Johanna Haberer „Ihr seid die königliche Priesterschaft“ (1. Petr 2,9) Bibelarbeit in der Reihe „Zentrale Texte der Reformation – prominent ausgelegt“ 04. Mai 2015 in St. Sebald, Nürnberg Es gibt wohl - neben der Bergpredigt - keinen biblischen Text, der die Kultur des Zusammenlebens in den unterschiedlichen Zeiten nachhaltiger verändert hat als dieser heute auszulegende Text aus dem 1. Petrusbrief. Das ist ein Text der Kulturgeschichte geschrieben hat, ein Text der im späten Mittelalter die Welt gesprengt hat und der der Nucleus für die modernen Gesellschaften geworden ist. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der Euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Martin Luther hat diesen Text aus dem 1. Petrusbrief geliebt. Er wurde für ihn zum Schlüsseltext aus dem er seine Ideen zur Verortung des einzelnen Christen in der Auslegungstradition und im Auslegungsprozess der biblischen Texte gebar, er wurde für ihn zum Leitbild zur Selbstjustierung der Gemeinde in einer reformierten Kirche. Dieser Texte wurde aber auch in seiner durch Luther angestoßenen ideengeschichtlichen Wirkung, ein zentrales Element des Selbstbewusstseins der neuen protestantischen Gemeinden und ein Hebammentext für eine freie und partizipative Diskursgesellschaft, wie wir sie heute kennen und verstehen. Lassen Sie mich das in einem ersten Teil erläutern – in einem zweiten Teil, will ich mich dann dem Text in biblischer Perspektive zuwenden – in einem dritten Teil die Frage nach seiner Bedeutung für heute stellen: Als Martin Luther seine 95 Thesen im Jahr 1517 an einige Gelehrte verschickte, um einen Disput über den Ablass der Kirche in Gang zu setzen, da ahnte kein Mensch, zu welch einer kulturellen Lawine sich dieser geistige und geistliche Anstoß aus Wittenberg entwickeln würde. Luther hatte einen freiliegenden Nerv getroffen. Er hatte beim Studium der heiligen Schrift erkannt, dass die Barmherzigkeit Gottes voraussetzungslos und umsonst ist. Umsonst, weil Gnade unbezahlbar ist und weder mit Leistung noch mit Geld aufzuwiegen. Blitzschnell wurden die Thesen Luthers einer größeren Öffentlichkeit bekannt, blitzschnell die medienwirksame Legende von den dröhnenden Schlägen gestrickt, mit denen Luther die Thesen an die Schlosskirche gehämmert habe, blitzschnell wurden die Thesen aus dem Gelehrtenlatein ins für alle verstehbare Deutsch übersetzt, blitzschnell wurden die Druckmaschinen im ganzen Land angeworfen, um den Generalangriff des Wittenberger Theologen auf den Ablass, das heilige Sparschwein der römischen Kirche, einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Was zu diesem Zeitpunkt aber keiner ahnte: Die Reformation wurde zu einem gigantischen Medienereignis, sie wurde zu einer Art Muster einer neuen Form der gesellschaftlichen Auseinandersetzung: Mit Predigten und Liedern, Katechismen und offenen Briefen, mit Karikaturen und Pamphleten, mit Streitschriften, mit der Bibelübersetzung, die für Jedermann und Jedefrau zugänglich und verstehbar war und mit öffentlichen Events, Karnevalsprozessionen mit Karikaturen des Papstes, mit Predigtunterbrechungen durch Studentenproteste im Gottesdienst entstand eine nie da gewesene Form der Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung, an der sich der Mann und die Frau, jeder aus dem Volk beteiligen konnte und die die bisherigen Muster öffentlicher Kommunikation vom Kopf auf die Füße stellte. Die neue Öffentlichkeit, die die Reformation aus der Erkenntnis der Gnade Gottes gebar, erschütterte das Abendland in seinen Grundfesten und ließ das Modell einer gesellschaftlichen Streitkultur entstehen, an der sich jedermann unterschiedslos beteiligen konnte. Natürlich hatte es schon vor der Reformation geistliche Schriften in hohen Auflagen gegeben – aber der Ton hatte einen vertikalen Beigeschmack: von oben nach unten! Zugang zu den technischen Druckmitteln hatten die politischen/kirchlichen – das fiel vielerorts in eins Mächtigen über die Lizensierung von Druckerzeugnissen. Dies ließ die