Leseprobe - Krammerbuch

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Haveman, AK
11.12.03
S.11
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1.1 Die AnfaÈnge
1
Altern und geistige Behinderung in
internationaler Perspektive
In europåischen Låndern und aus globaler Perspektive werden die Konsequenzen
einer immer ålter werdenden Bevælkerung breitgefåchert beleuchtet und zwar aus
politischer und wissenschaftlicher Sicht. Relativ wenig Interesse und Information
bestand in den Konsequenzen des Alterns fçr Menschen mit geistiger Behinderung.
Bis Anfang der 1980er Jahre war das Altern von Menschen mit geistiger Behinderung kaum ein Thema. In Deutschland und in anderen Låndern wurde in Fachzeitschriften und Bçchern, auf Tagungen und Kongressen der Prozess des Altwerdens und die Lebenssituation des ålteren Menschen mit geistiger Behinderung nicht
oder nur marginal angesprochen. In Praxis, Forschung und Lehre wurde der
Personenkreis der ålteren Erwachsenen mit geistiger Behinderung kaum beachtet.
Das fehlende Interesse an dieser Zielgruppe zu dieser Zeit kann durch verschiedene Umstånde erklårt werden. So war durch eine geringere Lebenserwartung im
Vergleich mit heute die Gruppe von Menschen mit geistiger Behinderung, die ålter
als 50 Jahre waren, relativ gering. Auch waren damals åltere Menschen mit
geistiger Behinderung in der Gesellschaft kaum sichtbar, da sie permanent in
groûen Wohneinrichtungen und psychiatrischen Anstalten (vgl. Haveman 1982;
Haveman & Maaskant 1992) verblieben. Von noch wesentlicher Bedeutung jedoch war die damalige Auffassung, dass der Mensch mit geistiger Behinderung ein
¹permanentes`` Kind ist. Sogar der åltere Mensch wurde in seiner Persænlichkeit zu
einem Kind mit einem ¹mentalen Alter`` von null bis vier Jahren reduziert, zu einem
Kind, das in einer frçhen Phase seiner Entwicklung stehen geblieben ist. Die
Betrachtung der weiteren Lebensphasen war bei dieser Sichtweise kaum relevant,
da diese nicht wesentlich zur weiteren Reifung und Bildung der Persænlichkeit
beitragen. In der Úffentlichkeit lenkte das 1950 erschienene Buch von Pearl S. Buck
¹The Child Who Never Grew`` und ein etwas spåter gedrehter kanadischer Dokumentarfilm mit dem Titel ¹Eternal Children`` die Auffassung des ewigen Kindseins
von Menschen mit geistiger Behinderung, auf immerwåhrende Abhångigkeit von
Pflege und Begleitung durch die Eltern und andere Betreuung und die Negierung
einer Perspektive der altersgerechten Entwicklung.
1.1
Die Anfånge
Ende 1960 wurde in den USA der gesetzliche Schutz von Menschen mit geistiger
Behinderung aller Altersklassen auf der ¹Golden Anniversary White House Conference on Children and Youth`` von Dybwad eingefordert (vgl. Dybwad 1960;
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1962; 1985). Diese Forderung wurde 1964 von der ¹Task Force on Law of
President Kennedys Panel on Mental Retardation`` wieder aufgegriffen und 1967
von der Internationalen Liga von Vereinigungen fçr Geistigbehinderte auf einem
Symposium in Stockholm weiterentwickelt.
Einige Passagen der Publikation ¹Organization of Services for the Mentally
Retarded`` der Weltgesundheitsorganisation (1968) beziehen sich auf die Versorgungslage von ålteren Menschen, wobei man çbrigens den allgemeinen geriatrischen Diensten bei der Versorgung der zunehmenden Zahl der ålteren Menschen
mit geistiger Behinderung eine zentrale Rolle zuerkennt.
