Spiegel? Trugbild? Symbol? Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung Prof. Dr. Thomas Görgen Deutsche Hochschule der Polizei (Münster) Überblick R+V-Studien: aktuelle Befragungsdaten und Trends Kriminalitätsfurcht und ihre Messung Deutscher Viktimisierungssurvey 2012 WISIND-Studie 2014 Bedingungsfaktoren von Kriminalitätsfurcht / Sicherheitsempfinden Furcht, Lebensqualität und Gesundheit Fazit „Die Ängste der Deutschen“ - Befragungen der R+V-Versicherung (hier: 2015) https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen Befragung R+V-Versicherung 2015: Rangreihe der Ängste in Brandenburg https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen R+V-Befragungen: Angst, Opfer einer Straftat zu werden – Trends 1992-2015 R+V-Befragungen: Angst vor terroristischen Anschlägen, Trends 1996-2015 Sicherheitsempfinden, Kriminalitätsfurcht und Prävention Von den Bürgerinnen / Bürgern erlebte Sicherheit / Unsicherheit ist heute vielfach zentraler Gegenstand von Maßnahmen der (kommunalen) Kriminalprävention. Systematisches Wissen zu Kriminalitätsfurcht / subjektiver (Un-) Sicherheit stammt im Wesentlichen aus Befragungen. Subjektive Sicherheit / Kriminalitätsfurcht werden im Allgemeinen als mehrdimensionale kriminalitätsbezogene Einstellungen betrachtet. Dimensionen von Kriminalitätseinstellungen Kognitiv: persönliche Risikoeinschätzung Affektiv: Unsicherheitsgefühle mit inhaltlicher Bezugnahme auf Kriminalität Konativ: Verhaltensreaktionen (Schutz- und Vermeideverhalten) Neuere Konzepte in der KF-Forschung • Unterscheidung zwischen allgemeiner Besorgnis / Beunruhigung über Kriminalität und konkreten Furchtepisoden (an bestimmten Orten; zu bestimmten Zeiten) • Unterscheidung zwischen dysfunktionalen Folgen und funktionalen Folgen von Kriminalitätsfurcht Gray, Jackson, & Farrall (2011) Wie wird Kriminalitätsfurcht erfragt? Vielzahl unterschiedlicher Ansätze Seit Jahrzehnten verwendet die sog. „Standardfrage“: „Wie sicher fühlen Sie sich oder würden Sie sich fühlen, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit alleine in Ihrer Wohngegend unterwegs sind?“ Darüber hinaus neuere Ansätze mit Spezifikation von Deliktsbereichen (Einbruch, Raub, KV, Sexualdelikt etc.) Trennung von (kognitiver) Risikoeinschätzung, (affektiver) Beunruhigung / Besorgnis und (konativen) Verhaltensreaktionen Deutscher Viktimisierungssurvey 2012 Teil des Projekts „Barometer Sicherheit in Deutschland“ (BaSiD) Gemeinschaftsprojekt Bundeskriminalamt und Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht (Freiburg) ca. 35.000 Befragte telefonische Befragung Wohnbevölkerung ab 16 Jahren; Befragung in Deutsch, Türkisch oder Russisch Schwerpunkte: Opferwerdungserfahrungen und subjektive Sicherheit Birkel, Guzy, Hummelsheim, Oberwittler, & Pritsch (2014) Survey BKA / MPI 2012: erlebte Sicherheit in der Wohngegend nachts alleine (Standardindikator) Birkel, Guzy, Hummelsheim, Oberwittler, & Pritsch (2014) Survey BKA / MPI 2012: Beunruhigung in Bezug auf bestimmte Deliktsmuster Birkel, Guzy, Hummelsheim, Oberwittler, & Pritsch (2014) Survey BKA / MPI 2012: Kriminalitätsfurcht und soziodemografische Faktoren (1) Geschlecht: 26% der Frauen vs. 8% der Männer fühlen sich nachts