16 MEINUNG NORDWESTSCHWEIZ MONTAG, 22. JUNI 2015 KOMMENTAR KOLUMNE über die Verwässerung des Talent-Begriffs Die neue Epidemie der Talente I n der Schweiz gibt es viele Leuchttürme guter Talentförderung. Ein Beispiel sind die Schweizer Berufsmeisterschaften Swiss Skills, die erstmals 2014 stattgefunden haben. Derartige Talentförderung entspricht genau dem, was der Begriff auch meint: Junge Menschen sind dann Talente, wenn sie in einem bestimmten Bereich über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögen verfügen und sie dieses mit gezielter Unterstützung von Lehrkräften und Berufsbildnern so ausbauen können, dass es zu Expertise auf höchstem Niveau wird. Viele Hochglanzbroschüren lassen nämlich erheblichen Zweifel aufkommen. Zwar verwenden sie den Begriff Talent fast auf jeder zweiten Zeile, ob jedoch die Förderung von Talenten in der Praxis auch umgesetzt wird, bleibt mehr als fraglich. Auch unsere Forschungsstudien zu leistungsstarken Jugendlichen in der Berufsbildung verweisen auf eine andere Realität. Wie oft schmückt man sich vordergründig mit Talentförderung, jammert aber im praktischen Alltag über die mangelnde Ausbildungsreife Jugendlicher und über all das, was sie nicht mehr können. Slogans zur Talentförderung sind deshalb nicht selten lediglich ein geschicktes Vertuschen eines defizitären Menschenbilds und somit ein Etikettenschwindel. Die Ausbildungsqualität darf nicht manipuliert werden. Deshalb sollte der inflationäre Gebrauch des Begriffs Talent unterbunden und nur dort verwendet werden, wo Potenziale junger Menschen tatsächlich gefördert werden. Dies ist ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Nur wer Potenziale bei allen Jungen erwartet, betreibt Talentförderung MARGRIT STAMM ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTERIN ● Leider hat sich in den letzten Jahren unbemerkt eine regelrechte Talent-Epidemie ausgebreitet. Davon zeugen all die Plakate, auf denen mit jungen Menschen geworben wird: «Wir brauchen Ihr Talent – machen Sie Ihre Ausbildung bei uns!» oder «Absolviere ein Talentjahr, wenn du nicht weisst, ob du eher ins Gymnasium oder eine Berufslehre absolvieren willst!» Eigentlich tönt dies ja gut. Endlich weg von der Defizitperspektive hin zu dem, was junge Menschen können! Auf einen solchen Perspektivenwechsel haben wir lange gewartet. Trotzdem freue ich mich darüber nur eingeschränkt. Margrit Stamm ist Professorin emerita für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern. DIE KOLUMNISTEN AUS KULTUR UND GESELLSCHAFT LUDWIG HASLER, PHILOSOPH UND PUBLIZIST SIBYLLE LICHTENSTEIGER, LEITERIN STAPFERHAUS PETER ROTHENBÜHLER, JOURNALIST UND EDITORIAL DESIGNER MARGRIT STAMM, ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTERIN PEACH WEBER, KOMIKER SUSANNE WILLE, JOURNALISTIN UND MODERATORIN jedoch einfacher gesagt als getan. Denn dafür braucht es Lehrkräfte und Berufsbildner, die sich im wahrsten Sinne des Wortes als Talentförderer verstehen. Will nämlich eine Berufsbildnerin das verborgene goldene Händchen eines jungen Migranten oder ein Kantilehrer das intellektuelle Potenzial einer unbequemen Schülerin nicht sehen, dann bleiben Begabungen und Ressourcen unentdeckt und ungenutzt – auch wenn in Leitbildern und Unternehmensrichtlinien Gegenteiliges steht. Haltungen sind deshalb von grundlegender Bedeutung. Nur wer Potenziale bei allen jungen Menschen erwartet, sie erkennen, anerkennen und unterstützen will, betreibt Talentförderung. Und wer fördert, muss in der Lage sein, hochstehende Übungs- und Trainingsprozesse so zu arrangieren, dass die jungen Talente im richtigen Mass herausgefordert und animiert werden, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies alles genügt aber noch nicht. Talentförderung muss auch Chefsache sein und als grundlegende Ausbildungsaufgabe verstanden werden. Schul- und Geschäftsleitungen, welche ihre Lehrkräfte und Berufsbildner unterstützen, sind deshalb das Herzstück aller Anstrengungen. Heute ist der Begriff Talent nichts anderes als eine PR-Massnahme Woran erkennt man, ob Schulen und Betriebe Talentförderung ernst nehmen? Erstens, inwiefern Programme zur Potenzialförderung überhaupt existieren, und zwar für alle, also unabhängig von der sozialen oder kulturellen Herkunft und vom Geschlecht. Zweitens, ob sie stolz sind, junge Menschen auszubilden und auch an sie glauben und drittens, ob sie selbst von