Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Dr. Arne Kapitza
Wissenswert
König Lustik in Kassel:
Napoleons Modellstaat Westphalen
Von Utz Thimm
Sendung:
19.03.2008, 08:30 Uhr, hr2
WH: 23.06.2008, 08:30 Uhr, hr 2
Sprecher:
Zitator:
08-043
COPYRIGHT:
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Musik: Fesca (kurz, unter Text blenden)
Die meisten Leute streben, wenn sie Schloss Wilhelmshöhe in Kassel besuchen, in die
Gemäldegalerie. Aber an die Gemäldegalerie schließt ein weiterer Schlossflügel an, der so
genannte Weißensteinflügel. Hier kann man noch heute besichtigen, wie Jerôme Bonaparte,
der Bruder des französischen Kaisers Napoleon, in Kassel gelebt und geherrscht hat. Dr.
Thorsten Smidt ist Kurator der Ausstellung über Napoleons kleinen Bruder. Er erklärt,
warum Jérôme ausgerechnet Kassel als Residenzstadt für sein neues Königreich ausgewählt
hat.
O-Ton 1, Dr. Thorsten Smidt, 31“:
„Kassel hatte sicherlich den Vorteil, dass es hier gleich mehrere Schlösser gab: die
besagte Wilhelms- oder vielmehr Napoleonshöhe war erst wenige Jahre zuvor fertig
gestellt worden und war in ihrer Größe sicherlich den Ansprüchen dieses neuen Königs
durchaus angemessen. Kassel ganz am Südrand dieses Staatengebildes gelegen, das
hat sicherlich auch damit zu tun, dass man signalieren wollte: Hier wird die alte
Herrschaft, nämlich die kurhessische Herrschaft abgelöst und es wird etwas neues
installiert.“ <Stimme oben!>
Und im Schloss Napoleonshöhe, wie es Jérôme umgetauft hatte, herrschte er über das
Königreich Westphalen. Dieses Westphalen – mit „ph“ geschrieben – deckt sich nur zum Teil
mit den Regionen, die vor und nach dieser Zeit „westfälisch“ hießen. Der Name sollte frei von
alten Erinnerungen sein, weswegen Bezeichnungen wie Hessen, Braunschweig oder
Hannover von den Franzosen verworfen worden waren.Der neue Staat erstreckte sich von
Marburg im Süden über Braunschweig bis an die Elbe nach Norden, von Osnabrück im
Westen bis nach Halle im Osten. Er war damit so groß wie das, was von Preußen nach der
Niederlage gegen Frankreich übrig geblieben war.
König Jérôme war ein gut aussehender Lockenkopf, gerade einmal 23 Jahre alt, als er Ende
1807 in Kassel eintraf. Allerdings war er nicht ganz so groß, wie ihn die Gemälde darstellen,
sondern genauso klein geraten wie sein berühmter Bruder.
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O-Ton 2, Dr. Thorsten Smidt, 18“:
„Wir haben in Archiven und auch in Depots in Frankreich haben wir Kleidungsstücke
von ihm gefunden, unter anderem einen wunderschön grünen Hofrock, ein Hofkostüm,
was über und über mit Gold bestickt ist, was er getragen hat und was auf eine
Körpergröße von nicht viel mehr als 1 Meter 60 schließen lässt.“
Der Bonaparte-Clan aus Korsika gehörte nicht gerade zum Hochadel, genau genommen war
er überhaupt nicht adelig gewesen. Herrschaft wurde aber damals über die Herkunft aus
einer möglichst langen Dynastie legitimiert. Napoleon trug dem Rechnung, indem er seine
Familie in die Adelshäuser Europas einheiratete. Er selbst ließ sich von seiner geliebten
Josephine scheiden und ehelichte die Tochter des österreichischen Kaisers, seinen Bruder
Jérôme verheiratete er mit Katharina von Württemberg. Aber um den Widerwillen der
deutschen Untertanen gegen einen fremden, einen französischen König zu mindern, bedurfte
es mehr als nur der Heiratspolitik. Napoleon setzte deswegen auf eine moderne staatliche
Verwaltung und eine fortschrittliche Gesellschaftspolitik, wie der Historiker Helmut Berding
erläutert:
O-Ton 3, Prof. Helmut Berding, 27“:
„Das war natürlich auch von Napoleon gedacht als ein Instrument zur Sicherung seiner
eigenen imperialen Herrschaft in ganz Europa. Das ist vollkommen klar. Aber
interessanterweise nicht nur als Unterdrücker, als jemand, der Kriege macht, der