Kluft zwischen dem Klerus und den Laien, zwischen dem Experten und dem, der Expertise nötig hat, in überdeutlich werden: Mahnend, erbauend belehrend, so las sich das meiste, was das Deutungsmonopol der allmächtigen römischen Kirche die Zensur passieren und damit öffentlich werden lies. Mit dem Thesenanschlag Luthers entstand ein verbissener Kampf um die Deutungshoheit im Lande und um die Herzen und Seelen der Menschen. Mit großer öffentlicher Begleitmusik machte Martin Luther die Verbrennung der Bannandrohungsbulle zu einer Symbolhandlung, die ganz Europa elektrisierte. Ein öffentlich sichtbares Symbol, dass der Papst und die Hierarchie der Kirche über einen Gerechtfertigten keine Macht hatte. Diese Sprache der – lassen Sie mich das so sagen – öffentlichkeitswirksamen Symbole hatte Luther von den alttestamentlichen Propheten gelernt. Es war die Sprache der Ohnmächtigen gegenüber den Mächtigen: Jeremia, der sich ein schweres Joch auf die Schultern legt, um die drohende Fremdherrschaft über das Land vorauszuzeigen, Nathan, der seinen König mit einer rührenden Geschichte in eine moralische Falle lockt: Du bist der Mann, David! Hosea, der eine Hure heiratet, um die Beziehung zwischen Gott und seinem wankelmütigen Volk auf den Punkt zu bringen. Diese Sprache der Symbole ist bis heute eine Sprache der Christenheit, die mehr sagt als Erörterungen und Pressekonferenzen. Für uns ist das heute selbstverständlich, für die Zeit vor beinahe 500 Jahren war diese neue Plattform, die neue Art der Auseinandersetzung wie ein elektrisierender Schock. Die Menschen begannen leidenschaftlich zu lesen und zu debattieren, die Bildung wurde zu einer wesentlichen Säule, um zu erfahren, wie man die Gnade Gottes erlangen kann. Die Menschen, die erstmals die Gelegenheit hatten, das verschlossene Buch, die heilige Schrift mit eigenen Augen zu lesen, machten sich nun bewusst, dass es sich lohnte, Lesen und Schreiben zu können. Analphabetismus schloss aus, aus der wogenden Debatte um die neue Beziehung zwischen Gott und den Menschen, die eine neue Beziehung zwischen den Menschen forderte. Ein Kreativitätsschub quer durch die Bevölkerung war die Folge. Die Menschen schrieben Lieder und Theaterstücke, machten Spottverse und fertigten Karikaturen gegen den Papst, gegen die umstrittenen Mohammed-Karikaturen von Charlie Hebdo einer Liebeserklärung nahe kommen. Martin Luther klagte, dass er nicht mehr nachkäme mit dem Schreiben. Weil Lukas Cranach die neu eröffnete Druckerei aus den roten Zahlen bringen musste, also musste der Bestsellerautor der Reformation am laufenden Band produzieren. Es ist eine längst bekannte und oft wiederholte These, dass die Reformation nur wegen des wenig vorher erfundenen Buchdrucks mit beweglichen Lettern eine solche Verbreitung gewinnen konnte. Der technische Qualitätssprung hin zu einer massenmedialen Produktion war damals vielleicht so grundlegend und umstürzend wie die Erfindung des Internet, das heute jeden Nutzer zur massenhaften Verbreitung seiner Inhalte offensteht. Aber es gibt einen tiefgreifenden Unterschied zwischen der Medienrevolution damals und heute: während wir heute die Beliebigkeit der öffentlich geäußerten Meinung bedenken und den Austausch milliardenhafter Banalitäten beklagen, war es in der Reformation ein Grundgedanke, der die Druckmaschinen in Bewegung brachte, nicht umgekehrt, und die Menschen dazu. Nicht die Druckmedien waren der Motor für die Reformation, sondern ein grundlegend befreiender, neuer Gedanke! Eine Idee triggerte die Technik – nicht umgekehrt. Allein durch Gnade ist der Mensch gerechtfertigt: Die Menschen erhielten eine neue Perspektive, sie konnten ihre Aufmerksamkeit neu ausrichten. Waren sie vorher mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Angst vor einem strafenden Gott, mit ausgetüftelten Sündenkatalogen und einem komplizierten Heilserlangungssystem, wurde mit der Botschaft vom barmherzigen Gott der Blick frei auf die Welt: ohne Vorleistung, das war die explosive Erkenntnis, bedingungslos