Einen entscheidenden Einfluss auf die internationale Entwicklung ± auch fçr
åltere Menschen mit geistiger Behinderung ± hatte 1971 die Annahme der 1968 in
Jerusalem aufgestellten Deklaration der Rechte geistig behinderter Menschen
durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Sie wurde zur Leitlinie des
sozialpolitischen Handelns des ¹President's Committee on Mental Retardation``,
eine Kommission, die auch heute noch in den USA besteht.
1981 fand zum ersten Mal auf einer internationalen Tagung, auf dem 12.
Congress on Gerontology in Hamburg, eine gesamte Session zu dem Thema Altern
und geistige Behinderung statt. Pråsident des gerontologischen Kongresses war in
diesem Jahr Hans Thomae. Als Professor in der Gerontologie an der Bonner
Universitåt und Vater eines Kindes mit geistiger Behinderung zeigte er besonderes
Interesse an dieser Thematik. Schon 1978 war er ± zusammen mit seiner Frau
Ingeborg ± gebeten worden, zum Thema ¹Altern`` eine Arbeitsgruppe der Internationalen Liga von Vereinigungen fçr geistig behinderte Menschen zu leiten.
Diese Internationale Liga brachte 1982 ein Grundsatzdokument (vgl. Thomae &
Fryers 1982) zum Thema Alter und geistige Behinderung heraus.
Beim Blick auf die internationale Forschungsliteratur der 1980er Jahre zum
Thema Altern, erkennt man zwei groûe Themengebiete, nåmlich Mortalitåt (Lebenserwartung) und Morbiditåt (vor allem Alzheimer Demenz bei Down-Syndrom). Wåhrend çber Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung bis zu
den 1980er Jahren durchaus schon eine breite entwicklungs- und lebensweltorientierte Fachliteratur vorhanden war, wobei Themengebiete multidisziplinår betrachtet und erforscht werden, wurde bei ålteren Menschen mit geistiger Behinderung bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschlieûlich von einem defizitorientierten
medizinischen Modell ausgegangen.
In einigen US-Publikationen (Carswell & Hartig 1979; Dickerson et al. 1979; Di
Giovanni 1978; Kalson 1976; Kriger 1975; Sweeney & Wilson 1979; Talkington
& Chiovaro 1969; Tymchuk 1979) wurde jedoch die besondere Bedçrfnislage von
ålteren Menschen mit geistiger Behinderung erærtert, ebenso wurden Planungsfragen und gesetzliche Aspekte diskutiert. In der Universitåt von Michigan fand
1974 ein Treffen statt, bei dem folgende Informations- und Forschungsziele zum
Thema Altern und geistige Behinderung formuliert wurden:
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Identifikation der Population hinsichtlich Alter, Gesundheit, Behinderungsgrad
und gegenwårtiger Lebensumstånde;
Analyse verfçgbarer Hilfssysteme und ihrer Lçcken;
Festlegung von Aus- und Fortbildungsinhalten fçr Betreuer von ålteren Behinderten;
Einwirkung auf die Gesetzgebung hinsichtlich der Sicherung der Rechte von
ålteren Menschen mit geistiger Behinderung (vgl. Segal 1975).
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. . . . . . . . 1.2 International Roundtable on Ageing and Intellectual Disability
Ebenfalls 1974 wurden auf einer Konferenz in Toronto weitere Fragen formuliert,
nåmlich:
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Kænnen alte Menschen mit geistiger Behinderung in gemeindenahe Programme
fçr nicht behinderte åltere Menschen integriert werden?
Ist es notwendig, fçr spezifische Bedçrfnisse auch spezielle Programme zu
schaffen?
Bestehen bereits solche innovativen Programme?
Bestehen Unterschiede in der Lebenserwartung von ålteren Menschen mit
geistiger Behinderung, die in Anstalten oder in der Gemeinde wohnen?
Gibt es Øhnlichkeiten im Alterungsprozess zwischen psychisch Kranken und
Menschen mit geistiger Behinderung?
Altern Menschen mit geistiger Behinderung schneller als nicht behinderte
Menschen? (vgl. ebd.)
Solche und åhnliche Fragen bestimmten die Diskusssion und entsprechende Untersuchungen in den nåchsten Jahrzehnten. Dabei entstanden in jedem Land aus der
Praxis heraus gleichartige Forschungsfragen.