ausbeutet – was er auch alles getan hat – sondern unter anderem eben auch der
Versuch, seine Herrschaft abzusichern durch mustergültige Einrichtungen. Das
Königreich Westphalen hat er genau zu diesem Zweck als Modellstaat organisiert.“
Napoleon selbst gab in einem Brief seinem Bruder mit auf den Weg:
Zitat Napoleon:
„Um es unumwunden zu sagen, vertraue ich für die Festigung der Monarchie in
Westphalen mehr auf die wohltuende Wirkung dieser modernen Einrichtungen als auf
die größten militärischen Siege. Wichtig ist vor allem, dass die Bevölkerung unter dem
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neuen Regime in Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand leben kann, wie es bisher noch
in keinem deutschen Land möglich war.“
So kamen die Errungenschaften der französischen Revolution nach Deutschland,
beziehungsweise das, was unter Napoleon davon übrig geblieben war. Das Königreich
Westphalen war aus Territorien mit den unterschiedlichsten Rechtstraditionen
zusammengeflickt worden. Jetzt wurde etwa zwischen Stadtbewohnern und Landbewohnern
rechtlich und steuerlich kein Unterschied mehr gemacht. Die Leibeigenschaft wurde
abgeschafft. Und zum ersten Mal in der deutschen Geschichte galten Juden als
gleichberechtigte Bürger.
O-Ton 4, Prof. Helmut Berding, 24“:
„Juden waren vollkommen gleichgestellt dem Recht nach. Das heißt, sie mussten
keine besonderen Abgaben mehr leisten und sie durften Ämter innehaben. Sie durften
Handel treiben, sie konnten sich niederlassen wie alle anderen auch. Die alten
Diskriminierungen, die sind fortgefallen“
Aus Frankreich wurde der Code de Commerce übernommen, das damals modernste
Wirtschaftsrecht. In einem von der Landwirtschaft geprägten Territorium war das bislang
nicht so entscheidend. Doch der aufstrebende Handel und die beginnende industrielle
Produktion waren für weiteres Wachstum auf die richtigen Rahmenbedingungen angewiesen.
So wurde mit dem Code de Commerce die Aktie als Finanzierungsinstrument eingeführt; mit
Aktien wurden dann später der Eisenbahnbau und die anlaufende Industrialisierung in
Deutschland finanziert. Bevor die Franzosen kamen, musste noch an Brücken und an den
Stadttoren Zoll gezahlt werden. Jetzt wurde Zoll nur noch an den Landesgrenzen erhoben.
Indes: auch die staatlichen Institutionen mussten finanziert werden:
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O-Ton 5, Prof. Helmut Berding, 20“:
„Es wurden dann Steuern eingeführt unterschiedlicher Art: Stempelsteuern,
Einkommenssteuer. Nur waren die Ausgaben enorm und der Staat hat sich
zunehmend verschuldet, weil auch die Forderungen Napoleons an diesen Staat, die
finanziellen Forderungen, groß waren. Zum Beispiel musste der Staat eine Armee von
25 000 Mann unterhalten. Das kostet Geld.“
Die ständigen Truppenaushebungen und die Steuerlast machten den neuen König ganz gegen
Napoleons Absicht bei den Untertanen gründlich verhasst. Geld kostete natürlich auch der
aufwändige Hofstaat, den Jérôme in Kassel unterhielt. Der einzige Neubau aus seiner kurzen
Regierungszeit ist das so genannte Ballhaus auf Wilhelmshöhe - pardon: Napoleonshöhe das zunächst ein Hoftheater war.
Musik Friedrich Fesca, darüber:
O-Ton 6, Dr. Thorsten Smidt, 23“:
„Musik hat eine sehr große Rolle gespielt. Jérôme hatte eine Oper- und Theaterliebe;
er hat Musiker an den westphälischen Hof geholt. Wir wissen, dass selbst Beethoven
ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hat, hier an den Hof zu kommen. Es ist letztlich
nur daran gescheitert, dass in Wien sich mehrere Leute zusammengetan haben, um
das westphälische Angebot zu überbieten.“
Musik hochziehen, dann darüber:
O-Ton 7, Dr. Thorsten Smidt, 9“:
„Die Musik, die hier gespielt wurde, ist stilistisch sehr ähnlich. Einer seiner
Hofkomponisten war Friedrich Fesca. F – E – S – C – A“
Musik kurz hochziehen und raus.
