Andere Generationen und ihre Deutungsmuster

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Schwerpunkt | Interview
Interview mit Rudolf Tippelt, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Andere Generationen und ihre
Deutungsmuster verstehen
Intergeneratives Lernen als die wohl älteste Lernform überhaupt
spielt auch heute sowohl im privaten als auch beruflichen Bereich
eine wichtige Rolle. Hierbei geht es aber keineswegs um eine
einseitige Wissensweitergabe der Älteren an die Jüngeren. Vielmehr
ist ein gleichberechtigtes, wechselseitiges Lernen der verschiedenen
Generationen mit-, von- und übereinander gemeint.
Prof. Dr. Rudolf Tippelt, Lehrstuhlinhaber für Allgemeine
Pädagogik und Bildungsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Mitglied des Forschungskollegiums Erziehungswissenschaft der DFG, Mitherausgeber der Zeitschrift für Pädagogik, Gründungsmitglied der
World Education Research
Association (WERA), Vorsitzender der Wissenschaftlichen Beiräte des DIE in Bonn,
des IFP München, der WiFFInitiative (DJI) und der Forschungsstelle Bildung der IHK
München und Oberbayern.
Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des DJI sowie im
wissenschaftlichen Beirat der
Steuerungsgruppe zur Bildungsforschung der KMK und
des BMBF. Forschungsschwerpunkte: Bildungsforschung, Weiterbildung/
Erwachsenenbildung, Bildungsprozesse über die
Lebensspanne, Übergang von
Bildung und Beschäftigung,
Professionalisierung und Fortbildung des pädagogischen
Personals, insbesondere auch
im internationalen Kontext.
[email protected]
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Weiterbildung: Intergeneratives Lernen ist dem Wortsinn nach ja wohl die älteste Form des Lernens: die Weitergabe von Wissen und Können von einer Generation
an die nächste. Welche Bedeutungen und Facetten hat
dieser Begriff heute?
Rudolf Tippelt: Intergeneratives Lernen bedeutet die
Weitergabe von Wissen und Können, von Kultur und
von Werten, allerdings aus heutiger Sicht nicht mehr
in einer Lehrer-Schüler-Relation. Wir gehen beim intergenerativen Lernen nicht mehr von einer hierarchisch
strukturierten Dyade von einem Erzieher und einem
Zögling, von einem Wissenden und einem Nicht-Wissenden aus, sondern es geht um das Verstehen anderer Generationen und deren Deutungsmustern. Das
ungleichgewichtige Verhältnis von Wissenserwerb und
Wissensweitergabe kann heute nicht mehr gelten, denn
Generationen lernen voneinander wechselseitig.
Weiterbildung: Welcher Generationenbegriff liegt dem
aktuellen Verständnis von intergenerativem Lernen
zugrunde?
Rudolf Tippelt: Dem aktuellen Generationenbegriff,
der für intergeneratives Lernen geeignet ist, liegt kein
hierarchisierender und kein genealogischer Generationenbegriff zugrunde, der davon ausgehen würde,
dass eine bloße Abfolge von Eltern, Kindern und Kindeskindern existiert. Vielmehr ist ein historisch-politischer Zugang, der den lebens- und zeitgeschichtlich
geteilten Erfahrungshintergrund als ein verbindendes
Element innerhalb einer Generation versteht, schlüssig. Deutlich hat Karl Mannheim (1928) ein solches
Generationenverständnis vertreten, wenn er davon
spricht, dass Generationen als Personengruppen aufgefasst werden, die auf Basis des Durchlebens historischer Entwicklungen in einem bestimmten Lebensabschnitt ähnliche Orientierungsmuster entwickeln
und diese auch als ein innerhalb ihrer Generation verbindendes Element erleben. Dieser historisch-verstehende Ansatz hebt hervor, dass das Besondere jeder
Generation in den zeitgeschichtlichen Entwicklungen
und den entsprechenden Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen gegeben ist. Generationen sind hierbei historisch aufeinanderfolgende und den gesellschaftlichen Wandel spiegelnde Gruppen und Kohorten. Generationentypische Orientierungsmuster und
Anschauungen sind also der Hintergrund dafür, sich
intergenerational fortwährend auszutauschen.
Weiterbildung: Können Sie die pädagogischen, sozialen und soziologischen Facetten intergenerativen Lernens kurz skizzieren?