1.2
International Roundtable on Ageing and
Intellectual Disability
In den 1980er Jahren wurde in den Vereinigten Staaten und einigen europåischen
Låndern wissenschaftlich systematisch zum Thema Altern und geistige Behinderung geforscht. Es war der Initiative von Matt Janicki (USA) zu verdanken, dass
Forschungsteams und interessierte Personen aus der Praxis sich jåhrlich zu dem
International Roundtable on Ageing and Intellectual Disability trafen. Die internationalen Themenschwerpunkte wechselten von Jahr zu Jahr. Der kontinuierliche
grenzçberschreitende Bericht çber Forschungsresultate, Diskussionen um Begrifflichkeiten, Definitionen und Ergebnisse, aber auch die Implementation der
Forschungsresultate in die Praxis der Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung zeigte sich unter anderem in vielen gemeinsamen Publikationen wirkungsvoll.
Nach einem ersten Treffen in Troina, Italien (1989) fand 1990 die erste Konferenz (USA) zum Thema ¹Altern bei Menschen mit geistiger Behinderung`` in
Boston statt. Es trafen sich 70 Fachleute und interessierte Personen aus den USA,
Kanada, England, Irland, den Niederlanden und Australien. Die Konferenz war in
vier Themen untergliedert: Family caregiving over the Life Course; Social and
Community Integration; Physical, Behavioral and Mental Health Changes Associated with Ageing; Life-span Development and Age-related Trends in Adaptive
Behavior and Mortality. Die Beitråge, die noch immer sehr lesenswert sind, wurden
von Janicki & Seltzer (Hrsg. 1990) als Proceedings of the Boston Roundtable on
Research Issues and Applications in Ageing and Developmental Disabilities publiziert. Weitere International Roundtables fanden in Maastricht (1991), Manchester
(1992), Lyon (1993), Dublin (1994), Wien (1995), Rom (1996), Chicago (1997),
Cambridge (1998), Genf (1999), Luxemburg (2001) und Koriyama (2002) statt.
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1 Altern und geistige Behinderung in internationaler Perspektive . . . . . . . . .
1993 wurde bei dem Treffen in Lyon das European Network on Intellectual
Disability and Ageing (ENIDA) gegrçndet. Bis 1998 war die International Roundtable on Ageing and Intellectual Disability eine Eigeninitiative von Personen und
kein Bestandteil einer Institution. 1998 wurde beschlossen, den Runden Tisch
weiter als Special Interest Research Group (SIRG Ageing) der International Association for Scientific Study on Intellectual Disability (IASSID) zu fçhren.
Zusammenfassung
Øltere und alte Menschen mit geistiger Behinderung sind erst vor einigen Jahren
in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses in Deutschland gerçckt. Grçnde
dafçr liegen in der lange dominierenden Auffassung çber Menschen mit geistiger Behinderung als ¹ewige Kinder`` und der geringen Lebenserwartung aus
medizinischen Grçnden und systematischer Vernichtung in der Nazizeit.
Auch in anderen europåischen und nichteuropåischen Låndern fanden erst
von den 1980er an systematische Forschungen çber diesen Personenkreis statt.
Aus internationaler Perspektive steigt das wissenschaftliche Interesse, die
Situation ålterer und alter Menschen mit geistiger Behinderung aus bedçrfnisund nicht defizitorientierter Sichtweise zu reflektieren und zu verbessern.
Kontrollfragen
1. Skizzieren Sie relevante gesetzliche Bestimmungen zum Schutze von aÈlteren Menschen mit geistiger Behinderung.
2. Nennen Sie die AnfaÈnge der Forschung uÈber aÈltere Menschen mit geistiger
Behinderung.
