Karol Bula Gregor Fitelbergs Korrespondenz aus den Jahren 1945 bis 1953∗ Im Dezember 2003 wurde als Ehrung zu Gregor Fitelbergs 50. Todestag von der Stiftung des Internationalen Gregor-FitelbergDirigenten-Wettbewerbs die von Prof. Dr. Leon Markiewicz vorbereitete Korrespondenz des berühmten polnischen Dirigenten veröffentlicht. Das Buch zählt 432 Seiten und enthält 360 Briefe. Der Autor versah es mit einer 19 Seiten zählenden, von Adam Labus und Sylwia Polek ins Englische übersetzten Einleitung, einem nummerierten Verzeichnis der Briefe in chronologischer Reihenfolge, Verzeichnissen sowohl der Adressaten der Briefe Fitelbergs als auch ihrer Briefe an Fitelberg und einem Namen- und Sachverzeichnis. Die Publikation enthält auch eine Beilage mit Abbildungen und im Text Faksimiles einiger Briefe bzw. Brieffragmente. In der Einleitung weist der Autor auf die Quellen und den die Korrespondenz umfassenden zeitlichen Rahmen hin ( Die untere ” Grenze des Inhalts dieser Auswahl bildet das Jahr 1939“) und definiert auch die bei der Selektion angewandten Kriterien: Aus der Gesamtzahl von 700 Briefen wurde die Hälfte der rein amtlichen und in Fremdsprachen bei nicht feststellbarer Autorschaft verfassten Briefe (Finanzen, Statistiken u.a.) nicht in Betracht gezogen. Der ganze Bestand kann in zwei Teile gruppiert werden. Den ersten bilden 31 Briefe aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und den unmittelbar darauf folgenden Jahren vor Fitelbergs Rückkehr nach Polen (5. Oktober 1946), wobei zu bemerken wäre, dass der erste in Frage kommende Brief das Datum 8. April 1941 führt, die Anmerkung also, die auf 1939 als die untere Grenze des Korrespondenzinhalts hinweist, nicht präzis ist, auch wenn sich Fitelbergs Erinnerungen in einigen seiner Briefe auf den Anfang des Krieges beziehen. Den zweiten Teil bilden die nach der Rückkehr verfassten Briefe (der erste vom 17. Februar 1947) und die restlichen bis zum Tode des Dirigenten). ∗ Die eigentlichen Briefeditionen sind erhältlich über: [email protected] 57 Eine Analyse der Korrespondenz führt den Autoren der Sammlung zu der Feststellung, dass die Briefe der ersten Gruppe vor allem das Drama widerspiegeln, das Fitelbergs Verwandte und Bekannte, die sich nicht entschlossen hatten, Warschau bei Kriegsanfang zu verlassen, betroffen hat, aber auch das Drama des Dirigenten, der sich nicht leicht in den dem faschistischen Deutschland ihre Gunst erweisenden Ländern Südamerikas adaptieren konnte, wohin er sich nach der Flucht aus Europa begeben hatte; übrigens fühlte er sich auch in den USA, wo er sich in den Jahren 1942 bis 1945 aufhielt, wenn auch aus anderen Gründen nicht wohl. Die von Markiewicz durchgeführte Analyse der Korrespondenz Fitelbergs nach der Rückkehr nach Polen und seiner Tätigkeit als Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Kattowitzer Rundfunk-Sinfonieorchesters vermittelt uns das Bild eines außergewöhnlich aktiven Menschen von jugendfrischem Eifer und Enthusiasmus, der allerdings oftmals – durch die Situation in der Kulturpolitik mit ihrer vorbehaltlosen Unterordnung unter die zentralen Behörden verursacht – in Konflikte verstrickt war. Fitelberg war jedoch ein Künstler, der – sich seiner Position im polnischen Musikermilieu bewusst – nicht nur unbeugsam um seine Rechte kämpfte, sondern auch ein Mensch von heiterem Sinn und Humor war. Er war sowohl den talentvollen jungen Komponisten, Dirigenten, Künstlern als auch seinen alten Freunden außergewöhnlich zugetan. Das Charakterbild, das sich aus der Korrespondenz abzeichnen lässt, beendet Markiewicz mit einer gezielten Feststellung: Unumstritten war Fitelberg damals in ” Polen eine Persönlichkeit von höchster musikalischer Autorität“. Die Briefe der ersten Korrespondenzgruppe enthalten besonders viele Informationen über den Lebensweg des Dirigenten bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs und beim Verlassen der polnischen Hauptstadt Ende November 1939. Sie befinden sich hauptsächlich in den ersten Briefen an Stefan Spiess1 vom 4. und 6. November 1945. In freundschaftlichen Verhältnissen stand Fitelberg mit Spiess fast seit Beginn des Jahrhunderts (falsch ist das in der Fußnote 3, Seite 62 der Publikation für Spiess angegebene Geburtsdatum 1898. Tadeusz A. Zieliński gibt in seiner 1 Stefan 58 Spiess (1879–1968) war polnischer Musikliebhaber und Mäzen. 