Rudolf Tippelt: Den soziologischen Hintergrund intergenerativen Lernens bildet die Überlegung Karl Mannheims von der Ähnlichkeit jeder spezifischen Generation aufgrund zeitgeschichtlicher Entwicklungen, die
die soziale Umwelt von Individuen prägen. Die soziale
Facette des intergenerativen Lernens sehe ich darin,
dass soziale Gruppen und einzelne Individuen durch
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die Fähigkeit zur Rollenübernahme und durch Empathie in der Lage sind, sich die Orientierungsmuster und
Anschauungen der jeweils anderen Generationen zu
vergegenwärtigen, um dann nicht unbedingt den Konsens, aber jedenfalls den sozialen Austausch prosozial zu suchen. Die pädagogische Facette des intergenerativen Lernens ist durch die verschiedenen Zugänge auf die andere Generation geprägt, denn man lernt
voneinander, man lernt miteinander, und man kann
auch übereinander lernen. Dabei meint VoneinanderLernen die Weitergabe von Wissen von einer Generation an eine andere, wobei einer Generation ein gewisser Expertenstatus zugesprochen wird. Zwar wird in
der Regel die ältere Generation als jene wahrgenommen, die der jüngeren etwas weitergibt, aber gerade
im Bereich der Erwachsenenbildung kann man auch
umgekehrte Verhältnisse antreffen, wenn zum Beispiel
im Bereich der neuen Medien Dozenten einer jüngeren Generation Älteren Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten weitergeben. Im Unterschied zu diesem Lernen betont das Miteinander-Lernen gerade die intergenerative Wissenskonstruktion, weil hier mehrere
Generationen gleichzeitig als Lernende auftreten. Kontroversen sind dabei vollkommen normal. Das Übereinander-Lernen geschieht auf Basis der gemeinsamen
Reflexion und Verständigung über die jeweils generationenspezifischen Erfahrungen und Perspektiven. In
der Erwachsenenbildung hat das Miteinander- und das
Übereinander-Lernen große Bedeutung, beispielsweise im Kontext des bürgerschaftlichen Engagements
oder dann, wenn Zeitzeugen ihre Erfahrungen anderen Generationen erzählen („oral history“). Es geht
aber keinesfalls um die einseitige Wissensweitergabe
der Älteren an die Jüngeren. Das pädagogische Verständnis beansprucht die Gleichwertigkeit der verschiedenen Generationen im Lernprozess.
Weiterbildung: Hat intergeneratives Lernen eine eigenständige didaktisch-methodische Struktur? Oder anders
gefragt: Welche Lernarrangements benötigt intergeneratives Lernen?
Rudolf Tippelt: Intergeneratives Lernen ist vor allen
Dingen ein Miteinander-Lernen und die Reflexion der
eigenen Auffassungen und des Wissens der anderen.
Differenzen werden dabei produktiv sichtbar, die Interaktion der Generationen und das Miteinander-imGespräch-sein sind anregend, und die gleichberechWeiterbildung
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tigte Teilhabe an Lernprozessen ist bedeutungsvoll.
Insofern hat intergeneratives Lernen durchaus eine
eigene didaktisch-methodische Struktur, gerade wenn
man bedenkt, dass Lernprozesse häufig auch mit biografischen Erfahrungen verknüpft sind und man auch
Lebensgeschichten austauscht.
Weiterbildung: Welchen Stellenwert hat intergeneratives Lernen im Kontext der betrieblichen institutionellen beruflichen Erwachsenenbildung?
Rudolf Tippelt: Intergeneratives Lernen hat hier einen
sehr hohen Stellenwert, weil es darauf ankommt, die
Stärken verschiedener Generationen und auch Altersgruppen aufeinander zu beziehen. Das schnelle Erfassen von Situationen, die neuen Erkenntnisse und die
hohe Medienkompetenz der Jüngeren gilt es in Verbindung zum langfristig aufgebauten Erfahrungswissen
der Älteren zu bringen. Intergeneratives Lernen
erschöpft sich auch nicht darin, dass Ältere verstärkt
in die formale Erwachsenen- und Weiterbildung einbezogen werden, weil aufgrund des demografischen Wandels die Humanressourcen der Älteren gebraucht werden. Intergeneratives Lernen geht darüber hinaus und
ist bemüht, den informellen Austausch am Arbeitsplatz
und auch in der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung zwischen verschiedenen Generationen und
Kohorten in Gang zu setzen.
Weiterbildung: Welche Formen können hier im Überblick angeführt werden?
