KINDER- UND JUGENDPSYCHIATRIE em. Univ.-Prof. Dr. Max H. Friedrich Univ.-Prof.in Dr.in Brigitte Sindelar Inhaltsverzeichnis: Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie: ..................... 3 Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus in Österreich: ........... Fehler! Textmarke nicht definiert. Grundkonzepte der Kinderpsychiatrie: ...................................................... 4 Risikofaktoren der Entwicklung: .............................................................. 6 Psychopathologische Phänomene im Kindes- und Jugendalter ......................... 8 Fragen der Symptomentwicklung: ........................................................................... 8 Spezielle psychopathologische Phänomene (Symptome): ................................... 11 Bewusstsein und Bewusstheit: .......................................................................... 11 Antrieb und Steuerung....................................................................................... 11 Aufmerksamkeit: ................................................................................................ 12 Impulskontrolle .................................................................................................. 12 Psychomotorik und Motorik: .............................................................................. 12 Orientierung:...................................................................................................... 13 Wahrnehmung: .................................................................................................. 14 Gedächtnis: ....................................................................................................... 15 Sprachliche Kommunikation: ............................................................................. 16 Denken .............................................................................................................. 17 Hirnorganisch bedingte Entwicklungs- und Funktionsstörungen: ..................... 17 Das chronisch diffuse hirnorganische Psychosyndrom ..................................... 19 Das AufmerksamkeitsDefizitSyndrom (ADS)..................................................... 20 Lernstörungen: .................................................................................................. 22 Angst ................................................................................................................. 23 Zwang................................................................................................................ 23 Befindlichkeit ..................................................................................................... 24 Vegetative Funktionen: ...................................................................................... 24 Schlafstörungen ................................................................................................ 25 Soziale Interaktion: ............................................................................................ 25 Somatisierung ................................................................................................... 26 Erlebnisreaktive und psychogen entstandene Störungen: ............................... 27 Neurosen.......................................................................................................... 28 Einteilung der Neurosen nach Spiel (1987): ...................................................... 28 Psychosomatosen: ............................................................................................ 28 Spezielle Störungsbilder der Kinderpsychiatrie, im Übergangsbereich zwischen erlebnisreaktiven Störungen und Neurosen: ......................................................... 29 Anorexia nervosa .............................................................................................. 29 Bulimia nervosa ................................................................................................. 29 Enuresis ............................................................................................................ 29 Enkopresis......................................................................................................... 29 Autoaggression ................................................................................................. 30 Suizid, Suizidversuch, Suizidgedanken ............................................................. 30 Selbstbezug....................................................................................................... 31 Realitätsbezug................................................................................................... 31 Persönlichkeitsentwicklungsstörungen ............................................................. 32 Autismus............................................................................................................ 33 Psychosen ........................................................................................................ 34 Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 2 von 36 Historische Entwicklung der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie: Erste historisch gesicherte Anstalt in Europa für psychisch kranke Kinder: Spital San Spirito in Rom, 1198 von Papst Innozenz III gegründet. Die Anfänge liegen in der Pädagogik: Comenius empfiehlt 1592, Methoden zur Untersuchung von Schwachsinnigen zu entwickeln. Georgens, Deinhardt: 1861: „Heilpädagogik“ In der Folge in Europa: Taubstummenanstalten, Betreuung für Schwerhörige und Sprachgestörte, Blindenbetreuung, Betreuung von Körperbehinderten. Maria Montessori gründet 1907 in Rom die „Casa dei Bambini“ und entwickelt ihre Pädagogik. Im Gefolge der Kriege, Revolutionen und Wirtschaftskrisen in Europa ergab sich ein anderes Problem: vagabundierende, verwahrloste, zum Teil kriminelle Jugendliche, die dann in Heimen versorgt wurden. Somit entwickelt sich die Kinder- und Jugendneuropsychiatrie aus der Beschäftigung mit körper-, sinnes- und geistig behinderten sowie verwahrlosten und sozial depravierten Kindern und Jugendlichen. In diesen vorwiegend caritativen Einrichtungen waren Neurologen und Psychiater konsiliariter tätig. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts entsteht auf der Basis der Psychoanalyse und der Individualpsychologie ein Wandel in der verstehenden Psychologie. Beide Schulen richten in Wien tiefenpsychologisch orientierte Erziehungsberatungsstellen ein (20iger des vorigen Jahrhunderts). In diesen versuchten sie an den Beobachtungen am Kind das zu beweisen, was ihre Theorien, abgeleitet aus den Therapien Erwachsener, erdachten. Daraus ergibt sich die Beschäftigung mit den seelischen, psychodynamischen Erlebnisprozessen in den Kindheits- und Jugendjahren, die, wie sich herausstellte, die Basis der späteren Verhaltensstörungen, Leistungsbehinderungen und Lebensproblemen bilden. Seither haben sich an allen amerikanischen und europäischen Universitäten kinder- und jugendneuropsychiatrische Einrichtungen entwickelt; Um die gleiche Zeit (1922) wurde die erste Child-Guidance Klinik in New York eröffnet. In der Schweiz wurde 1920/21 die erste kinderpsychiatrische Station auf dem Areal der Erwachsenenklinik für Psychiatrie Burghölzli, unter Eugen Bleuler, eröffnet. Jakob Lutz, dem die Leitung übertragen wurde, gehört zu den Pionieren der Kinder- und Jugendpsychiatrie weltweit, zusammen mit dem ebenfalls in der Schweiz tätigen Moritz Tramer. In Österreich nahm sich die Pädiatrie der psychischen und heilpädagogischen Probleme des Kindes an. 1911 wurde unter Lazar die erste Heilpädagogische Station errichtet, die später von Asperger geleitet wurde. In Deutschland zählen Villiger und Homburger, die in den 20er Jahren Einrichtungen eröffneten, zu den Pionieren. Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 3 von 36 Die Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie nach dem 2. Weltkrieg ist in Österreich untrennbar mit dem Namen Walter Spiel verbunden: aus den „Kinderzimmer“ der psychiatrischen Universitätsklinik baut er die kinderneuropsychiatrische Abteilung an der psychiatrischen Universitätsklinik auf. 1975 wird die Kinderneuropsychiatrie eine eigene Klinik. Ihm folgt als Vorstand Max Friedrich nach, der die Klinik von 1991 bis 2013 leitete. Walter Spiel Max Friedrich Grundkonzepte der Kinderpsychiatrie: Lebenslauf, Reifungsstadie n Soziales Umfeld Anlage, Ausstattung stehen in Wechselwirkung. kinderpsychiatrische Diagnosen sind multifaktoriell Kinderpsychiatrie folgt einem multiprofessionellen Ansatz, der entwicklungsorientiert denkt Entwicklungspsychologie Neuropsychologie Psychiatrische Epidemiologie Entwicklungspsychopathologie Psychobiologie Kinder- und Jugendpsychiatrie Kognitionstheoretische Vorstellungen Sozialwissenschaften Psychodynamische Theorien Seite 4 von 36 Kinder- und Jugendpsychiatrie versteht sich nicht nur als Wissenschaft, sondern ist immer therapieorientiert. Kinderpsychiatrischer Symptome sind phasenspezifisch: Symptome sind in ihrer Phänomenologie durch den Entwicklungsstand, in dem sich das Individuum befindet, gestaltet. Psychopathologische Phänomene sind entwicklungs- und lebensalterspezifisch. (Zum Beispiel: Störung des Realitätsbezugs kann erst dann eintreten, wenn das Kind zwischen subjektiver und mit anderen Menschen teilbarer Realität unterscheiden kann – Kleinkinder können also keine Wahn entwickeln, Suizidalität kann erst nach der Entwicklung des Todesbegriffes entstehen, Sinnestäuschungen können erst entstehen, wenn das Kind zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden kann (zum Beispiel: Phantasiefreund des Drei- bis Vierjährigen ist keine Halluzination) Phasen des Kindes- und Jugendalters (Spiel + Spiel, 1987): 0-1 Jahre: Neugeborenen- und Säuglingsperiode 1-3 Jahre: Kleinkindalter 3-6 Jahre: Kindergarten- und Vorschulalter 6-12 Jahre: Schulkindalter 12-16 Jahre: Pubertät 16-: Adoleszenz Psychopathologische Phänomene sind oft nur im Entwicklungskontext zu erkennen und zu verstehen: Einfluss der normalen Entwicklung auf die Genese psychopathologischer Symptome Einfluss psychopathologischer Symptome auf die normale Entwicklung Einfluss der altersbedingten Entwicklung auf die Symptomgestaltung: Zum Beispiel: Welche kognitiven, affektiven, sozialen, biologischen Voraussetzungen benötigt die Ausbildung eines Wahnsymptoms oder einer Halluzination? Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 5 von 36 Entwicklungsaufgaben: Jede Entwicklungsphase hat spezielle Entwicklungsaufgaben, die für die bestimmte Lebensperiode typisch sind. Die erfolgreiche Bewältigung solcher Entwicklungsaufgaben führt zur harmonischen Weiterentwicklung, das Versagen im Rahmen einer Entwicklungsaufgabe macht das Individuum unglücklich, stößt auf Ablehnung durch die gesellschaftliche Umgebung oder führt zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben. Quellen der Entwicklungsaufgaben: Physische Reife (zunehmende cerebrale Organisation), kultureller Druck (Erwartungen, Forderungen und Angebote der Umgebung), individuelle Zielsetzungen. Gegenwärtige psychopathologische Diskussion: kategorial dimensional betrachtet Kinder mit ihren Symptomen in Abgrenzung von gesunden Kindern Grenze zwischen Gesundheit und Störung ist fließend Psychopathologische Symptome als unspezifische Reaktionsmuster spiegeln Überforderung der Anpassungskapazität aufgrund unterschiedlicher pathogenetischer Bedingungen Grauzone an der Grenze zwischen Normalität und psychischer Erkrankung – immer, aber im Kindes- und Jugendalter besonders breit (zum Beispiel: Pubertät) Risikofaktoren der Entwicklung: „adaptives Potential“ = individuelle Anpassungsfähigkeit, Resultante von Vulnerabilitätsfaktoren und protektiven Faktoren Protektive Faktoren Vulnerabilität Biologische Risikofaktoren: Genetisch: für eine Reihe von Erkrankungen gibt es Hinweise auf eine genetische Weitergabe (Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankung). Nicht die Krankheit, sondern die Vulnerabilität wird vererbt! Pränatal: Infektionen der Kindesmutter während der Schwangerschaft, Blutungen, Rhesusunverträglichkeit, cerebrale Krampfanfälle der Kindesmutter während der Schwangerschaft, Perinatal: verlängerte oder erschwerte Geburt unter Risikobedingungen kann zu cerebraler Traumatisierung führen (Saugglocke, Nabelschnurumschlingung….). Hinweise auf Zusammenhänge zwischen genetischer Ausstattung des Kindes und Risiko perinataler Komplikationen Postnatal: Schädelhirntraumen, Hirnentzündungen, Tumoren, Vergiftungen Schädigung der Hirnsubstanz ungünstiger Einfluss auf die neuronale Plastizität gesteigertes Risiko für mangelnde Ausdifferenzierung von speziellen Hirnleistungen und Kompetenzen (der „funktionellen Hirnorgane“ (Luria, Leontjew) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 6 von 36 Soziale Risikofaktoren: (Achse V des ICD 10: Abnorme psychosoziale Umstände) 1. Abnorme familiäre Beziehungen 1.0. Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung 1.1. Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen 1.2. Feindliche Ablehnung oder Sündenbockzuweisungen gegenüber dem Kind 1.3. Körperliche Kindesmisshandlung 1.4. Sexueller Missbrauch (innerhalb der Familie) 2. Psychische Störungen, abweichendes Verhalten oder Behinderung in der Familie 2.0 Psychische Störungen, abweichendes Verhalten eines Elternteils 2.1 Behinderung eines Elternteils 2.2 Behinderung der Geschwister 3. Inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation 4. Abnorme Erziehungsbedingungen 4.0 Elterliche Überfürsorge 4.1 Unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung 4.2 Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt 4.3 Unangemessene Anforderungen und Nötigung durch die Eltern 5. Abnorme unmittelbare Umgebung 5.0 Erziehung in einer Institution 5.1 Abweichende Elternsituation 5.2 Isolierte Familie 5.3 Lebensbedingungen mit möglicher psychosozialer Gefährdung 6. Akute, belastende Lebensereignisse 6.0 Verlust einer Liebes- oder engen Beziehung 6.1 Bedrohliche Umstände infolge von Fremdunterbringung 6.2 Negativ veränderte familiäre Beziehungen durch neue Familienmitglieder 6.3 Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen 6.4 Sexueller Missbrauch (außerhalb der Familie) 6.5 Unmittelbare, beängstigende Erlebnisse 7. Gesellschaftliche Belastungsfaktoren 7.0 Verfolgung oder Diskriminierung 7.1 Migration oder soziale Verpflanzung 8. Chronische Belastungen im Zusammenhang mit Schule und Arbeit 8.0 Abnorme Streitbeziehungen zwischen Schülern, Mitarbeitern 8.1 Sündenbockzuweisungen durch Lehrer, Ausbilder 8.2 Allgemeine Unruhe in Schule, Arbeitssituation 9. Belastende Lebensereignisse infolge von Verhaltensstörung oder Behinderung