Planung und Zufall. Systemtheoretische Perspektiven

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Barbara Kuchler, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld
Planung und Zufall. Systemtheoretische Perspektiven
Tagung „Ende der Planbarkeit“, Evangelische Akademie Tutzing 17./18.4.2012
Leitunterscheidungen
Eine kleine Dosis Theorietechnik: Die Systemtheorie arbeitet immer mit
Unterscheidungen, nicht mit Einzelbegriffen, sondern mit Gegensatzpaaren. Zwei
Leitunterscheidungen für diesen Vortrag: Erstens braucht man einen Gegenbegriff zu
Planung; man könnte sagen Unplanbarkeit, aber das wäre zu vage, ich nehme deshalb
einen radikaleren Gegenbegriff: Zufall. Wandelsprozess können entweder geplant
ablaufen oder zufällig, zufallsgesteuert, zufallsabhängig. - Die zweite
Leitunterscheidung ist nicht überraschend: die Unterscheidung System/Umwelt. Das
ist die Basisunterscheidung in der Systemtheorie, und auch hier ist wichtig: Es ist eine
Unterscheidung, System ist nicht nicht ein Einzelbegriff, mit dem man um sich wirft
oder arbeitet, sondern man arbeitet mit einer Unterscheidung von zwei Seiten.
An diese zwei Leitunterscheidungen knüpfen sich auch die zwei Teile meines Vortrags
an: Der erste Teil fragt, welche Konzepte es gibt, um den Wandel von sozialen
Systemen zu denken, wenn man nicht an Planung glaubt. Ich werde hier zwei
Konzepte vorstellen, nämlich Durchwursteln und Evolution. Der zweite Teil fragt,
warum Organisationen nicht aufhören, sich und ihren Wandel zu planen , sich in
ihrem Planungsoptimismus nicht entmutigen lassen, obwohl man wissenschaftlich
Zweifel an Planbarkeit haben kann. Hier werde ich auch wieder zwei Möglichkeiten
vorstellen, die sich an die Unterscheidung System/Umwelt anknüpfen.
Wie kann man den Wandel von sozialen Systemen denken, wenn man nicht an
Planung glaubt?
Durchwursteln
Die erste Option läuft unter dem Namen „Durchwursteln“. Durchwursteln ist ein
Begriff aus der Organisationstheorie – obwohl er auf den ersten Blick nicht so klingt.
Technischer formuliert heißt es: Ein System reagiert auf Änderungen in
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Umweltanforderungen mit inkrementellen Änderungen, d.h. kleine, schrittweise
Änderungen bzw. Anpassungen ad hoc dort, wo Probleme auftreten, - diese führen
aber oft zu Folgeproblemen an anderer Stelle, darauf wird dann wieder ad hoc
reagiert, usw.
Inkrementalismus heißt zunächst noch nicht Zufall, heißt nur Kleinschrittigkeit, keine
Übersicht, kein Mastermind hinter dem Prozess. Zufall kommt dann aber hinein,
insofern der Prozess stark von der Reihenfolge abhängt, in der Probleme auftreten. Je
nachdem, was zuerst passiert, ist dann die Ausgangssituation für weitere Probleme
und Anpassungen eine andere, der Prozess wäre anders gelaufen, wenn andere
Probleme zeitlich früher in Erscheinung getreten wären.
Ähnlich übrigens das „garbage can“ Modell von Organisationen: („garbage can“ =
Mülleimer – ein weiteres respektloses Konzept): Entscheidungen, Entscheider,
Probleme und Lösungen [eigentlich: Energie], alle sind in einem großen Mülleimer,
warten auf ihre Chance, und es hängt u.a. vom Zeitpunkt ab, welche Probleme mit
welchen Lösungen, welche Lösungen mit welchen Entscheidern usw. verkoppelt
werden. Z.B.: Es gibt oft die Lösung vor dem Problem, jemand hat eine Idee, einen
Änderungsvorschlag, und wartet auf ein Problem, bei dem er ihn anbringen kann.
