Super-GAU für Körper und Seele - Donau

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upgrade 2.07
Andreas Remmel
Facharzt für Innere Medizin,
Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie, Visiting Professor
an der Donau-Universität Krems,
Department für Psychosoziale
Medizin und Psychotherapie
Text
Foto
Andreas Remmel
Donau-Universität Krems,
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Verlust emotionaler Sicherheit
Super-GAU für
Körper und Seele
Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht: Ein unverschuldeter Autounfall hat das Leben von Sabine L. auf den Kopf gestellt, hat die junge,
sportliche und erfolgreiche Frau in einen zermürbenden Strudel aus
quälenden Rückenschmerzen und starken Depressionen gerissen.
Das aktive Leben von einst scheint vorbei, der Alltag wird zum Horrortrip. Angst- und Panikattacken machen das Autofahren unmöglich,
die Nächte sind von Albträumen durchsetzt, tagsüber blitzen unwillkürlich Bilder des traumatischen Erlebnisses auf. Sabine L. hat etwas
verloren – ihre Sicherheit und ihr Selbstvertrauen.
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Praxis
Wurzeln schlagen
Menschen mit starken familiären
und sozialen Bindungen entsprechen einem Baum mit tiefen und
kräftigen Wurzeln – im Gegensatz
zu Menschen mit schwachen
„Bindungswurzeln“.
Foto
pixelio
>> Kein Einzelfall
Sabine L. ist kein Einzelfall. „Die Dunkelziffer von
Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen ist hoch“, berichtet Andreas Remmel, Direktor des Psychosomatischen Zentrums
Waldviertel in Eggenburg und Visiting Professor
der Donau-Universität Krems. „Viele Betroffene
melden sich erst, wenn sich mehrere einzelne
traumatische Erlebnisse summieren, die dann alle
früheren Ereignisse inklusive aller damit verbundener Gefühle reaktivieren. Andere suchen Hilfe,
wenn körperliche und/oder seelische Beschwerden immer quälender werden“. In der Vergangenheit von Sabine L. gab es bereits zwei Autounfälle,
die sie von außen betrachtet recht gut bewältigt
hat. Doch der dritte Unfall bringt das Fass zum
Überlaufen: die ständigen, ausstrahlenden Rückenschmerzen, Hilflosigkeit, ständig wiederkehrende Bilder und dann die quälende Frage nach
dem „Warum“ katapultieren Sabine L. aus ihrem
Lebensalltag. Sie kann ihren Beruf nicht mehr
ausüben, grübelt unablässig und wird hochgradig depressiv. Das seelische Leiden wächst. Ihre
Gedanken drehen sich zunehmend um sich selbst
und ihr ungerechtes Schicksal. Ihre zahlreichen
Hobbys und sozialen Kontakte versiegen.
Maslow‘ sche
Bedürfnispyramide
>> Sicherheit als menschliches Grundbedürfnis
„Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen“, weiß Andreas Remmel, „das hat schon
der Gründervater der Humanistischen Psychologie, Abraham Maslow, 1958 beschrieben. Die
anschauliche und weit verbreitete ‚Maslow‘ sche
Bedürfnispyramide’ zeigt alle Stufen zur Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit. Dabei bildet
das Sicherheitsbedürfnis die zweite Ebene zwischen den körperlichen Grundbedürfnissen und
den individuellen bzw. sozialen Bedürfnissen.“
Den Fall „Sabine L.“ kann das Modell jedoch
noch nicht ausreichend erklären. „In den 50er bis
70er Jahren wiesen John Bowlby und Mary Ainsworth darauf hin, dass stabile soziale und emotionale Bindungsbeziehungen äußerst wichtig
für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung und
die seelische Stabilität eines Menschen sind. Sichere Bindungserfahrungen geben uns Halt und
machen uns robuster gegenüber äußeren und
inneren Belastungen.“ Die Neigung, emotionale
Bindungen zu nahen Bezugspersonen aufzubauen, ist laut Remmel bereits bei Neugeborenen
vorhanden und bleibt als wichtige Schutzfunktion
bis ins hohe Lebensalter bestehen.