des Kindes 9.0 Institutionelle Erziehung 9.1 Bedrohliche Umstände infolge Fremdunterbringung 9.2 Abhängige Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen Protektive Faktoren: schützen unter Risikobedingungen vor negativer Entwicklung - Individuelle Faktoren: Aktivierungsgrad, gute Selbstberuhigungstendenz, soziales Interesse, soziale Kompetenz, Fähigkeit zur Kommunikation, Intelligenz - Affektive Bindungen innerhalb und außerhalb der Familie, die emotionale Unterstützung in Belastungszeiten ermöglichen (egal, ob Elternteil, anderes Familienmitglied, Verwandte, Freunde) - Externe soziale Unterstützung (soziales Netzwerk, Integration in Gruppen, Schule, Arbeitsfeld) Vulnerabilität: = individuelle Bereitschaft, unter Risikobedingungen einen negativen Entwicklungsverlauf zu nehmen. Genetische oder frühkindliche Risikofaktoren führen nicht direkt zu klinisch Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 7 von 36 manifesten psychischen Erkrankungen sondern zu einer besonderen Umweltempfindlichkeit, die ungünstige Entwicklungsfaktoren besonders wirksam werden lassen. Dies führt zu einer Labilisierung der Umweltanpassung. Infolge dieser dekompensiert das vulnerable Individuum durch geringfügige Anlässe oder neue Entwicklungsaufgaben. Die klinische Manifestation ist dann der Folgezustand. Angeborene Risiken alleine machen noch keine seelische Erkrankung. Psychopathologische Phänomene im Kindes- und Jugendalter Kleinste beschreibbare Untersuchungseinheiten = Symptome Regelhaft wiederkehrende Kombinationen von Symptommustern = Syndrome Psychopathologische Phänomene = noxenunspezifisch (z.B. Depression), psychiatrische Syndrome geben keinen Hinweis auf gleich bleibende Ursache. Fragen der Symptomentwicklung: Symptom situationsspezifisch? (Zum Beispiel: ADS) Symptom funktional, sinnhaft im Umfeld? (zum Beispiel: Draufgängerkind der angstkranken Mutter) Auslösermechanismen für psychopathologische Symptome? Symptome haben für sich genommen nicht immer krankhaften Charakter, in verschiedenen Entwicklungsphasen hat dasselbe Phänomen unterschiedliche Bedeutung Theorie zur Entstehung von Symptomen und Syndromen: („Schichttheorie“ von Jackson, 1932): durch die Schädigung höherer Funktionsschichten werden übergeordnete, höhere Funktionsniveaus abgebaut, sodass ältere Strukturniveaus freigelegt werden. = Modell einer Regression der Anpassungsfunktionen unter erhöhter Belastung und bei Alarmzuständen. psychopathologische Symptome = Erlebnis- und Verhaltensweisen, die nicht dem aktuellen Entwicklungsniveau entsprechen. Jedes psychopathologische Symptom äußert sich auf einem bestimmten Entwicklungsniveau der kognitiven, affektiven und vegetativ-somatischen Bedingungen. Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 8 von 36 Säulen der kindlichen Entwicklung (Max Friedrich) Jedes Symptom hat eine Verhaltens- und eine Erlebniskomponente (zum Beispiel: formale Denkstörung: Verhaltenskorrelat in der Interaktion, und eine darauf bezogene Erlebnisweise (Angst, Irritation)). Oder: aggressive Verhaltensstörung des Kindes: nicht nur auf der Verhaltensebene zu erkennen, sondern auch bestimmte Art der Informationsverarbeitung, der Affektregulation, der vegetativ-somatischen Überreaktion, dahinter bestimmtes Weltbild und Selbstbild. Symptombildung und psychodynamische Funktionsniveaus : Erlebnisreaktiv Aktualkonflikte Neurotisch aktuelle Überreaktionen auf der Basis von Prätraumatisierungen und vorbestehenden inneren Konflikten Narzisstisch überstarke Regulierungsaktivität bezüglich des Selbstwertes (Selbstwerkrisen und Konflikte, negative Selbstzuschreibungen, Ideen vermeintlicher Größe, Angst vor negativem sozialen Echo, Objektverlustängste erschweren die Kommunikation und Anpassung Borderline mangelnde Selbstintegration und Identitätsdiffusion, geringe Affekt- und Impulskontrolle Psychotisch Fragmentierung des inneren Erlebens, Verlust der Realitätskontrolle Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 9 von 36 Grundsätzliches zu den folgenden Inhalten: Um Syndrome erkennen zu können, müssen Symptome bekannt sein, um erkannt werden. Im Weiteren werden daher entwicklungspsychopathologische Symptome beschrieben und zu den Störungsgruppen, für die sie besonders relevant sind, in Beziehung gesetzt. Dabei folgen wir der Systematik: - Hirnorganisch bedingte Entwicklungs- und Funktionsstörungen - Erlebnisreaktive Störungen, psychogen entstandene Störungen - Neurosen - Persönlichkeitsentwicklungsstörungen - Psychosen Dabei ist natürlich jeweils mit zu bedenken, dass Kinderpsychiatrie - multifaktoriell - phasenspezifisch - therapieorientiert diagnostiziert und daher Überschneidungen zwischen den Gruppen der Störungsbilder bestehen. (zur Struktur des Skriptums: Syndrome (Störungsbilder): dunkelroter Balken am linken Rand des Textes. Symptome: dunkelblauer Balken am linken Rand des Textes) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 10 von 36 Spezielle psychopathologische Phänomene (Symptome): Bewusstsein und Bewusstheit: Bewusstheit = Wahrnehmung und Überprüfung von Stimuli der Außenwelt und aus dem eigenen Körper Bewusstsein = die innere Vergegenwärtigung des Selbst und der Umwelt. Dimensionen des Bewusstseins: Klarheit (Luzidität) und Wachheit (Vigilanz) Quantitative Bewusstseinsstörungen (Scharfetter, 1991): Benommenheit: Kind ist schläfrig, verlangsamt, aber durch Ansprechen und Anfassen weckbar Somnolenz: Kind ist stark verlangsamt, schläft spontan immer wieder ein, kann durch lautes Ansprechen oder Anfassen geweckt werden, sprachliche Äußerung möglich, aber Artikulation schlecht, Spontanbewegungen herabgesetzt Sopor (Kind ist nur mehr durch starke Weckreize (zum Beispiel Schütteln) weckbar, verbale Kommunikation nicht herstellbar, Muskeltonus herabgesetzt, Vitalrefelxe aber erhalten Präkoma und Koma: Kind ist nicht weckbar, zuerst gehen Hautreflexe und periphere Sehnenreflexe verloren, schließlich auch Pupillenreflex, Atmung unregelmäßig Quantitative Beeinträchtigungen des Bewusstsein: Hinweis auf Funktionsstörungen des Gehirns (Commotio, nach epileptischen Anfällen, Encephalitis, aber auch Intoxikationen Qualitative Bewusstseinsstörungen: (beim Kind erst ab mittlerem Schulalter) Delirium tremens: quantitative Bewusstseinstörung + Desorientiertheit, Unruhe, Inkohärenz des Denkens, illusionäre Verkennungen, halluzinatorische Erlebnisse Dämmerzustand: Einengung des Bewusstseinsfeldes, sodass der Kontakt zur Außenwelt eingeschränkt wird, auf Außenreize geringer ansprechbar (zum Beispiel im Rahmen der Epilepsie, aber auch psychogen – in Paniksituationen) Dreamy state: szenische Halluzinationen, illusionäre Verkennungen, desorientiert, zB schizophrene Psychosen, Epilepsien, Intoxikationen Verwirrtheit: Desorientierung, Unruhe, Ratlosigkeit. Verwirrtheit ist Teilsymptom des Delirium tremens Antrieb und Steuerung Antrieb = Intensität der Lebensäußerungen vegetativ, somatisch-motorisch, Intensität und Steuerung der Affekte, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung, Antriebsarmut (Apathie) Antriebssteigerung (zum Beispiel in Hypomanie): ungerichtete Aktivität und Rastlosigkeit, motorische Überschussbewegungen, Reduzierung der Aufmerksamkeitsspanne, - situationsspezifisch oder pervasiv (= unabhängig vom Kontext) - Agitiertheit = motorisch unruhig, ungerichtet aktiv, thematisch eingeengt auf negativen Affekt - Motorische Unruhe = altersinadäquater Bewegungsdrang Impulsivität: = nicht angemessene Kontrolle selektiver Antriebskomponenten. Kognitiv: Handlungsimpulse; motivational: mangelnde Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben; affektiv: ungezügelte Affektausbrüche; vegetativ: gesteigerte Erregungsbereitschaft auch genetische Determinanten Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 11 von 36 Aufmerksamkeit: = selektive Orientierung in Wahrnehmen, Denken und Handeln. Entwicklung: Erwachsener: Fähigkeit zur aufmerksamen Selektion Säugling: unwillkürliche Aufmerksamkeit (biologisch fundierte Orientierungsreaktion). Konzentration = Hochkontrollierte bewusste Verarbeitung von Reizen, Höchstform willkürlicher Aufmerksamkeit Beim Erlernen einer Tätigkeit: Konzentration, wenn genau diese Tätigkeit gut gekonnt wird, automatisiert sie und braucht nur mehr wenig Aufmerksamkeitskapazität und kann parallel zu anderen aufmerksamen Tätigkeiten ablaufen (Autofahren, tanzen) Impulskontrolle Verhaltensdimensionen der Impulskontrollstörung (nach Taylor, 1994): - Hyperaktivität - Regelübertretung - Aggressivität - Spezifische Impulsmotive: Essattacken Substanzenmissbrauch Selbstverletzung (Automutilitation) Der Handlung geht eine Anspannung voraus, nach der Handlung entsteht ein Gefühl der Erleichterung Psychomotorik und Motorik: Psychomotorik = unwillkürliche motorische Verhaltensmuster, die die seelische Befindlichkeit und den Erlebnisgehalt widerspiegeln Jedes psychopathologische Syndrom hat auch motorische Ausdruckskomponente Entwicklung: Erwachsener; gezielte, umschriebene Bewegungsabläufen. Säugling: ungerichtete, globale Bewegungen Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 12 von 36 Störungen der Psychomotorik: Motorische Unruhe: Ausdruck einer Antribessteigerung, Bewegungsüberschuss. beschleunigte Abläufe normaler Bewegungen, Tics: = rasche, unwillkürliche, stereotyp wiederholte, nicht rhythmische motorische Bewegungen, die nur umschriebene Muskelgruppen betreffen. Haben keinen inhaltlichen Zweck, setzen plötzlich ein. Vokale Tics: Schnüffeln, Räuspern, Zischen, Wiederholung bestimmter Wörter (Obszöne Wörter: „Koprolalie“, Nachahmung von bestimmten Wörtern: Echolalie, Wiederholung eigener Laute, von Wortteilen oder ganzen Wörtern: Palilalie) • einfache Tics: motorisch: Blinzeln, Kopfnicken, Schulterrucken, Grimassieren vokal: räuspern, quieken, grunzen, schnüffeln, Zunge schnalzen • komplexe Tics: motorisch: Berühren oder Beriechen anderer Leute oder Dinge, Körperverdrehungen, selbstverletzendes Verhalten (schlagen, Kopf anschlagen, kneifen) vokal: Herausschleudern von Worten, Koprolalie, Echolalie, Palilalie Gilles-de-la-Tourette-Syndrom: Kombination von komplexen motorischen und vokalen Tics Tics können Ausdruck gesteigerter innerer Erregung sein, aber auch Hinweise auf vererbbaren Formenkreis Stereotypien: Gleichförmig wiederholte Bewegungsmuster in Körperhaltung, Mimik und Gestik. Von einfachen Bewegungen (Wischen, Kratzen, Stoßen) bis zu komplizierten rituellen Handlungen (zB bei schizophrenen Patienten). Können mit Sinn geladen sein als rituelle Abwehr- und Selbstberuhigungsvorgänge. Bizarre Verhaltensmuster: = im Bewegungsablauf normale Handlungen, aber nicht situationsangepasst, verschroben, manieriert „Pose“ = unübliche Körperhaltungen „Manierismus“ = gezieltes, stilisiertes, verfremdetes Gehabe „Echopraxie“ = automatenhafte Haltungs- und Bewegungsimitation „Echolalie“ = echoartige Wort- und Satzteilwiederholungen „Katalepsie“ = starres Beibehalten einer unnatürlichen Haltung, oft über mehrere Stunden (bei katatoner Form der Schizophrenie) „(katatoner) Stupor“ = Erstarren in Angst und Rastlosigkeit, Bewegungsstarre (bei psychotischen Zuständen). Manchmal plötzlich abgelöst durch „Raptus“ = Erregungszustand, Patient beginnt unvermittelt zu toben und zu schreien, andere anzugreifen (extrem: „katatoner Bewegungssturm) Orientierung: - räumlich (örtlich) zeitlich situativ zur Person Voraussetzung ist, dass cerebrale Funktionen intakt sind, Bewusstsein, Aufmerksamkeit, kognitive Elementarfunktionen wie MerkfähigkeitKind: Entwicklungsstadium berücksichtigen! Desorientierung: Patient findet sich mit den raumzeitlichen und situativen Gegebenheiten nicht zurecht („Da öffnete Schneewittchen die Augen und fragte: „Wo bin ich?“ Und der Prinz antwortete: „Du bist bei mir.“) (Desorientierung ohne psychiatrisches Syndrom: „It´s Tuesday, it must be Belgium“) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 13 von 36 Fehlorientierung: Patient bleibt in einer vermeintlichen Orientierung verhaften (glaubt, er ist zu Hause, obwohl er in der Klinik ist) Räumliche Orientierung: zB Schenk-Danzinger: in der Welt des ca 6jährigen besteht die Umgebung seines Wohnortes aus „Schläuchen“ zur Schule, zum Supermarkt, zum Spielplatz. Er verirrt sich, wenn er eine Gasse weiter ist. Zeitliche Orientierung: Für das Vorschulkind noch stark an sichtbare Veränderungen gebunden („noch zweimal schlafen, bis…). Dieses Stadium wird mit Schulalter, spätestens ab achtem Lebensjahr überwunden, aber zeitliche Distanzen zur Gegenwart kann das Kind erst ab ca zehn Jahren richtig einordnen. Gravierende Orientierungsstörungen : Hinweis auf aktuelle Beeinträchtigung der Hirnfunktionen, durch hirnorganische Geschehen, durch panikartige Zustände, bei Psychosen. Wahrnehmung: kein passiver Abbildungsvorgang, sondern immer ein aktiver Interpretationsprozess. Wahrnehmung = Hypothesenbildung Zum Beispiel: Handschriften lesen, Fremdsprachen, situative Wahrnehmungen Wahrnehmungsstörungen: Sinnesbeeinträchtigungen: Ausfall des Sinneskanals (zB Blindheit) Empfindungsverminderungen (zB Schwerhörigkeit) Empfindungssteigerungen (zB Hyperalgesie = erhöhte Schmerzempfindung) Globale Beeinträchtigungen: Intensitätsänderungen Gestaltänderungen - Trugwahrnehmungen Halluzinationen = Trugwahrnehmung ohne reales Substrat Illusionäre Verkennungen = Fehlerkennungen von realen Objekten Wahrnehmungsinhalten (zB: Geräusche wollen etwas sagen) Wahrnehmungsphänomene sind altersabhängig in ihrer Definition als Pathologie (zB Phantasiefreunddialoge ist keine Halluzination, Dialog des Kleinkindes mit Gegenständen ist keine Illusion) - Entwicklungsstufen nach Piaget Entwicklung der Halluzination sensomotorisch (0- 1 ½ Jahre) - präoperational (1 ½ - 5 Jahre einfach, optisch, taktil, selten akustisch; aus Betroffenheit und Verhaltensänderung des Kindes erkennbar, Hilfesuche bei Bezugspersonen, anzugrenzen von spielerischen Phantasien konkret operational (6-11 Jahre) Wahrnehmungsunsicherheit, illusionäre Verkennungen, Tiere, Monster, fremde Wesen, akustische Halluzinationen, meist in direkter Rede formal operational (ab 12 Jahre) Komplexe Halluzinationen, leibnahe wie bei Erwachsenen (modif. nach Volkmar, 1996, aus: Resch, 1999) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 14 von 36 Halluzination = leibhaftig, subjektiv real, Stimmen erscheinen von außen, können gut lokalisiert und personifiziert werden, haben bestimmte stimmliche und artikulatorische Qualität Vorstellungskonkretisierung = Stimmen bleiben diffus, sprechen undeutlich, können nur schwer innen oder außen lokalisiert werden, manchmal in mehreren Sinnesqualitäten abgebildet (zB bei posttraumatischen Belastungsstörungen) Pseudohalluzinationen = Trugwahrnehmungen werden als solche erkannt, Realitätskontrolle