Sie werden aus Praktikerperspektive vermutlich sagen: Dass Wandel oft so abläuft,
das wissen wir schon, dagegen versuchen wir ja mit Planung anzugehen. Das ist das
Problem, was nützt es uns, das mit schönen Begriffen zu beschreiben.
Dagegen würde die Wissenschaft das gar nicht so einseitig negativ sehen.
Inkrementalismus ist nicht schlecht, diese Art des Wandels bzw. der Anpassung ist
hoch flexibel, aufnahmebereit für Komplexität, hat keineswegs nur Nachteile (außer,
dass sie dem Selbstverständnis der Planer widerspricht). Das Konzept ist auch nicht
entwickelt worden, um Organisationen zu diskreditieren, sondern um sie einfach zu
beschreiben, realistisch zu beschreiben, ohne Kritik (nur Kritik an überzogenen
Rationalitätsvorstellungen, aber nicht an der Realität organisationalen Operierens).
Und außerdem ist Inkrementalismus vermutlich in hohem Maß unausweichlich. Sie
können versuchen, zu planen, aber allermindestens müssen Sie „nachsteuern“ – das
ist ein erster Schritt auf dem Weg zum Inkrementalismus. Und vielleicht machen Sie
eine Reform, die zwei Jahre später von der nächsten Reform abgelöst wird, und dann
sind Sie entgültig im Inkrementalismus angekommen – Inkrementalismus der
Reformen, jede Reform versucht die Folgeprobleme der letzten zu beseitigen.
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Evolution
Diese Sache werde ich bei Evolution noch näher vorstellen: dass auch Planungen in
Evolution „kippen“. Evolution ist ein Konzept zunächst aus der Biologie, das aber auf
die Soziologie übertragen werden kann und das Luhmann auch auf Organisationen
anwendet. Ich stelle zunächst die Evolutionstheorie als solche vor und dann die
Anwendung auf Organisationen.
Zufall ist hier ein Zentralkonzept, und zwar Zufall v.a. zwischen Variation und
Selektion, (ev. auch zwischen Selektion und Restabilisierung). Ich stelle zunächst die
Einzelbegriffe vor.
Variation heißt Produktion eines abweichenden Elements. Biologisch: abweichende
genetische Rekombination. Sozial: abweichende Kommunikation, d.h. eine neue Idee,
oder auch nur eine Ablehnung einer alten Idee, ein „Nein“, ein Widerspruch.
Selektion heißt, dass nur manche dieser Neuerungen durchkommen, Erfolg haben,
die meisten werden sofort wieder ausgemerzt, sind unbrauchbar, werden verworfen.
Biologisch: Organismus nicht lebensfähig. Sozial: man sagt „Das ist Quatsch“, „die
Idee ist vollkommen unbrauchbar“, oder ein Nein wird überstimmt, abgeschmettert.
