24 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen 2.1.8 Satz Der Grenzwert einer konvergenten Folge ist eindeutig bestimmt. Beweis. Nehmen wir an, eine Folge (an )n∈N konvergiere sowohl gegen a, als auch gegen b, und a < b. Ist ǫ > 0 klein genug, so ist a + ǫ < b − ǫ. Genauer gilt dies, wenn . Wählen wir, um sicher zu gehen, zum Beispiel ǫ = b−a . Da limn→∞ an = a, ǫ < b−a 2 4 erfüllen fast alle Folgenglieder an bis auf endlich viele Ausnahmen die Ungleichung |an − a| < ǫ. Nun ist |an − a| < ǫ ⇔ −ǫ < an − a < ǫ ⇔ a − ǫ < an < a + ǫ . Das Entsprechende gilt auch für b, das heisst b − ǫ < an < b + ǫ für fast alle n. Weil ausserdem a + ǫ < b − ǫ, folgt daraus an < an für fast alle n. Das ist aber unmöglich. q.e.d. Die Grenzwertbildung ist mit den Grundrechenarten verträglich. Genauer gilt folgendes: 2.1.9 Satz Sind (an )n∈N , (bn )n∈N konvergente Folgen, so konvergieren auch die Folgen, gebildet aus den Summen, den Differenzen und den Produkten von an und bn , und lim (an ± bn ) = ( lim an ) ± ( lim bn ) und n→∞ n→∞ n→∞ lim (an · bn ) = ( lim an ) · ( lim bn ) . n→∞ n→∞ n→∞ Ist limn→∞ bn 6= 0, so ist bn 6= 0 für fast alle n und an limn→∞ an lim = . n→∞ bn limn→∞ bn Auf den Beweis dieser Grenzwertrechenregeln wollen wir verzichten. Stattdessen hier einige Beispiele: 1 1 = lim ( )k = 0 und k n→∞ n n→∞ n • lim 1 1 lim √ k = lim ( √ )k = 0 für alle k ∈ N. n→∞ n→∞ n n 1 + 3 n12 + 2 n13 1 n3 + 3n + 2 = . = lim 1 3 n→∞ n→∞ 2n − 1 2 2 − n3 • lim √ 5 3 + 4 √1n3 − 3 n + 4n − 1 • lim √ 5 √ = lim n→∞ n→∞ 1 − n12 n − n 1 √ 5 n = 3. Bei Quotienten von Nullfolgen kann sozusagen alles passieren, deshalb ist dort Vorsicht angebracht. 2.1.10 Beispiele • Sei an = 1 n 2/n = 2. • limn→∞ 1/(n+1) und bn = 1 . n2 Dann ist limn→∞ bn an = limn→∞ n n2 = limn→∞ 1 n = 0. 2.1. Folgen und Grenzwerte 25 2.1.11 Definition Man sagt, eine Folge positiver Zahlen (an )n∈N konvergiere gegen unendlich, wenn die Folge (1/an )n∈N gegen 0 konvergiert: lim an = ∞ n→∞ ⇔ lim 1/an = 0 . n→∞ Das bedeutet, dass jede vorgegebene Schranke M > 0 von allen Folgengliedern an bis auf endliche viele Ausnahmen übertroffen wird. Wiederum kann bei Quotienten solcher gegen unendlich gehenden Folgen alles passieren. 2.1.12 Beispiele • Offenbar ist limn→∞ 2n = limn→∞ n! = ∞ . Aber die Fakultäten wachsen viel schneller, und es gilt 2n 2 = lim = 0. n→∞ n! n→∞ (n − 1)! lim • Ebenso ist limn→∞ 2n = limn→∞ n = ∞ . Auch die Zweierpotenzen wachsen viel schneller wachsen als die natürlichen Zahlen. Genauer kann man durch n Induktion zeigen, dass 2n > n für n ≥ 5. Also ist 2n = ∞. n→∞ n lim • Schliesslich ist √ 9n = 3. lim √ n→∞ n+1 Die Grenzwertbildung ist auch mit der Relation ≤ verträglich. 