Transzendenz, Selbstverwirklichung
soziale Anerkennung
Selbstachtung, Status,
Prestige, Wohlstand
soziale Beziehungen
mitmenschliche Zuwendung, Kontakt,
Gruppenzugehörigkeit, Freundschaft,
Geselligkeit, Partnerschaft, Liebe
Sicherheit
Gesundheit, Wohnung, Arbeit, Gesetze,
Ordnung, Gerechtigkeit, Altersvorsorge
körperliche Grundbedürfnisse
Atmung, Wärme, Essen, Schlafen, Sexualität
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„Die Verletzung emotionaler und sozialer Sicherheit stellt eine
massive Gefährdung der stabilen Identitätsentwicklung dar.“
>> Von starken und schwachen Bäumen
Dass Sabine L. stärker als andere Menschen mit vergleichbaren Erlebnissen leidet, hat möglicherweise auch mit ihrer inneren Sicherheit
und ihren Bindungserfahrungen zu tun. In ihrer frühen Entwicklungsphase gab es nur ein geringes Maß an Bindungssicherheit durch
ihre Eltern. „Solche Menschen können Extremsituationen schlechter
verarbeiten“, erklärt Remmel und zieht einen bildhaften Vergleich:
Menschen mit einer starken Bindungssicherheit entsprechen einem
Baum mit kräftigen, tief gehenden Wurzeln. Sie haben einen stabilen Persönlichkeitskern und halten Gefühlsstürmen leichter stand.
Bäume mit schwach ausgeprägtem Wurzelwerk werden hingegen
schneller weggeweht.“ Sabine L. wurde nach ihrem Unfall immer
wieder von ihren Gefühlen überwältigt, konnte sich nicht wehren und
identifizierte sich immer mehr damit, bis der Alltag für sie schließlich
zu einem Leiden aus negativen Assoziationen und Gefühlen wurde.
>> Junge Menschen leiden mehr
Besonders schlimm sind traumatische Erfahrungen im Kindes- oder
Jugendalter durch Misshandlung und sexuellen Missbrauch. „Solche Erlebnisse bedrohen nicht nur die gesunde Entwicklung eines
Menschen in massivem Ausmaß, sondern führen oft zu einer zerstörerischen Desorganisation des seelischen Erlebens und Lernens,
das ganz im Gegensatz zum Vertrauen steht, welches beispielsweise
enge Familienangehörige bei Kindern durch Verlässlichkeit, Klarheit,
Respekt und Feinfühligkeit hervorrufen. Komplexe Traumatisierungen
in frühen Lebensjahren beeinträchtigen die grundlegenden emotionalen und ich-strukturellen Fähigkeiten. Die Folgen daraus können
sogar Störungen der Persönlichkeitsentwicklung sein. Betroffene
haben dann Schwierigkeiten, Gefühle angemessen wahrzunehmen
und zu äußern, ein stabiles Körper- und Selbstbild zu entwickeln oder
vertrauensvolle, offene soziale Beziehungen einzugehen. Lang dauernde und frühe Mißbrauchserfahrungen können noch nach Jahren
oder Jahrzehnten posttraumatische Belastungsstörungen hervorrufen, die mitunter auch mit massiven, phasenweise oder dauerhaft
auftretenden körperlichen Symptomen einher gehen, zum Beispiel
Schmerzen, Übelkeit oder Erbrechen. Angst, Scham und Selbsthass
sind häufige Begleiter dieser Menschen.“
>> Einen neuen Boden einziehen
Seit einigen Wochen befindet sich Sabine L. in stationärer Behandlung. Die Erfolge der dreimonatigen Schmerz- und Psychotherapie
stellen sich langsam, aber stetig ein. Die destruktive Abwärtsspirale
der jungen Frau aus Albträumen, Verbitterung, stiller Wut und Selbstvorwürfen verliert endlich an Dynamik. Eine stabilisierende Psychotherapie, Dezentrierungstechniken und Unterscheidungsübungen
haben Sabine geholfen, einen neuen Boden für den Aufwärtstrend
einzuziehen. Musik, Bewegung und die Fähigkeit, sich nicht länger
völlig mit ihren Gefühlen zu identifizieren, haben ihr neue Wege gezeigt, wie sie mit Spannungen umgehen kann. Atem-, Achtsamkeitsund Körperwahrnehmungsübungen tragen dazu bei, dass es Sabine
L. gelingt, ihre persönliche Realität immer wieder zu überprüfen und
ihre Schmerzen zu lindern. Langsam stellt sich wieder so etwas wie
Sicherheit ein, die auf der Erkenntnis beruht, dass diese Erlebnisse
Teil der Vergangenheit sind. Geschehnisse und Gefahren in Gegen-
Auf den Punkt gebracht
Sicherheit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Von Geburt an suchen wir
nach emotionalen Bindungen zu nahen Bezugspersonen. Umso schlimmer
ist es, wenn dieses Grundbedürfnis verletzt wird, zum Beispiel durch Misshandlung. Dies gilt ganz besonders bei Kindern, deren Identität sich noch in
der Entwicklung befindet. Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen kann geholfen werden. Mit einer klaren, wertschätzenden, sicheren
und vertrauensvollen Therapie.
