BLICKPUNKTE Dienstag, 28. Mai 2013 SEITE 3 „Wie Maden über Leichen“ Thema des Tages ESKALATION IN SYRIEN Hisbollah reißt Libanon in den Krieg Aus dem Tagebuch eines Syrers D as Gefühl, nichts ausrichten zu können, packt mich beim Ohr. Mir schmerzt der Kopf. Ich frage mich, was ich hier tue. Soll ich von den Toten oder von den Lebenden in meinem Land berichten. Ich weiß es nicht. Vorne spricht Ban Ki Moon über das Sterben in Syrien. Und ich spreche in Kürze nebenan in einem anderen Saal des Genfer Menschenrechtsrates. Dabei weiß ich, dass alles, was hier bisher gesagt wurde und was ich sagen werde, nichts bewirkt. In wenigen Stunden wird die Zahl der Menschen, die allein am heutigen Tage dem anhaltenden Schlachten mit Messern und Bomben zum Opfer fallen, auf 200 gestiegen sein. Nach dem sinnlosen Auftritt kehre ich ins Hotel zurück. Ich schreibe einen Nachruf auf einen Freund, der von einer Bombe bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde, und lege das Manuskript in den Nachruf-Ordner auf dem Schreibtisch. Selbstekel befällt mich. Ich komme mir vor wie eine Made, die sich über die Toten hermacht. Ich bin erschöpft, mag nicht mehr über meine getöteten Freunde schreiben. Ich denke über meine Rolle seit Beginn der Revolution nach, frage mich nach dem Sinn meiner Arbeit. Haben die Medien auch nur ein einziges syrisches Kind vor dem Gemetzel gerettet? Steht uns die Völkergemeinschaft zur Seite, nachdem wir angefangen haben, die Vernichtung unserer Städte und Körper (...) in Bildern festzuhalten? (...) Das maßlose Leid hat das Gedächtnis jedes Syrers in ein Massengrab verwandelt. Die Opfer sind Mensch und Ort. Ich entdecke, wie naiv wir sind. Entdecke, dass die Menschlichkeit der Anderen eine Lüge ist, auf die wir hereinfallen. Im U-Bahn-Tunnel große Leinwände. Werbung und Nachrichten in deutscher Sprache werden eingeblendet. Menschen in Eile, fahrende Züge. An jeder Station ist eine syrische Horrorszene zu sehen. Die Aufständischen in meinem Lande haben es geschafft, Bilder ihres tagtäglichen Leids in die ganze Welt hinauszutragen. Aber was nutzt das angesichts der Tatsache, dass das Grauen immer größere Ausmaße annimmt? Wieder zu Hause, befällt mich das Gefühl, gespal- ten zu sein. Das Gefühl, ein unwirklicher Mensch zu sein, der in dem syrischen Horrorfilm verharren will, während alle anderen (...) daran vorbeihasten und wegsehen wie bei unliebsamer Werbung. Ich lebe im Gespaltensein. Habe das Gefühl, nach toten Fisch zu stinken. (...) Ein paar Tage später fahre ich nach Brüssel. Die Stadt begeht ihren jährlichen autofreien Tag. Überall tanzende Menschen. Mir schießt ein Gedanke durch den Kopf: Haben die etwa das hiesige Regime gestürzt? (...) Mittags findet im Rahmen einer syrischen Kunstausstellung (...) eine Veranstaltung zur Situation in Syrien statt. (...) Wieder wird die gleiche Platte aufgelegt. Das Massensterben in meinem Land. Die Zahl der Toten. Die Bekräftigung, dass die Revolution nicht religiös motiviert ist. Während die immer gleichen Phrasen wiedergekäut werden, verliert Fatima, ein kleines Mädchen, ihren Kopf. Er wird ihr vom Körper abgetrennt. (...) Ich hasse meine Stimme, hasse meine Antworten. Es ist, als würden aus meiner Kehle Maden quellen, die sich über die Leichen meiner Freunde hermachen. Wieder packt mich das Gefühl, nichts ausrichten zu können, beim Ohr. Es schleudert mich in meine Wohnung, stößt mich in die Gewissheit, dass Medien nichts bewirken, wenn ein Syrer sich heute an seine Mitmenschen wendet. Auf Facebook stellt einer meiner Freunde eine Rätselfrage über die syrische Realität: „Rate mal, wer ums Leben gekommen ist.