ev. (Restabilisierung heißt, dass dann, wenn eine Änderung positiv seligiert worden
ist, das Gesamtsystem sich auf diese Änderung einstellen muss, es Wechselwirkungen
mit anderen Teilen des Systems gibt. Biologisch: wie ändert sich dadurch die Art
(Mäuse können schneller laufen, oder Mäuse können plötzlich auch auf Bäume
klettern…), inklusive verändertes Verhältnis zu anderen Arten (was bedeutet das für
die Katzen, die sich von den Mäusen ernähren?). Sozial: z.B. das Internet wird
erfunden und hat Erfolg, und viele gesellschaftliche Strukturen müssen sich darauf
einstellen, z.B. in der Politik: Bedingungen der Bildung öffentlicher Meinung sind
andere, oder internationale Politik/Krieg: es gibt die Möglichkeit zu „cyber war“ usw.,
das politische System muss sich auf diese Änderungen einstellen, sie integrieren. )
Diese zwei (oder drei) Elemente sind eben durch Zufall miteinander verbunden, Zufall
ist das Verbindungsglied zwischen den drei Schritten (an den Schnittstellen =
Gedankenstrichen zwischen den Schritten), oder eigentlich besser: als
Trennmechanismus, gerade nicht als Verbindungsglied, sondern als EntBindungsglied, Trennmechanismus. Wichtig vor allem:
Zufall zwischen Variation und Selektion: Die Variation erfolgt „zufällig“, d.h. ohne
Rücksicht auf Chancen der Selektion. Biologisch: Fehler und Mischvorgänge bei der
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genetischen Rekombination, in der Eizelle. Sozial: die Variationen entstehen in einem
Kontext, der nicht sofort der Kontext der Selektion, der Zensur, der Beurteilung sein
darf. z.B. zwei Mitarbeiter einer Organisation entwickeln beim Kaffee, oder in einer
informatlen Situation, eine neue Idee, sie treffen sich zufällig am Kopierer, plauschen,
albern herum, und entwickeln „zufällig“ eine neue Produktidee, oder sagen
„eigentlich müsste der Prozess doch ganz anders organisiert sein...“. Die Selektion
findet dann in einem anderen Kontext statt, z.B. durch Vorgesetzte, in Gremien, in
Komittees… Die meisten der Ideen werden wegseligiert, oder vielleicht schon durch
die Mitarbeiter/Urheber selbst wegseligiert = gar nicht erst weitergegeben.
Evolution = Überschuss an Variationen, „Blubbern“ der Variationen, die zunächst mal
unzensiert stattfinden (in diesem Sinn „zufällig“), und erst später der Selektion
ausgesetzt werden. Die allermeisten Variationen kommen nicht durch, werden
wegseligiert, aber es ist wichtig, dass es einen großen Variationspool gibt.
Zufall zwischen Selektion und Restabilisierung: Das ist nicht ganz so gesichert, würde
heißen: Die Einzelstruktur wird seligiert ohne Rücksicht auf das Gesamtsystem. Ist
insb. für Organisationen nicht sicher, ist aber auch nicht unbedingt nötig, man kommt
auch mit einem Zufalls-Trennungs-Mechanismus aus.
Evolution ist also ein „bottom up“-Konzept, das Gegenteil von Planung: kein
Mastermind, kein gerichteter Prozess, sondern irgendwas passiert, und höchstens
hinterher kann man es als geradlinige, gerichtete, logische Entwicklung darstellen
(vom Einzeller zum Homo sapiens), aber im Prozess selbst gibt es keine Gerichtetheit,
keine „Logik“, keinen Plan. Es hätte auch irgendetwas anderes rauskommen können.
Die Evolutionstheorie würde deshalb als fruchtbare Bedingung für Weiterentwicklung
von Organisationen nicht Planung empfehlen, sondern Bedingungen, die das
Auftreten von zufälligen Variationen fördern: „Große Gebäude mit langen Fluren,
relativ geräumigen und langsamen Liften und wenigen Toiletten zu bauen mit der
Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeiter einander zufällig begegnen ... und so außerhalb
der formalen Organisation Kontaktmöglichkeiten gewinnen“. => keine konventionelle
Vorstellung von Bedingungen des Organisationswandels.
Evolution in Organisationen
Jetzt nochmal zu der Frage von vorhin, aus Praktikerperspektive: Man kann ja sagen,
„Ja, es gibt zufälligen, evolutionären oder inkrementellen Wandel in Organisationen,
aber dagegen gehen wir ja mit Planung an, wir planen, damit das nicht so passiert,
damit wir die Kontrolle über den Prozess haben“.
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Dagegen würde die Evolutionstheorie sagen: „Nein, es ist umgekehrt, die Evolution
setzt sich letztlich durch, ist die Stärkere, Planungsversuche enden letztlich doch in
Evolution, Planung kippt in Evolution“. Evolution frisst Planung auf, könnte man
sagen.
Genauer würde Luhmann sagen: Planung produziert auch nur neue Variationen, die
in den Prozess eingespeist werden, genau weiterbehandelt werden wie andere. Kein
gerichteter, vorhersehbarer Prozess, kein Prozess, der so abläuft, wie geplant.
