Die Fische wurden durch lebendes Futter so besonders schön groß und fett. Am Ende des kleinen Steges befand sich eine kleine Plattform mit einem Stahlgitter. Auf dem Gitter lag immer ein großes Stück verwesendes Fleisch, von dem sich tausende Maden und Würmer ernährten. Diese fielen dann irgendwann durch das Gitter in den Teich und wurden von den Fischen gefressen. Auf diese Weise hatten die Fische ständig Futter und gediehen prächtig. Damit nicht Raubtiere, oder Vögel das Fleisch stehlen konnten, war die Plattform mit einer kleinen Holzhütte überbaut, sodass die Tiere nicht an das Fleisch heran kommen konnten. Zusätzlich wurde die letzte Planke vor dem Futterhaus immer eingezogen. Kein Fuchs, keine Katze, oder etwa irgendwelche Nagetiere konnten deshalb zu Fuß an das Aas gelangen. Auch wenn sie dort hin schwammen, verhinderte das hoch hängende Gitter eine vermeintliche Extramahlzeit. Man muss es nicht noch einmal erwähnen, die Geschäfte gingen gut und Karolina und Benjamin wurden in den kommenden Jahren recht wohlhabend. Eine weitere Neuerung gab es noch im Tabakbereich des Schnapsladens. Benjamins Verwandtschaft in Saratow hatte begonnen, Papirosys herzustellen. In den letzten Jahren war diese Form des Tabakrauchens modern geworden. Die Papirosy bestand aus einer Hülle von hauchdünnem Papier mit einer Füllung aus fein geschnittenem Tabak. An einem Ende der Papierhülle war ein kleines Mundstück aus Pappe angeklebt, sodass der Raucher keine Tabakkrümel in den Mund bekommen konnte. Die Herstellung war reine Handarbeit und deshalb sehr zeitaufwendig und recht teuer. Die Papirosy gab es einzeln zu kaufen oder auch in Schachteln zu Dutzend oder zwei Dutzend. Die „Züges“ hatten zwei Qualitäten zur Probe geschickt. Die etwas mildere Sorte hieß Schwalbe, russisch: Lastotschka, die starke Sorte hieß Falke, Sokol. Obwohl diese Papirosy teuer waren, verkauften sie sich wie von selbst, sodass Benjamin weitere Partien bestellte. 106 In einem der französischen Journale, die Benjamin hin und wieder von seinem Freund Henry als Auspolsterung für seine Weinflaschen bekam, waren auch Frauen abgebildet, die so genannte Cigarettes mit einem Mundstück aus Horn oder Elfenbein rauchten. Das war der größte Chic für alle Französinnen, die was auf sich hielten, so stand es jedenfalls in der Zeitung. Karolina war neugierig und probierte auch so zu rauchen, mit der „Lastotschka.“ Zunächst ging das natürlich sehr schlecht, mit viel Husten und Unwohlsein. Erst rauchte Karolina wenig, nur so aus Neugier. Später steigerte sich das und nach einigen Jahren hatte sich Karolina zu einer starken Raucherin entwickelt, die ihre Ration Papirosy brauchte wie das Essen und Trinken. Es kam das Jahr 1870. Das Nachrichtenblatt berichtete, das Frankreich am 19. Juli Preußen den Krieg erklärt hatte. Benjamin konnte das nicht verstehen. Frankreich erklärt Preußen den Krieg! Wieso, warum, weshalb ? Niemand in Schepetowka und Umgebung verfügte über das entsprechende Wissen, um diesen Schritt Frankreichs erklären zu können und niemand wusste etwas über eine „Emser Depesche“ die diese Kriegserklärung provoziert hatte. Wenn Benjamin etwas von Krieg hörte, musste er immer noch an all die vielen Toten von Sewastopol denken und an die Verstümmelten, an die Schreie der Sterbenden. Er sah wieder das Bild seines Oberleutnants vor sich, wie der verzweifelt versuchte, seine Gedärme wieder in seinen Bauch zu schieben. All die Schreie, all das Leid und der Geruch von Blut und des Todes und der vielen Leichen, die in den Massengräbern verscharrt wurden. Vor allem die Frage nach dem „Wofür“ beschäftigte Benjamin immer wieder. Der Krimkrieg wurde durch einen Friedensvertrag beendet. Die Kriegsmächte, beziehungsweise die regierenden Monarchen, einigten sich nach einiger Zeit des Sterbens ihrer Soldaten auf einen Frieden. Keine der Krieg führenden Parteien hatte ihr Ziel erreicht. 