2.1.13 Satz Sind (an )n∈N , (bn )n∈N konvergente Folgen mit an ≤ bn für alle n ∈ N, so folgt lim an ≤ lim bn . n→∞ n→∞ Diese Aussage wird allerdings falsch, wenn wir ≤ durch < ersetzen. Zum Beispiel ist 1 − n1 < 1 + n1 für alle n, aber limn→∞ (1 − n1 ) = 1 = limn→∞ (1 + n1 ). Beweis. Beweisen wir die Aussage des Satzes durch Widerspruch. Angenommen, der Grenzwert a der Folge an wäre echt grösser als der Grenzwert b der Folge bn . Setzen . Für dies ǫ ist sicher b + ǫ < a − ǫ. Für genügend grosse n müsste dann wir ǫ := a−b 4 gelten: bn < b + ǫ < a − ǫ < an . Dies ist aber ein Widerspruch zur Voraussetzung. q.e.d. Ein sehr nützliches Kriterium für die Konvergenz einer Folge liefert der folgende Vergleichssatz: 2.1.14 Satz Seien (an )n∈N , (bn )n∈N , (cn )n∈N drei Folgen mit an ≤ bn ≤ cn für alle n ∈ N. Gilt limn→∞ an = limn→∞ cn = a, so folgt limn→∞ bn = a. 26 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen Beweis. Zu ǫ > 0 wählen wir einen Index n0 ∈ N, so dass sowohl a−ǫ ≤ an ≤ a+ǫ als auch a−ǫ ≤ cn ≤ a+ ǫ für alle n ≥ n0 gilt. Daraus folgt a−ǫ ≤ an ≤ bn ≤ cn ≤ a+ ǫ und daher |bn − a| < ǫ für alle n ≥ n0 . Damit ist die Konvergenz der Folge (bn ) gegen a gezeigt. q.e.d. Wir können diesen Satz zum Beispiel anwenden, um das Wachstum von Fakultäten und Zweierpotenzen in Relation zu setzen. Mit vollständiger Induktion kann man zeigen, dass gilt: 0≤ 2n 4 ≤ n! n 2n = 0. n→∞ n! für alle n ∈ N und daher lim Eine weitere wichtige Anwendung ist die auf Potenzfolgen: 2.1.15 Satz Sei q ∈ R. Ist q > 1, so gilt limn→∞ q n = ∞. Ist |q| < 1, so gilt limn→∞ q n = 0. Beweis. Nehmen wir zuerst an, dass q > 1. Dann liefert die Bernoullische Ungleichung: q n = (1 + (q − 1))n ≥ 1 + n(q − 1) . Weil limn→∞ (1 + n(q − 1)) = ∞, folgt nun sofort limn→∞ q n = ∞. Sei jetzt |q| < 1. Ist q = 0, ist nichts zu zeigen. Ist q 6= 0, so ist a = |1/q| > 1 und daher wie eben gezeigt limn→∞ an = ∞. Das bedeutet nach Definition gerade, limn→∞ 1/an = limn→∞ |q|n = 0. Also ist auch limn→∞ q n = 0. q.e.d. Ein nützliches Konvergenzkriterium ist das folgende Monotoniekriterium: 2.1.16 Satz Eine monoton steigende (bzw. fallende), nach oben (bzw. unten) beschränkte Folge konvergiert gegen ihr Supremum (bzw. Infimum). Beweis. Sei (an )n∈N monoton wachsend und nach oben beschränkt, das heisst an ≤ an+1 ≤ M für alle n und eine feste reelle Zahl M. Dann hat die Folge eine kleinste obere Schranke a := sup{an | n ∈ N}. Sei ǫ > 0. Weil a − ǫ keine obere Schranke für die Folge (an ) ist, gibt es einen Index n0 ∈ N mit an0 > a − ǫ. Aus der Monotonie folgt: a − ǫ < an0 ≤ an ≤ a < a + ǫ und damit |an − a| < ǫ für alle n ≥ n0 . q.e.d. Wie schon erwähnt, können wir jede Dezimalentwicklung einer positiven Zahl a als eine solche monoton wachsende Folge auffassen, die gegen a konvergiert. Hier ist ein weiteres Beispiel für