Rudolf Tippelt: In der Literatur wird die Verbesserung
der Kommunikation zwischen älteren und jüngeren
Arbeitnehmern zunehmend unter der Perspektive der
Diversität, der Vielfalt und der Heterogenität von Arbeitsgruppen diskutiert. Diversity Management bedeutet
hierbei, ein verbessertes Verständnis füreinander und
den Abbau von Vorurteilen und Stereotypen sowie auch
den besseren Umgang zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen zu suchen. Dabei gibt es sowohl
instruktionale wie auch stark erfahrungsbasierte Verfahren. Auch die Bedeutung von Coaching und Mentoring innerhalb von altersheterogenen Gruppen ist
sicher hervorzuheben und betont den intergenerativen Dialog, um letztlich ein gemeinsam geteiltes Wissen zu entwickeln. Eine dialogische Bildung gilt als eine
offene Form der Wissenskommunikation, die individuelle und auch gemeinsame Wissensbestände und men-
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tale Modelle aufzeigt und für die Bildungsarbeit in Gruppen gut geeignet ist. Coaching und Mentoring dagegen
dienen eher der individuellen Förderung von Mitarbeitern. In beruflichen Kontexten können „Storytelling“,
Perspektivenübernahme und selbstkritisches Reflektieren geübt und trainiert werden und so zum Abbau
altersbezogener Stereotype beitragen.
Weiterbildung: Ist intergeneratives Lernen im aktuellen Weiterbildungsbetrieb mehr als ein hehrer Anspruch
ohne Relevanz für Karriere, Beruf und Leben?
Rudolf Tippelt: Intergeneratives Lernen ist heute nicht
nur ein normativer oder moralischer Anspruch, sondern hat sowohl für den beruflichen Werdegang als
auch für die Entwicklung allgemeiner Lebensorientierungen einen Stellenwert. In intergenerativen Lernprozessen können sich Altersbilder formen, die auf das
persönliche und das gesellschaftliche Leben und auch
auf das Bildungsverhalten zurückwirken. Auch muss
festgehalten werden, dass intergeneratives Lernen bei
Weitem noch nicht allgemeine Zustimmung erfährt,
denn in der Binnenstruktur von Organisationen und
auch von Betrieben, spiegelt sich noch immer die Trennung der Generationen. Dabei werden die rasanten
arbeitsorganisatorischen Entwicklungen und technischen Neuerungen von Bewertungen gekennzeichnet,
die den Älteren zwar Erfahrungswissen zuschreiben, die
aber vor allem den Jüngeren Innovationsfähigkeit attestieren. Dies ist allerdings eine problematische Trennung der Generationen, die manchmal von personalpolitischen Konzepten noch zusätzlich festgeschrieben wird. Die Gleichwertigkeit der Generationen ist
noch immer ein Anspruch betrieblicher Personalplanung, aber noch nicht überall die Realität.
Weiterbildung: Wo liegen die Hauptumsetzungsmöglichkeiten intergenerativen Lernens? Im formalen, im
non-formalen oder beim informellen Lernen?
Rudolf Tippelt: Formales Lernen ist nach wie vor häufig von hierarchischen Generationenverhältnissen
geprägt. Im informellen Kontext der Familien oder der
Peers ist die intergenerative Interaktion dagegen gegenwärtiger, wenngleich auch hier Einschränkungen zu
diagnostizieren sind. Durch demografische Veränderungen schmelzen mit der Familiengröße auch die erweiterten verwandtschaftlichen Netzwerke und intergeneratives Lernen, und entsprechende Erfahrungen
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begrenzen sich immer häufiger auf die Kernfamilie.
Diese Erosion von intergenerativen Begegnungsräumen gefährdet dann nicht nur das Verständnis füreinander und die Solidarität zwischen den Generationen, sondern bremst auch die gesellschaftliche
Weiterentwicklung, weil Erfahrungswissen nicht weitergegeben wird und neue Perspektiven nicht breit kommuniziert werden. Die Weiter- und Erwachsenenbildung als ein Ort des non-formalen Lernens ist sehr
geeignet, die gezielte Förderung des Dialogs zwischen
den Generationen vorwärtszubringen und der Distanz
zwischen diesen Generationen entgegenzuwirken. Allerdings – und dies gilt wieder für formale, non-formale
und informelle Lerngelegenheiten – müssen die Widerstände auf beiden Seiten bekannt sein, und die unterschiedlichen Erfahrungen, Lebensformen, Wertehorizonte der Generationen müssen zum Gegenstand von
Bildungsprozessen gemacht werden, und zwar nicht,
um Generationen zu nivellieren, sondern um die Erfahrung von Generationen und ihre Differenz erlebbar zu
machen.