alleine in Wohngegend unsicher Auch deliktspezifisch (vor allem Gewalt-/ Sexualdelikte) höhere Furcht bei Frauen Alter Unsicherheit in der Wohngegend steigt etwa ab 60 J. kontinuierlich deliktsbezogen starke Beunruhigung vor allem bei jungen Menschen Birkel, Guzy, Hummelsheim, Oberwittler, & Pritsch (2014) Survey BKA / MPI 2012: Kriminalitätsfurcht und soziodemografische Faktoren (2) Sozialer Status (Bildung, Einkommen): hoher Status geht mit geringer KF (Standardindikator) einher Urbanität des Lebensumfelds allgemeine KF in Mittelstädten am höchsten für manche Delikte (WED, Raub) in Großstädten Ost-West: allgemeine KF im Osten (19-26% je nach BL) höher als im Westen (1220% in den Flächenländern) deliktsspezifisch keine systematischen O-W-Unterschiede Viktimisierungssurvey BKA / MPI 2012: Kriminalitätsfurchtindikatoren in den Bundesländern Birkel, Guzy, Hummelsheim, Oberwittler, & Pritsch (2014) WISIND-Studie des DIW BMBF-Studie „Wirtschaftswissenschaftliches Indikatorensystem zur Messung von Sicherheit und Sicherheitswirtschaft in Deutschland“ repräsentative telefonische Befragung Sommer 2014 12.094 befragte Personen Gegenstand: Erfahrungen mit Kriminalität / Wahrnehmung von Kriminalität komplexer Indikator zur Messung von Kriminalitätsfurcht; gebildet aus Standardindikator + erlebte Besorgnis bezüglich verschiedener Delikte + geschätztes Viktimisierungsrisiko in den nächsten 12 Monaten Bug, Kraus, & Walenda (2015) WISIND-Studie: Regionale Verteilung von KF unter Berücksichtigung von Deliktschweregewichtungen in der Bevölkerung Dunklere Färbung zeigt stärkere Kriminalitätsfurcht an Bug, Kraus, & Walenda (2015) WISIND-Studie: ausgewählte Ergebnisse 87% der Bevölkerung fühlen sich insgesamt (sehr) sicher Opfer von WED, Bedrohung, KV fühlen sich unsicherer als NichtOpfer Frauen, Ältere und Migranten haben nach Standardindiktor erhöhte KF; Effekt schwächt sich bei Verwendung des WISIND-KFIndexes stark ab 36% sehen großes Bedrohungspotenzial in Internetkriminalität Einkommen / Bildung erscheinen nur bei Verwendung des Standardindikators protektiv schwaches Nord-Süd-Gefälle der KF KF geht einher mit Betonung des Stellenwerts von Innerer Sicherheit / hoher Gewichtung von Sicherheit relativ zu Freiheit Bug, Kraus, & Walenda (2015) Wie lassen sich Kriminalitätfurcht / subjektive (Un-) Sicherheit erklären? (1) Eigene Opferwerdungserfahrungen kaum Bezüge zu allgemeiner KF (Standardindikator) beeinflussen (vorübergehend) das subjektive Opferwerdungsrisiko WISIND-Studie: Zusammenhänge mit komplexem KF-Indikator u.a. bei WED, KV, Bedrohung Durch Medien / Politik vermittelte Kriminalitätsbilder insgesamt schwache Zusammenhänge eher lokale als überregionale Medien wirksam Einflüsse am ehesten in stark kriminalitätsbelasteten Räumen und bei Personen mit eigenen Opfererfahrungen Hirtenlehner & Hummelsheim (2015) Wie lassen sich Kriminalitätfurcht / subjektive (Un-) Sicherheit erklären? (2) Merkmale des alltäglichen Wohn- / Lebensumfelds? Disorders / incivilities haben deutliche Beziehung zu KF / wahrgenommener Viktimisierungswahrscheinlichkeit Gilt für physische Merkmale (Vermüllung, baulicher Verfall etc.) ebenso wie für soziale (lärmende Jugendliche im öffentlichen Raum, Betteln