“ Die Bilder all meiner Freunde brechen über mich herein. (...) Mein Herz überspringt die Bilder, das Gesicht meiner Mutter und meines Vaters erscheinen. „Abdu al-Masri“, löst der Freund das Rätsel auf. Abdu al-Masris Haus im Damaszener Viertel Basateen Mezzeh wurde von einer Bombe getroffen. Abdu überlebte die Explosion. Man brachte ihn ins benachbarte El-Razi-Krankenhaus. Es weigerte sich, meinen Terroristen-Freund aufzunehmen. Da nahm ihn der Himmel auf.“ Ü Text von Amer Matar aus dem Kapitel „Mein Herz ist eine Made“ in: „Fremde Heimat - Texte aus dem Exil“, Hrsg. Christa Schuenke und Brigitte Struzyk. Matthes & Seitz 2013. Der Journalist Amer Matar Amer Matar wurde 1987 in Raqqa geboren. Er hat in Damaskus Publizistik studiert und schreibt seit 2002 für die syrische und internationale arabische Presse. Seit 2010 ist er Kulturkorrespondent der Tageszeitung Al-Hayat (London) in Damaskus. Während der Revolution wirkte er unter Pseudonym als Korrespondent des Fernsehsenders Al-Arabiyya und realisierte mehrere kurze Dokumentarfilme, die auf AlDschasira, Al-Arabiyya und Fran- ce24 ausgestrahlt wurden. Sein Dokumentation Azadi (Freiheit) über die Rolle der kurdischen Minderheit in der syrischen Revolution wurde 2011 auf dem Rotterdamer Filmfestival ausgezeichnet. 2011 wurde er vom syrischen Geheimdienst verhaftet und gefoltert. 2012 konnte Matar mit Hilfe der Heinrich-Böll-Stiftung aus Syrien fliehen. Seit Oktober 2012 ist er writers-in-exile-Stipendiat des PEN-Zentrums Deutschland. J fel Das Leid in Syrien hat unvorstellbare Ausmaße angenommen. Das Foto zeigt eine syrische Frau, die aus ihrem Heimatort geflohen ist, und nun hofft, in einem syrischen Flüchtlingscamp im Dorf Atmeh Kissen und Decken zu erhalten. J Foto: AP So viele, die sterben Von Fabian El Cheikh OFFENBACH J Wieder muss er vom Tod reden. Eigentlich will er das gar nicht mehr, „es bewirkt doch nichts“. Amer Matar hat die Hoffnung verloren, dass die Welt dem täglichen Gemetzel in Syrien Einhalt gebietet. Und doch muss er berichten. Dieses innere Gefühl verpflichtet ihn dazu. Es ist das Einzige, das er tun kann in seiner Ohnmacht und Machtlosigkeit, die alle seine Landsleute in Syrien und im Ausland verspüren. Der junge syrische Dokumentarfilmer pendelt zwischen zwei völlig unvereinbaren Welten, zwischen dem Alltag in seinem deutschen Exil und dem zur Normalität gewordenen Tod in Syrien. Das deutsche PEN-Zentrum hat ihm ein Stipendium für verfolgte Schriftsteller verschafft. Der 26-Jährige ist der Folter im syrischen Gefängnis entflohen – nach Deutschland. „Jeden Tag fliehen 200 Menschen in Syrien in den Tod“, versucht er in der Akademie für interdisziplinäre Prozesse (Afip) an der Offenbacher Ludwigstraße Einblicke in seine zerrissene Gefühlswelt zu geben. Er glaubt, das Leiden in Syrien mitfühlen zu müssen, solange er nicht zurückkehrt. Matar bedankt sich, dass sich rund 50 Menschen die Zeit genommen haben, um seiner Lesung (siehe Artikel links) zu lauschen und über die unfassbaren Ereignisse in seiner Heimat zu diskutieren. Er sitzt vor dem Publikum. Drei Tischlampen und ein leuchtender Globus erhellen den dunklen, kalten Raum der Afip. Es ist eine zähe Veranstaltung. Der Gast spricht langsam. Arabisch. Die langen Übersetzungspausen strapazieren die Konzentration. Matar lächelt höflich. Immer mehr Syrer würden zu Journalisten, berichtet er, um Vor einem Jahr ist er der Folter entflohen, nun lebt Amer Matar in Deutschland. Seine Gedanken drehen sich um seine Freunde, die sterben. Um seine Heimat Syrien, die in Trümmern liegt – in Trümmern aus Beton und zerbrochenen Herzen. Amer Matar hofft, dass das Blutvergießen bald endet. alles für die Menschheit zu dokumentieren. Sie wollen, dass die Bilder nach außen getragen werden. „Doch es ist so sinnlos, es bringt keinen Frieden, keine Lösung“, kommentiert Matar. „Die Macht der Medien ist eine Lüge. Die Medien ändern nichts. Wir hören jeden Tag die Bomben, schlafen unter Bomben ein, das ist Alltag geworden.