Warum ist das so, warum haut Planung in komplexen Systemen nicht hin, warum
kippt sie in Evolution? Vier Argumente:
- Komplexität: Das System ist komplex, unübersichtlich, hat teils latente Strukturen –
den Reformern/Planern ist immer nur ein Teil bekannt. Sie übersehen Rückwirkungen
auf entfernte Teile des Systems, oder der Umwelt, und erzeugen deshalb ständig
unerwartete Nebenfolgen. Diese Erfahrung hat jeder schon gemacht, aber man zieht
daraus typischerweise keine klaren Schlüsse, sondern reagiert entweder mit Unteroder mit Übergeneralisierung: entweder „Person x hat einen Fehler gemacht, hat
nicht weit genug gedacht“, oder „So ist die Welt …“ = Fatalismus,
Übergeneralisierung.
- Informale Strukturen: Was insbesondere oft übersehen wird, sind informale
Strukturen, weil nicht sichtbar, nicht legitim, nicht in jedem Kontext und vor jeder
Öffentlichkeit ansprechbar. Bsp. Bensman/Gerver, Flugzeugfabrik: Wenn die
informalen Strukturen durch Qualitätsmanagement beseitigt worden wären, hätte
das System ein Problem. (Deshalb Ansatz mancher Unternehmensberater, auch
informale, nicht voll kommunizierbare Strukturen einzubeziehen – Metaplan, die
Firma, für die Stefan Kühl arbeitet, der diesen Vortrag eigentlich hätte halten sollen).
- Selbstbeobachtung: Soziale Systeme beobachten sich selbst, und ein System, das
sich selbst beobachtet, macht lineare, berechenbare Einwirkung unmöglich. Vielleicht
reagiert es gerade deshalb anders, weil der geplante Eingriff bekannt wird, als solcher
beobachtet wird, und dann bekämpft wird, zu konterkarieren versucht wird, oder
man vorweganpassend darauf reagiert. = Konzept der „self-defeating prophecy“: Eine
Prophezeiung tritt deshalb nicht ein, weil sie gemacht worden ist und bekannt
geworden ist, z.B. Marx: Revolution ist möglicherweise deshalb nicht eingetreten,
weil er sie vorhergesagt hat, weil deshalb Gegenmaßnahmen bürgerlicher
Regierungen getroffen wurden usw. Oder ein geplanter Eingriff bewirkt nicht das,
was er bewirken sollte, weil er als solcher, als Eingriff , beobachtet wird. – Dies auch
Problem von Wirtschaftssteuerung: …– Auch z.B. Problem von Planwirtschaften: Alle
erwarten, dass es an den angeforderten Mengen Abzüge geben wird, deshalb fordern
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alle schon mal prophylaktisch mehr an, was zu vollkommen unrealistischen Angaben
führt und dazu, dass die Abzüge immer größer ausfallen müssen…
- Konflikte: Die Planung von Reformen generiert Konflikte. Es gibt immer Verlierer, die
dann dagegen sind, Widerstand organisieren. Luhmann: Status quo ist
„Pazifikationsformel der unterschiedlichsten Interessen ..., Reformprojekte lösen
diesen interessenpluralen Frieden wieder auf und revitalisieren die Differenzen."
Aber auch Interessen und Fraktionen, die vorher gar nicht da sind, können durch
Reformen erst generiert werden. Die Reform erzeugt viel Wirbel, Aufmerksamkeit,
hat hohe Sichtbarkeit, jeder redet darüber, deshalb muss sich jeder dazu
positionieren, und es werden vielleicht Interessen oder Positionen erfunden, die
vorher gar nicht da waren. Reform erzeugt Unsicherheit, und das führt erst mal zu
Einigelung, defensiver Haltung.