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Begriff ,,Altern``
2
Theoretische Grundlagen
2.1
Der Begriff ¹Altern``
Was wird eigentlich mit ¹alt`` gemeint, wer gehært zu dieser Kategorie und wer
nicht, und meinen wir mit demselben Begriff dieselben Personen? Sind es bereits
alte Menschen, sind sie gealtert oder altern sie noch? Handelt es sich um Alte,
Alternde, Betagte, Hochbetagte, Bejahrte, junge Alte, alte Alte, Vorgealterte, frçhzeitig Gealterte, Vergreiste, Ergraute, Senioren, Menschen 60plus oder um Rentner? Hinter jedem Begriff stecken andere Annahmen und Implikationen, aber die
Menschen, um die es geht, sind oft die gleichen.
Einerseits gibt es ¹das Altern`` auf der sozial-demografischen Ebene, andererseits das Altern als individuelles Phånomen. In manchen Låndern wird das sozialdemografische Altern auch begrifflich gesondert benannt. So wird z.B. in den
Niederlanden das Phånomen des sozial-demografischen Alterns als Vergreisung
bezeichnet. Neuschæpfungen in der Sprache bçrgern sich in diesem Land sehr
schnell ein. Wenn z.B. auf den groûen Geburtenzuwachs nach dem Zweiten Weltkrieg, dem so genannten ¹baby-boom`` hingewiesen wird, spricht man auch von
¹Vergrçnung``.
In seinem Werk ¹Altersbilder`` gibt Tews (1995) eine umfangreiche Ûbersicht
çber Kennzeichnungen ålterer Menschen, wobei auch die Akzeptanz von Altersbegriffen durch unterschiedliche Altersgruppen untersucht wird.
Einige Begriffe und Aspekte, die Tews unterscheidet, sollen hier kurz skizziert
werden:
1. Die Gerontologie empfiehlt die Begriffe ¹junge Alte`` und ¹alte Alte`` zu
benutzen.
2. Die ¹Ølteren`` ist ein neutralisierender, alle umfassender Begriff.
3. Die ¹Alten`` hingegen wird als hårter, negativer empfunden.
4. Der Begriff ¹Senioren`` bezieht sich auf die 10-Jahres-Phase nach der Berufsaufgabe.
5. Håufig benutzt werden auch die Begriffe ¹Rentner`` und ¹Pensionår``; sie
entsprechen einem eher traditionellen Altersbild.
6. Neutraler ± und zur Pråsentation gerontologischer Untersuchungsergebnisse
verwandt ± ist die Benutzung des Begriffs des chronologischen Alters (z.B. die
çber 60-Jåhrigen bis 80-Jåhrigen).
Auf der individuellen Ebene ist nur das kalendarische oder chronologische Alter
eindeutig. Das deutsche Wort ¹bejahrt`` ist wenig gebråuchlich, ¹betagt`` schon
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mehr. Beide Begriffe treffen als gelebte Zeit nach der Geburt die chronologische
Dimension des Alterns sehr genau.
Weiterhin existiert keine allgemein akzeptierte Definition des Alters (vgl. Backes
& Clemens 1998, 88; Opaschowski 1998, 23) oder Alterns.
Rçberg (1991, 13) differenziert zwischen zwælf verschiedenen Aspekten des
Alters:
1. Kalendarisches oder chronologisches Altern: die seit der Geburt vergangene
Zeit.
2. Administratives Altern: die Kategorisierung in Altersgruppen fçr Verwaltung
und Statistik etc.
3. Rechtliches Altern: die dem kalendarischem Alter entsprechenden Rechte,
Pflichten, Mçndigkeiten.
4. Biologisches Altern: der kærperliche Zustand des Menschen aufgrund der
biologischen Vorgånge wie Wachstum, Reifung, Abbau und Verfall.
5. Funktionales Altern: altersgemåûe Funktionalitåt, Leistungsfåhigkeit im Gesamt des sozialen Lebens, besonders des gesellschaftlichen Arbeitsteilungssystems.
6. Psychologisches Altern: das Verhåltnis des Individuums zu sich selbst, die
Selbstdeutung des eigenen Zustandes, sich ¹so alt`` fçhlen und entsprechend
verhalten.
7. Soziales Altern: Ûbernahme der in der Gesellschaft altersspezifisch çblichen
Rollen und Positionen.