ihrer Arbeit mit jungen Menschen beflügelt sind. So einfach ist das. Die Talent-Epidemie darf uns nicht Glauben machen, dass junge Menschen tatsächlich talentierter als früher sind. Talent, so wie der Begriff heute gebraucht wird, ist in vielen Fällen nichts anderes als eine Worthülse, eine PR-Massnahme im «Kampf um die Talente», d. h. um rar gewordene Lehrlinge oder um teure Ausbildungen beliebt zu machen. Nicht selten ist das Gerede um Talente oberflächlich, weshalb es der Sache eher schadet, als nützt. Eine Rückbesinnung auf das, was Talent meint und wann der Begriff verwendet werden soll, tut Not. Noch eine Neidinitiative D em Aargauer Staatshaushalt drohen trotz des mehrheitlich realisierten Sparpakets rote Zahlen. Schuld sind nicht die Steuersenkungen der letzten 15 Jahre, von denen übrigens auch tiefe Einkommen sehr profitiert haben. Trotz Steuersenkungen wuchs das Steuersubstrat bisher nämlich Jahr für Jahr. Leider wuchsen die Ausgaben noch schneller. Mit dem Sparpaket konnte in etwa ein Ausgleich geschaffen werden. Doch als Folge des jüngsten Frankenschocks (schlechtere Konjunktur, kein Nationalbankgewinn 2015 usw.) fehlen dem Kanton bald wieder über 100 Millionen von Mathias Küng Die Juso Aargau wollen mit einer Volksinitiative bei Millionären die Vermögenssteuer verdoppeln Franken. Was tun? Die Regierung arbeitet an möglichen Lösungen und denkt auch über Steuererhöhungen nach – allerdings hoffentlich nicht bei der eben erst gesenkten, gut austarierten Vermögenssteuer. Doch genau das fordern die Juso. Sie wollen die Steuer auf Vermögen ab 2 Millionen Franken verdoppeln und zugleich den Tarif für kleine Vermögen noch mehr senken – eine veritable neue Neidinitiative. Die «Reichen» sollen so richtig an die Kasse kommen. Das passt wie die Faust aufs Auge zum Bestreben des Kantons, Gutverdienende und Vermögende anzulocken. Für diese gelten ja heute schon deutlich höhere Einkommens- und Vermögenssteuertarife und besonders hohe Tarife in der direkten Bundessteuer. Sie tragen überdurchschnittlich zum Steuerertrag bei. Darum braucht der Aargau keine «Millionärssteuer». Die Jusoinitiative erinnert fatal an die vom Volk soeben klar verworfene Erbschaftssteuerinitiative. Der Unterschied: Vermögenden soll das Geld jetzt halt schon zu Lebzeiten aus der Tasche gezogen werden. @ [email protected] POLEMIK Bitte lasst mir mein SRF Virus I ch habe ein Problem. Es heisst SRF Virus. Der Radiosender ist mein liebstes SRG-Produkt. Ich bin täglicher Konsument. Doch jetzt soll es auf dem Opferaltar der Marktwirtschaft zur Besänftigung der SRG-Kritiker abgemurkst werden. Entschieden ist ja nichts. Aber ich registriere besorgt die auffällig häufige Nennung des Radio-Kanals, als Hauptbeweis für den überdehnten Service-public-Begriff der SRG. Was Virus sende, könnten Private auch, sagen sie. Können schon, wollen kaum, sage ich. Mit unbekannten Schweizer Künstlern lässt sich schlecht Quote bolzen. Darauf sind Private nun mal angewiesen. So weit meine rationalen Gründe. Wichtiger sind wohl die irrationalen. An ihnen zeigt sich, wie schwer es politisch für die Befürworter einer schlankeren SRG wird. Auch ich finde, dass das SRG-Maximal-Angebot zu viel des Guten ist. Nur, so lange sich der Service public auch in meine Richtung ausdehnt, bin ich zufrieden. Mein SRF Virus möchte ich nicht opfern. Und im MedienSupermarkt SRG hat jeder Bürger ein Lieblingsprodukt, gegen dessen Streichung er sich mit lautem Gebrüll wehren würde. ANSICHTSSACHE von Stefan Stalder ✒ Benno Tuchschmid Was ist Ihre Meinung? Diskutieren Sie online mit. Stichwort Polemik. Ja, man darf ruhig mal Zähne zeigen bei einem Sommeranfang wie diesem. Trübe Wolken verdecken dieses Jahr nicht nur hierzulande den Himmel, sondern auch in New York, wo zum 33. Mal die Meerjungfrauen-Parade stattfand. An diesem Tag ziehen Tausende kostümiert durch die Strassen und präsentieren sich in Gewändern von Meerjungfrauen und deren tierischen Anhängseln. Aber was haben Meerjungfrauen mit dem Sommer zu tun? Nun, ein Merkmal der Meerjungfrau ist ihre Erlösungsbedürftigkeit. Nur durch die Liebe kann sie von ihrem Schicksal befreit werden. Und zum Anfang dieses Sommers hat man doch den Eindruck, als möchte auch er erlöst werden, aus den Fängen der grauen Wolken und kalten Bisen. Bis es so weit ist, dürfen Sie ruhig etwas grimKEYSTONE mig sein. Aber schauen Sie dabei wenigstens lieb.