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O-Ton 8, Prof. Helmut Berding, 46“:
„Und dann wurde damals behauptet, dass er nach den großen Feiern abends immer
gesagt hat: 'Morgen wieder lustig, morgen wieder lustig'. Und das Wort ist ihm in den
Mund gelegt worden und hat ihm den Beinamen 'König Lustik' eingetragen. Das hat
das gesamte Bild geprägt, das ganz und gar einseitig ist. Denn beleuchtet wird nur
diese eine Seite seines Leichtsinns, seiner ständigen amourösen Affairen, seines
Verschwendertums. Und völlig ausgeblendet wird die Tatsache, dass er als Herrscher
seine Arbeit getan hat. Er hat wirklich an Staatsratssitzungen teilgenommen, viel
gearbeitet und die ganzen Reformgesetze auf den Weg gebracht.“
Helmut Berding ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Gießen. Seine
Forschungen haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Franzosenherrschaft heute sehr
viel differenzierter und positiver bewertet wird als zuvor. Wurde die Franzosenzeit von
deutschen Historikern lange Zeit nur als Zeit der Fremdherrschaft begriffen, so hat Berding
herausgearbeitet, wie bedeutsam die modernen Institutionen waren, die die Franzosen den
Deutschen brachten. So gab es im Königreich Westphalen ein Parlament. Es war zwar keines,
das heutigen Anforderungen genügen würde, wie auch Helmut Berding hervorhebt; aber die
Abgeordneten, die da im Kasseler Fridericianum tagten, bildeten das erste Parlament der
deutschen Geschichte überhaupt:
O-Ton 9, Prof. Helmut Berding, 35“:
„Es war eine indirekte Wahl. Schon bei den Wahlen war klargestellt, dass die
Höchstbesteuerten, also diejenigen, die am meisten Steuern zahlten, die am reichsten
waren, große Vorteile hatten; die bestimmten im Grunde, wer reinkam in das
Parlament. Das war also ein plutokratisches Wahlrecht, wenn man so will. Wegen der
ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, waren eben anders – als in
Frankreich – die Höchstbesteuerten nicht die Bürgerlichen, die Gewerbetreibenden,
sondern die Grundbesitzenden und zwar in der überwiegenden Mehrzahl der Adel.“
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In Frankreich war ja der Adel durch die Revolution zunächst abgeschafft worden. In der
Rückschau gehört es zu den großen Versäumnissen der Franzosen, dass sie im Königreich
Westphalen den Adel nicht gleich ganz abgeschafft haben. Immerhin musste aber der Adel –
was für deutsche Verhältnisse revolutionär war – zum ersten Mal Steuern zahlen. Doch die
Franzosen wollten sich nicht auch noch die lokalen Eliten zum Feind machen und ließen den
Adel bestehen. Und Adel bedeutete in der Regel Großgrundbesitzer.
O-Ton 10, Prof. Helmut Berding, 25“:
„Es war ein System der Grundherrschaft. Grundherrschaft heißt ja, dass die Bauern
abhängig waren meistens von adeligen Großgrundbesitzern und ihnen Frondienste
leisten mussten oder ein Teil der Ernte abgeben mussten. Und dieses System, das
hätte eigentlich auch aus den Angeln gehoben werden müssen, denn es war nicht
vereinbar mit dem Code Napoléon, mit dem Zivilrecht, das eingeführt worden ist.“
Auch der Code Napoléon wurde für die deutsche Rechtsgeschichte ungeheuer wichtig – aus
ihm ist letzten Endes das Bürgerliche Gesetzbuch entstanden. Die meisten Abgeordneten des
Parlaments waren also adelige Großgrundbesitzer. Aber immerhin waren es Abgeordnete,
die für das ganze Volk sprechen sollten. Sie trugen eine einheitliche Tracht, die die Standesunterschiede verwischte. Und das Parlament war nicht nur reine Fassade. Es hatte zwar nicht
das Recht, Gesetze vorzuschlagen, aber es konnte immerhin Gesetzentwürfe ablehnen, was
auch tatsächlich geschehen ist. König Jérôme auf Schloss Napoleonshöhe war darüber nicht
amüsiert.