8. Ethisches Altern: das altersgemåû sittlich verantwortliche Handeln aufgrund
des ethischen Wertebewusstseins und ihm gemåûer Handlungsmuster.
9. Geistiges oder mentales Altern: die geistige Aufnahme- und Lernfåhigkeit
bezçglich eigener Verånderungen wie auch derer von Mit- und Umwelt, die
kritische Auseinandersetzung damit sowie die Fåhigkeit der angemessenen
Verhaltensanpassung.
10. Geschichtliches Altern: Geprågtsein durch zeitgeschichtliche Ereignisse in
einem bestimmten Zeitabschnitt des eigenen Lebens.
11. Personales Altern: Zusammenwirken und Integration aller Altersaspekte wåhrend des gesamten Lebens- und (Alterungs)prozesses zur personalen und
sozialen Identitåt.
12. Religiæses Altern: altersgemåûer Glaube und Gottesbezeichnung, die entsprechenden Konsequenzen fçr Wertorientierung und Lebensfçhrung wie auch fçr
die Art und Identitåt der Beteiligung am kirchlichen Leben.
In diesem Buch wird das administrative Alter bei der quantitativen Erfassung nach
Altersgruppen in den Tabellen regelmåûig auftauchen. Das rechtliche Alter spielt
eine Rolle bei der Pensionierung, dem Ausscheiden aus Werkståtten fçr behinderte
Menschen (WfbM) (vgl. Kap. 14); Aspekte des biologischen Alterns werden in
Kapitel 3 angesprochen. Das psychologische Alter wird relevant, wenn das Alter
nicht durch Fremdbeobachtung bestimmt wird, sondern durch das Selbsterleben
des behinderten Menschen (vgl. Kap. 8). Mit dem chronologischen Alter wechseln
auch soziale Rollen und Positionen des behinderten Menschen. Diese impliziten
und expliziten Rollenverånderungen des sozialen Alterns werden vor allem in den
Bereichen Arbeit, Freizeit und Wohnen deutlich. Das ethische, wie das personale
und religiæse Alter, wird jedoch nur indirekt angesprochen.
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2.2 Zum Personenkreis
Vor allem in der Pflege wimmelt es nur so von demçtigenden und diskriminierenden Ausdrçcken (z.B. ¹Heiminsasse``, ¹fçttern``, ¹pampern``, Verniedlichungen
wie ¹Unsere Leutchen``, Ansprachen aus dem familiåren Bereich wie ¹Oma``/
¹Opa``, das so genannte ¹Pflege-Wir`` usw.).
Die geistige Aufnahme- und Lernfåhigkeit spielt eine groûe Rolle bei den
kognitiven Aspekten des Alterns, die z.B. bei dem Altwerden von Menschen mit
Down-Syndrom besprochen werden (vgl. Kap. 6). Aber auch Lernerfolge, z.B. bei
dem Lehrgang ¹Selbstbestimmt Ølterwerden`` (vgl. Kap. 11) beziehen sich auf das
geistige Alter. Sehr zentral und verankert in jedem Kapitel zieht sich der Faden des
geschichtlichen Alters. Aspekte des geschichtlichen Alters sind die individuelle
Biografie, das Einwirken der frçheren Umwelt auf das heutige Leben, der Lebenslauf und Kohorteneffekte auf Gruppenniveau (vgl. Kap. 5).
Von den Disziplinen her mçssen Biologie, Psychologie und Soziologie als sehr
bedeutungsvoll fçr die Praxis und Forschung des Alterns bei Menschen mit geistiger Behinderung hervorgehoben werden. Aus Sicht der Biologie bedeutet Altern,
dass ein Organismus ab einem bestimmten Zeitpunkt im Leben immer fragiler
wird und letztendlich stirbt. Fçr die Psychologie hat das Altern vor allem mit dem
verminderten Vermægen des Menschen, sich den Ansprçchen der Umgebung anzupassen und mit Schwierigkeiten der Selbstregulierung zu tun. In diesem Zusammenhang wird viel Wert auf die Meinung des alternden Menschen selbst gelegt,
nåmlich welche Bedeutung und Wichtigkeit die individuelle Person ihrer Situation
und den Ereignissen ihres Lebenslaufes gibt. Fçr die Soziologie ist es von Bedeutung, dass Menschen in einer Gesellschaft ålter werden, in der bestimmte Erwartungen bezçglich der Position und der Rollen, die man zu erfçllen hat, gelten, wenn
man zu einer anderen Generation gehært.