“ Ein Mann meldet sich zu Wort. Er begreife nicht, wieso Matar immerzu von Revolution spreche, es handle sich J Foto: fel doch mit jedem Tag mehr um einen Bürgerkrieg. Die Antwort: „Ich nenne es Revolution, weil die Menschen auf die Straße gegangen sind und demonstriert haben ohne Waffen. Ein Jahr lang hat das gedauert, indem nicht von einem organisierten Befreiungskampf geredet wurde.“ Die Syrer hätten mit legitimen Mitteln legitime Forderungen gestellt. Doch mit dem Regime ließe sich nicht verhandeln. „Die Menschen können nicht mit Waffen und Bomben reden.“ Matar will vom Leiden seiner Landsleute sprechen, das über allem stehe. Das Publikum über Politik. Ob er angesichts hunderttausend Toten und der unvorstellbaren Zerstörung nicht bedauere, das es überhaupt zu diesem Aufstand gekommen sei? „Wie das Regime reagieren würde, war allen Syrern bekannt, sie haben es auf sich genommen. Entweder sie entwickeln Leben oder sie bleiben tot“, spielt Matar auf die jahrzehntelange Unterdrückung des Baath-Regimes an. „Wir haben stets in Angst vor dem Tod gelebt und davor, ins Gefängnis gesteckt zu werden und nicht mehr herauszukommen.“ Und die Islamisten, die jetzt auf dem Vormarsch sind? Matar gibt zu: „Die Menschen sind so verzweifelt, dass sie sich allen Gruppen anschließen, die das Regime stürzen wollen. Aber das syrische Volk will keine Extremisten, sie wollen einfach nur leben. Sie hatten eine in ihrer Ideologie extremistische Regierung.“ Was viele Gruppen nach einem Sturz wollten, das könnten die Syrer zum jetzigen Zeitpunkt nicht wissen. Der Assad-Clan aber versuche, das Land in einen sektiererischen Konflikt zu stürzen, sagt Matar. „Nach der Maxime ,Teile und herrsche’, die das Regime so gut beherrscht, will es Spannungen zwischen den Religionsgruppen schüren, um an der Macht zu bleiben. „Gott sei Dank kämpft die Bevölkerung noch nicht wie im Irak gegeneinander.“ Nach der Lesung will Matar nach Hause telefonieren. Doch es könnte sein, dass derjenige nicht rangeht, „weil er tot ist“. So wie viele andere Syrer während dieser dreistündigen Veranstaltung gestorben sein werden. Streit um Waffen für Syrien entzweit die EU Außenminister ringen bis in die Nacht hinein um einen Durchbruch / Laufen die Sanktionen am Freitag aus? Von Detlef Drewes BRÜSSEL J Eigentlich wollten die Außenminister der EU die Sanktionen gegen Syrien verschärfen. Erreicht haben sie möglicherweise das Gegenteil: An diesem Freitag könnten die bisherigen Sanktionen gegen das Assad-Regime auslaufen. Diese Anzeichen verdichteten sich gestern am späten Abend in Brüssel beim Treffen der 27 EU-Außenminister. Kurz vor Mitternacht wollten die Minister noch ei- nen letzten Versuch zur Einigung unternehmen. Tatsächlich steht die Union massiv unter Druck. Im Falle eines Scheiterns könnte der Diktator sogar westliche Technologie importieren und sein Öl verkaufen. Die Vertreter des Regimes würden in die EU einreisen dürfen. „Ich bin tief enttäuscht“, sagte der sichtlich niedergeschlagene österreichische Außenminister Michael Spindelegger. Während Frankreich und Großbritannien die Oppositi- on mit Waffen beliefern wollten, um dem Druck der Regierungstruppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad standhalten zu können, weigerten sich Österreich und einige weitere Länder, überhaupt über eine militärische Option reden. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) hatte sich als Moderator versucht. Aber auch er konnte bis zum Abend keinen Durchbruch erreichen. Dabei hatte es am Nachmittag zunächst so ausgese- hen, als habe man sich angenähert. Auf dem Tisch lag ein Kompromiss, der vor allem einen Sinn hatte: den Druck auf Assad und seine Führung wenige Tage vor der Internationalen Friedenskonferenz Anfang Juni in Genf noch einmal zu erhöhen. In dem Papier war vorgeschlagen worden, mit einer Lieferung von Militärgütern, die „dem Schutz der Zivilbevölkerung“ dienen, zunächst bis