107 Tausende Tote waren das Ergebnis. Und wofür? Aber auch er sah ein, dass, wenn ein Land angegriffen wird, es sich dann verteidigen musste. Die nationale Begeisterung in den deutschen Ländern schwappte natürlich auch auf die in Wolhynien lebenden Deutschen über und es gab keinen, der den Franzosen einen Sieg gönnte. Der preußische Kanzler Otto von Bismarck hatte es durch diese Kriegserklärung Frankreichs an Preußen geschafft, das alle deutschen Länder ihre Truppen unter den Oberfehl des preußischen Königs stellten. Mit einer Verspätung von einer Woche erfuhren die Wolhynier aus ihrem Nachrichtenblatt, dass die Franzosen aus dem Elsass heraus angegriffen hatten und dass die französischen Armeen unter dem General MacMahon bei Weißenburg und Spichern durch die Truppen des Kronprinzen Friedrich zurück geschlagen werden konnten. Das alles spielte sich im Elsass ab, in dem Benjamin einmal eine schöne Zeit hatte. Und er machte sich große Sorgen um seine Freunde, die Clements. Er schrieb ihnen einen Brief und hoffte auf Antwort. Dann erfuhren sie im September, dass die deutschen Truppen den wahrscheinlich entscheidenden Sieg bei Sedan erkämpft hatten, bei dem auch der französische Kaiser Napoleon der III. gefangen genommen wurde. Darauf hin rief jedoch die Pariser Bevölkerung die 3. Französische Republik und den allgemeinen Volkskrieg gegen Preußen aus. Am 27. Oktober kapitulierte die Festung Metz. In der Folge wurde Orleans erobert, dann wieder zurück erobert und dann wieder von den deutschen Truppen eingenommen. Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal zu Versailles bei Paris das Deutsche Kaiserreich proklamiert und König Wilhelm der I. von Preußen wurde zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Eine Woche später wurde das eingeschlossene Paris von der schweren deutschen Artillerie drei Tage lang sturmreif geschossen. Kein Mensch weiß genau, wie viele Pariser dabei ihr Leben lassen mussten. Es waren viele Hunderte, vielleicht Tausende. Dann erst kapitulierte die Stadt. 108 Der Krieg war zu Ende. Mit dem „Frankfurter Frieden“ musste Frankreich unter anderem auch Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich abtreten. „Das ist doch einmal wieder eine gute Nachricht!“, rief Benjamin, als er das in der Zeitung las. Elsaß-Lothringen, Selestad, die Clements, sie waren nun deutsch, gehörten zum Deutschen Reich. Gleich schrieb er ihnen wieder einen Brief und nach einigen Wochen erhielt er auch eine Antwort. Ernestine Clement hatte ihm geschrieben. Sie teilte Benjamin mit, dass ihr Sohn Henry von den Bayern in dem Wirrwarr der Kämpfe aus Versehen erschossen wurde. Er hatte nichts Schlimmes getan. Er ist einfach nur zwischen die kämpfenden Fronten geraten. Ihr Mann Sebastian war seit dem sehr schwer krank. Niemand wisse, was genau er für eine Krankheit hatte und ob er wieder genesen werde. Den Gasthof habe sie verpachtet und sie wohnt jetzt mit Sebastian bei ihren Eltern in Lyon. Sie hat schon sehr viel Geld für die Ärzte ausgegeben und wisse nicht, wie lange sie das noch durchhalten können. „In Hoffnung und auf Gott Vertrauen! Deine Ernestine.“ So endete die schlechte Nachricht. Benjamin war geschockt. Er wusste lange nicht, was er Ernestine zurück schreiben konnte. Einige Tage später überwand er sich endlich und fing an, eine Antwort zu formulieren. Dafür brauchte er einen ganzen Tag. Benjamin war ein gläubiger Mensch. Aber wieder einmal zweifelte er an Gott. Wie konnte Gott das zulassen? Er zog sich ein paar Tage so gut es ging zurück und war nicht so lustig und froh gelaunt wie sonst. Er grübelte lange nach über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Dann siegte jedoch seine Frohnatur und er wurde fast wieder der Alte, wenngleich er von nun an wieder etwas ernster durch das Leben ging. Immer neue Zuwanderer kamen in das wolhynische Gebiet. Der Bau der Eisenbahnstrecken erforderte viele Arbeiter, Vorarbeiter und Ingenieure. Schepetowka entwickelte sich zu einer wichtigen Nachschubstation. 