=> All das führt dazu, dass es unwahrscheinlich ist, dass eine geplante Reform, ein
geplanter Wandel so abläuft, wie er geplant ist. Statt dessen passiert irgendetwas
anderes, technisch formuliert: Einspeisen von Reform-/Planungsbemühungen in
Evolutionsprozess, als Variation. „Planung wird durch Evolution deformiert.“
Das muss nicht heißen, dass Planung keine positiven Effekte hat, nur hat sie oft nicht
die Effekte, die sie anvisiert hatte, und sie darf nicht danach beurteilt werden, ob sie
ihre Ziele erreicht. Vielleicht ist sie erfolgreich, auf irgendwelchen anderen Schienen.
Überleitung zum zweiten Teil - Problemschritt
All dies kann man seit langer Zeit wissen – das Konzept des Durchwurstelns ist ein
halbes Jahrhundert alt, das Konzept der sozialen Evolution etwas jünger, aber auch
nicht gerade taufrisch (aber in der Anwendung auf Organisation schon relativ jung).
Und es gibt ja auch noch andere Varianten von Planungsskepsis, nicht nur diese
beiden, und das alles ist seit langem bekannt und wissenschaftlich beschrieben.
Wenn das so ist, muss man aber fragen: Warum hören dann Organisationen trotzdem
nicht auf, ihren Wandel zu planen? Warum lassen sie sich in ihrem
Planungsoptimismus nicht entmutigen, obwohl man wissenschaftlich gesehen jede
Menge Zweifel daran haben kann?
Man könnte natürlich sagen: Die Leute sind eben dumm, sie lesen unsere Texte nicht,
oder sie verstehen sie nicht, und deshalb denken sie „Wandel ist planbar“, obwohl
wir es wissenschaftlich schon lange besser wissen. Man könnte das dann mit
wissenschaftlicher Arroganz und einem Achselzucken abtun. Aber soziologisch reicht
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das nicht aus, soziologisch muss man noch einen Schritt weiterfragen, bessere
Antworten finden – Dummheit ist generell eine schlechte Erklärung für irgendetwas.
Ich möchte Ihnen zwei mögliche Erklärungen vorstellen, die sich in die
Unterscheidung System/Umwelt einordnen lassen, die ich Ihnen vorher präsentiert
habe. Wir können uns die Organisation als ein System denken – System in einer
Umwelt. Im System kann es dann wieder Teilsystembildungen geben, also dasselbe
nochmal. Ich habe nun zwei Antworten auf die Frage, warum Organisationen nicht
aufhören zu planen, von denen die eine vom Charakter eines spezifischen Systems
ausgeht, nämlich eines Teilsystems der Organisation , und eine, die vom Charakter
der Umwelt ausgeht.
Warum planen Organisationen ihren Wandel, obwohl Planbarkeit zweifelhaft ist?
Beschäftigungsprogramm für Systemspitze
Die erste Antwort lautet, pointiert gesagt: Die Planung von Wandel, d.h. die
Durchführung von Reformen, ist ein Beschäftigungsprogramm für die Systemspitze.
Die Spitze – das Management von Unternehmen, das Rektorat von Universitäten, die
oberen Ebenen von Verwaltungen – ist damit beschäftigt, ihr System zu optimieren,
und dazu gehört auch, dass man sich gelegentlich mehr oder weniger radikale Pläne
für die Neuorganisation des Ganzen überlegt. Man kann es den Managern nicht
übelnehmen, dass sie planen, dass sie reformieren, weil das nun mal ihr Job ist.