erhalten (zB nach Drogeneinnahme) Wahrnehmungsstörungen treten auf bei: Organischen Sinnesbeeinträchtigungen, cerebralen Anfällen, cerebralen Schädigungen, bei erlebnisreaktiven Irritationen, bei Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, bei psychotischen Prozessen Gedächtnis: - Störungen des unmittelbaren Behaltens Störungen des Kurzzeitgedächtnisses Beeinträchtigungen in den Strukturen des Langzeitgedächtnisses (Amnesie, Zeitrasterstörungen) Gedächtnisstörungen sind durch neuropsychologische Untersuchungen differenziert nachzuweisen. Gedächtnisstörungen können hirnorganisch bedingt sein (Enzephalitis, Tumor), aber auch durch psychodynamische Faktoren beeinflusst sein (Verdrängung) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 15 von 36 Sprachliche Kommunikation: Sprachstörungen: Aphasien: Formen der Aphasie: - totale Aphasie: Sprache wird weder vestanden noch gesprochen - amnestische Aphasie: Wortfindungsstörungen stocken den an sich gut erhaltenen Sprachfluss - motorische Aphasie (Broca): erheblich verlangsamter Sprachfluss, schlechte Artikulation, Paraphasien, Dysgrammatismus, Sprachverständnis ungestört (zu unterscheiden von der Dysarthrie: verlangsamter Sprechfluss, verwaschene Aussprache, kein Dysgrammatismus) - sensorische Aphasie (Wernicke): Spontansprache wird nicht verstanden, phonematische und semantische Paraphasien, Sprachfluss erhalten, Nachsprechen problemlos, aber phonematische Entstellung der Wörter phonematische Paraphasien: Veränderung der Lautstruktur der Wörter Semantische Paraphasien: ein Wort wird durch ein anderes der Standardsprache ersetzt Wortfindungsstörungen Neologismen: = Wortneuschöpfungen Agrammatismus, Dysgrammatismus, Paragrammatismus: Grammatik ist falsch, einfache Wortreihen ohne grammatikalische Strukutr (zB „Ball haben“) Logorrhoe = montononer, ausgeprägter Redefluss Mutismus = Verweigerung der sprachlichen Kommunikation, Sprachkompetenz aber vorhanden Sprechstörungen: - - Dysarthrie (s.o): Artkulationsstörung im Vordergrund, aber auch Stimme und Atmung kann betroffen sein. Eigentlich Bewegungsstörung (stärkste Ausprägung: Anarthtrie) Poltern und Stottern: Störungen des zusammenhängenden Redeflusses. Poltern: überhasteter Sprechimpuls, Versprecher, gesteigertes Sprechtempo Stottern: Hemmung und Unterbrechung des Sprechablaufes, manchmal bestimmte Worte oder Silben ( psychodynamischer Faktor?), Mit- und Ausgleichsbewegungen, klonisch = Wiederholungen, tonisch = Pressen Näseln: Störung der Aussprache durch dysfunktionales Zusammenspiel der Vorgange in Kehlkopf und Rachenraum Stammeln: Unfähigkeit, einzelne Phoneme regelrecht auszusprechen (Rhotazismus, Sigmatismus, Lambdazismus, Schetismus..) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 16 von 36 Denken formale Denkstörungen: Tempo: verlangsamt oder beschleunigt Prozessablauf: Gehemmtes Denken = Erschwerung des Denkablaufs, Patienten haben den Eindruck, gegen einen Widerstand denken zu müssen Perseveration = Haftenbleiben an Worten und Formulierungen Verbigeration = sinnloses Wiederholen von Worten Thematische Einengung = Haften an einem oder wenigen Themen Grübeln = unablässig mit bestimmten Gedankengängen beschäftigt sein, unangenehme Inhalte, mit der aktuellen Lebenssituation in Verbindung, werden nicht als fremd erlebt (zum Unterschied von Zwangsgedanken) Gedankendrängen = unter dem Druck von Einfällen oder wiederkehrenden Gedanken stehend (zB Suizidideen, Gewissensdruck) Ideenflucht = vermehrt Einfälle, Pläne, Ideen, die nicht leitbar sind, Verlust der Zielvorstellung (zB bei Hypomanie und Manie) Tangentiales Denken = Missverstehen des Kontexts einer Frage (zB: Was ist der Unterschied zwischen Treppe und Leiter? Antwort: ich wohne im Erdgeschoss) Sperrungen = plötzlicher Abbruch eines Gedankenganges (Gedankenabreißen, Gedankenblockade) Zerfahrenheit = vielfache Sperrungen Faseln = scheinbar zufällig durcheinander gewürfelte Sätze, Gedankenbruchstücke Neologismen = Wortneuschöpfungen -> Hirnorganisch bedingte Entwicklungs- und Funktionsstörungen: Allgemein: Phasenspezifisch in Art und Ausprägung - Verursachung: genetisch, Sauerstoffmangel bei Geburt, entzündliche Prozesse, traumatisch, tumurös, degenerativ - Intensität und Akuität: akut vs schleichend, - Zeitpunkt des Eintretens der Noxe - Ausmaß, ev Lokalisation: diffus oder lokalisierbar Auswirkung: - Retardation - Arrieration (= Entwicklungsstop) - Abbauprozess - Deviante Entwicklung überdecken sich manchmal oder folgen einander Speziell: 1. Neuromotorische-neurosensorische Syndrome: Motorische Auffälligkeiten = Hinweis auf Hirnfunktionsstörung, strukturelle Läsion des ZNS (Zentralnervensystem) Zentrale Organisation der Motorik = komplexes System mehrerer anatomischer Einheiten Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 17 von 36 Typologie der cerebralen Bewegungsstörungen: - Spastizität: erhöhter Tonus der Muskulatur Diplegie: beschränkt auf untere Extremitäten Tetraplegie, Tetraparese: alle vier Gliedmaßen betroffen Hemiparese: nur eine Körperhälfte betroffen - Rigidität: ständig gleich bleibender Widerstand gegen die passive Bewegung (+“Zahnradphänomen“ = ruckartiges Nchgeben bei passiver Bewegung) - Hypotonie-Dystonie: abnormer Wechsel des Muskeltonus, generalisiert, lokalisiert, oder auch nur bei einzelnen Muskelgruppen - Athetosen: wurmartige, langsame Bewegungen, unwillkürlich (abzugrenzen von den reinen Choreaathetosen, die ohne Zeichen der spastischen Lähmung bestehen - Tremor: Ruhezittern (Hände,Kopfwackeln) - Störung der Koordination: normale Kraftleistung, keine Tonusveränderungen, aber Schwierigkeiten im Adressieren von Bewegungen 2. Störungen höherer Hirnfunktionen: Dimensionen der Kognition: Wahrnehmung, Sprache, Gedächtnis, Denken, Lernen, Aufmerksamkeit Bewegungs- und Handlungsorganisation: folgt dem Prinzip der Efferenz- Reafferenz physiologisch Gliedkinetische Bewegung Oral-motorischem sprechmotorische Organisation Blickbewegung pathologisch Apraxie Dyslalie, Dysrhythmie Apraxie der Blickbewegung Apraxie-Dyspraxie Durch Erfahrung gelernte motorische Aufgaben können nur mangelhaft geplant und ausgeführt werden. Entwicklungsapraxie: nicht ausreichend entwickelte motorische Handlungsabläufe Apraxie: diese Handlungsabläufe waren bereits entwickelt und wurden abgebaut „Ungeschicklichkeit“: Abgrenzungsprobleme Aphasie-Dysphasie: Wie oben: Entwicklungsaphasie vs Aphasie Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 18 von 36 Das chronisch diffuse hirnorganische Psychosyndrom = frühkindliche Hirnschädigung, = frühkindliches exogenes Psychosyndrom, = chronisches hirnorganisches Psychosyndrom, = brain damage syndrome, =Cerebralschadensyndrom, = Residualschadensyndrom, = Enzephalopathiesyndrom; -> minimale cerebrale Dysfunktion Ätiologie: Pränatal - Untergewichtige Neugeboren (unter 2500g) - Abnorme Schwangerschaftsdauer (unter 37 und über 42 Wochen) - Mehrlingsschwangerschaften - Intrauterine Mangelernährung - Uterus-Blutungen - Blutgruppenunverträglichkeit - Infektionskrankheit der Mutter (Röteln, Syphilis) - Sonstige Krankheiten der Mutter (Diabetes, Schilddrüsenerkrankungen, Nieren-, Herz-, Kreislauferkrankungen) - Medikamenteneinnahme (Contergan, Antiepileptica, - Nikotin, Alkohol, Suchtgifte Perinatal - Lageanomalien des Kindes - Instrumentelle und operative Entbindung (zB Zangengeburt) - Plazenta- und