1997 vom Polnischen Musikverlag veröffentlichten SzymanowskiMonographie das Jahr 1904 als Zeitpunkt des ersten Treffens des Komponisten mit seinem und Fitelbergs zukünftigen Freund und Gönner an. Kein Wunder, dass sich in der veröffentlichten Sammlung 23 (nicht 21, wie Markiewicz auf S. 10 der Einleitung schreibt) Briefe befinden, in denen der Autor nicht nur seine Besorgnis um den Gesundheitszustand des Freundes und materielle Sorgen verrät, sondern ihm auch seine Freuden und Leiden anvertraut. Ergreifend sind die im letzten Brief vom 12. April 1953 (Fitelberg starb am 10. Juni desselben Jahres) niedergeschriebenen Worte Fitelbergs, in denen er die Schenkung seines Hauses auf der Elsterska-Straße an den Polnischen Komponisten-Verband erwähnt: Ich werde alles verschenken, ich nehme nichts mit mir. ” Die Zeit ist nahe. So muss es sein“. Die Korrespondenz mit Tadeusz Baird, Henryk Czyż, Artur Malawski und anderen Persönlichkeiten des polnischen Musikermilieus, besonders auch Grażyna Bacewicz und Jan Krenz, liefert uns Beweise seiner außergewöhnlichen Beziehungen zu den Schöpfern und Künstlern, die sich auf internationaler Ebene zu etablieren suchten. In Jan Krenz sah Fitelberg seinen Nachfolger auf dem Posten des künstlerischen Leiters des Kattowitzer Orchesters; er schätzte ihn ebenso als höchst talentierten Komponisten. In seinen Briefen (38 – den meisten in der Sammlung) brachte er ihm oft väterliche Gefühle entgegen. Schon der früheste erhaltene Brief vom 22. Oktober 1949 weist auf einen vertrauten Umgang des berühmten Dirigenten mit dem am Anfang seiner Karriere stehenden jungen Künstler, bittet er doch darin Krenz, im Hotel Bristol nach seiner verlorenen Brille Ausschau zu halten. Vom Mai 1951 an wurden die Kontakte besonders eng: Jan Krenz wurde als Dirigent des Kattowitzer Orchesters angestellt und verständlicherweise betreffen die weiteren Briefe des Öfteren die mit den Konzertprogrammen, Terminen usw. verbundenen Angelegenheiten. Nach Fitelbergs Ableben wurde Krenz den Erwartungen entsprechend künstlerischer Leiter des Kattowitzer Rundfunk-Sinfonieorchesters. Fitelbergs veröffentlichte Korrespondenz ist oft einseitig. Dem Autoren gelang es in vielen Fällen nicht, die an Fitelberg gerichteten Briefe zu ermitteln. Beispielsweise ist bei 12 an Antoni 59 Szalowski2 adressierten Briefen kein einziger Brief von Szalowski an Fitelberg erhalten, obwohl aus dem Inhalt der Briefe von Fitelberg hervorgeht, dass ein brieflicher Kontakt zwischen beiden bestand (New York 30. April 1945: Deinen Brief vom 24. 4. ” habe ich erhalten – Ich bedanke mich“; New York 25. November 1945: Danke für Deinen interessanten und ausführlichen Brief“). ” Ähnlich wird bei der Korrespondenz mit Grażyna Bacewicz und Jan Krenz kein einziger Brief an Fitelberg zitiert. Die veröffentlichte Sammlung enthält nur einen Brief von Stefan Spiess – mit Beileidsbezeugungen nach dem Tode des Sohnes von Fitelberg. Es fehlen Briefe Fitelbergs an Witold Lutoslawski, obwohl 23 Briefe (nicht 28, wie es in der Einleitung heißt) von Lutoslawski an Fitelberg existieren, in denen der große Komponist eindeutig seine Bewunderung und Herzlichkeit gegenüber dem berühmten Dirigenten bezeugt. Man darf hoffen, dass weitere Schritte unternommen werden, um den Bestand der Korrespondenz Fitelbergs um diese Briefe zu ergänzen, die besser die Beziehungen zwischen Fitelberg und den polnischen Künstlern und Komponisten, wie z. B. Jan Ekier, Kazimierz Sikorski, Witold Rowicki, Michal Spisak, dokumentieren könnten. Es scheint dies nicht unmöglich zu sein, da der Autor der Publikation eindeutig zu verstehen gab (S. 9), dass er bei ihrer Zusammenstellung unter dem Druck der Termine der 50-Jahresfeier und des unvermeidlich nahenden 7. Internationalen Gregor-Fitelberg-Dirigenten-Wettbewerbs stand. Sehr interessant ist die offizielle Korrespondenz Fitelbergs mit dem Kultusminister bzw. dem Ministerium für Kultur und Kunst, dem Polnischen Rundfunk (bzw. dem Leiter der Abteilung Musik im Polnischen Rundfunk Warschau, Roman Jasiński) und dem Polnischen Musikverlag in Krakau (bzw. dem Leiter des Verlags, Tadeusz Ochlewski). Man kann daraus folgern, wie misslich und oft unerträglich die Situation des großen Künstlers in der damaligen polnischen Realität gewesen sein musste. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, dass einem so berühmten Künstler, der sich im Ausland in einer schwierigen materiellen Situation befand (Fitelberg schreibt davon in einem bitteren Brief vom 17. April 1947 an Spiess), in einem Telegramm Bescheid gegeben wurde, 2 Der polnische Komponist Antoni Szalowski (1907–1973) war seit 1931 in Paris ansässig. 60 er solle einfach auf Kosten des Ministeriums nach Hause fliegen (Telegramm nach Capri vom 14. April 1947). Das Fernhalten Fitelbergs von der Inszenierung von Karol Szymanowskis Oper König Roger in Palermo (trotz Einladung) muss man als bösartigen Affront bezeichnen (siehe: Z. Drzewieckis Brief an Fitelberg vom 25. September 1948, Fitelbergs Brief an den Kultusminister Jerzy Grosicki vom 10. Oktober 1948 und den Antwortbrief des Ministers vom 29. Oktober 1948). Mit Befremden liest man den Brief des Außenministeriums mit der an Fitelberg gerichteten Forderung, er solle seine Schulden“ bei der polnischen Gesandtschaft in ” Budapest abzahlen – Fitelberg wurde dort aus Regierungskreisen ein Abendkonzert aufgezwungen, so dass er sich finanzielle Hilfe von der Gesandtschaft erbitten musste, um im Frack aufzutreten, den er nach Budapest nicht mitgenommen hatte (jungen Lesern möge ins Bewusstsein gerufen werden, dass die polnischen Bürger zu dieser Zeit sogar in den befreundeten Ländern“ keine Mög” lichkeit hatten, Geld einzuwechseln); Fitelberg reagiert auf diese freche Forderung, er könnte den Frack nach Budapest schicken, er benötige ihn nicht3 . Vielen Ärger machte dem legendären Dirigenten die Abhängigkeit von den bürokratischen Entscheidungen, die in der Zentrale des Polnischen Rundfunks in Warschau getroffen wurden. Man versuchte Fitelberg Konzert- und Einspielungsprogramme aufzuzwingen (gestrichen wurden unerwünschte Positionen“, wie ” z. B. Bruckners 4. Symphonie, Schostakowitschs 7. und 9. Symphonie, Szymanowskis Werke für ein Moskauer Konzert), man tadelte seine Selbstständigkeit, befahl dem Bürger Direktor Fi” telberg“ eine Reduzierung der Orchestermitgliederzahl durchzuführen (Radiotelegramme vom 29. und 30. Dezember 1952) usw. Fitelberg reagierte auf alle diese Zumutungen sehr entschlossen. Er war zum harten Kampf fähig – darauf weist auch die sehr ergiebige Korrespondenz mit dem Polnischen Musikverlag in Krakau hin (Fitelberg war nicht nur Dirigent, er feierte in früheren Jahren auch Triumphe als Komponist und befasste sich noch in den Nachkriegsjahren fleißig mit Bearbeitungen bzw. der Instrumentierung vieler Werke – u. a. von Chopin, Moniuszko, Brahms, 3 Die finanzielle Hilfe“ betraf nur eine Zugabe zum Frack. (Fitelbergs Brief ” vom 11. 9. 1950). 61 Karlowicz, Rachmaninow, Szymanowski, Prokofiev, Schostakowitsch – konnte aber ebenso, wenn es darauf ankam, geschickt verhandeln. Wenn auch der von Prof. Markiewicz vorgestellten Korrespondenz von Gregor Fitelberg der Mangel der Unvollständigkeit vorgeworfen werden darf, so muss man ihr doch anerkennen, ihrem Leser außergewöhnlich viel Material zu liefern, das ihn den berühmten polnischen Dirigenten näher kennen lernen und wissen lässt, dass Fitelberg auch in den schwierigen Jahren Polens Entmündigung seinem obersten Ziele treu blieb. Dies war für den großen polnischen Künstler der Dienst an der polnischen nationalen Musikkultur und dies im breitesten und edelsten Sinne, ohne einem rückständigen nationalen Chauvinismus zu verfallen. 62