Diese Antwort gehört in den Kontext einer Theorie der lokalen Rationalitäten. Idee
ist, dass verschiedene Teilsysteme einer Organisation jeweils verschiedene
Rationalitäten haben, dass sich die Organisation also nicht komplett rational und
widerspruchsfrei durchorganisieren lässt, sondern sich je nach Teilstelle
verschiedene, auch widersprüchliche, konfliktreiche Rationalitäten ausbilden. Z.B.
orientiert man sich im produktiven Kern eines Unternehmens an Routinen und
eingefahrenen Gewohnheiten, die aus der Perspektive höherer Stellen vielleicht
unerwünscht scheinen, aber für die Aufrechterhaltung der Produktion sinnvoll sind,
keineswegs nur Ausdruck von Faulheit und Lernunwilligkeit der Mitarbeiter. In der
Vertriebs- und Werbeabteilung orientiert man sich an Kunden, Hochglanzprospekten,
ökologischer und sozialer Correktness usw. , und die verschiedenen lokalen
Rationalitäten passen keineswegs widerspruchslos und problemslos zusammen, sie
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widersprechen sich, geben Anlass zu Konflikten, aber jede ist für sich und an ihrer
Stelle ein sinnvoller und notwendiger Teil des Ganzen.
Die Perspektive des Managements, der Organisationsspitze, ist auch nur eine solche
lokale Rationalität unter vielen. Die Spitze denkt also nicht etwa für das Ganze,
vertritt nicht umstandslos das Ganze, sondern denkt aus ihrer eigenen Position im
System. Und dazu gehört u.a. die Vorstellung, das System lasse sich planen,
umplanen, reformieren. Deshalb entwirft die Spitze regelmäßig Reformen, für die
unten gar keine Notwendigkeit gesehen wird, und deshalb denkt die Spitze, eine
Reform sei mehr oder weniger geplant und mit planbaren Ergebnissen möglich, die
dann in der Umsetzung, in der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Teilen eines
komplexen Systemes, irgendwie aus dem Ruder läuft und unvorhergesehene Effekte
erzielt.
Eine etwas andere Variante davon sind externe Berater. Hier sofort ein, dass es ihr
Job und Lebensgrundlage ist, von Wandel und planbarem Wandel zu reden. Das ist
eine besondere lokale Rationalität (ausgelagerte, eigene Systeme/Organisationen
bildende Rationalität). Die Überzeugung von Beratern, dass sie einen Wandelsprozess
beherrschen und planen können, wird auch dadurch verstärkt, dass sie selten die
Organisationen, für die sie mal gearbeitet haben, später weiterverfolgen, sie ziehen
ihr Projekt durch und verschwinden dann, erleben nicht mit, wie ihre Planung
deformiert wird, oder in Evolution kippt, andere Ergebnisse hervorbringt.
Das ist ein bisschen vergleichbar mit der Position der Politik in der Gesellschaft. Die
Politik hat ebenfalls eins ihrer Hauptgeschäfte darin, andere gesellschaftliche
Bereiche zu reformieren (neben akuter Krisenbewältigung): das Bildungssystem und
das Gesundheitssystem und die Bundeswehr usw. usf. Auch hier fühlen sich die
anderen Bereiche oft mehr belästigt durch die Reformbemühungen, sehen entweder
das Problem gar nicht, auf das reagiert wird (z.B. PISA), oder finden jedenfalls die
Reformentwürfe unbrauchbar und unumsetzbar. Und trotzdem bleibt der Politik
nichts anderes übrig, als weiterzureformieren, dabei von einem Problem, Akzeptanzund Umsetzungsproblem ins nächste zu stolpern, weil sie anders ihren spezifischen
Platz in der Gesellschaft nicht ausfüllen kann.
Dabei hat es die Politik in gewisser Weise noch schwerer als die Spitze einer
Organisation, weil sie in ganz andere Bereiche hineinregiert, die einer ganz anderen
Logik folgen (Bildung, Wissenschaft usw.), noch stärker anders „ticken“ als sie, als
verschiedene Teile einer Organisation verschieden „ticken“, und weil sie auch –
jedenfalls nach Luhmann – gar keine hierarchisch übergeordnete Position zur
Verfügung hat, sondern gleichrangig neben den anderen Bereichen steht. Im
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Unterschied dazu ist eine Organisationsspitze doch unfraglich die Spitze einer
Hierarchie, und sie ist relativ gesehen näher an den von ihr zu „regierenden“ und
reformierenden Bereichen. Aber trotzdem kann man die Position der
Organisationsspitze vergleichen mit der Position der Politik: die Position des ewigen
Reformierers, berufsmäßigen Reformierers, der anderswo auf wenig Verständnis
stößt, und der sich die Sache „naturgemäß“ oder qua Beruf, einfacher vorstellt, als sie
im Endeffekt ist.
