⋅
ρ F ca
ist es für den Albatros einfach, durch Erniedrigung der Flügelanstellung den ca -Wert so zu senken, dass er sich jetzt relativ zur Luft
mit der Geschwindigkeit von 25 m/s bewegt. Denn Flugzeug und Vogel
können bei gleichem Auftrieb (Auftrieb = Gewicht) verschiedene
Geschwindigkeiten fliegen, wobei allerdings der Bestpunkt der Tragflügelpolaren verlassen wird. Unser Albatros bewege sich also – wie
unsere Bobfahrer – mit unveränderter Geschwindigkeit von 20 m/s über
Grund auf gleichbleibender Höhe in der bewegte Luftmasse. Alsdann
dreht er – wie unser Bobfahrer – eine Haarnadelkurve. Nach deren
Vollendung hat er über Grund die Geschwindigkeit von 30 m/s. Mit diesem Gewinn von 10 m/s tritt der Albatros schließlich aus der bewegten
Luftmasse heraus. Und wenn es ihm gelingt, sein Drehmanöver in
weniger als 15 Sekunden abzuschließen, hat er die zwischenzeitlich
erfahrene Abbremsung gutgemacht.
Nun weht einem Albatros selten schubweise Luftmasse auf
gleicher Höhe frontal entgegen. Er muss sich den Gegenwind in größerer
Höhe suchen. Die Haarnadelkurven sind schräg nach oben geneigt
(Bild 6-10). Das Steigen gegen den Wind und das Fallen mit dem Wind
macht das Manöver komplizierter. Aber das Prinzip bleibt. Es ist die
Zentripetalkraft in der Kurve, die dem Albatros einen Schwung verleiht. Die Zentripetalkraft (waagerechte Auftriebskomponente des
schräggestellten Flügels in der Kurve) mal der Verschiebungsgeschwindigkeit des Windes ist eine Leistung, die dem Albatros zugeführt
wird. So deutet sich die große Schräglage des Albatros im KurvenGipfelpunkt (nach IDRAC bis zu 65°).
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Bild 6-10: Flugbahn eines Albatros im dynamischen Segelflug.
Wer glaubt, es sei die Trägheit, die den Vogel wie an einer
Drachenschnur gehalten im Gegenwindflug steigen läßt, übersieht, daß
sich dieser Effekt im Mitwindflug auslöscht. — Um sich die Dynamik
des Albatrosfluges zu veranschaulichen, nehme man eine Schale und
lasse darin durch geschickte Gegenbewegungen der Wandung eine Kugel
kreisen (Bild 6-11).
Bild 6-11:
Kugelschleudern als Denkmodell
zum dynamischen Segelflug.
Dynamisch Segelfliegen im Sport?
Die Bionik möchte herausragende Leistungen der Natur technisch
nachbilden, und dabei sollte es egal sein, ob es sich wirtschaftlich rechnet oder „nur“ sportlich reizt. Einige Segelflieger behaupten, dass sie
schon nach Albatros-Art geflogen seien. Das mag sein, wenn es sich um
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Windscherungen in größeren Höhen handelt. Die große Herausforderung wäre aber das wiegende Auf- und Abfliegen im Windprofil nahe
der Meeresoberfläche. Gewiss wird auch dies eines Tages gelingen,
wahrscheinlich mit speziell für diesen Zweck entworfenen Segelflugzeugen. Ein „Dynasegler“ wird höchste aerodynamische Güte bei hohen
Auftriebsbeiwerten, geringe Spannweite und hohe Flächenbelastung
aufweisen. Ein dynamischer Segelflieger muss seine Kreise schnell
durchmessen, damit er der Geschwindigkeitsaufzehrung durch den
Kurven-Schwung zuvorkommt. Er wird also enge Kurven ziehen, wozu
er – zum Aufbringen der Zentripetalkraft – hohen aerodynamischen
Auftrieb benötigt. Klein muss der Dynasegler sein, damit er nahe an
die Meeresoberfläche kommt, wo die Windabbremsung maximal ist.
Und große Flächenbelastung muss er haben, damit gespeicherte kinetische Energie ihn in die obere Gipfelkurve trägt. Kurz, ein Schmetterling wird kaum dynamischen Segelflug betreiben können.
GOTTFRIED SACHS hat für einen Albatros in einem turbulenten
Windprofil die optimale Flugbahn berechnet (Bild 6-12). Damit ein
Segelflugzeug einer solchen Bahn folgt, bedarf es höchster Geschicklichkeit. SACHS schlägt vor, in das Cockpitfenster einen computergenerierten Korridor einzublenden, dem der Pilot folgt. Oder ein Autopilot,
der Daten von einem Satelliten-GPS bezieht, folgt der optimalen Bahn.
Letzteres könnte man vielleicht gar in einem Flugmodell realisieren.
Bild 6-12:
Albatros-Flugbahn
minimalen
Windbedarfs
vBoden = 5,6 m/s
vGipfel = 9,4 m/s
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