Zusammenfassend zeigt sich, dass Altern ein Begriff mit sehr verschiedenen
Bedeutungsdimensionen ist. Es handelt sich um einen Begriff mit breiten Reichweiten, wobei jede Disziplin dem chronologischen Begriff des Alterns eine neue
Dimension hinzufçgt.
2.2
Zum Personenkreis
Nicht nur der ¹alte`` Mensch, auch der Mensch mit einer geistigen Behinderung ist
begrifflich nicht zu fassen. Diese Aussage kann beståtigt werden, denn in der
gångigen Fachliteratur findet sich keine einheitliche und exakte Definition des
Personenkreises. Der Begriff ¹geistige Behinderung`` ist ein Sammelbegriff von
einem Phånomen mit oft lebenslangen, aber verschiedenen Øuûerungsformen einer
unterdurchschnittlichen Verarbeitung von Kognitionen und Problemen mit der
sozialen Adaption. Wir wissen, dass es bei den einzelnen Menschen nicht nur
Schwåchen, sondern oft auch Stårken gibt, meinen aber, dass Definitionsversuche,
die als eine self-destroying prophecy in der Stigmatisierung funktionieren sollen,
wie z.B. ¹Menschen mit Mæglichkeiten``, in der Praxis nicht wirken. Einen allgemeinen Definitionsrahmen der Zielgruppe gibt die Definition der American
Association for Mental Retardation (AAMR 2001), nåmlich
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2 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
¹Geistige Behinderung ist eine Behinderung, die gekennzeichnet ist durch bedeutende Einschrånkungen in sowohl dem intellektuellen Funktionieren als auch in konzeptuellen,
sozialen und praktischen adaptiven Fertig- und Fåhigkeiten. Diese Behinderung entsteht
vor dem 18. Lebensjahr.``
Vor allem der Einbezug der adaptiven Fåhig- und Fertigkeiten bei der Definition ist
hinsichtlich der Entwicklungschancen im Altersprozess wichtig (vgl. Kap. 6.1.).
Auch die Autoren dieser Definition (Ad Hoc Comittee in Terminology and Classification der AAMR) gehen davon aus, dass die Einschrånkungen im Funktionieren
nur im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Umgebung, die typisch fçr die
Altersgruppe und die Kultur der Person ist, betrachtet werden sollten. Man meint,
dass bei einer gçltigen Einschåtzung der Mæglichkeiten Alter und Kultur, wie auch
Unterschiede in Kommunikation, Sensorik, Motorik und Verhaltensfaktoren mit
einbezogen werden mçssen.
II. Adaptives Verhalten
(konzeptionelle, praktische,
soziale Fertigkeiten)
I. Kognitive
Fähigkeiten
Unterstützungen
Unterstützungen
III. Teilnahme,
Interaktionen und
soziale Rollen
Individuelles
Individuelles
Funktionieren
Unterstützungen
V. Kontext
(Umgebungen und
Kultur)
IV. Gesundheit
(physische u.
psychische Gesundheit,
ätiologische Faktoren)
Abb. 1: Definition der ,,geistigen Behinderung`` (vgl. AAMR 2001)
Øhnliche Probleme treten ± wie oben schon angedeutet ± bei der exakten Bestimmung des Begriffs ¹Alter`` auf. Folgendes Zitat von Christ (1987) verdeutlicht die
doppelte Problematik.