spricht Gott dem Leben eines jeden Menschen die Lebensberechtigung zu, jeder Mensch hat Wert und Würde, Sinn und Bedeutung, einfach weil er ein Mensch ist: daran zu glauben mit dem Blick auf Jesus Christus macht den Christenmenschen frei von Angst und frei für die Welt. Und diese Erkenntnis setzte ungeheure, vorher gebundene Energien frei: eine theologische Erkenntnis, eine geistliche Einsicht lässt den Blick auf die Welt völlig neu werden. Die Aufmerksamkeit muss nicht mehr dem eigenen Heil gehören und der Vermeidung von Höllenstrafen, die Aufmerksamkeit gehört nun dem Alltag, der Gestaltung der Welt, der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung, der sich kein Christ entziehen darf. Nicht mehr der bevormundenden Fürsorge der kirchlichen Hierarchien will man folgen, sondern, der produktiven Auseinandersetzung auf Augenhöhe über das rechte Leben. Diese ersten Jahre der Reformationszeit waren geprägt vom Gestus der Befreiung, der zu allen Zeiten und in allen Phasen ein öffentliches Gesicht bekam. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte wurde das „Geheimnis“ der Machthaber als Instrument der Macht reflektiert und offengelegt und die Entzauberung des Geheimnisses als Mittel zum Widerstand der Vielen entdeckt. Die Parameter öffentlich und geheim wurden neu justiert. Der theologische Motor dieses Wandels aber war unser heutiger Text: Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der Euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Aus diesem Text wurde dann der theologische Topos des „Priestertums aller Gläubigen“ oder des „Priestertums aller Getauften“. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der Euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Oder wie es Martin Luther dann formulierte: Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes, und ist unter ihnen kein Unterschied dann des Amts halben allein. ... Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht. ... Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, dieses Amt auch auszuüben.“ So schreibt Martin Luther in seiner programmatischen Schrift: Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) Wer getauft ist...hinein in diese königliche Priesterschaft, gehört in die christliche Gemeinde, in der es kein oben und unten mehr gibt. Es gibt keine Glieder, die würdiger wären als die anderen. Eine Glieder, deren Handlungen und Worte mehr wert wären als die der anderen. Die Gaben sind unterschiedlich verteilt und die Funktionen, das schon, aber die Unterschiede in Gaben und Funktionen erlauben keine Befehlshierarchie oder eine Hierarchie der Gottesnähe. Über die Auslegung der Schriften zu unserem Heil und zum Wohl der Vielen dürfen wir, sollen wir auf Augenhöhe streiten. Hier ist auch ausgedrückt, dass alle Christen durch Glaube und Taufe einen unmittelbaren Zugang zum göttlichen Heil haben, ohne auf priesterliche Vermittlung angewiesen zu sein. Daraus folgt aber auch die Wahrnehmung priesterlicher Aufgaben durch die Gläubigen, allen voran gegenseitige Fürbitte und Tröstung, nicht jedoch unbedingt die Aufgabe der öffentlichen Predigt, aber die Möglichkeit – jeder Christ ist dem anderen Christen ein Priester – im Notfall übernimmt er oder sie auch priesterliche Handlungen wie die Taufe uä.: An den Christlichen Adel schreibt er: „Ubir das seyn wir priester, das ist noch vil mehr, denn kuenig sein, darumb, das das priesterthum vns wirdig macht fur gott zu tretten vnd fur andere zu bitten ... Alßo hatt uns Christus erworben, das wir muegen geystlich fur ein ander tretten und bitten, wie ein priester fur das volck leyplich tritt und bittet ... Denn ob wir wol alle gleych priester seyn, tzo kunden wir doch nit alle dienen odder schaffen und predigen.