Legitimitätssteigerung gegenüber der Umwelt
Eine andere Antwort auf die Frage, warum Organisationen permanent ihren Wandel
planen, verweist auf die Umwelt des Systems. Organisationen müssen nicht nur in
sich funktionieren, und sie müssen auch nicht nur einen „harten Output“ (Produkt
oder Dienstleistung) erzeugen und profitabel verkaufen, sondern sie müssen auch
eine Darstellung abliefern, dafür sorgen, dass sie nach außen einen guten Eindruck
machen, dass sie „up to date“ und „smart“ und modern und erfolgversprechend
wirken. Man nennt das im Soziologen-Jargon „Legitimität“: Legitimität heißt
Übereinstimmung mit Erwartungen und Standards der Umwelt, so dass man der
Umwelt „gefällt“ und sie den Eindruck hat „das ist ein guter, smarter,
erfolgversprechender, politisch korrekter usw. Akteur“.
Man kann auch von „impression management“ reden, Eindrucksmanagement. Das
spielt sich im wesentlichen auf den Websites und Hochglanzprospekten ab, nicht im
täglichen Leben in der Organisation. Deshalb kann man, noch pointierter von
„Fassaden“ oder „Schaufensterdekoration“ sprechen. Der Umwelt wird etwas
präsentiert, was vielleicht nicht direkt gelogen ist, aber was nur wenig zu tun hat mit
den „harten“ Prozessen (Produktionsprozessen), davon relativ entkoppelt ist, eine
Ebene der Außendarstellung ist.
Es gibt ganze Theorien, die auf diese Legitimität der Organisation gegenüber ihrer
Umwelt abstellen, v.a. den Neoinstitutionalismus, der zeigt, dass Organisationen sich
an Standards der Umwelt anpassen (wechselnde Moden, „Flexibilität“, „Exzellenz“
usw., oder auch Frauenförderung, ökologische Correctness usw.). Das macht einen
guten Eindruck bei Investoren oder Kunden, das sorgt für Unterstützung, – und zwar
auch dann, wenn es wenig mit der alltäglichen Realität in der Organisation zu tun hat.
Deshalb „Fassade“, „Schaufensterdekoration“.
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Ebenso Staaten: übernehmen die global standardisierten Listen von
Regierungsinstitutionen, verfassungsmäßigen Rechten usw., auch im wesentlichen als
Schaufensterdeko, um zu demonstrieren „wir sind auch ein richtiger Staat“, auch
wenn sie damit praktisch gar nichts anfangen können, z.b. die verfassungsmäßigen
Rechte der Herrschaft der herrschenden Clique im Weg stehen, oder die Ministerien
einen Bereich regulieren (Wissenschaftsministerium), der faktisch kaum vorhanden
ist – aber es ist notwendig, um als „ordentlicher Staat“ dazustehen, auch wenn es
ansonsten nur Kosten und keinen erkennbaren Nutzen erzeugt.
Man unterscheidet also die Ebene des „faktischen“, „harten“ Operierens der
Organisation und der „weichen“, darstellungsmäßigen, „impression management“,
und wichtig ist, dass man sich das gute Abschneiden auf der zweiten Ebene u.U. in
terms von „harten“ outputs etwas kosten lässt. D.h. man folgt nicht nur
irgendwelchen externen Standards, wenn das das operative Ergebnis verbessert,
sondern man ist ggf. bereit, Geld in die Hand zu nehmen, Berater zu engagieren, oder
eigene Stellen und Stäbe einzurichten, um eine günstige Außendarstellung zu
erreichen, z.B. irgendeinen Preis als „innovatives“ Unternehmen zu gewinnen, oder
als „exzellente Uni“, oder als „moderne, junge, dynamische“ Organisation
dazustehen, auch wenn das ansonsten, auf einer harten, faktenmäßigen,
nachweisbaren Ebene, keinerlei positiven Effekt auf die performance der
Organisation hat.