¹Die Vielfalt von Behinderungsarten und Behinderungsgraden låsst es nicht zu, ein einheitliches Bild des geistig behinderten Menschen zu entwerfen. Auch das Alter selbst ist keine
feste Græûe. Wenn man von alten Menschen, anstatt von alternden Menschen spricht..., so
sollte man sich doch vergegenwårtigen, dass das Alter ein dynamischer Prozess, ein stetiger
Entwicklungsvorgang ist. Dynamik und strukturelle Vielfalt des angesprochenen Personenkreises erlauben es daher nicht, von dem alten geistig behinderten Menschen zu reden``
(Christ 1987, 108f.).
Es ist bis heute nicht gelungen, ¹Altsein`` allgemeingçltig zu beschreiben. So
verwundert die Feststellung nicht, dass es in der Fachliteratur keine allgemein
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .2.2 Zum Personenkreis
anerkannte Definition dieses Personenkreises gibt (vgl. Beermann & Reischuk
1987, 68). Bei Durchsicht der Fachliteratur fållt das Bestreben auf, ¹einen bestimmten Zeitpunkt fçr den Beginn des ,Ølter-Seins` fest(zu)machen`` (ebd., 69); als
Grenze wird håufig die Zahl 45 Jahre genannt (vgl. Ern 1992, 63). Dieser Zeitpunkt wird im Kontext der Theorie des vorzeitigen Alterns von Menschen mit
geistiger Behinderung genannt. Des Weiteren gibt es Tendenzen fçr den Beginn des
Alterns, von einer starren Altersangabe Abstand zu nehmen zugunsten einer Altersspanne zwischen 40 und 60 Jahren (vgl. Beermann et al. 1987, 69).
Ein anderer Ansatz betont den Prozesscharakter des Ølterwerdens (vgl. ebd.);
dabei handelt es sich um einen ¹lebenslangen Prozess`` (Bradl 1983, 103). Verbreitet ist die These, dass Altersgrenzen lediglich dem reibungslosen organisatorischen Ablauf in Institutionen dienen, z.B. der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben
(vgl. Beermann et al. 1987, 70; Wieland 1987).
Øltersein oder Ølterwerden ist abhångig von ¹bestehenden Lebensverhåltnissen`` (Trost & Metzler 1995, 71) des erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung, wobei såmtliche Aspekte, die das personale Alter eines Menschen ausmachen, eine Rolle spielen. Zu den besonderen Ereignissen, die fçr die jeweilige
Lebenssituation ålterer Menschen mit geistiger Behinderung bedeutsam sind, zåhlen die des Wohnens, des Ausscheidens aus dem Arbeitsprozess sowie der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod (vgl. Bradl 1983, 103).
Auch die Biografie eines jeden Menschen beeinflusst den Alterungsprozess. Die
Auswirkungen kritischer Lebensereignisse wie Berufsaufgabe, Tod von Angehærigen, Verlust der Selbstståndigkeit, Ûbergang in Institutionen befinden sich in
starker Abhångigkeit von der psychischen Kompetenz und von den erlernten
Handlungsalternativen mit Statuspassagen, Diskontinuitåten und Verlusten umgehen zu kænnen (vgl. Clemens 1993, 69). Die Ausprågung dieser Kompetenzen
hångt gravierend davon ab, ob und welche Mæglichkeiten des Erwerbs man im
Lebenslauf hat.
Kruse (1992) fasst die fçr die Rehabilitation und Færderung alter Menschen
relevanten Erkenntnisse aus der Gerontologie zusammen, indem er den Prozess des
Alterns in folgende Teilprozesse gliedert:
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Altern als dynamischer Prozess, denn auch im Alter finden Entwicklungs- und
Wachstumsprozesse statt, z.B. kognitive Prozesse und Auseinandersetzung mit
neuen Entwicklungsaufgaben;
Altern als Prozess einer zunehmenden Differenzierung, denn aufgrund der
zahlreichen biografischen Erfahrungen nehmen die interindividuellen Unterschiede im Alter zu;
Altern als mehrdimensionaler Prozess, da der Alterungsprozess in den verschiedenen Funktionsbereichen des Individuums sehr unterschiedliche Verlåufe
zeigt;
Altern als biografisch verankerter Prozess, da Altern Teil der persænlichen
Biografie ist;
Altern als sozial beeinflusster Prozess, denn die Art und Weise, wie alte Menschen ihr Alter erleben und gestalten, hångt davon ab, welche Einstellung das
soziale Umfeld dem Alterungsprozess entgegenbringt;
Altern als Prozess, der dem Einfluss zahlreicher Faktoren unterliegt, z.B.
historischen, kulturellen, ækonomischen und ækologischen Faktoren.
