50 Jahre Nichtstandard-Analysis Heiko Knospe Vor 50 Jahren erschien die erste Arbeit von Abraham Robinson (1918–1974) über Nonstandard Analysis [6]. Die ursprüngliche Idee sowie die Bezeichnung Nichtstandard geht zurück auf den Nachweis eines abzählbaren Nichtstandard-Modells der Arithmetik von A. T. Skolem [7]. Robinson definierte einen Körper ∗ R der hyperreellen Zahlen, der in der Prädikatenlogik erster Stufe die gleichen Aussagen wie R erfüllt, aber infinite (unendliche) sowie infinitesimale Zahlen enthält. Infinitesimale Größen wurden bereits von G. W. Leibniz (1646–1716) und anderen erfolgreich verwendet, aber schließlich vom , δ -Kalkül von K. Weierstraß (1815– 1897) abgelöst, das eine sichere mathematische Grundlage für Grenzprozesse lieferte. Es gab verschiedene Ansätze die reellen Zahlen entsprechend zu erweitern, aber erst Robinson konnte schließlich einen angeordneten Erweiterungskörper ∗ R von R konstruieren. Die Anwendungen in der reellen Analysis schließen sich unmittelbar an; viele grundlegende Begriffe und Konstruktionen wie Grenzwerte, Stetigkeit, Differentiale und Integrale können elegant und anschaulich beschrieben werden. Interessante Anwendungen ergeben sich u.a. für die Maßtheorie, die Stochastik, die Funktionalanalysis und die Mathematische Physik, aber auch für die Algebra und Arithmetik. 1 Nichtstandard-Einbettungen 1.1 Konstruktion Es gibt verschiedene Ansätze zur Definition von Nichtstandard-Erweiterungen. Einen direkten Zugang bietet die Ultrapotenz Konstruktion: Man benötigt hierfür einen freien Ultrafilter F über den natürlichen Zahlen; dies ist eine Menge F ⊂ P(N) von Teilmengen von N, die u. a. die Komplemente von endlichen Teilmengen enthält. Man definiert dann die hyperreellen Zahlen ∗ R = RN / ∼ wobei zwei Folgen identifiziert werden, falls sie auf einer Indexmenge übereinstimmen, die dem Filter angehört (fast überall bzgl. F ). Man zeigt, dass ∗ R ein angeordneter Erweiterungskörper von R ist. Beispiele für infinitesimale bzw. unendliche hyperreelle Zahlen sind die Äquivalenzklassen der Folgen ( n1 ) bzw. (n). Dies sind vollwertige Elemente des Körpers ∗ R und müssen deshalb von bekannten Symbolen wie ∞ unterschieden werden. Die hyperreellen Zahlen liefern so auch eine Begründung der methodischen Fiktion unendlich kleiner Zahlen. 204 FOKUS Zwei Zahlen x, y ∈ ∗ R heißen infinitesimal benachbart (x ≈ y ), falls die Differenz x − y infinitesimal ist. Die infinitesimale Umgebung einer hyperreellen Zahl x ∈ ∗ R ist die Monade {y ∈ ∗ R | y ≈ x}. Es gibt eine Standardteil-Projektion st des Ringes der endlichen hyperreellen Zahlen auf R, dessen Kern die Monade von 0 ist. Ebenso lassen sich auch die hyperrationalen Zahlen ∗ Q konstruieren, die eine universelle Komplettierung von Q bilden: die reellen Zahlen R und die p -adischen Zahlen Qp sind Subquotienten von ∗ Q. Bei der Konstruktion werden weniger Folgen als üblich identifiziert, und es sind andererseits auch unbeschränkte Folgen zugelassen, was die Existenz zusätzlicher Elemente erklärt. Monade von 0 Infinitesimale Zahlen 0 ε −1 0 1 Endliche Zahlen N N+1 Unendliche Zahlen Monade von 1 1 1+ε Abbildung 1. Hyperreelle Zahlen unter dem ,Zahlen- Mikroskop‘ von J. Keisler [4] 1.2 Transferprinzip Entscheidend für den Einsatz der Nichtstandard-Analysis ist die Tatsache, dass man generell mathematischen Objekten