“ So schreibt Martin Luther: An den christlichen Adel... (1520)[1] Der Grundgedanke des Priestertums aller Gläubigen, die ihr Vertrauen auf Gott in der Bibel und ihrer Interpretation finden und ihr Gewissen dort schärfen, zielt auf Verständlichkeit und Öffentlichkeit, zielt auf Inklusion statt Exklusion und eröffnete das Muster einer Diskursöffentlichkeit, das nicht mehr rückholbar war, die Idee einer Kommunikationsfreiheit, die wir heute in ihrem Exzess erleben und die uns heute wieder zwingt über neue Regeln der Kommunikation nachzudenken. Für Luther damals markierte die neue Technik des Buchdrucks vor 500 Jahren den Anfang vom Ende der alten Welt, für ihn bedeutete diese Technik den Beginn des Weltendes. In einer seiner Tischreden wird er mit den Worten zitiert: der Buchdruck sei „Das größte und letzte Geschenk durch welche Gott die Sache (des Evangeliums) treibet. Es ist die letzte Flamme vor dem Auslöschen der Welt. Wir wissen alle, dieser wundervolle bezaubernde Neuanfang in dem die Menschen zum ersten mal die Freiheit der Expression erlebten – sie durften sich ausdrücken und ihre Gedanken wurden öffentlich – dieser bezaubernde Moment endete in der Katastrophe. Europa versank im Blut der Konfessionskriege. Zensur wurde wieder der Normalfall. Europa war nicht reif für diese neue Kultur und zu viele hatten durch den einfachen Gedanken, dass Barmherzigkeit, Gnade und Vergebung im Himmel und auf Erden umsonst sind, viele hatten dadurch zu viel zu verlieren. Aber der Gedanke war nicht mehr aus der Welt zu bringen: Jeder Mensch ist selbst verantwortlich für seinen Glauben, seine Überzeugung, seine Bildung. Jeder Mensch ist gerufen die Gesellschaft, in der er lebt mit zu gestalten, in dem er sich argumentativ einmischt bei den Fragen, wie wir miteinander vor Gott leben. Der Streit gehört organisch zum Zusammenleben gleicher und freier Menschen. Streit ist System. Der produktive Streit, der die Stimmen aller zu Gehör bringt, der Argumente laut werden lässt und sie nicht überschreit. Die Erkenntnis, dass wir Menschen auf Gnade angewiesen sind, dass wir, um es modern auszudrücken, uns nicht selbst konstruieren können, öffnete den Blick auf die »Freiheit eines Christenmenschen«, der, sofern er sich an Christus bindet, frei von der und frei für die Welt ist. Die daraus resultierende Idee vom »Priestertum aller Getauften« - wie er den 1. Petrusbrief dann übersetzte - und der damit verbundenen Verantwortung des Einzelnen für seinen Glauben und das an der heiligen Schrift geschärfte Gewissen, schrieb dem Einzelnen, egal welcher Herkunft und welchen Standes, eine Stimme zu beim sich selbst immer wieder zu erneuernden Gespräch über das Verständnis der Schrift und der Erlangung des Heils. Ich hoffe, es wurde deutlich, dass dieser kleine Abschnitt des 1. Petrusbriefs im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit den Kern der kulturellen Explosion darstellte, der mit der Reformation verbunden war, der dann als nicht intendierte Folge in die Aufklärung und die Begründung demokratischer Gesellschaften mündete. Denn die Weltmacht Rom beherrschte in vorreformatorischen Zeiten das ganze Leben der Menschen: Kultur, Religion, Politik und Ökonomie. Wer diese Vormacht in Frage stellte, in dem er die Hierarchien der Kirche für nichtig erklärte und jedem Gläubigen priesterliche Gottunmittelbarkeit zuschrieb, traf die gesamte Architektur der damaligen Welt in Mark. Das war vor 500 Jahren, als die christliche Kirche römischer Provenienz die Lebenswelten der Menschen beinahe vollständig beherrschte. Damals war dieser Text der Nucleus einer geistlichen, sozialen und kulturellen Revolution. Doch nun zum Petrusbrief in seiner Enstehungszeit: Der Kontext in den dieser Text des 1. Petrusbriefes zu Zeit seiner Abfassung hineinspricht könnte unterschiedlicher nicht sein. Hier waren die Christen nicht in der Mehrheit, sondern eine bedrückte und beargwöhnte Minderheit, die ihren Platz in der Gesellschaft suchte und nicht fand. Der ursprüngliche Text war als Trostbrief gemeint, nicht als Scheidungsurkunde zu der er dann in der Reformation wurde und der heute noch zwischen Konfessionen steht. Denn: Es ist einzig und allein die Vorstellung vom Amt – dem Priesteramt, dem Bischofsamt, dem Papstamt und seine Sukzession – das die Kirchen