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Im Rahmen unserer Ausfçhrungen soll in Abhebung von einer starren Lebensaltersgrenze von einem individuellen Alterungsprozess und Alterungsbeginn bei
Menschen mit geistiger Behinderung ausgegangen werden.
2.3
Sozial-demografische Entwicklungen und
Lebenserwartungen
Einige demografische Entwicklungen, die steigende Lebenserwartung, eine hæhere
Anfålligkeit im Alter fçr chronische Erkrankungen, wie z.B. Demenzerkrankungen, aber auch Fragen çber die Qualitåt des Wohnens, der Ûbergang von Arbeit zur
gestalteten Freizeit, verleihen diesem Thema eine hohe Relevanz. Ohne Wissen,
ohne Information çber diese Aspekte ist es schwierig, eine bessere Versorgungslage
fçr ± aber vor allem mit ålteren Personen mit geistiger Behinderung vorzubereiten
und zu planen (vgl. Haveman 1985).
In einigen europåischen Låndern låsst sich in den letzten Jahren ein erheblicher
Zuwachs der Gruppe von alten Menschen mit geistiger Behinderung beobachten.
Im internationalen Vergleich zeichnet sich gerade fçr Deutschland eine besondere
Steigerung ab; bedingt durch die ¹Euthanasie``-Morde der Nationalsozialisten
wird der Personenkreis der ålteren und alten Menschen mit geistiger Behinderung
zunehmend fokussiert.
Es geht um eine Personengruppe, die in ihrer Entwicklung nicht optimal gefærdert wurde, in vielen Fållen als Generation schon frçh vernichtet wurde. Noch
mehr als fçr andere Personen gilt die Aussage des deutschen Gerontologen Thomae
(1968) fçr Menschen mit geistiger Behinderung, nåmlich das Altern primår als
¹soziales Schicksal`` und erst sekundår als biologische Verånderung bezeichnet
werden kann. Das ¹soziale Schicksal`` traf junge Kinder systematisch, bevor sie
çberhaupt eine Chance hatten, ein eigenes Leben aufzubauen. Durch Naziverbrechen sind in Deutschland und Ústerreich die Geburtsjahre vor 1945 kaum vertreten. Im nationalsozialistischen Staat wurden geistig behinderte und psychisch
kranke Menschen als ¹lebensunwerte Ballastexistenzen`` eingestuft und ermordet.
Dem unter dem verharmlosenden Begriff der ¹Euthanasie`` durchgefçhrten Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten fielen wåhrend des Zweiten Weltkrieges mehr als 120.000 geistig behinderte und psychisch kranke Menschen
zum Opfer (vgl. Lachwitz 1999, 86; Wacker 1993, 98; Wieland 1987, 14). Nur
die Kinder mit geistiger Behinderung, die bei ihren Eltern blieben oder versteckt
und nicht gefunden wurden, haben diese fçrchterlichen Jahre çberlebt und die
Chance und Gelegenheit bekommen, alt werden zu dçrfen.
Bei der Betrachtung der demografischen Entwicklung ist die Tatsache besonders
hervorzuheben, dass es sich heute in Deutschland um die erste Generation von
Menschen mit geistiger Behinderung handelt, die çberhaupt alt werden kann und
kænnte. Es ist relativ schwierig, Aussagen çber die aktuelle Anzahl und die
zahlenmåûige Entwicklung der ålteren Menschen mit geistiger Behinderung zu
treffen, da in Deutschland weder eine Meldepflicht noch eine spezielle Behindertenstatistik existiert.
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