und Strukturen wie Mengen, Räumen und Funktionen jeweils ein Nichtstandard-Objekt zuordnen kann. Hierfür betrachtet man die Superstruktur über den reellen Zahlen - ein Mengenuniversum, das ausgehend von R durch iterative Potenzmengenbildung und Vereinigung entsteht und die Objekte der Analysis enthält. Dieses wird dann in eine Superstruktur über den hyperreellen Zahlen eingebettet. Der ∗ -Operator überführt dann Objekte des Standarduniversums mit Hilfe der UltrapotenzKonstruktion in die Nichtstandard-Welt. Dabei können durch geeignete Wahl einer Menge I (z.B. I = N) und eines Ultrafilters F über I unterschiedliche NichtstandardEinbettungen konstruiert werden. Beispielsweise kann jede reelle Funktion f : R → R zu einer hyperreellen Funktion ∗ f : ∗ R → ∗ R erweitert werden. Den natürlichen Zahlen werden die hypernatürlichen Zahlen ∗ N zugeordnet, und eine Folge (an )n∈N von reellen Zahlen wird zu einer Folge ∗ (an )n∈∗ N von hyperreellen Zahlen mit Indexbereich ∗ N erweitert. MDMV 19 / 2011 | 204–206 Ebenso lassen sich auch Terme, Formeln und Aussagen übertragen, indem man jedes Objekt durch sein zugehöriges Nichtstandard-Objekt ersetzt. Dabei gilt das Transfer-Prinzip: Eine Aussage ϕ ist genau dann wahr, wenn ∗ ϕ wahr ist. Δ 1 unendlich infinitesimal ∗R 2 Analysis mit hyperreellen Zahlen Die Verwendung von ∗ R in der elementaren Analysis ist naheliegend und bereits mit relativ wenigen Voraussetzungen möglich [4]. Eine erste Beobachtung ist, dass eine reelle Folge (an ) genau dann gegen a ∈ R konvergiert, wenn ∗ aN ≈ a für alle unendlichen N gilt; die erweiterten Folgenglieder liegen also in der Monade von a. Man wendet hierfür das Transferprinzip auf die übliche Konvergenzbedingung an. Cauchyfolgen sind durch ∗ aM ≈ ∗ aN für unendliche M, N charakterisiert. Auch die Stetigkeit lässt sich sehr intuitiv beschreiben: f : D → R ist genau dann stetig in x0 , wenn gilt: x ∈ ∗ D und x ≈ x0 =⇒ ∗ f (x) ≈ f (x0 ) Die Bedingung für gleichmäßige Stetigkeit ist: x, y ∈ ∗ D und x ≈ y =⇒ ∗ f (x) ≈ ∗ f (y ) Stetige Funktionen erhalten also die infinitesimale Nachbarschaft. Ableitungen ergeben sich auf naheliegende Weise als Differenzenquotienten mit ∗ f (x0 + dx) − f (x0 ) ≈ f (x0 ) für dx ≈ 0, dx = 0. dx Für viele grundlegende Sätze und Regeln – wie z. B. den Satz von Bolzano–Weierstraß, den Zwischenwertsatz oder die Ableitungsregeln – gibt es dann elementare Beweise, die ohne Grenzwertbetrachtungen auskommen. Die Nichtstandard Analysis bietet auch die Möglichkeit, Delta-Funktionen δ(x) zu definieren mit den Eigenschaften des δ -Funktionals, d. h. Z ∗R Abbildung 2. Eine Delta-Funktion δ : → ∗ R mit infinitesimalem Träger, unendlichem Maximum und Integralwert 1 3 Beispiele für Anwendungen 3.1 Maßräume und Integrale Die Anwendungen auf die Maßtheorie wurden insbesondere von P. Loeb und R. Anderson [2] entwickelt. Einem Radonmaß μ auf einem Wahrscheinlichkeitsraum X kann ein interner hyperendlicher (∗ -endlicher) Wahrscheinlichkeitsraum (Y , (∗ P)(Y ), ν) zugeordnet werden. ν ist das normalisierte Zählmaß auf Y : Für eine inter|A| ne Teilmenge A ⊂ Y setzt man ν(A) = |Y | . Durch Standardteil-Projektion und Maßfortsetzung erhält man dann das reellwertige Loeb-Maß νL auf Y . Nun gibt es eine (fast überall definierte) messbare Abbildung S : Y → X , so dass μ das Bildmaß von νL ist, obgleich Y ,nur‘ ein