Endodontische Frage n 461 Die endodontische Frage Behandlung kalzifizierter Wurzelkanäle Meine Frage bezieht sich auf die Behandlung kalzifi­ zierter Wurzelkanäle. Abgesehen von Patienten mit Beschwerden, die in meine Praxis kommen, und bei denen der betroffene Zahn einen obliterierten Wurzel­ kanal mit eindeutiger apikaler Aufhellung im Rönt­ genbild aufweist, sind auch immer wieder skle­rosierte Wurzelkanäle ohne klinische und radiologische Auf­ fälligkeiten dabei. Müssen solche kalzifi­zierten Wur­ zelkanäle behandelt werden, bevor sie symptoma­ tisch werden? Es ist doch einfacher, die Wurzelkanäle zu behandeln, bevor sie sich weiter verengen. M. Z. aus G. Antwort Lieber Herr Kollege, vielen Dank für Ihre interessante Frage! Die Skle­ rosierung oder besser Kalzifizierung eines Wurzel­ kanals stellt per se keinen pathologischen Vorgang dar. Vielmehr ist sie ein Indiz dafür, dass noch vitales Gewebe im Wurzelkanal vorhanden ist, da ohne eine vitale Pulpa mit intakter Odontoblastenschicht keine Hartsubstanzbildung innerhalb des Wurzelkanals möglich wäre. Ich verstehe Ihre Frage nur allzu gut, denn je weiter sich der Wurzelkanal verengt, desto schwieriger würde ggf. die Durchführung einer Wur­ zelkanalbehandlung werden. Das Risiko des Auftre­ tens einer Komplikation während der Behandlung eines kalzifizierten Wurzelkanals ist nicht zu unter­ schätzen. Ob eine intentionelle (prophylaktische) Wurzelkanalbehandlung in diesem Fall die bessere Entscheidung ist, ist wissenschaftlich nicht geklärt. Das Risiko einer Perforation, Schwächung der Wur­ zel oder Entwicklung einer Parodontitis apicalis bei noch vitaler, aber sich zurückziehender Pulpa muss gegen die Risiken und Chancen bei abwartender Haltung mit letztendlich möglicherweise nicht mehr instrumentierbarer Kalzifikation abgewogen wer­ den. Um Ihnen die Entscheidung für oder gegen eine Wurzelkanalbehandlung zu erleichtern, finden Sie im folgenden Beitrag einen Überblick über die in der Literatur vorliegenden Informationen. Zunächst ein Wort zur Terminologie: Sie haben in Ihrem Schreiben bereits drei unterschiedliche Be­ griffe für den vermeintlich identischen Sachverhalt verwendet: Obliteration, Kalzifizierung, Sklerosie­ rung. Diese drei Termini werden in der Tat weitest­ gehend synonym verwendet. In den Empfehlungen der AAE (2003)1 und der DGZ (2000)2 zur end­ odontischen Terminologie finden sich die folgenden Definitionen. Obliteration: Im DGZ-Terminologie-Lexikon heißt es: Verwachsung normaler Öffnungen, z. B. der Wurzelkanäle durch dentinartige Hartsubstan­ zen2. Im Terminologieglossar der AAE findet sich dieser Begriff nicht. Er wird häufig verwendet für nicht gängige Wurzelkanäle und umfasst vollständig wie auch unvollständig durch Hartgewebe verschlos­ sene Wurzelkanäle, die eine Instrumentierung nicht (mehr) zulassen. Weist die entsprechende Wurzel eine Parodontitis apicalis auf, ist von einer unvoll­ ständigen Obliteration auszugehen. Der Terminus Obliteration ist somit ein Synonym für Kalzifizierung. Kalzifizierung: Synonym für Obliteration, voll­ ständige oder partielle Einengung des Kanalsystems durch Anlagerung von Hartgewebe. Der Terminus findet sich in keinem der beiden Lexika1,2, in der angloamerikanischen Literatur wird jedoch häufig der Begriff „calcified canals“ verwendet. Endodontie 2015;24(4):461–465 Christian Holscher Dr. med. dent. Theaterplatz 9a 37073 Göttingen E-Mail: [email protected] 462 n Endodontische Frage Sklerosierung: Der Begriff Sklerosierung bezieht sich auf die Kalzifikation der Dentintubuli als Resultat von Trauma oder Alter, wodurch sich die Transparenz des Dentins ändert. Diese Bezeichnung ist somit im Kontext Ihrer Fragestellung nicht korrekt, eine Einen­ gung des Wurzelkanallumens ist hierunter nicht zu verstehen1. Blockade: Im Gegensatz zur Kalzifizierung liegt hier ein durch Gewebe, Dentinspäne, frakturierte Instrumente, Zementreste o.ä. iatrogen eingeengtes oder vollständig blockiertes Kanalsystem vor. Die Kalzifizierung des Wurzelkanals ist grund­ sätzlich ein physiologischer Alterungsprozess des Zahns und der kontinuierlichen und lebenslangen Anlagerung von Sekundärdentin durch Odontoblas­ ten geschuldet3. Die Produktivität der Odontoblas­ ten liegt anfangs zwischen 1 bis 16 µm pro Tag4 und nimmt im Alter zwischen 75 und 92 % ab5. Die größere Anzahl an Odontoblasten befindet sich in­ nerhalb der Pulpakammer bzw. im Bereich der Schmelz-Zement-Grenze, apikalwärts nimmt Ihre Anzahl ab. Die Sekundärdentinbildung verläuft schneller in mesiodistaler Richtung als nach koronalapikal3. Die Kalzifizierung kann durch einen Reiz auf die Pulpa, z. B. durch Karies oder eine Präparation des Dentins, beschleunigt werden6. In diesem Fall spricht man dann von einer „Tertiären Dentino­ genese“. Wird die Tertiäre Dentinogenese durch Odontoblasten verursacht, spricht man von „Reak­ tionsdentin“7. Werden die Odontoblasten aufgrund der Noxe apoptotisch, wird durch odontoblas­ ten-ähnliche Zellen „Reparaturdentin“ gebildet8. Ferner findet durch die zunehmende Kalzifizierung eine Abnahme der Sensitivität der Pulpa statt, da insgesamt ein geringeres Volumen an Dentin-Fluid vorhanden ist9. Das bedeutet, dass das Risiko Zahnfraktur Sklerosierter Wurzelkanal Klinische und Zahnfraktur radiologische Diagnostik Zahnfraktur Symptomatisch Zahnfraktur Verfärbung der Zahnkrone Zahnfraktur Wurzelkanalbehandlung Zahnfraktur Internes Bleichen Zahnfraktur Externes Bleichen Zahnfraktur Asymptomatisch Zahnfraktur Keine Verfärbung der Zahnkrone Zahnfraktur Überkronung, Veneer etc. Zahnfraktur Monitoring © C. Holscher Abb. 1 Flowchart zum Vorgehen bei Zähnen mit kalzifizierten Wurzelkanälen. Endodontie 2015;24(4):461–465 Endodontische Frage a b n 463 c Abb. 2 a bis c a) Zustand nach Perforation (Pfeil) bei dem Versuch, die kalzifizierten Wurzelkanäle zu behandeln. b) Nach Perforationsdeckung mit MTA konnten die Wurzelkanäle mithilfe des Dentalmikroskops aufgefunden und auf endometrisch kontrollierter Arbeitslänge behandelt werden. c) Röntgenkontrollaufnahme ein Jahr postoperativ. falsch-negativer Messungen bei einem Sensibilitäts­ test der Pulpa steigt10. Hinzu kommt, dass es durch die Kalzifizierung des Wurzelkanals häufig (69 %) zu einer gelblichen und seltener (2,5 %) zu einer gräu­ lichen Verfärbung der Zahnkrone kommt11. Falls dies im Rahmen des Alterungsprozesses stattfindet, ist es nicht weiter bemerkenswert, da dieser Prozess lang­ sam und gleichmäßig bei allen Zähnen stattfindet. Ein einzeln verfärbter Frontzahn kann von den Pati­ enten aber als störend empfunden werden. Ursa­ chen hierfür