eine monoton wachsende, beschränkte Folge: n X 1 ist monoton steigend 2.1.17 Bemerkung Die Folge der Teilsummen sn := k2 k=1 n X 1 und durch 2 nach oben beschränkt, also existiert der Grenzwert lim . n→∞ k2 k=1 2.1. Folgen und Grenzwerte 27 Beweis. Durch vollständige Induktion kann man zeigen (siehe Übungsaufgabe): n X 1 1 ≤ 2 − < 2 für alle n ∈ N. 2 k n k=1 Also ist die Teilsummenfolge wie behauptet nach oben beschränkt. Ausserdem ist die Folge streng monoton wachsend, da k12 > 0 ist für alle k ∈ N. q.e.d. Euler hat diese unendliche Reihe untersucht und festgestellt: ∞ X 1 π2 = . 2 k 6 k=1 Die Berechnung dieses Grenzwertes ist aber nicht einfach und muss zunächst auf später verschoben werden. 2.1.18 Bemerkung Die harmonische Reihe: 1+ 1 1 1 + +···+ +··· 2 3 n hat keinen endlichen Grenzwert. Die Folge der Teilsummen sn := über alle Schranken hinaus. Pn 1 k=1 k wächst Beweis. Um das einzusehen, fassen wir folgende Stammbrüche jeweils zusammen und schätzen nach unten ab: 1 + 41 3 1 + · · · + 81 5 1 1 + · · · + 16 9 ≥ ≥ ≥ .. . 2 = 21 4 4 = 21 8 8 = 21 16 Pn Daraus folgt s2n = 2k=1 k1 ≥ 1 + n· 21 für alle n. Also kann die Folge der Teilsummen der harmonischen Reihe nicht nach oben beschränkt sein. q.e.d. Für rekursiv definierte Folgen, die monoton wachsen und beschränkt sind, kann man den Grenzwert mithilfe der Rekursion konkreter bestimmen. Hierfür ein Beispiel. 2.1.19 Beispiel Die folgende rekursiv definierte Folge konvergiert gegen 2: √ √ a1 := 2, an+1 := 2 + an für n ∈ N. Beweis. Durch vollständige Induktion zeigen wir zunächst: an < an+1 < 2 ∀n ∈ N. p √ √ √ n = 1: zu zeigen ist 2 < 2 + 2 < 2. Das ist äquivalent zu 2 < 2 + 2 < 4, und also offensichtlich richtig. 28 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen √ 2 + an < 2. Daraus n → n√+ 1: DiepInduktionsbehauptung für n lautet a < n √ √ folgt: 2 + an < 2 + 2 + an < 2 + 2 = 2. Das ist bereits die Behauptung für n + 1. Also ist die Folge monoton wachsend und nach oben beschränkt und hat nach dem Monotoniekriterium einen Grenzwert, etwa a. Aus der Rekursion folgt a2 = limn→∞ a2n+1 = limn→∞ √ (2 + an ) = 2 + a, das bedeutet a = 2 oder a = −1. Weil ausserdem a ≥ a1 = 2 sein muss, erhalten wir a = 2. q.e.d. Wir können nun auch eine Definition der Eulerschen Zahl e angeben. 2.1.20 Satz Die Folge der Zahlen an := (1 + n1 )n (n ∈ N) ist monoton wachsend, die Folge der Zahlen bn := (1 + n1 )n+1 (n ∈ N) ist monoton fallend und es gilt: 1 n 1 ) ≤ (1 + )n+1 ≤ 4 für alle n ∈ N. n n Die Folgen (an ) und (bn ) sind konvergent und haben denselben Grenzwert, den man als die Eulersche Zahl e bezeichnet. 