hyperendlicher Raum ist [1]. Beispielsweise kann das Lebesgue-Maß auf X = [0, 1] auf diese Weise durch das Loeb-Maß auf der hyperendlichen Menge ∗ Y = { N1 , N2 , ... , N−1 N , 1} (mit unendlichem N ∈ N) beschrieben werden. Die Lebesgue-Messbarkeit wird auf Eigenschaften hyperendlicher Teilmengen zurückgeführt, und das Lebesgue-Maß λ(B) einer messbaren Teilmenge B ⊂ [0, 1] ist: λ(B) = νL (A) wobei A = S −1 (B) = st −1 (B) ∩ Y A ist die Teilmenge von Y , deren Standardteil-Projektion in B liegt, und νL setzt das normalisierte Zählmaß fort. Eine integrierbare Funktion f : X → R kann zu einer internen integrierbaren Funktion F : Y → ∗ R geliftet werden, wobei die Integrale (nach Standardteil-Projektion auf die reellen Zahlen) übereinstimmen: X δ(x) ∗ ϕ(x) dx ≈ ϕ(0) für stetige Funktionen ϕ mit kompaktem Träger. Zur Konstruktion von δ(x) wähle man eine C ∞ R Standardfunktion f : R → [0, ∞[ mit R f (x) dx = 1. Nun skaliere man f im Definitions- und Wertebereich mit einer positiven unendlichen Zahl N ∈ ∗ R: δ(x) = N ∗ f (Nx) MDMV 19 / 2011 | 204–206 Z Z f dμ = Z Y (f ◦ S) dνL ≈ Y F dν Das Integral von F bezüglich ν ergibt sich durch hyperP n endliche Summation, im obigen Beispiel N1 N n=1 F ( N ). A B Abbildung 3. Illustration einer Lebesgue-messbaren Menge B und der zugehörigen hyperendlichen Menge A FOKUS 205 3.2 Haarsches Maß Hyperendliche Maßräume können auch zur Definition von Standardmaßen – wie dem Haarschen Maß auf lokalkompakten topologischen Gruppen – verwendet werden. Wir nehmen hier an, dass G eine kompakte topologische Gruppe sei, die man zur Nichtstandard-Gruppe ∗ G erweitert. Der Kern der Standardteil-Projektion st : ∗ G → G ist die Monade des neutralen Elements e ∈ G . Man wählt eine infinitesimale ∗ -Umgebung V von ∗ e ∈ ∗ G , die in der Monade von e enthalten ist. Da ∗ G ∗ -kompakt ist, besitzt die ∗ -offene Überdeckung {gV | g ∈ ∗ G } eine Teilüberdeckung {gV | g ∈ Y } für eine hyperendliche Menge Y ⊂ ∗ G . Diese soll eine minimal erforderliche Anzahl von N ∈ ∗ N Elementen besitzen. Auf Y lässt sich durch das normalisierte Zählmaß ν leicht ein interner hyperendlicher Wahrscheinlichkeitsraum definieren. Durch Standardteil-Projektion und Maßerweiterung erhält man wie oben das Loeb-Maß νL auf Y . Das st Bild von νL unter der Abbildung S : Y ⊂ ∗ G → G ergibt das gesuchte Haarsche Maß μ auf G . Für eine Borelmenge B ⊂ G erhält man dann μ(B) = νL (st −1 (B) ∩ Y ). Die Idee dabei ist, dass den ∗ -offenen Mengen gV das Maß N1 zugewiesen wird. Im Unterschied zur Standardsituation gibt es nun eine Teilmenge V , die klein genug und ∗ -offen ist. Man zeigt dann, dass μ ein translationsinvariantes reguläres Borelmaß ist. Nachdem man einige anfängliche Hürden der Nichtstandard-Einbettungen überwunden hat, erhält man neue und interessante Sichtweisen für viele Fragestellungen und manchen eleganten Beweis. Obgleich inzwischen eine Vielzahl von Artikeln und Monographien veröffentlicht wurde (z. B. [3], [5], [8]), sind Nichtstandard-Methoden auch 50 Jahre nach ihrer Entdeckung trotz einigem anfänglichem Optimismus keineswegs weit verbreitet. So konnte sich der Ansatz (insbesondere von J. Keisler [4]) nicht durchsetzen, hyperreelle Zahlen in AnalysisLehrveranstaltungen oder gar im Schulunterricht zu verwenden. Aus Sicht der Anwender fehlen Ergebnisse, die Nichtstandard-Methoden zwingend erfordern. Häufig