können ebenfalls restaurative Maßnah­ men oder ein dentales Trauma sein. Schätzungen zufolge erleidet ungefähr ein Drittel (33 %) der Ju­ gendlichen zwischen der ersten und zweiten Lebens­ dekade ein dentales Trauma12–14. Die Kalzifizierung des Wurzelkanals ist in diesem Zusammenhang ein relativ häufiges (69 bis 73 %) Ereignis15. Insbeson­ dere dann, wenn eine Konkussion oder Subluxation vorliegt13. Ist der Zahn klinisch und röntgenologisch unauffällig, bedarf es keiner weiteren Therapie. Zähne, die einer Kalzifizierung des Wurzelkanals un­ terliegen, sind überwiegend symptomfrei16. Die fort­ schreitende Hartgewebeanlagerung im Wurzelkanal stellt per se keine Indikation zur Wurzelkanalbe­ handlung dar, falls sie nicht aus ästhetischen (Verfär­ bung der Zahnkrone) oder restaurativen (Stiftinser­ tion) Gründen notwendig ist17. Klinisch unauffällige Zähne, die aufgrund von einer Verfärbung der Zahn­ krone ein ästhetisches Problem für den Patienten darstellen, sollten erst dann wurzelkanalbehandelt werden, wenn die Durchführung aller konservativen Maßnahmen (Externes Bleichen, Veneer etc.) nicht ausreichend war. Ein Therapiekonzept findet sich in der Flowchart (Abb. 1). Die Wahrscheinlichkeit einer Pulpanekrose allein aufgrund der Kalzifikation des Wurzelkanals wird kontrovers diskutiert11,17,18. Möglicherweise könnte das verbleibende geringe Zellvolumen ein Grund für eine reduzierte Immunab­ wehr sein, was den Wurzelkanal anfälliger für eine Infektion machen könnte, dies ist aber rein spekula­ tiv19. Andere Autoren konnten in einer histologi­ schen Studie kein bzw. kaum entzündetes Pulpage­ webe in Wurzelkanälen mit Kalzifizierung finden, die somit keine Indikation zur Wurzelkanalbehandlung darstelle20. Das Risiko einer Pulpanekrose lag in ei­ nem 16-jährigen Beobachtungszeitraum kalzifizierter Wurzelkanäle bei gerade einmal 9 %11. Erschwerend kommt hinzu, dass das Risiko des Auftretens einer Komplikation während der Behandlung eines kalzifi­ zierten Kanals hoch ist. Legt man die Bewertungs­ kriterien der American Association of Endodontists (AAE)21 zugrunde, so handelt es sich bei der Behand­ lung kalzifizierter Wurzelkanäle um eine Behandlung mit höchstem Schweregrad und hoher Komplikations­ rate21,22. Das Risiko einer Perforation bei der Suche des Wurzelkanals ist vergleichsweise hoch (Abb. 2). Zur Durchführung der Wurzelkanalbehandlung wird daher dir Verwendung optischer Hilfsmittel dringend Endodontie 2015;24(4):461–465 464 n Endodontische Frage a b Abb. 3a und b Zustand des Patienten nach schwerem Verkehrsunfall ein Jahr zuvor. Der Unterkiefer wurde mit mehreren Osteo­syntheseplatten rekonstruiert, die erst kurz vor der endodontischen Behandlung entfernt wurden. Die Aufhellung mesial der mesialen Wurzel markiert die ehemalige Position der Osteosyntheseschraube. a) Der Versuch die kalzifizierten Wurzelkanäle zu behandeln, gelang nur mesial. Die Suche nach dem distalen Wurzelkanal blieb ohne endometrisches Messergebnis und war erfolglos. Die Suche wurde abgebrochen, bevor eine Perforation stattfand. Es liegt vermutlich eine vollständige Kalzifikation des Wurzelkanals vor. b) Röntgenologische Kontrolle nach Obturation der Wurzelkanäle. empfohlen23–25. Unter Umständen kann es hilfreich sein, während der Trepanation auf Kofferdam zu