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Praxis
Andreas Remmel
Prof. Dr. Dr. Andreas Remmel
ist Facharzt für Innere Medizin,
Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie und Psychologischer Psychotherapeut. Seit
August 2006 ist er Ärztlicher
Direktor des Psychosomatischen
Zentrums Waldviertel in Eggenburg, der ersten österreichischen
Modellklinik und Forschungsklinik
für Psychotherapie. Außerdem
ernannte ihn die Donau-Universität Krems zum Visitingprofessor
am Department für Psychosoziale
Medizin und Psychotherapie. Seit
Mai 2007 nutzt die Universität das
Zentrum Waldviertel zudem als
Lehrklinik. Remmel leitet mehrere
nationale und internationale
Forschungsprojekte und hat zahlreiche Artikel und Buchbeiträge
zum Thema Psychosomatik und
Psychotherapie veröffentlicht.
wart und Zukunft können dann wieder realistisch
wahrgenommen werden. Sabine L. fasst immer
mehr Mut, bald wird sie sich wieder den ganz normalen Situationen des Alltags stellen können.
>> Lernen in einer Modellbeziehung
Die Behandlung von Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) erfordert
eine klare Diagnostik und eine spezialisierte Therapie durch erfahrene Experten. Von zentraler
Bedeutung ist dabei eine klare, wertschätzende
und therapeutische Beziehung, die den Betroffenen oft erstmalig die Chance bietet, ihre Erlebnisse und Erfahrungen in einem sicheren Umfeld
mitzuteilen. „Eine fehlende sichere frühkindliche
Bindungserfahrung können die Therapeuten
allerdings nicht ersetzen“, klärt Remmel auf.
„Stattdessen können wir unseren Patienten aber
tiefgreifende Lernerfahrungen verlässlicher, feinfühliger und transparenter Bindungsbeziehungen
in der Gegenwart vermitteln. Wir bauen quasi eine
Modellbeziehung auf, die bewusst wieder aufgelöst wird. Das dabei gesammelte Erfahrungswis-
sen können die Patienten dann auf ihre eigenen
Beziehungen anwenden.“
>> Kriterien für PTBS
Zehn von hundert Patienten des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel leiden wie Sabine
L. an PTBS. Doch wann kann man überhaupt von
PTBS sprechen? „Es gibt verschiedene Diagnosekriterien“, erklärt Remmel. „So kann beispielsweise eine Reihe kombinierter Belastungen zu
einer posttraumatischen Belastungsstörung
führen, aber auch ein Einzelereignis, dessen besondere Intensität und Gefahr die Verarbeitungsmöglichkeit eines jeden Menschen gefährdet.