zum 1. August (also nach der Konferenz) zu warten. Dann hätten die Außenamtschefs der Gemeinschaft jeweils einstimmig über einzelne Lieferungen entscheiden müssen. Gleichzeitig sollten die bestehenden Sanktionen allerdings um ein Jahr verlängert werden. „Wir sind der Überzeugung: Je entschlossener die EU handelt, desto größer ist auch unser Einfluss in der Region“, sagte Westerwelle im Ministerrat. „Ich bedauere, dass eine Einigung auf die Textvorschläge nicht möglich“, erklärte Spindelegger und gab dafür vor allem Paris und London die Schuld. Die EU stünde damit vor einem Dilemma ihrer SyrienPolitik. Ausgerechnet vor dem Beginn der Verhandlungen mit Assad-Regime in Genf gäbe die Union ihr wichtigstes Instrument gegen Syriens Machthaber aus der Hand. Das Ergebnis dürfte nach Einschätzung von Beobachtern in Brüssel ein Auseinanderfallen der außenpolitischen Linie der Mitgliedstaaten sein. ISTANBUL/BERLIN J Die libanesische Hisbollah kämpft im syrischen Bürgerkrieg jetzt auch offiziell an der Seite des Assad-Regimes gegen sunnitische Aufständische und setzt damit die Stabilität des eigenen Heimatlandes aufs Spiel. Der Generalsekretär der Schiitenbewegung, Hassan Nasrallah, prophezeite während einer TV-Ansprache einen Sieg im Nachbarland. Er drohte an, dass die Milizen solange wie notwendig blieben. Nur wenige Stunden nach der Rede schlugen am Sonntag Raketen in zwei von der Hisbollah kontrollierten Vororten Beiruts ein. Fünf Menschen wurden verletzt. Bei den Raketenangriffen im Süden der libanesischen Hauptstadt schlugen zwei Geschosse vom Typ „Grad“ in eine Automobilausstellung und ein Wohngebäude ein. Zunächst bekannte sich niemand zu den Attacken. Libanons Innenminister Marwan Charbel sah in dem Angriff einen Versuch, die Lage in seinem Land zu destabilisieren. In dem östlichen Ort Hermel nahe der syrischen Grenze schlugen laut libanesischer Nachrichtenagentur NNA zwei Raketen aus Syrien ein, verletzt wurde niemand. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hatte am Wochenende seine Kämpfer auf einen „Sieg“ in Syrien eingeschworen. Man werde es „niemals“ zulassen, dass das Regime von Baschar al-Assad gestürzt werde. Syrien sei das Rück- Raketenangriff auf südliche Vororte von Beirut grat des Widerstandes, und der Widerstand (die Hisbollah) werde nicht zuschauen, wie Syrien von den USA, Israel und Extremisten das Rückgrat gebrochen werde. Mit Hilfe von Hisbollah-Milizionären haben syrische Regierungstruppen in der strategisch wichtigen Kleinstadt Al-Kusair am Wochenende eine neue Offensive gestartet. Rund 2000 Hisbollah-Kämpfer sollen an den Gefechten beteiligt sein. Al-Kusair liegt an der Grenze zum Libanon und in der Nähe der Autobahn, die Damaskus mit der vom Regime kontrollierten Küstenregion verbindet. Auch für die Rebellen ist der Ort von strategischer Bedeutung, weil dort Nachschublinien aus dem Libanon entlanglaufen. Die Hisbollah wiederum will verhindern, dass radikale Islamisten oder Extremisten das Gebiet kontrollieren, über das sie traditionell auch Waffen aus Syrien und dem Iran erhält. Der libanesische Staat versucht, sich weiterhin neutral zu verhalten gegenüber dem Konflikt in Syrien, der längst auch das eigene Territorium erreicht hat. Seit Wochen kommt es zu Auseinandersetzungen im Nordlibanon zwischen sunnitischen Gegnern Assads und dessen alawitischen Unterstützern. In Tripoli wurden bei den bislang heftigsten Kämpfen binnen einer Woche mindestens 26 Menschen getötet. Eine Eskalation der Lage streben offenbar weitere Gruppen an. Medien berichteten gestern, dass Israel vom Südlibanon aus mit einer Rakete beschossen worden sei. Ein Sprecher der libanesischen Sicherheitskräfte bestätigte das. Allerdings konnte das israelische Militär keinen Einschlag bestätigen. Man gehe nicht davon aus, dass die Hisbollah hinter dem Angriff stecke, hieß es. J dpa