Atmo: Uhrticken
O-Ton 11, Dr. Thorsten Smidt, 36“:
„Der Prunkschreibtisch von Jérôme existiert noch, und er ist hier einer der Glanzstücke in der Ausstellung des Weißensteinflügels. Es ist wirklich ein imposantes
Möbelstück aus Mahagoni gefertigt. Sie haben eine sehr breite Tischplatte, auf der sich
ein blockartiger Aufsatz befindet mit mehreren Schubladen noch mal bekrönt von
einem weiteren Aufsatz. Die Tischplatte selbst wird getragen von zwei Sphingen oder
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geflügelten Löwen, die auch sehr typisch sind für den Stil dieser Zeit, für die
Empirezeit.“
Dr. Thorsten Smidt ist von Hause aus Kunsthistoriker. Obwohl die Franzosen einen neuen
Stil, den Empirestil, einführten, hat Thorsten Smidt sonderbarerweise ein Problem, die Möbel
zu identifizieren, die aus der Franzosenzeit stammen.
O-Ton 12, Dr. Thorsten Smidt, 39“:
„Hier im Weißensteinflügel finden wir sehr viele Möbel und Ausstellungsstücke in
diesem Empirestil, der von Jérôme hier in Kassel eingeführt wurde. Und
erstaunlicherweise hat der Kurfürst diesen Stil ungebrochen fortgesetzt und hat sich
mit den Möbeln, die er hier vorgefunden hat, arrangiert, hat sie offenbar so schön
gefunden, dass selbst die Möbel, die danach neu angefertigt wurden, exakt in
derselben Art gefertigt wurden wie die von Jérôme, was uns heute vor das Problem
stellt, dass man rein stilistisch kaum sagen kann: Ist nun dieses Stück von Jérôme
angekauft worden oder erst von dem zurückgekehrten Kurfürsten?“
Das Verhalten des zurückgekehrten Kurfürsten ist typisch für das Verhalten der Deutschen
der Franzosenzeit gegenüber. Der aus Frankreich eingeführte Stil wurde genauso
übernommen, wie auch viele Institutionen. Im linksrheinischen Gebiet, etwa in Mainz, galt
sogar nach dem schmählichen Ende Napoleons weiterhin französisches Recht. Die großen
Reformer – Montgelas in Bayern, Hardenberg und vom Stein in Preußen – sie haben mit
großem Eifer die französischen Reformen studiert. Nur durfte das niemand laut sagen, seit
Napoleons Untergang galt Frankreich als der so genannte „Erbfeind“, die Kriege gegen
Napoleon wurden als Befreiungskriege verherrlicht.
O-Ton 13, Prof. Helmut Berding, 32“:
„1812 hat keiner einen Finger gerührt, um Jérôme, seine französischen Minister und
seine Entourage zu schützen, überhaupt nicht. Man war froh, dass dieser ganze Spuk,
wenn man so will, vorbei ist. Aber auch da kann man nicht sagen, dass es eine große
Begeisterung gegeben hat für die einrückenden Kosaken und Preußen. Das ist auch
nicht richtig, sondern man war einfach froh, dass die Zeit dieser Kriege vorbei ist.“
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Man könnte das Königreich Westphalen für eine unwichtige Episode in der Geschichte halten.
Schließlich hat es nur fünf Jahre gehalten von 1807 bis 1812. Wären da nicht die Reformen.
Jérôme erließ seine Gesetze par grace de dieu et la constitution – von der Gnade Gottes und
durch die Verfassung! Gottesgnadentum, das kannten die Deutschen vor Napoleon zur
Genüge, aber dass sich ein König auf die Verfassung berief, das war neu.
O-Ton 14, Prof. Helmut Berding, 18“:
„Es war eben die erste geschriebene Verfassung in einem liberalen Sinne, eine
Repräsentativverfassung, die in Deutschland eingeführt worden ist und zwar durch
Napoleon. Und das ist außerordentlich wichtig. Denn das ist in Erinnerung geblieben,
daran hat man später wieder versucht anzuknüpfen. Das ist von großer Bedeutung.“
Musikschluss „Fesca“ (kurz, nur Schlussakkord)
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