Wir haben kein Recht auf das Land

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KULTUR
GESCHICHTE
»Wir haben kein Recht auf das Land«
Shlomo Sand über Israel und die angebliche Erfindung des
jüdischen Volkes
22.04.2010 - von Igal Avidan
Herr Sand, die Vertreibung der Juden aus ihrer Heimat und ihre Rückkehr nach
2.000 Jahren bilden die Grundlage des Zionismus und des Staates Israel. Sie sind
sogar in Israels Unabhängigkeitserklärung eingeprägt. Sie schreiben, dieses Exil sei
ein Mythos. Wie kommen Sie darauf?
Im Jahr 200 wurde in Judäa – zuerst in Yavne und danach in Zipori – das wichtigste jüdische
Werk nach der Bibel verfasst, die Mischna. Dieses Gesetzeswerk bildete die Grundlage für das
Judentum in den nächsten 1.800 Jahren. Wie wäre das möglich, wenn das jüdische Volk damals
im Exil gewesen wäre?
Im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wurde nicht das Volk Israel, sondern
lediglich dessen Elite nach Babylonien vertrieben. Das große Exil durch die Römer im Jahr 70
fand aber niemals statt. Der Tempel wurde zwar zerstört und viele Juden wurden ermordet,
aber es gab keine Aussiedlung. Nach dem dritten Aufstand im Jahr 135 wurde den Juden der
Zutritt nach Jerusalem verboten. Das interpretierten die ersten Christen als Verbannung der
Juden aus Judäa und trugen somit zur Erfindung des Exils als Strafe bei, die die Juden später
übernahmen.
Wann und wie wurde das jüdische Volk »erfunden«?
Als Erster schrieb 1871 der bedeutende jüdische Historiker Heinrich Graetz, ein Deutscher, die
Juden seien eine Nation in dem Sinne, wie konservative Deutsche damals die Nation verstanden.
Seine elfbändige »Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart« ist das erste
moderne umfassende jüdische Geschichtswerk. Graetz war aber nur vage national, weil er die
Haltung, dass Juden keine Deutschen sind, nicht konsequent vertrat.
Diese Vorstellung kam aber wohl nicht aus heiterem Himmel.
Zu der Zeit begann das antisemitische Jahrhundert und entstand das deutsche Kaiserreich. Der
Judenhass drang in intellektuelle Kreise ein, die die Juden aus der deutschen Nation
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ausschlossen. Darauf reagierte Graetz. In dem Sinne kann man sagen, dass Treitschke das
jüdische Volk erfunden hat. (Der Historiker Heinrich von Treitschke formulierte den Satz »Die
Juden sind unser Unglück«, der 1879 den Berliner Antisemitismusstreit auslöste, Anm. d. Red.)
Schlimmer als in Deutschland war es in Osteuropa, bei den Ukrainern und Polen. Der Zionismus
ist die direkte Folge des Ausschlusses der Juden aus der europäischen Nationenbildung.
Die Juden hatten weltweit die gleichen Gebete und Sehnsüchte nach Zion. Es gab eine
gewisse jüdische Autonomie in Polen ab dem 16. Jahrhundert, jüdische Gemeinden
kommunizierten miteinander, und es gab in schweren Zeiten, zum Beispiel nach dem
Pogrom in Damaskus 1840, eine internationale jüdische Solidarität. Reicht das alles
nicht, um als Nation zu gelten?
Vor der Moderne galt der Begriff »Volk« verschiedenartigen Gruppen. Im Mittelalter waren es
vor allem Religionsgemeinschaften. In der Moderne verwendet man das Wort für eine Gruppe
von Menschen, die gemeinsame säkulare Normen teilt, zum Beispiel Sprache, Musik und
Esskultur. Die Juden hatten eine gemeinsame Sehnsucht nach Jerusalem, eine gemeinsame
Identität und Solidarität, aber das allein macht noch keine Bevölkerungsgruppe zum Volk.
Wenn die Juden nicht ins Exil vertrieben wurden, woher stammten die Millionen
osteuropäischer Juden, die dort vor dem Holocaust lebten?
Die meisten Juden weltweit sind Nachfahren der türkischstämmigen und slawischen Stämme des
chasarischen Königreichs in Zentralasien, das im 10. Jahrhundert verschwand. Das Judentum
war die erste missionarische Religion im Westen. Ohne diese massenhaften Bekehrungen
würden heute noch so viele Juden existieren wie Samariter – rund eintausend. Als die
Hasmonäer, eine jüdisch-hellenistische Dynastie, im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung
an die Macht kamen, konvertierten sie die besiegten Völker mit Zwang. Erst mit dem Sieg des
Christentums im 4. Jahrhundert, 600 Jahre später, verboten die Christen den Juden die
Missionstätigkeit, später bestraft der Islam die Konversion zum Judentum mit dem Tod. Daher
bekehrten die Juden bis zum 9. Jahrhundert die Chasaren, die außerhalb der christlichen und
muslimischen Einflussbereiche lebten.
Ihr Buch löste unter israelischen Historikern heftige Reaktionen aus. Ein Publizist
schrieb sogar, dass Sie einen »akademischen Dschihad« mit dem Ziel betreiben, den
Staat Israel als Heimat der Juden abzuschaffen. Könnte Ihre These, wonach die
Juden nicht aus Judäa stammen, das Recht der Juden auf Israel infrage stellen?
Nein, denn wir haben ohnehin kein Recht auf dieses Land. Auch wenn der britische
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Außenminister Arthur Balfour uns das 1917 versprach, selbst wenn unsere Vorfahren hier vor
2.000 Jahren gelebt hätten und das Volk Israel tatsächlich ins Exil vertrieben worden wäre,
waren sie abwesend und die Araber lebten hier seit 700 Jahren. Israel hat sehr wohl das
Existenzrecht, weil es existiert, und jeder Versuch, dies zu ändern, wird eine neue Tragödie
auslösen.
Sie haben mit 13 Ihre Barmizwa nicht religiös gefeiert, heirateten zivil in Paris und
waren jahrelang Aktivist einer sozialistischen und antizionistischen Gruppe. Wie
kommen Sie in Israel zurecht?
Als Israeli habe ich Schwierigkeiten mit der Religion, weil sie nicht vom Staat getrennt ist. Ich
respektiere gläubige Juden, solange sie andere nicht einschränken. Die Religion soll eine private
Angelegenheit sein. Ich habe tiefen Respekt für die jüdische Religion, weil sie feindselige Zivilisationen, die sie bekämpfte, überlebte – und für meine Vorfahren, die um jeden Preis jüdisch
bleiben wollten, weil sie glaubten, dass sie dem auserwählten Volk angehörten.
Sie plädieren aber dafür, dass Israel kein jüdischer Staat mehr sein soll?
Ich will, dass wir das »Rückkehrrecht« für Juden abschaffen. Israel soll nur noch Juden Schutz
bieten, die wegen ihrer Religion verfolgt werden, und aufhören, der Staat aller Juden der Welt
zu sein. Israel soll Staat aller Israelis sein – Juden wie Araber. Die jetzige Definition als jüdischer
Staat verursacht die Entfremdung der israelischen Palästinenser, die sich ausgegrenzt fühlen –
das sehe ich bei manchen Studenten. Und diese wird in zehn Jahren zu einem Aufstand in
Galiläa, wo die Juden eine Minderheit sind, und später zur Zerstörung Israels führen.
Das Gespräche führte Igal Avidan
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