Weiterbildung: Intergeneratives Lernen − ein didaktisches Prinzip oder doch eine ganz eigene Form der
Vermittlung?
Rudolf Tippelt: Intergeneratives Lernen erfordert
besondere Formen der Vermittlung, wobei die herausragenden didaktischen Prinzipien folgende sind: Dialog, Partizipation, Interaktion, Biografie und Differenz.
Weiterbildung: Welchen Stellenwert hat intergeneratives Lernen im Kontext der Persönlichkeitsbildung?
Rudolf Tippelt: Intergeneratives Lernen hat erheblichen
Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung, denn es werden soziale und emotionale Kompetenzen gefördert
und es werden die motivationale Kompetenz und die
Lernkompetenz angeregt. Besondere Werte werden
durch intergeneratives Lernen angesprochen, wie Mut
zur Auseinandersetzung, Gerechtigkeit zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen, insbesondere Altersgruppen, Fähigkeit zur Relativierung eigener Auffassungen,
Fairness und Teamfähigkeit. Vor allem die sozialkognitive Fähigkeit der Perspektivenübernahme und der
Empathie, die sich im intergenerativen Lernen entfalten können, verhelfen dem einzelnen Individuum dazu,
sein Verhalten und seine Interessen so zu formulieren,
dass die Perspektive des Anderen hier verstehend einWeiterbildung
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bezogen wird. Persönlichkeitsbildung in diesem Sinne
ermöglicht es im beruflichen Alltag, die Erwartungen
von Interaktionspartnern zu erkennen und zu interpretieren. Intergeneratives Lernen ist hier dem interkulturellen Lernen in seinen Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Persönlichkeitsbildung verwandt.
Weiterbildung: Welchen Stellenwert hat intergeneratives Lernen im Kontext sozialer Bildung?
Rudolf Tippelt: Die Bedeutung intergenerativen Lernens zeigt sich in der sozialen Bildung insbesondere
darin, dass man Offenheit für andere Perspektiven entwickelt und dass man den Mut entfalten kann, seine
manchmal durchaus konflikthaften anderen Auffassungen zum Ausdruck zu bringen.
Weiterbildung: Wo sehen Sie wesentliche Barrieren
für intergeneratives Lernen?
Rudolf Tippelt: Die Hauptbarrieren für intergeneratives Lernen liegen in der nach wie vor sehr starken
Alterssegregation in unserer Gesellschaft. Barrieren
bestehen auch darin, dass den Älteren noch immer
Defizite in ihrem Lernverhalten zugesprochen werden,
die diese dann auch nicht selten verinnerlichen. Lernen ist nichts für Ältere, ich bin zu alt, um mit Jüngeren zu lernen, ich halte Jüngere beim Lernen nur auf −
solche subjektiven Haltungen sind in empirischen StuWeiterbildung
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dien noch immer nachzuweisen. Widersprüchliche Auffassungen zwischen den Generationen und konflikthafte Auseinandersetzungen dagegen sind keine Barrieren für das intergenerative Lernen, sondern können
durch methodische Vielfalt und die langsam wachsende Selbstorganisation der Lernenden in äußerst produktive Formen des Lernens einmünden. Der Typus
des „Enthusiasten“, der den Austausch mit den Jüngeren und das intergenerative Lernen als eine große persönliche Bereicherung empfindet, stellt keinesfalls die
Majorität der älteren Lernenden dar, vielmehr überwiegen noch immer die „Zurückhaltenden“, die das
intergenerative Lernen nur unter bestimmten klar
gesetzten Bedingungen akzeptieren. Auch der Typus des
„Skeptikers“ ist stark ausgeprägt: Skeptiker sehen
Schranken zwischen den gemeinsamen Lernmöglichkeiten von Generationen, aber gerade diese Skeptiker,
die verstärkt von sozialer Isolation bedroht sind, sehen
letztlich in den punktuellen Begegnungen mit anderen
Generationen einen wesentlichen Gewinn für das eigene Lernen. Man wird sagen können, dass es zu den
wichtigen Aufgaben der Weiter- und Erwachsenenbildung gehört, nicht nur beiläufige Austauschprozesse
zwischen den Generationen zu ermöglichen, sondern
den pädagogisch beabsichtigten und interessanten
intergenerativen Dialog zu initiieren. Dieser intergenerative Dialog kann für sich bereits als Bildungsprozess
verstanden werden.
Die Fragen stellte
Martin Wiedemair
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