heute noch trennt. Der Verfasser des ersten Petrusbriefes konnte nicht ahnen, welch einen geistigen und geistlichen Sprengstoff er in die Welt sandte als er sein Rundschreiben an die Gemeinden in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien richtet. Der Autor, der sich Petrus nennt, schreibt an kleinasiatische Gemeinden, die heute auf dem Gebiet der Türkei liegen vom schwarzen Meer bis an die syrische Grenze. Er scheint sich da nicht ganz genau auszukennen, scheint da selbst nicht zu Hause zu sein, weil er die Provinzen nicht präzise benennt. Unser Autor spricht diese Gemeinden auch nicht wie Paulus, dieser briefeschreibende Missionar, als „Gemeinden an“: er bezeichnet sie als „auserwählte Fremdlinge“, „die Gott der Vater ausersehen hat durch die Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zu Besprengung mit dem Blut Jesu Christi.“ Er schreibt seinen Brief an Christinnen und Christen, die sich fremd fühlen in der Welt in der sie leben, oder denen die Welt, in der sie leben, durch die Begegnung mit Christus und seiner Botschaft vom Tod des Todes, fremd geworden ist. Er schreibt an Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft fühlen, versprengt – vielleicht so ein bisschen wie die Christen heute wieder in dieser Gegend, wo sie unter muslimischen Türken oder Kurden als Sonderlinge in kleinen Gemeinden existieren, wo sie keine Stimme in der Öffentlichkeit haben und froh sein können, wenn sie gerade so toleriert werden. Die Umwelt, in der diese ersten Gemeinden entstanden ist multireligiös geprägt – im neuen Testament mit dem Sammelbegriff „Heiden“ bezeichnet. Da opferte man heidnischen Göttern aller Art, den griechischen und persischen und als Klammer über den vielen Religionen im römischen Reich fungierte der sogenannte Kaiserkult. In den Städten und Dörfern standen Statuen des jeweiligen römischen Kaisers und man machte seinen Kotau vor dieser kaiserlichen Staue, opferte ihr und erkannte sie somit als Gottheit an. Das einte die unterschiedlichen Provinzen, der Kaiserkult, das war sozusagen die zivilreligiöse Klammer in der religiösen Vielfalt. Diese zivile Klammer kam selbst als Religion daher: Der Gottkaiser, dem man sich unterwerfen musste. Die jüdischen Gemeinden allerdings, die in dieser Gegend weit verstreut waren hatten bei den Römern eine Ausnahme verhandelt. Sie hatten eine Art Religionsautonomie. Sie mussten dem römischen Kaiser nicht huldigen und eine Zeitlang konnten sich die Christen als eine Untergruppe der Juden unter dem Schutz der Synagoge verstecken. Unser Brief muss zu einem Zeitpunkt verfasst sein, als sich die jüdischen und christlichen Gemeinden schon deutlich von einander absetzten. Versprengt waren sie beide – Juden und Christen - aber säuberlich getrennt waren sie dann zu diesem Zeitpunkt auch. Die Christen waren zu dem Zeitpunkt als der Brief verfasst wurde also vom Kaiserkult nicht ausgenommen, wie die Juden und sie büßten für ihre Weigerung dem Kaiserbild Opfer zu bringen mit der Exklusion aus der damaligen Gesellschaft. Der Preis war hoch, zur christlichen Gemeinde zu gehören. Das hieß: Ausschluss aus dem öffentlichen Leben, der Verzicht auf wichtige Positionen in der Gesellschaft, der Verzicht auf Beamtenjobs – alles was einen zur Beteiligung am Kaiserkult zwingen konnte, war zu meiden. Noch scheint es keine flächendeckenden ausgesprochenen Christenverfolgungen gegeben zu haben, aber eben die gesellschaftliche Exklusion. Und ein anwachsender Bocksgesang von übler Nachrede gegenüber den Angehörigen der christlichen Gemeinden. Der Absender des Briefes ermahnt deshalb die Adressaten seines Rundschreibens um Gottes willen nicht unangenehm aufzufallen, sondern sich absolut unanfechtbar, freundlich, zuvorkommend, angepasst, gesetzestreu und zivilisiert in den Städten zu benehmen, damit die Gerüchte darüber, was Christen in ihren geschlossenen Gesellschaften taten, die sie Eucharistie nannten, nicht überhand nehmen konnten. Der Brief scheint also am Vorabend der ersten großen Christenverfolgungen