etc.) sozialer Zusammenhalt / Sozialkapital im Wohnquartier: in US-, UKStudien deutlich verknüpft mit KF, in Deutschland kaum ethnische Diversität / Anteile sichtbarer ethnischer Minoritäten: geht mit erhöhter KF einher Hirtenlehner & Hummelsheim (2015) Wie lassen sich Kriminalitätfurcht / subjektive (Un-) Sicherheit erklären? (3) Auf die eigene Person bezogene Wahrnehmungen der individuellen Fähigkeit, mit Bedrohungen durch Kriminalität umgehen, sie bewältigen zu können der Schwere der möglichen Tatfolgen für die eigene Person Zu beiden Merkmalen noch Forschungsbedarf; keine eindeutige Befundlage. Allgemeine Verunsicherung vor dem Hintergrund von Modernisierung / gesellschaftlichem Wandel Verunsicherung hat weit über Kriminalität hinausgehende Hintergründe wird auf Kriminalitätsgefahren projiziert und daran artikuliert stark sozialstaatlich geprägte Gesellschaften haben niedrigere KFNiveaus Hirtenlehner & Hummelsheim (2015) Kriminalitätsfurcht / Gesundheit / Wohlbefinden Zahlreiche Studien zeigen Zusammenhänge zwischen KF und Beeinträchtigungen von Gesundheit und Wohlbefinden auf Komplexe (und zum Teil noch nicht aufgeklärte) Zusammenhänge: Furcht reduziert Lebensqualität Furcht kann Teilhabe am sozialen Leben einschränken → Folgen für Wohlbefinden Furcht kann physische Aktivität einschränken → Gesundheitsfolgen Schlechte Gesundheit kann erlebte Vulnerabilität und Furcht verstärken ……… Evaluationsbefunde zu Maßnahmen gegen KF Systematischer Forschungsreview (Lorenc et al., 2014) Sicherungsmaßnahmen im privaten Wohnbereich können Furcht reduzieren einige positive Befunde zu „Aufwertungsmaßnahmen“ im öffentlichen Raum Befundlage zu Effekten von Straßenbeleuchtung, Videoüberwachung auf Kriminalitätsfurcht inkonsistent bis negativ Fazit Allen neueren Befragungen zufolge fühlt die überwiegende Mehrheit der Menschen in Deutschland sich sicher. Die sozialwissenschaftliche Messung von Kriminalitätsfurcht ist eine Herausforderung; Kriminalitätsfurcht ist ein komplexes Konstrukt. Unterscheidung zwischen allgemeinen Befürchtungen und zeitlichräumlich spezifischen Furchtepisoden empirisch noch wenig umgesetzt Kriminalitätsfurcht / beeinträchtigtes Sicherheitsempfinden hat Konsequenzen (Vorsichts- und Vermeideverhalten, Nutzung des öffentlichen Raums, Lebensqualität, Gesundheit etc.). Kriminalitätsfurcht ist räumlich und soziodemografisch ungleich verteilt. Das Ausmaß gefundener Unterschiede hängt in starkem Maße von der gewählten methodischen Herangehensweise ab. Fazit Kriminalitätsfurcht / Sicherheitsempfinden stehen in Zusammenhang mit der Wahrnehmung von „Incivilities“ im alltäglichen Umfeld erlebter Bedrohung / Verunsicherung durch gesellschaftliche Transformationsprozesse Bedeutung eigener Opfererfahrungen für Kriminalitätsfurcht wird zuletzt wieder stärker diskutiert. Bezugspunkte von Furcht / Sicherheitsempfinden wandeln sich mit der Zeit (Bedeutung von Terror nach 2001; Relevanz von Internetkriminalität). Forschung zu Wirkung von Maßnahmen auf KF zeigt bislang nur wenige konsistente Zusammenhänge auf. Danke! Prof. Dr. Thomas Görgen Deutsche Hochschule der Polizei (Münster) Fachgebiet Kriminologie und interdisziplinäre Kriminalprävention [email protected]