2 ≤ (1 + Die Folge der an lässt sich im Zusammenhang mit Zinseszinsrechnung folgendermassen interpretieren. Nehmen wir an, ein Kapital K werde während einer bestimmten Zinsperiode T zu 100% verzinst. Dann wird das Kapital nach Ablauf der Zeit T verdoppelt. Zahlt man stattdessen aber bereits nach der Hälfte der Zeit T den halben Zins aus und verzinst den Zwischenbetrag von K ·(1+ 12 ) nach Ablauf des gesamten Zeitraums nochmals mit 50% Zins, beträgt das Kapital dann insgesamt K(1 + 12 )(1 + 12 ) = K · 2, 25. Unterteilt man den Zeitraum T noch weiter in n Abschnitte (n ∈ N) und wird das jeweilige Zwischenkapital am Ende jedes Teilabschnitts zu einem Zinssatz von 100 % verzinst, so beträgt das Kapital am Ende K · (1 + n1 )n . Der Grenzwert e = n limn→∞ (1 + n1 )n gibt also an, um welchen Faktor sich ein Kapital bei kontinuierlicher Verzinsung vergrössern würde. Auch die Folge der Zahlen bn hat etwas mit Zinseszins zu tun. Wenn man ein Kapital bei einer Einteilung der Gesamtzeit in n Abschnitte bereits zu Beginn der Zeit erstmals verzinst und zusätzlich nach Ablauf jedes einzelnen Abschnitts, insgesamt also (n + 1)-mal, und dabei jeweils den Zinssatz 100 verwendet, beträgt das n Kapital einschliesslich Zinseszins nach Ablauf der Gesamtzeit K · (1 + n1 )n+1 . Beweis des Satzes: Nehmen wir an, die Monotonie der Folgen (an ) und (bn ) sei gezeigt. Dann ergeben sich die behaupteten Schranken durch Einsetzen von n = 1. Die mittlere Ungleichung folgt so: 1 1 1 1 (1 + )n+1 = (1 + )n · (1 + ) > (1 + )n . n n n n Also ist die Folge (an ) durch 4 nach oben beschränkt und daher konvergent. Aus den Grenzwertrechenregeln folgt jetzt 1 1 lim bn = lim (1 + )n+1 = lim an · lim (1 + ) = lim an . n→∞ n→∞ n→∞ n→∞ n→∞ n n Der Beweis der Monotonie ist raffinierter, und wir verzichten hier darauf. q.e.d. 2.2. Funktionen 2.2 29 Funktionen Ein zentraler Begriff der Mathematik ist der Begriff der Abbildung oder Funktion, und dieses Konzept taucht in den verschiedensten Zusammenhängen auf. Wir haben den Begriff bereits gebraucht, um die Abzählbarkeit definieren zu können. Jetzt werden wir reellwertige Funktionen in einer reellen Variablen genauer unter die Lupe nehmen. Darunter versteht man Funktionen der Form f : D → W , wobei der Definitionsbereich D und die Wertemenge W jeweils Teilmengen von R sind. Häufig verzichtet man auch auf die Angabe von W . Eine solche Funktion können wir bekanntlich in einem zweidimensionalen kartesischen Koordinatensystem graphisch darstellen. Der Graph der Funktion f ist definiert als Graph(f ) := {(x, f (x) | x ∈ D} ⊂ R2 . Man trägt also jeweils zu x ∈ D den Punkt mit den Koordinaten (x, f (x)) in das Koordinatensystem ein. 2.2.1 Definition Eine Funktion f : D → W (D, W ⊂ R) heisst streng monoton steigend auf M ⊂ D, falls f (x1 ) < f (x2 ) für alle x1 < x2 , xi ∈ M, und f heisst streng monoton fallend , falls umgekehrt f (x1 ) > f (x2 ) für alle x1 < x2 , xi ∈ M. Sei zum Beispiel f − : R≤0 → R≥0 , x 7→ x2 die Funktion, die durch Einschänkung der Parabelfunktion auf negative Zahlen (oder Null) entsteht, und f + : R≥0 → R≥0 , x 7→ x2 , die Einschränkung auf nichtnegative Zahlen. Dann ist f − streng monoton fallend, und f + streng monoton steigend. Beobachtung: Ist eine Funktion f : D → R streng monoton steigend (oder fallend) auf D, so ist sie injektiv , das heisst jeder Zahlenwert wird von der Funktion höchstens an einer Stelle angenommen. 2.2.2 Satz Eine Funktion f : D → W ist genau dann bijektiv (also eine 1-1-Zuordnung), wenn f umkehrbar ist. Das bedeutet, es gibt eine Funktion g: W → D, die sogenannte Umkehrfunktion von f , mit der Eigenschaft, dass g(f (x)) = x für alle x ∈ D und f (g(y)) = y für alle y ∈ W . Sind D, W ⊂ R, so erhält man den Graphen von g durch Spiegelung des Graphen von f an der Winkelhalbierenden, das heisst der Geraden, definiert durch y = x in R2 . 2.2.3 Beispiel Sei D = R \ {− 21 }, W = R \ {0} und f : D → W , definiert durch 1 f (x) = 2x+1 . Diese Funktion ist bijektiv. Der Graph von f ist eine Hyperbel mit Asymptoten bei x = − 21 und y = 0. Durch Spiegelung an der Winkelhalbierenden erhalten wir wieder eine Hyperbel, diesmal mit Asymptoten bei y = − 12 und x = 0. Um die Umkehrfunktion g: W → D von f genauer zu bestimmen, setzen wir f (x) = 1 = y und lösen nach x auf. Das führt auf die Beziehung x = 1−y , und wir 2x+1 2y 1−y erhalten g(y) = 2y . Nach Umbenennung der Variablen wird daraus die Vorschrift . g(x) = 1−x 2x 30 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen Ist eine Funktion f : D → R auf einem bestimmten Teilbereich D1 ⊂ D des Definitionsbereiches monoton steigend (oder fallend), so können wir f zumindest auf D1 umkehren. Denn durch Einschränkung erhalten wir eine bijektive Funktion f1 : D1 → W1 := {f (x) | x ∈ D1 } , gegeben durch f1 (x) = f (x) für alle x ∈ D1 , und können nun die dazugehörige Umkehrfunktion bilden g1 : W1 → D1 . Auf diese Weise kann man n-te Wurzeln ziehen oder die trigonometrischen Funktionen jeweils auf passenden Teilbereichen umkehren. 2.2.4 Beispiele • Sei n ∈ N gerade. Die Funktion f : R → R, x → xn , ist auf dem Teilbereich D1 := R≥0 monoton steigend, und nimmt dort als Werte alle reellen Zahlen ≥ 0 an. Bilden wir die dazugehörige Umkehrfunktion, erhalten wir die n-te Wurzelfunktion √ g: R≥0 → R≥0 , x 7→ n x (n gerade). • Für ungerade n ∈ N ist die Funktion f : R → R, x → xn sogar selbst bijektiv, die Wurzelfunktion ist hier also auch für negative Zahlen definiert: √ g: R → R, x 7→ n x (n ungerade). • Die Tangensfunktion ist gegeben durch tan(x) = sin(x) . cos(x) Sie ist definiert für alle x ∈ R mit cos(x) 6= 0, das heisst für x 6= (2n + 1) π2 (für alle n ∈ Z). Auf dem offenen Intervall (− π2 , π2 ) ist die Tangensfunktion monoton steigend, und nimmt dort als Werte alle reellen Zahlen an. Die entsprechende Umkehrfunktion wird als Arcus Tangens bezeichnet: π π arctan: R → (− , ) . 