geschrieben zu sein. Etwa 50 Jahre nach Jesu Tod Anfang der neunziger Jahre des 1. Jahrhunderts nach christlicher Zeitrechnung. Man kann das Fremdsein, wie der Autor des Petrusbriefes schreibt – diese auserwählten Fremdlinge“ als soziale Aussage verstehen: Fremdlinge in einem Land, in einer Stadt, wo man exkludiert ist. Man kann es aber auch als theologische Aussage verstehen: Wir Christen, die wir wie Saatgut Gottes verstreut und ausgestreut leben, sind dieser Welt fremd geworden, weil wir eine andere Welt kennengelernt haben, eine andere wollen und eine andere leben. Wir sind die Alternative zur egogesteuerten Ellebogenwelt. Wir halten zusammen, wir helfen uns, wir stehen einander bei und füreinander ein. Wir brauchen keine Posten im öffentlichen Leben, wir haben eine Alternative aufgemacht. Wir leben nicht unter Rom, sondern schon im Werden des Reiches Gottes. Zugleich aber werden die Gemeinden angehalten den weltlichen Obrigkeiten nicht unangenehm aufzufallen. Es scheint Gefahr im Verzug, es scheint schlechte Stimmung gegenüber den Christen im römischen Reich, aber noch hat man sie nicht zu Märtyrern gemacht, noch hat man sie nicht in die Zirkusse getrieben. Diese Fremdlinge, diese Weltfremden sind also angeschrieben und angesprochen in diesem Rundbrief des Mannes, der sich Petrus nennt und damit seinem Brief eine grundsätzliche Bedeutung gibt durch die Autorität des Apostels Petrus, der ja in den ersten Gemeinden ein Leitungsamt inne hatte. Der Petrusbrief wird von den meisten Auslegern als sogenannter Pseudepigraph verstanden. Als ein Dokument, bei dem durch den geliehenen Absender, das Gewicht des Inhalts betont werden soll. Diese Fremdlinge, diese Exkludierten, möglicherweise Verfolgten, sie sollen mit dem Rundschreiben, das vom Absender als apostolisch verstanden wird neu verortet werden. Sie sollen wissen, wer sie sind und dieses Wissen, wer sie sind, soll sie trösten mit einem tiefen, tiefen Vertrauen in Christus. Der Petrusbrief, in einem gebildeten Griechisch geschrieben, die Paulusbriefe voraussetzend und sicherlich beeinflusst von paulinischer Theologie, ist also ein Trostbrief für die bedrückten Gemeinden und ein Liebesbrief an die Mitchristen und - er hört sich für heutige Ohren politisch absolut inkorrekt an. Völlig elitär. Hören Sie selbst Zu ihm – also zu Christus – kommt, als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus. Darum steht in der Schrift (Jesaja 28,16): »Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.« Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar; für die Ungläubigen aber ist »der Stein, den die Bauleute verworfen haben und der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses« (Psalm 118,22; Jesaja 8,14); sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Und jetzt als Konklusion: Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. Da haben wir es wieder dieses elitäre Motiv der Erwählung: Der Autor nennen kann gar nicht genug tun, um den zerstreuten Gemeindegliedern zuzurufen, dass es genau diese Exklusion ist, die sie nicht als Bedrückung, sondern als Erkennungsmerkmal verstehen sollen, auf dem rechten Weg zu sein. Und um dieses zu unterstreichen sucht unser Absender das erste Testament auf, und dort insbesondere die Propheten Jesaija und Hosea, um Begriffe zu finden, die nicht die Exklusion, sondern die Exklusivität der Gemeinde beschreiben: Ihr seid herausgehoben: Ihr seid eine königliche Priesterschaft, Ihr seid ein heiliges Volk, Ihr seid das Volk, des Eigentums, als die Menschen, denen sich Christus zugehörig fühlt. Ihr seid diejenigen, die durch Christus, den Hohenpriester, der für Euch gestorben ist, nun direkt Zugang zu Gott habt. Ihr braucht kein Opfer mehr um Gott zu begegnen oder zu bestechen, ihr braucht auch keine Vermittlungsinstanzen mehr, um Gott nahe zu sein: ihr seid gottunmittelbar. Ihr seid diejenigen, die in ein wunderbares Licht getaucht sind. Dass ihr Fremdlinge seid, das ist Euer Erkennungsmerkmal. Ihr müsst Euch in dieser Welt nicht