109 Die Lücken in den Strecken nach St. Petersburg wurden nach und nach geschlossen und man konnte schon nach Kiew fahren oder nach Odessa am Schwarzen Meer. Viele Dörfer wurden neu gegründet. Schulen und Kirchen wurden gebaut. Zu Karolinas großer Freude konnte sie Benjamin endlich dazu überreden, im Kirchenchor mit zu singen oder auch mit anderen Männern kleine Musikstücke aufzuführen. Sie war richtig stolz auf ihren „Ben“ denn er hatte wirklich eine sehr schöne Bassstimme und Benjamin erhielt große Anerkennung vom Pastor und war immer ein gern gesehener Gast zu allen möglichen Festen. Die kirchlichen Musikstücke gingen ihm natürlich nicht so leicht von der Hand, wie die lustigen Tanzpolkas, die er hauptsächlich von den vielen Zigeunergruppen gelernt hatte. Jeder Zigeunerclan hatte seine eigene Musiktruppe, die nach Benjamins Einschätzung absolut die besten Musikanten hatten, die er je gehört hatte. So verfloss die Zeit. Manchmal fragten sie sich, wo all die Jahre geblieben waren, seit sie sich kennen gelernt hatten. Nur an ihren Kindern konnten sie sehen, wofür sie die ganzen Jahre gearbeitet hatten. Ende April des Jahres 1877 erfuhren sie, dass auch Russland wieder in den Krieg zog. Die orthodoxen Bulgaren wagten einen Aufstand gegen die Türken, die den Aufstand blutig niedergeschlagen hatten. Zar Alexander II. erklärte dem Osmanischen Reich den Krieg und zog selbst mit seinem Oberbefehlshaber Marschall Gortschakow, der auch schon im Krim-Krieg den Oberbefehl über die Streitkräfte hatte, und einer großen Streitmacht durch Rumänien hindurch, um den Bulgaren zur Hilfe zu kommen. Nach dem Fall der Festung Plewen (Plovdiv) waren die Türken besiegt, die sich bis nach Edirne zurückzogen. Kurz vor Weihnachten war der Zar wieder in St. Petersburg und wurde mit riesigem Jubel im Triumphzug von der Bevölkerung empfangen. Dann kam das Jahr 1881. Dieses Jahr begann an sich ganz hervorragend. Benjamins und Karolinas erster Sohn Alexander hatte seine Lehrzeit als Koch 110 beendet und ging nach Kiew, um seine Kenntnisse in einem großen Restaurant zu erweitern. Ihr zweiter Sohn Ferdinand studierte bereits in Kiew Pädagogik und er wurde später Gymnasiallehrer. Zuerst erfuhren sie durch die Eisenbahner und dann durch das Nachrichtenblatt, dass am 13. März der Zar einem Bombenattentat zum Opfer gefallen war. Auf den Zaren wurden in den letzten Jahren schon mehrere Attentate verübt, die er aber alle überlebte und so hatte der Zar sich im einfachen Volk den Ruf der Unverwundbarkeit erworben. Umso größer war nun die Trauer um den Zaren, während dessen Regierungszeit sich im Russischen Reich vieles zum Guten gewendet hatte. Auch die Beziehungen zum Deutschen Reich waren hervorragend, ja man konnte sie fast „freundschaftlich“ nennen. Von diesen guten Verhältnissen profitierten natürlich auch die deutschen Auswanderer, die in Russland lebten. Die Staatstrauer dauerte mehrere Tage. Der nächste Zar war der zweite Sohn des ermordeten Alexander II. und dessen Gemahlin Maximiliane von Hessen-Darmstadt. Die guten Zeiten für die Auswanderer sollten in den kommenden Jahren langsam, aber stetig zu Ende gehen. Alexander III. machte nach einiger Zeit viele Reformen seines Vaters wieder rückgängig und die Polizeimacht wurde massiv verstärkt. Das verhinderte jedoch nicht, dass immer wieder Aufstände aufflackerten. Es rumorte im russischen Reich. Die Machtübernahme Alexander III. bedeutete für die vielen deutschen Kolonisten in den folgenden Jahren auch die Abschaffung ihrer alten Privilegien, die ihnen seit der Zeit Katharinas zugesichert waren. Zuerst verfügte die Regierung, dass die Kinder in den Schulen nur noch in russischer Sprache unterrichtet werden dürfen. Dann mussten die Kolonisten Steuern zahlen und später wurde auch das Privileg der Befreiung vom Militärdienst abgeschafft und alle deutschstämmigen jungen Männer mit russischer Staatsbürgerschaft wurden in die russische Armee einberufen. Die Abschaffung dieser Rechte der Deutschen in Russland konnte natürlich nicht sofort durchgesetzt werden, aber die 111