Die Fassadenebene wird natürlich gerechtfertigt damit, dass man sagt „das nützt der
Effizienz“, d.h. dem „harten Output“ aber soziologisch wissen wir, dass das oft nicht
stimmt, dass es vielmehr oft etwas kosten kann oder jedenfalls indifferent ist, keinen
Effekt auf die „faktische“ Ebene hat, man spricht von loser Kopplung.
Zu diesem Eindrucksmanagement gegenüber der Umwelt gehört auch oft die
regelmäßige Durchführung von Reformen, die Planung des eigenen Wandels. Eine
Organisation, die sich nicht reformiert, gilt schnell als alt, starr, „verknöchert“, „von
gestern“, „verschläft die Zeichen der Zeit“ … Man muss der Welt signalisieren, dass
man mit der Zeit geht, dass man dynamisch ist usw., um z.B. Investoren zu
beeindrucken, oder im Ranking der Universitäten gut abzuschneiden, oder was
immer. Eine Organisation, die eine angesehene (= legitime) Beratungsfirma ins Haus
holt, gewinnt dadurch automatisch an Legitimität, egal was sonst dabei
herauskommt.
Oder eine Organisation, die signalisieren würde: „wir planen nicht, wir reformieren
uns nicht, wir evoluieren“ – die würde schnell Außenunterstützung, Ansehen
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verlieren. (Und man könnte die hohen Gehälter des Managements nicht mehr
rechtfertigen)
=> Unterschied im Kontext: Im wissenschaftlichen Kontext herrscht Planungsskepsis,
aber für die Organisation in ihrer Umwelt ist Planungsoptimismus angemessen.
Soviel können wir auch wissenschaftlich wieder sehen.
Fazit
Diese Außenbeobachtung aus der Soziologie /Wissenschaft ist eine ernüchternde
oder vielleicht auch unbrauchbare Perspektive für die Praxis. Heißt das: Man sollte
Planung lieber lassen?
Luhmann würde sagen: Nein, das wäre zu radikal, das wäre der Position der
Systemspitze auch nicht angemessen. Planung muss auch nicht unbedingt negativ
sein, sie kann viele positive Effekte haben: (1) Legitimität, oder (2) neue Variationen,
oder (3) Produktion von Selbstbeobachtungsmöglichkeiten: das System lernt etwas
über sich selbst, was es sonst nicht gelernt hätte, weiß mehr über sich selbst als
vorher (z.B. über informale Strukturen, Grenzen der Änderbarkeit, Interessen und
Fraktionen…). Aufgeben sollte man nur die Vorstellung, dass Planung danach
beurteilt werden sollte, ob sie ihre Ziele erreicht, und dass sie dazu da ist, eins zu eins
umgesetzt zu werden.
Man kann natürlich auch nicht völlig ausschließen, dass geplanter Wandel dem Zweck
dient, der propagiert wird: eine Anpassung an schwierige Umweltlagen zu erreichen,
Krisen zu bewältigen… = Vorstellung der „objektiven“ Notwendigkeit des Wandels
bzw. der Reform, um zu überleben oder jedenfalls erfolgreich zu sein. Aber Luhmann
würde sagen: Gerade Organisatinoen mit echten Überlebensproblemen können sich
Innovationen und Risiken kaum leisten und halten deshalb eher an bewährten
Strukturen fest. Unternehmensberater werden eher von florierenden Firmen
beauftragt, die es „noch besser“ machen wollen, bzw. die an ihrem Erscheinungsbild,
ihrem impression management feilen wollen. Die Vorstellung ist also meistens naiv.
Vielleicht versöhnt Sie das wieder ein bisschen – sowohl mit der Perspektive der
Soziologie, als auch mit dem Alltag von Wandel in Ihrer Organisation.
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