verzich­ten, um die Zahn-/Wurzelachse besser ein­ schätzen zu können und damit das Risiko einer Per­ foration der Wurzel zu verringern17. Bei der Wurzel­ kanalsuche mithilfe des OPM ist es wichtig, die Zugangskavität nach dem Spülen zu trocknen, um die unterschiedlichen Farben des Dentins und des kalzifizierten Wurzelkanals unterscheiden zu kön­ nen. Zudem muss mit wechselnder Vergrößerung gearbeitet werden, damit man bei der Suche und Präparation nicht die Orientierung verliert. Durch das Zurückgehen auf niedrigere Vergrößerungen muss immer wieder die Übersicht über die gesamte Pulpakammer gewonnen werden, um eine Perfora­ tion oder Schwächung durch unnötigen Dentin­ abtrag zu vermeiden. Ungeachtet der hohen Risiko­ wahrscheinlichkeit von Komplikationen bei der Behandlung kalzifizierter Wurzelkanäle (Perforation, Instrumentenfraktur, Fraktur durch Schwächung der Zahnhartsubstanz) ist die Erfolgsprognose von 80 bis 89 % in einem Beobachtungszeitraum zwischen 2 bis 12 Jahren22,26 nicht wesentlich schlechter ein­ zuschätzen als bei einer konventionellen primären Wurzelkanalbehandlung. Die Diagnostik mit einer DVT-Aufnahme könnte in diesem Fall vorteilhaft Endodontie 2015;24(4):461–465 sein, um einen Plan für die Zugangskavität und ziel­ gerichtete Wurzelkanalsuche zu entwickeln27. Bei einer vollständigen Kalzifizierung des Wurzelkanals (echte Obliteration), die relativ selten vorkommt (4 %)28, ist keine elektrische Messung mehr möglich (Abb. 3). In diesem Fall sollte die Wurzelkanalsuche rechtzeitig abgebrochen werden, um eine Perfora­ tion des Wurzelkanals zu vermeiden. Dies lässt im Falle der Entwicklung einer Parodontitis apicalis im­ mer noch die Option einer Wurzelspitzenresektion mit retrograder Präparation apikaler Kanalstrukturen und eines retrograden Verschlusses. Schlussfolgerungen Die Kalzifizierung des Wurzelkanals hat unterschied­ liche Ursachen und ist immer ein eindeutiges Zeichen für das Vorliegen vitalen Pulpagewebes, welches nicht zwangsläufig entzündet sein muss. Die Zähne sind häufig symptomlos und bedürfen keiner Thera­ pie. Bei klinisch und röntgenologisch eindeutigen Anzeichen einer Pulpanekrose oder aufgrund von restaurativen Maßnahmen (Stiftinsertion) ist eine Wurzelkanalbehandlung indiziert. Die Wurzelkanal­ Endodontische Frage behandlung aus ästhetischen Gründen (Verfärbung der Zahnkrone) stellt eine relative Indikation dar und ist nach Ausschöpfung aller konservativen Möglich­ keiten (Externes Bleichen, Veneer etc.) denkbar. Vor dem Hintergrund der anspruchsvollen Therapie und der hohen Komplikationsrate ist eine Behandlung kalzifizierter Wurzelkanäle mit adäquaten Hilfsmitteln (z. B. zur optischen Vergrößerung) empfehlenswert. Literatur 1. American Association of Endodontists: Glossary of endodontic terms. AAE, Chicago 2003. 2. Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung (DGZ): Endodon­ tologisches Lexikon. Endodontie 2000;9:Sonderheft:1–35. 3. Schröder HE, Krey G, Preisig E. Age-related changes of the pulpal dentin wall in human front teeth (in German). Schweiz Monatsschr Zahnmed 1990;100:1450–1461. 4. Symons NB. The microanatomy and histochemistry of dentinogenesis. In: Miles AE (ed). Structural and Chemical Organization of Teeth, vol 1. 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