2 2 2.3 Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit Sei jetzt f eine reellwertige Funktion, definiert auf dem Definitionsbereich D. Sei weiter x0 ein Punkt im Abschluss von D, das heisst, es gebe Folgen von Punkten aus D, die gegen x0 konvergieren. 2.3.1 Definition Man sagt, die Funktion f habe an der Stelle x0 den Grenzwert y0 , falls für jede Folge (xn )n∈N in D, die gegen x0 konvergiert, die Folge der Funktionswerte (f (xn ))n∈N gegen y0 konvergiert. Ist dies der Fall, schreibt man lim f (x) = y0 . x→x0 Dabei ist auch x0 = ∞ oder x0 = −∞ zugelassen. 2.3. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit 31 2 −1 ist nicht definiert für x0 = 1. • Die Funktion f (x) = xx−1 (x − 1)(x + 1) Aber weil f (x) = = x + 1, ist lim f (x) = 2 . x→1 x−1 2.3.2 Beispiele • lim 1/x = 0 und lim 1/x = 0. x→∞ x→−∞ x2 − 1 2 = lim (1 − 2 ) = 1. 2 x→∞ x + 1 x→∞ x +1 π π • lim arctan(x) = und lim arctan(x) = − . x→∞ x→−∞ 2 2 • lim Man kann die Überlegungen verfeinern, indem man rechts- oder linksseitige Grenzwerte betrachtet. Damit ist folgendes gemeint. 2.3.3 Definition Man spricht vom rechtsseitigen Grenzwert lim f (x) = y0 , xցx0 wenn für jede Folge xn > x0 , die von oben gegen x0 konvergiert, die Funktionswerte f (xn ) gegen y0 konvergieren. Entsprechend ist der linksseitige Grenzwert lim f (x) = y0 , xրx0 wenn für jede Folge xn < x0 , die von unten gegen x0 konvergiert, die Funktionswerte f (xn ) gegen y0 konvergieren. 2.3.4 Bemerkung Existieren an einer Stelle x0 sowohl der rechts- als auch der linksseitige Grenzwert von f und stimmen sie überein, dann ist dies auch der beidseitige Grenzwert. Stimmen sie aber nicht überein, so kann es keinen beidseitige Grenzwert geben. ( 1 für x > 0 2.3.5 Beispiele • Sei f definiert durch f (x) = −1 für x < 0 . Hier ist 0 für x = 0 limxր0 f (x) = −1 und limxց0 f (x) = 1. • lim 1/x = ∞ und lim 1/x = −∞. xց0 xր0 • lim 1/x2 = lim 1/x2 = ∞ xց0 xր0 Für die Grenzwerte von Funktionen gelten entsprechende Aussagen wie für die Grenzwerte von Folgen, also Verträglichkeit mit den Grundrechenarten, Verträglichkeit mit der Relation ≤, und es gibt wiederum einen Vergleichssatz. 2.3.6 Satz Seien f, g, h drei reellwertige Funktionen, die alle auf dem offenen Intervall I = (a, b) definiert sind, und sei x0 ∈ [a, b]. Gilt f (x) ≤ g(x) ≤ h(x) für alle x ∈ I und lim f (x) = a = lim h(x), so folgt auch lim g(x) = a. x→x0 x→x0 x→x0 32 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen 2 2 = −∞. 