mehr beweisen. Die Hierarchien in dieser Welt zählen für Euch nicht mehr. Ihr habt Eure eigene Ordnung. Und die heißt „liebet einander, wie Euch Christus geliebt hat“ und die heißt Verantwortung füreinander und die heißt die Auflösung von weltlichen Ordnungen, die uns als Menschen auseinanderreißen Reichtum und Macht, Armut und Sklaverei. Das alle zählt nicht mehr unter den Erwählten, die sich nun durch ihre Nähe zu Christus definieren. Wir alle wissen, die Geschichte wurde auch hier blutig. Die Fremdlinge wurden als Gefahr für die politische Ordnung identifiziert, trotzdem sie versuchten nicht besonders aufzufallen. Wir wissen auch, dass aus diesem Exklusivitätsgedanken – wir sind die Herausgerufenen, wir sind die Gottnahen – im Augenblick als die Gemeinden nicht mehr verfolgt waren, sondern Staatskirche wurden, en Stom von Gewalt ausging, der sich Mission nannte. Es gibt kein schwierigeres Erbe der Christenheit als der Erwählungs- und Exklusivitätsgedanke. Der Petrusbrief versteht diesen Gedanken geistlich. Ihr seid diejenigen, die den Hierarchien dieser Welt, ihren Ordnungen und Regeln – um Gottes Willen - eine liebevolle Alternative bieten können. Eine gewisse Weltfremdheit steht Euch. Eine zu große Anpassung ist Verrat am Evangelium. Es geht um das Weltverhältnis der christlichen Gemeinden zwischen Fremdheit und Anpassung. Wir leben inzwischen seit 70 Jahren in einer Gesellschaft, die die Idee des Priestertums aller Gläubigen in ein säkulares Modell der Beteiligung aller an der demokratischen Gesellschaft umgeschrieben hat. Insofern war die radikal enthierarchisierende Gedanke des Priestertums aller Gläubigen ein Muster der christlichen Gemeinde für die politische Gemeinschaft. Es kann sein, dass es uns Christen auch deshalb leicht fällt, uns in eine solche Gesellschaft friedlich und kooperativ einzupassen. Jeder hat die Chance gehört zu werden, die Hierarchien sind vergleichsweise flach, wir gestalten unsere Gemeinschaft rücksichtsvoll und liebevoll. Luther meinte, dass das Priestertum aller Getauften heißt, dass wir miteinander streitbar die Bibel auslegen. Ich habe mir sagen lassen, dass nach dem zweiten Weltkrieg in diesem verzweifelten schuldbeladenen Land mit den vielen jungen Kriegsheimkehrern, die dann in die Ausbildung oder auf die Universitäten gingen, Bibelarbeiten die Renner in den Gemeinden waren. Es waren Bibelarbeiten, die die Menschen in den Gemeinden eine Sprache für die Abgründe gaben, die sie gesehen hatten, für ihre Schuld und den Verrat an der Gottes Schöpfung, den dieses Volk begangen hatte. Priestertum aller Gläubigen heißt, sich darüber streiten, was die Bibel heute uns zu sagen hat. Und das heißt selbstständig und sprachfähig werden. Das findet definitiv zu wenig statt. Wir streiten um die Finanzierung von Fenster- und Orgelrestaurierungen über Friedhofsverordnungen, aber nicht, was unsere Aufgabe in der Welt ist. Vielleicht liegt an diesem Mangel der Auseinandersetzung mit unserer Masterurkunde der heiligen Schrift auch das laute Schweigen in unseren Kirchen zur täglichen Totenmesse die im Mittelmeer gesungen wird. Tausende ertrinken – wo bleibt der Aufschrei der Christen? Ich weiß, Kirchen tun viel für Asylbewerber, aber wo ist der Zusammenschluss europäischer Christen, die laut und vernehmlich schreien und Vorschläge machen, wie das Sterben enden könnte. Wo sind die großen Fürbittgottesdienste, die ein Bewusstsein schaffen für dieses tausendfache Sterben. Und wo ist die Bereitschaft, Häuser und Wohnungen zu öffnen, Schulen zu öffnen, Universitäten zu öffnen. Vielleicht brauchen wir sie wieder die politische Nachtgebete. Wo sind die Christen, die sich im Namen Gottes mit den Regierenden anlegen, die ihre eigenen Bürger abhören lässt und deren informationelle Selbstbestimmung mit Füßen tritt. Es gibt Bereiche, wo wir uns wieder fremder machen müssen in dieser Gesellschaft, die dabei ist ihr freundliches Gesicht zu verlieren. Bibel lesen stärkt dabei. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.