erhält man eben ,nur‘ einen neuen Zugang oder eine Verdeutlichung von bekannten Aussagen. Die erweiterte Sicht auf mathematische Objekte kann jedoch wieder Anlass für neue Erkenntnisse sein. Allerdings erfordert der Wechsel zwischen den Standard- und NichtstandardStrukturen etwas Übung, wobei Kenntnisse über Mathematische Logik und Mengenlehre nützlich sind. Nicht zuletzt ist natürlich der Begriff Nichtstandard in einer von Standards dominierten Welt missverständlich. Außenstehende mögen hier (völlig zu Unrecht) einen obskuren Zweig der Mathematik vermuten, der sich nicht an etablierte Standards hält . . . Literatur 3.3 Hilberträume Neben hyperendlichen Mengen kann man auch Räume hyperendlicher Dimension betrachten. So erhält man beispielsweise einen neuen Beweis des Spektralsatzes für kompakte selbstadjungierte Operatoren auf Hilberträumen [1]. Man bettet den Hilbertraum H in einen Vektorraum E hyperendlicher Dimension ein: H ⊂ E ⊂ ∗ H . Der Spektralsatz für endlich-dimensionale Räume und die Anwendung des Transfer-Prinzips liefert dann eine hyperendliche Anzahl von Eigenwerten und Eigenvektoren des zugehörigen Operators auf E . Schließlich liefert die Standardteil-Projektion (sowie einige Zusatzüberlegungen) die gesuchte Zerlegung des Operators auf H . Mit ähnlichen Methoden wurde seinerzeit auch ein erster Erfolg bei der Anwendung der Nichtstandard-Analysis erzielt. A. R. Bernstein und A. Robinson zeigten, dass ein polynomial kompakter Operator auf einem separablen Hilbertraum einen nicht-trivialen invarianten Teilraum besitzt. P. R. Halmos konnte dies aber relativ schnell in einen klassischen Beweis übertragen, und die Aussage wurde später mit anderen Methoden verallgemeinert. 4 Fazit Nichtstandard-Methoden sind ein Werkzeug, das für eine Vielzahl von Fragestellungen eingesetzt werden kann. 206 FOKUS [1] Sergio Albeverio et al. Nonstandard Methods in Stochastic Analysis and Mathematical Physics. Academic Press, Orlando, 1986. [2] Robert M. Anderson. Star-finite representations of measure spaces. Trans. Am. Math. Soc., 271:667–687, 1982. [3] Robert Goldblatt. Lectures on the Hyperreals. An Introduction to Nonstandard Analysis. Graduate Texts in Mathematics; 188. Springer-Verlag, New York, 1998. [4] H. Jerome Keisler. Elementary Calculus. An Infinitesimal Approach. Prindle, Weber & Schmidt, Boston, 2nd edition, 1986. [5] Dieter Landers and Lothar Rogge. Nichtstandard Analysis. Springer-Lehrbuch. Berlin, 1994. [6] Abraham Robinson. Non-standard analysis. Nederl. Akad. Wet., Proc., Ser. A, 64:432–440, 1961. [7] A. Thoralf Skolem. Über die Nicht-Charakterisierbarkeit der Zahlenreihe mittels endlich oder abzählbar unendlich vieler Aussagen mit ausschließlich Zahlenvariablen. Fundamenta mathematicae, 23:150–161, 1934. [8] Martin Väth. Nonstandard Analysis. Birkhäuser Verlag, Basel, 2007. Prof. Dr. Heiko Knospe, Fachhochschule Köln, Institut für Nachrichtentechnik, Betzdorfer Straße 2, 50679 Köln [email protected] Heiko Knospe, geboren 1966, studierte Mathematik in Köln und promovierte in Münster über ein Thema aus der Zahlentheorie und Arithmetischen Geometrie. Nach einigen Jahren in der Industrie übernahm er 2003 eine Professur für Mathematische Methoden der Nachrichtentechnik an der FH Köln. Seit einiger Zeit interessiert er sich für Nichtstandard-Analysis. MDMV 19 / 2011 | 204–206