2.3.7 Beispiele 1. limx→∞ 3x x−1 = ∞ und limx→∞ 2−x x+1 √ √ 2. lim x + 1 − x = 0 . Dazu schreiben wir die Differenz folgendermassen um: x→∞ √ √ √ √ √ √ ( x + 1 − x)( x + 1 + x) 1 1 √ x + 1− x = =√ √ √ ≤ √ −→ 0 . 2 x x→∞ x+1+ x x+1+ x 3. limx→0 sin(x) = 0, denn 0 ≤ | sin(x)| ≤ |x| für x ∈ [− π4 , π4 ], wie man an der Bedeutung des Sinus am Einheitskreis ablesen kann. 4. limx→0 (x sin(x)) = 0, denn |x sin(x)| ≤ |x| ∀x, weil die Sinusfunktion nur Werte zwischen −1 und +1 annimmt. √ 5. limx→0 cos(x) = 1, denn 1 ≥ cos(x) ≥ 1 − x2 , weil cos2 (x) = 1 − sin2 (x) ≥ 1 − x2 für x ∈ [− π4 , π4 ]. sin(x) 6. lim = 1, denn aus der Bedeutung des Tangens am Einheitskreis lesen x→0 x wir die folgende Ungleichung ab: sin(x) für x ∈ (− π , π ). |x| ≤ | tan(x)| = 2 2 cos(x) Daraus folgt | sin(x)| ≥ |x · cos(x)| und wir erhalten für sin(x) ≤ 1. | cos(x)| ≤ x π 2 < x < π2 : Mit dem Vergleichssatz folgt nun die Behauptung. Wir kommen nun zum Begriff der Stetigkeit. Anschaulich gesprochen ist eine Funktion auf einem Bereich stetig, wenn sie dort keine Sprünge macht, oder anders gesagt, wenn kleine Änderungen des Argumentes x zu kleinen Änderungen des Funktionswertes führen. Dabei betrachten wir nur Funktionen auf offenen Definitionsbereichen. Eine Teilmenge D ⊂ R heisst offen, wenn D eine Vereinigung von offenen Intervallen ist. 2.3.8 Definition Eine Funktion f , definiert auf einer offenen Teilmenge D, heisst stetig an der Stelle x0 ∈ D, wenn lim f (x) = f (x0 ) . x→x0 Die Funktion f heisst stetig, falls f an jeder Stelle des Definitionsbereichs stetig ist. Eine andere äquivalente Charakterisierung der Stetigkeit ist die folgende ǫ-δDefinition: 2.3.9 Satz Eine Funktion f ist stetig an der Stelle x0 ∈ D, falls für jedes ǫ > 0 ein δ > 0 existiert, so dass |x − x0 | < δ =⇒ |f (x) − f (x0 )| < ǫ für alle x ∈ D. 2.3. Grenzwerte von Funktionen und Stetigkeit 33 2.3.10 Beispiele • Jede Funktion der Form f (x) = ax + b (für feste a, b ∈ R) ist überall stetig, ebenso jedes Polynom. • Die Vorzeichenfunktion ist an der Stelle x0 = 0 nicht stetig, dort liegt eine Sprungstelle vor. n x−2 für x ≥ −1 • Sei f (x) = |x+1|−3 = . Der Graph dieser Funktion hat −x − 4 für x < −1 eine Knickstelle bei x0 = −1. Dort ist aber der rechts- und linksseitige Grenzwert jeweils gleich f (−1) = −3, also ist dies auch der beidseitige Grenzwert limx→−1 f (x) = −3, und f ist bei x0 stetig. • Die Funktion f (x) = f (2) = 4. x2 −4 x−2 kann man stetig nach x0 = 2 fortsetzen durch (für x 6= 0) können wir stetig durch f (0) = 1 • Die Funktion f (x) = sin(x) x fortsetzen, weil wie oben bereits erwähnt limx→0 sin(x) = 1 ist. x Das Verhalten der folgenden Funktion in der Nähe von 0 ist bemerkenswert. 