Infolge dessen treten auch besondere Symptome
auf, wie beispielsweise immer wiederkehrende
Gedanken, Albträume oder Flashbacks, die sich
plötzlich aufdrängen und gegen die sich die Betroffenen nicht wehren können. Hochgradig akute oder posttraumatische Belastungsstörungen
erfordern dringend eine stationäre Behandlung in
einer spezialisierten Fachklinik.“
Literatur und Links
Andreas Remmel, Otto F. Kernberg, Wolfgang Vollmoeller: Handbuch Körper und Persönlichkeit,
Schattauer-Verlag, Stuttgart, 2006
Wolf Müller, Ulrike Scheuermann, Praxis Krisenintervention, Kohlhammer-Verlag, 2004
Kurt Fritzsche, Michael Wirsching, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Springer-Verlag,
Berlin, 2005
Psychosomatisches Zentrum Waldviertel
www.pszw.at, www.krisen-intervention.de, www.psychotherapie.at
Hilfe und Informationen für Menschen in Krisen
www.krisen-intervention.de
Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie
www.psychotherapie.at
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>> Hohe Erfolgsquote
PTBS lassen sich mittlerweile recht gut behandeln. Bei der einfachen
PTBS mit einem singulären Erlebnis wie zum Beispiel einem Unfall
- oder Überfall liegt die Erfolgsquote bei Betroffenen laut Remmel zwischen 70 und 75 Prozent. „Die Therapie komplexer PTBS mit Mehrfachtraumatisierung, wie zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch, ist
hingegen recht langwierig und ungleich schwieriger, da sie meist mit
einer tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung einhergehen und mehrfache stationäre Aufenthalte erfordern. Spezialisierte Zentren weisen selbst hier noch eine Erfolgsquote von 50 bis 60 Prozent auf.“
* Zwischen den Zeilen
Die Traumatherapie ist im Laufe der Zeit immer wieder neu entdeckt
worden. Vor allem die Kriege des 20. Jahrhunderts und daraus erwachsene Neurosen brachten das Thema immer wieder in die wissenschaftliche Diskussion. Neuerdings wird das öffentliche Interesse
auch durch die mediale Verbreitung von Katastrophen wie dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 oder der Tsunamikatastrophe
in Asien 2004 auf die Folgen von Traumata gelenkt. Dabei wurde festgestellt, dass Prozesse und Symptome der Traumatisierung ähnlich
sind, egal ob das Trauma im Schützengraben, bei einem Autounfall
oder durch eine Vergewaltigung erlitten wurde.
Von „heilen“ möchte der Wissenschaftler allerdings nicht sprechen.
„Unser Ziel ist es, dass sich die Betroffenen in ihrem Alltag wieder
besser zurechtfinden, stabile soziale Beziehungen aufbauen oder
halten und darüber hinaus Selbstachtung und eine lebensbejahende
Einstellung entwickeln.“
>> Langfristige Therapieerfolge durch Forschung
Damit Menschen wie Sabine L. zukünftig noch besser geholfen werden kann, wird momentan in vier großen Feldern geforscht. Zum
einen wird versucht, die psychologischen und neurobiologischen
Entstehungsmechanismen und die Vorgänge im Gehirn bei akuten
und posttraumatischen Belastungsstörungen noch genauer zu entschlüsseln. Dazu tragen die modernen bildgebenden Verfahren der
funktionellen Kernspintomografie (fMRI) und die moderne psychobiologische Stressforschung bei. Wichtige Hinweise aus der humangenetischen und persönlichkeitspsychologischen Forschung
erhofft sich Andreas Remmel insbesondere zur Beantwortung der
Frage, warum Menschen mit ähnlichen Erlebnissen unterschiedlich
starke Störungen oder Symptome entwickeln. Schließlich geht es
um die Weiterentwicklung und Erforschung effektiver psychotherapeutischer und pharmakotherapeutischer Behandlungsverfahren.
„Wir wünschen uns, dass wir Menschen wie Sabine L. dadurch noch
schneller langfristige Therapieerfolge ermöglichen können.“
Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
heißt ein Department der Donau-Universität Krems. Hinter diesem Sammelbegriff versteckt sich ein großes Spektrum an
Möglichkeiten. Inhaltlich können Studenten aus insgesamt 16 Lehrgängen in drei Fachbereichen auswählen: Beratung
bzw. Supervision und Coaching, psychotherapeutische Lehrgänge oder Angebote im Bereich Psychosoziale Interventionen. Ziel der Lehre ist die Vermittlung von wissenschaftlich fundiertem, praxisnahem Wissen innerhalb psychosozialer
Anwendungsfelder. Ein Großteil der Lehrgänge schließt mit dem postgradualen akademischen Grad Master of Science
(MSc) ab.
Information
www.donau-uni.ac.at/de/department/psymed
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