2.3.11 Beispiel Die Funktion f (x) = sin( x1 ) (für x 6= 0) besitzt keine stetige Fortsetzung nach x0 = 0, der Grenzwert limx→0 f (x) existiert nicht. Denn f (x) kommt für kleine x-Werte jedem y-Wert zwischen −1 und +1 beliebig nahe. Schauen wir uns das etwas genauer an: Hier sind zwei Nullfolgen, deren Funktionswerte nicht 2 1 und bn := (4n+1)π für gegen denselben Grenzwert konvergieren. Sei dazu an := 2nπ n ∈ N. Beide Folgen (an )n∈N und (bn )n∈N sind Nullfolgen. Aber lim f (an ) = lim sin(2nπ) = 0 6= 1 = lim f (bn ) = lim sin( n→∞ n→∞ n→∞ n→∞ 4n + 1) π) . 2 Stetigkeit vererbt sich auf Summen, Differenzen, Produkte und Quotienten (dort wo diese definiert sind), wie sich sofort aus den entsprechenden Sätzen für Grenzwerte ergibt. 2.3.12 Folgerung Sämtliche rationalen Funktionen sind stetig. Beweis. Wendet man die Produktregel auf die Funktion x 7→ x und auf konstante Funktionen an, erhält man die Stetigkeit sämtlicher Funktionen der Form x 7→ cxn (n ∈ N, c ∈ R). Daraus ergibt sich durch Summenbildung die Stetigkeit sämtlicher Polynome. Unter einer rationalen Funktion versteht man eine Funktion der Form f = pq , wobei p, q Polynome sind. Es handelt sich also um Quotienten von Polynomen und deshalb stetige Funktionen. q.e.d. Auch die trigonometrischen Funktionen sind stetig. 2.3.13 Beispiel Die Sinusfunktion ist auf ganz R stetig. Dazu verwenden wir das Additionstheorem für den Sinus und die speziellen Grenzwerte von Sinus und Cosinus an der Stelle 0, die wir schon bestimmt haben. lim sin(x) = lim sin(x0 + h) = lim (sin(x0 ) cos(h) + sin(h) cos(x0 )) = sin(x0 ) . x→x0 h→0 h→0 34 Kapitel 2. Differentialrechnung in einer Variablen Die Cosinusfunktion ergibt sich durch Verschiebung der Sinusfunktion um π2 , sie also auch stetig. Die Tangensfunktion wiederum ist als Quotient aus Sinus und Cosinus ebenfalls stetig. Wir halten nun noch folgendes fest: 2.3.14 Satz Eine aus stetigen Funktionen zusammengesetzte Funktion ist wieder stetig. Beweis. Sind f : D2 → W2 und g: D1 → W1 stetige Funktionen und ist W1 ⊂ D2 , so können wir die Funktionen f und g zusammensetzen: f ◦ g: D1 → W2 , (f ◦ g)(x) = f (g(x)) . Man spricht auch von der Komposition der Funktionen f und g. Sei jetzt x0 ∈ D1 . Wegen der Stetigkeit von g gilt für jede Folge (xn ) in D1 , die gegen x0 konvergiert: lim g(xn ) = g(x0 ) . n→∞ Aus der Stetigkeit von f folgt nun wiederum lim f (g(xn )) = f (g(x0)) . n→∞ Also ist auch die zusammengesetzte Funktion f ◦ g wieder stetig. q.e.d. Diese Tatsache lässt sich vielseitig verwenden, um Grenzwerte von zusammengesetzten Funktionen zu bestimmen. r sin x + 2x √ 2.3.15 Beispiele 1. limxց0 = 3. x Denn limx→0 sin x+2x = limx→0 sinx x + 2 = 3. Nun folgt die Behauptung aus der x Stetigkeit der Wurzelfunktion. 2. lim arctan( x→∞ π 2x3 − x + 1 )= . 2 x +4 2 3 Denn es gilt limx→∞ 2xx2−x+1 = ∞ und limx→∞ arctan(x) = π2 , und die Funktion +4 arctan ist stetig.