Nabelschnuranomalien - Abnorme Wehentätigkeit, abnorme Austreibungsphase - Verengung des Geburtskanals - Asphyxie, APGAR unter 7 Postnatal - Schwere Gelbsucht (Ikterus neonatorum) - Schwere Hypoglykämie und Azidose - Infektiöse und sonstige schwerere Erkrankungen - Gehirn- und Gehirnhautentzündungen - Impfschäden - Ernährungs- und Stoffwechselstörungen - Schwere Unfälle - Schwere körperliche Misshandlung - Soziale schwere Verwahrlosung Symptomatologie: - Hinweise auf eine physische und psychische Entwicklungsretardation - Rasche Ermüdbarkeit - Schwankende Leistungsfähigkeit - Verminderte und schwankende Konzentration - Antriebsstörung (Hypo- oder Hyperaktivität, auch wechselnd) - Stark umweltreizabhängige Ablenkbarkeit - Verminderte Affektsteuerung - Labilität der Affekte - Wahrnehmungsstörungen - Vegetative Dysregulation - Neurologische Spurensymptome (angedeutete tetra- oder hemiplegische Symptome, geringfügig athetoid oder ataktisch Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 19 von 36 _____________________________________________________________________ Das AufmerksamkeitsDefizitSyndrom (ADS) (= ADD –attention deficit disorder) ADHD = attention deficit hyperactivity disorder Psychopharmakologische Behandlung mit Stimulantien (Ritalin, Concerta) rapid steigender Konsum, besonders in USA! Differentialdiagnostik unbedingt notwendig !) (zur Erinnerung: dimensional Gesundheit ICD 10/ F 90 Grauzone an der Grenze zwischen Normalität und psychischer Erkrankung Krankheit ) G1: Unaufmerksamkeit 1. sind häufig unaufmerksam gegenüber Details oder machen Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten und sonstigen Arbeiten und Aktivitäten 2. sind häufig nicht in der Lage, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben und beim Spielen aufrechtzuerhalten 3. hören 4. können oft Erklärungen nicht folgen oder ihre Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen häufig scheinbar nicht, was ihnen gesagt wird 5. sind häufig beeinträchtigt, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren 6. vermeiden oder verabscheuen Arbeiten, wie Hausarbeiten, die Durchhaltevermögen erfordern 7. verlieren häufig Gegenstände, die für bestimmte Aufgaben oder Tätigkeiten wichtig sind, z.B. Schularbeiten, Bleistifte, Bücher, Spielsachen und Werkzeuge 8. werden häufig von externen Stimuli abgelenkt 9. sind im Verlaufe der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich selbe Symptomatik bei unterschiedlichster Ätiologie!!!! Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 20 von 36 Differentialdiagnostik von ADS • Teilleistungsschwächen ? • emotionale Ursachen? cave: Differentialdiagnostik der (Familienkonflikte, sekundären Neurotisierung! Geschwisterrivalität, neurotische Entwicklung usw.. • soziales und pädagogisches Umfeld ? (Überforderung in der Schule, Probleme mit der Peer-Group usw...) Die Kontroverse über die medikamentöse Behandlung von ADS birgt das Risiko, Patienten zu vernachlässigen •keine Medikation trotz Indikation vernachlässigt Patienten in ihren biologischen Bedürfnissen •Medikation ohne Indikation vernachlässigt Patienten in ihren emotionalen und psychosozialen Nöten „Wer nur einen Hammer hat, hält alles für einen Nagel.“ (Paul Watzlawick) Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 21 von 36 Lernstörungen: siehe Vorlesung: Entwicklungspsychologie – kognitive Entwicklung Schwachsinn: Definitionsprobleme: nur über das zu definieren, was ein Intelligenztest misst, ist zu wenig – auch Retardierte zeigen geringen IQ, sind aber entwicklungsfähig, auch Abbauprozesse vermindern die Leistung im Intelligenztest. Manchmal haben Schwachsinnige isolierte Hochbegabung (Fallbeispiel: Fahrplan der Züge) Grad des Schwachsinns: - Idiotie: sprachliche Kommunikation und Selbstpflege nicht möglich (IQ unter 20) - Imbezillität: stark reduzierte sprachliche Kommunikation, schulunfähig, Selbstpflege aber möglich, (IQ bis 50) - Debilität: Normalschulbildung nicht möglich, aber Sonderschulbildung bis zur Berufsfähigkeit (IQ bis 85) Antriebslage: erhöht („erethisch“) oder apathisch Retardierung und damit Entwicklungsmöglichkeit oder Abbauprozess oder Entwicklungsstop? Isolierte Bereiche betroffen oder genereller Schwachsinn? Schwachsinn als Folge von Deprivation? Für die soziale Integration und Lebensqualität des Schwachsinnigen sind jedoch Kontaktfähigkeit, Selbständigkeit, Ausdrucksfähigkeit, Verträglichkeit wesentlich wichtiger als IQ. Ätiologie: Hirnschädigung, genetische Bedingtheit (letztere Gruppe ist deutlich kleiner) (Korrelation zwischen Eltern und Kind: 0,50!) Differentialdiagnose zu: - Pseudodebilität - Soziale Deprivation (Kaspar-Hauser-Syndrom. Beispiel: Adoptivkinder aus Entwicklungsländern) Fallbeispiel Daniel: Im Alter von zwei Jahren aus einem indischen Waisenhaus adoptiert. Entwicklungsstand: konnte nicht frei sitzen, keinerlei sprachliche Äußerung, erste Ansätze von Lallen, erste Greifversuche. Nahm keine breiige Nahrung zu sich, konnte nur mit Flasche ernährt werden. Im weiteren intensive Förderung durch Adoptiveltern unter psychologischer Anleitung: Mit fünf Jahren Dysgrammatismus, motorisch ungeschickt, trennungsängstlich von den Eltern, aber mit einer bestimmten Kindergärtnerin durchaus in der Gruppe im Kindergarten integriert, primäre Enuresis nocturna, mit sechs Jahren auch nachts trocken. Nach Rückstellung mit sieben Jahren eingeschult, keine Lernprobleme, durchschnittlicher Schüler. Besucht derzeit mit gutem Lernerfolg die erste Klasse einer kooperativen Mittelschule, schwächster Gegenstand: Mathematik. Sozial und emotional vollkommen unauffällig. Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 22 von 36 Angst Angst ist eine anpassungsnotwendige physiologische Emotion. Physiologische Ängste: 0-6 Monate: aversive Reize 6-9 Monate: „Fremdeln“ 9-24 Monate: Separation 2-5Jahre: Umweltangst (Gespenster, Hexen, Einbrecher, Tiere, Dunkelheit, Gewitter…) 6-9 Jahre: Sozialisationsangst 9-12 Jahre: Realangst 12-14 Jahre: Reifungsangst Über 14 Jahre: Existenzangst Pathologische Ängste: Panikattacken: abgegrenzte Perioden intensiver Angstgefühle, oft mit körperlichem Unbehagen, Phobien: zwanghafte Befürchtungen vor bestimmten Situationen oder Objekten, die nicht real zu rechtfertigen sind ((Agoraphobie: Angst vor Menschenmengen, Plätzen, Reisen) Soziale Phobien: Angst vor Tätigkeiten in der Öffentlichkeit (sprechen, Referat halten) Tierphobien, Insektenphobien, Arztphobien, Aidsphobien… Angst und Schule: Schulverweigerung: dissozial: Schule schwänzen, ohne Angst Schulangst: Angst vor der Schule Schulphobie: Angst ist unabhängig von der Schule und führt zu Schulverweigerung (zumeist Trennungsangst von Bezugspersonen) Kinder mit erhöhter Angstbereitschaft haben zumeist überängstliche Bezugspersonen. Zwang Zwangsgedanken (obsessions): Gedanken, Impulse, Bilder Zwangshandlungen (compulsions): stereotype Handlungen (Reinigungshandlungen, Kontrollzwang) Merkmal: verursachen Leiden, sind zeitraubend und beeinträchtigen den Tagesablauf Diagnose: - Zwang besteht wenigstens zwei Wochen an den meisten Tagen müssen als eigene Gedanken und Impulse erkennbar sein wiederholen sich in unangenehmer Weise Patient versucht, wenigstens einem Gedanken oder Handlung Widerstand zu leisten Beginn im Kindesalter: etwa mit 10 Jahren, (+/- 3,5). Häufig gemeinsam mit Depression, ohne dass daraus ein ursächlicher Zusammenhang abgeleitet werden kann. Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 23 von 36 Befindlichkeit Grundstimmung: allgemeine Stimmungslage des Patienten, beeinflusst Wahrnehmung, Denken, Handeln. Diese wird von affektiven Reaktionen überformt (Lächeln trotz Traurigkeit, kann zu Stimmungsumschwung führen) Störungen des Affektausdrucks: Ambivalenz= widersprüchliche Gefühle und Motive gleichzeitig im Bewusstsein. Ausgeprägte Ambivalenz oder Ambitendenz (widersprüchliche Motive) führen Handlungsunfähigkeit Affektarmut: emotionale Indifferenz trotz adäquater Auslöser Affektverflachung: = Störung der affektiven Beteiligung bei schizophrenen Syndromen Affektstarre = Mangel an affektiver Modulation Affektlabilität = rascher Stimmungswechsel Affektinkontinenz = Mangel an Affektsteuerung Parathymie = Affekte passen nicht zum kommunikativen Kontext zu Störung der Befindlichkeit: Depression = übersteigerte Trauer; Schwermut, Lustlosigkeit, Freudelosigkeit, Gefühl der Leere, Schuldgefühle, mangelnder Selbstwert, Veränderung des Antriebs, der vegetativen Funktionen Dysphorie = gereizte Missstimmung; ärgerlich, vergrämt, leicht reizbar, griesgrämig (vor allem im Rahmen von Adoleszenzkrisen) Euphorie = heiter-fröhliche Grundstimmung Manie = übersteigerte Fröhlichkeit; Steigerung des Antriebs, Schlafmangel, übersteigertes Selbstvertrauen, bis zur Ideenflucht und Denkstörungen, im Kindesalter selten Im Kindesalter: Depression: äußert sich in gehäuften psychosomatischen Reaktionen, unspezifischem Unglücklichsein. Vor der Pubertät: Buben zu Mädchen: 2:1, ab Pubertät: 1:2 Depressive Symptome auch bei Verhaltensstörungen, Angststörungen, Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität. Vegetative Funktionen: Essverhalten: Appetitstörungen Erhöhte Nahrungsaufnahme: Adipositas (Fettsucht): Häufigkeit im Kindesalter: ca 20%, etwa gleiche Geschlechterverteilung Reduzierte Nahrungsaufnahme: Anorexia nervosa: Essattacken: Bulimia nervosa: Polydipsie (Verlangen, viel zu trinken) Rumination: willkürliches Heraufwürgen von Nahrung, die dann wieder gekaut und verschluckt wird. Ausscheidungsfunktionen: Enuresis, Enkopresis Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 24 von 36 Schlafstörungen Schlaf hat zwei Zustände: Non-REM-Schlaf: 4 Stadien (Einschlafstadium- leichter Schlaf-mittlerer Schlaf-Tiefschlaf) REM(rapid-eye-movement)-Schlaf: Traumstadium (Stadium 5) Zyklus REM-Non-REM: Neugeborenes: 50-60 Minuten Erwachsener: ca 90 Minuten Dyssomnien: - Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnie) Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus Übermäßige Schlafneigung während des Tages, Schlafanfälle während des Tages (Hypersomnie) – tritt meist erst zwischen 15 und 25 Jahren auf Narkolepsie: unkontrollierte Schlafattacken mit Tonusverlust Schlafapnoe: wiederholte Atemstillstände von bis zu 30 Sekunden während des Schlafes, tagsüber erhöhtes Schlafbedürfnis Parasomnien: - Pavor nocturnus: etwa 2-3 Stunden nach dem Einschlafen in einer tiefen REM-Phase: vegetativ übererregt, heftige Bewegungen, angstvoller Gesichtsausdruck, Schreien Schlafwandeln (Noctambulismus, Somnambulismus) gehäuft zwischen 5 und 7 Jahren Albträume Soziale Interaktion: Sozial- und Regelverhalten: Störung des Sozialverhaltens ist zweithäufigste kinderpsychiatrische Diagnose, bei Buben die häufigste. Aggression: Oppositionelles Verhalten zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse versus aufmerksamkeitsforderndes Verhalten zur Befriedigung emotionaler Bedürftigkeit Höhepunkt der frühkindlichen Aggressionsentwicklung: Trotzalter Fixierung auf „grandioses“ Selbst, das fragloses Akzeptiertsein von einem idealisierten Objekt fordert. Kränkungen können nicht adäquat verarbeitet werden, narzisstisch labile Kinder sind auf die Bestätigung ihrer Macht und Omnipotenz angewiesen. Identifikation mit dem Aggressor als Angstabwehr oft mit hyperkinetischem Verhalten und Teilleistungsschwächen verbunden, häufig bei Jugendlichen, die in der Kindheit als hyperkinetisch diagnostiziert wurden (= Risikofaktoren für aggressive Verhaltensstörung) Komorbidität zu Drogenmissbrauch von etwa 50%, Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 25 von 36 Somatisierung (ehemals: hysterische Krankheitsbilder) = körperliche Symptome, die eine körperliche Erkrankung nahe legen, aber keine organischen Befunde aufweisen Reaktion des Organismus auf ihn traumatisierende Lebenserfahrung Mentzos (1980): Symptome weisen Sinnzusammenhänge mit der Biographie und dem aktuellen sozialen Rahmen auf. - Konversionsmodell: Symbolcharakter, nicht bewusstseinsfähiges Material wird ins Körperliche konvertiert, Organ ist die Bühne des Konflikts, Organminderwertigkeit - Äquivalenzmodell: Symptom = Angstanfall ohne Symbolcharakter, vegetative Dysregulation Gehäuft: Zusammenhang mit sexuellen, besonders inzestuösen Übergriffen, Zeugenschaft von Gewalttaten, körperliche Misshandlung. Somatoforme Störungen häufig begleitet von depressiven Symptomen, bei Schulphobien, im Vorfeld suizidaler Handlungen Oft freies Intervall zwischen Ereignis und Symptom Cave Differentialdiagnose zu organischen Erkrankungen (zB MS)! Differentialdiagnostische Kriterien: - Modell (emotional wichtige Bezugsperson hat ähnliche Symptome) - Belle indifference : Diskrepanz zwischen Schwere der Erkrankung und Einstellung dazu, wenig subjektiv betroffen - Gehäuft psychiatrisch-psychosomatische Erkrankungen in der Familienanamnese - Auch früher Somatisierung bei organischen Erkrankungen - Frühe Somatisierungsphänomene - Organische Erkrankungen am(vor/während des Beginns der Konversionssymptomatik - Symptomwechsel, Symptomveränderung, Symptomausdehnung im Rahmen der medizinischen Untersuchung - Primärer und sekundärer Krankheitsgewinn - Symbol- und Ausdrucksgehalt der Symptomatik (Beispiel: meist beide und nicht nur eine Extremität) - Körperliche Belastung durch bleibende Krankheitsfolgen (zB nach Unfällen) - Manipulative Handlungen (bis zur Selbstverletzung) - Häufiger Abbruch und Wechsel von Behandlungen („doctor-shopping“) - Persönlichkeitsentwicklungsstörungen (häufig Borderline-Typ) - Traumatische Erfahrungen Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 26 von 36 Erlebnisreaktive und psychogen entstandene Störungen: Einteilung nach W. Spiel (1987): - Erlebnisreaktion - Persönlichkeitsentwicklungsstörungen - Neurotische Reaktionen Erlebnisreaktion: Charakteristika; - psychophysische Reaktion beobachtbar (Erregung, Irritiertheit, Ängstlichkeit, Unruhe, eventuell Schlafstörungen) Reaktion ist plausibel auf ein oder mehrere Ereignisse zurückführbar Art der Erlebnisreaktion ist von der Qualität und Quantität des Ereignisses abhängig Ereignis wird gewusst und erinnert Einteilung der Erlebnisreaktionen nach W. Spiel (1987): Extremes psychogenes Schocksyndrom Hospitalismus-Syndrom Angstsyndrome - Pavor nocturnus - Schulängste Depressionen Suizid, Suiziddrohung Aggressionssyndrome Mutismus = Verweigerung der sprachlichen Kommunikation, Sprachkompetenz aber vorhanden Elektiver Mutismus: mit ganz bestimmten Menschen wird die sprachliche Kommunikation aufrecht erhalten, Tagträumen „Erziehungsprobleme“ -Daumenlutschen: bei Mangelsituationen, Frustrationen, Depravierungen Ersatzbefriedigung -Nägelbeißen(Onychophagie), Nagelbettreißen (Perionychophagie): auto-aggressiver Akt zur Spannungsabfuhr -Trichotillomanie: =Ausreißen der Haare -Jactatio: Kopfdrehen und/oder Wippen, um sich in einen entspannten Zustand zu versetzen. Deprivationssyndrom (Hospitalismus) -Pica (nicht Essbares wird gegessen) -Exzessive Onanie -Enuresis -Enkopresis Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 27 von 36 als Neurosen - vermutet wird ein innerseelischer Konflikt mit nicht bewusstseinsfähigem Material Ursachen des neurotischen Symptoms sind nicht direkt erfragbar, weil sie weit (in der Kindheit) zurückliegen und nicht ins Bewusstsein treten dürfen Symptome der Energieeinbuße Schwere der einzelnen oder mehreren verursachenden Vorgänge stehen von außen betrachtet in keinem Zusammenhang mit der Schwere des neurotischen Symptoms Neurotisches Symptom ist repetetiv Symptombildung kommt durch Symbolisierung und Maskierung zustande (Symptom „bedeutet“ etwas) Einteilung der Neurosen nach Spiel (1987): - Neurotische Reaktion Angstneurosen Hysterie Zwangsneurosen Depressive Neurosen Charakterneurosen Persönlichkeitsentwicklungsstörungen -Psychosomatosen Psychosomatosen: Schmerzstörungen: - Abdominelle Beschwerden (Bauchschmerzen mit Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, bei Kindern gehäuft Kopfschmerzstörungen (45-70% der 10-17jährigen!) Migräne: Charakteristika: Dauer (unbehandelt): zwischen 4 und 72 Stunden (Kinder unter 15 Jahren: 2 bis 48 Stunden); einseitiger, pulsierender Schmerz; Verschlimmerung der Schmerzen durch körperliche Aktivität; Übelkeit, ev mit Erbrechen; Photophobie, Sonophobie. Bei 10-15% „Auren“ vor dem Migräneanfall (Verschwommensehen, blinde Flecken, gezackte geometrische Figuren, seltener Taubheitgefühle, Gefühlsstörungen Spannungskopfschmerz: Charakteristika: Dauer zwischen 30 Minuten und sieben Tagen, drückend, nicht pulsierend, beidseitig, durch körperliche Aktivität nicht verschlimmert, keine Übelkeit, kein Erbrechen, keine Photo- oder Sonophobie Konversionsstörungen (dissoziative Störungen) Am häufigsten betroffen: Motorik und Sensorik (Lähmungen, Gangstörungen, pseudoepileptische Anfälle, Aphonie, Bewusstseinsstörungen..) Colitis ulcerosa: Bauchschmerzen, blutige Durchfälle, Anämie Respiratorische Affektkrämpfe Erregungssturm aus Trotzreaktion, Angst, bis zur Bewusstlosigkeit Asthma bronchiale: Psychogene Mitbeteiligung: „Schrei nach der Mutter“, schwer irritierte Mutter-Kind-Beziehung Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 28 von 36 Spezielle Störungsbilder der Kinderpsychiatrie, im Übergangsbereich zwischen erlebnisreaktiven Störungen und Neurosen: Anorexia nervosa Diagnostische Kriterien: 1. Körpergewicht mindestens 15% unter der Norm (Norm = BMI = Körpergewicht in kg/Körpergröße in m2) 2. Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt 3. Körperschemastörung und das unkorrigierbare Gefühl zu dick zu sein 4. endokrine Störungen 5. bei Erkrankungsbeginn vor der Pubertät ist die pubertäre Entwicklung verzögert oder gehemmt Hauptmanifestationsalter: 11-18 Jahre, 8-11 mal häufiger bei Mädchen Bulimia nervosa = unwiderstehlicher Drang, zu viel zu essen, gefolgt von selbstinduziertem Erbrechen oder Abführen, Furcht, zu dick zu werden. Altersgipfel: 19 Jahre Risikofaktoren für Anorexie und Bulimie: - Alter um die Pubertät - Weiblich - Hoher Druck n Richtung Schlanksein - Hoher Leistungsdruck - Mangelnde Fähigkeit, den eigenen Gefühlszustand wahrzunehmen - Familiäre Konfliktsituation und zu enge Beziehungen - Sehr frühe Pubertät - Zwilling - Insulinabhängiger Diabetes mellitus Enuresis = unwillkürliches Einnässen ohne organische Ursache, ab 5 Jahren Primäre Enuresis: Kind war noch nie trocken – zweimal so häufig wie sekundäre Enuresis Sekundäre Enuresis: Rückfall, Kind war bereits trocken (mind. sechs Monate lang) Enuresis nocturna: Kind nässt nur nachts ein – häufigste Form Enuresis diurna: Kind nässt nur tagsüber ein Enuresis diurna et nocturna: sowohl tagsüber als auch nachts 70% der Enuretiker haben einen Verwandten ersten Grades, der auch Enuretiker war. Eindeutiger Zusammenhang zwischensekundärer Enuresis und Stressfaktoren (Geschwister, Trauma…), aber KEIN eindeutiger Zusammenhang zum Sauberkeitstraining Enkopresis = Einkoten ohne strukturelle Abnormitäten, ab dem 4. Lebensjahr. drei Typen von Enkporesis: 1. Darmkontrolle erworben, Stuhl wird an unangemessenen Orten abgesetzt 2. Darmkontrolle nicht erworben, Kind bemerkt das Absetzen von Stuhl nicht oder kann keine Kontrolle ausüben 3. Einkoten und Kotschmieren bei Durchfall bei Krankheit oder Ängstlichkeit Hypothesen einer Organschwäche des Darms als Mitbedingung nicht bestätigt, aber alle Kinder zeigen emotionale Störungen und sozial belastende Faktoren Spezielles Symptom: Toilettenphobie Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 29 von 36 Autoaggression Selbstverletzung = Zufügen einer Verletzung mit Gewebeschädigung ohne suizidale Absicht - im Rahmen psychotischer Störungen (durch Sinnestäuschungen oder Wahnideen religiösen oder sexuellen Inhalts ausgelöst) - Teilaspekt einer Persönlichkeitsentwicklungsstörung: werden wiederholt, werden meist nicht verleugnet Im Kindesalter häufig: Nägelkauen (Onychophagie) Nagelbettreißen (Perionychophagie) Ausreißen der Haare (Trichotillomanie) – bei Kindern häufig in Zusammenhang mit Lernstörungen, geistigen Behinderungen, bei Jugendlichen häufig in Zusammenhang mit depressiver Symptomatik, Angstzuständen, Zwang, Psychose Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom: = Mütter täuschen an Kindern Krankheitssymptome vor, um Hospitalisierung und medizinische Eingriffe am Kind zu erreichen. Mütter oft selbst Münchhauen-Patientinnen Suizid, Suizidversuch, Suizidgedanken Bei Kindern ist die Intention des Suizids oft nicht eindeutig definierbar (Suizidversuche können zu vollendetem Suizid führen) Suizidrisiko bei psychotischen Kindern und Jugendlichen durch optische Halluzinationen (inhaltlich oft mit verstorbenen Verwandten oder Bezugspersonen), etwa 25% Oft um den Geburtstag herum (Bilanzsuizid) Suizidversuch: hohe Dunkelziffer Charakteristika von Kindern und Jugendlichen, die Suizidversuch begingen oder an Suizid starben: - gehäuft depressive Erkrankungen und Persönlichkeitsentwicklungsstörungen in der Herkunftsfamilie - inkonsistentes Erziehungsverhalten im Wechsel zwischen permissiv und restriktiv - mangelnder Austausch an Gefühlen im familiären Kommunikationsmuster - soziale Isolation, innerhalb der Familie und innerhalb der peer-group - chronische körperliche Erkrankungen, Teenager-Schwangerschaften, Kontakte mit Jugendlichen, die Suizidversuch begingen (Graham, 1991) Persönlichkeitstypische Risikofaktoren für Suizid: 1. schnelle Verunsicherung des Selbstwerterlebens 2. strenges und rigides Über-Ich 3. hohes Ich-Ideal 4. ambivalente, leicht störbare zwischenmenschliche Beziehungen 5. Fehlen eines realitätsgerechten Umgangs mit Aggressionen 6. Neigung zur Aggressionsumkehr (Wendung gegen das eigene Ich) 7. Angst vor totaler Verlassenheit und Hilflosigkeit 8. Verleugnung der Realität und Idealisierung der eigenen Person und der Umgebung 9. Todesphantasien im Sinne von Ruhe, Harmonie, Geborgenheit 10. Diskrepanz zwischen Todesphantasien und der Wirklichkeit des Todes (Eggers & Esch 1988) Narzisstische Störung – Suizid kommt narzisstischer Katastrophe zuvor und „rettet“ damit das Selbstgefühl Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 30 von 36 Selbstbezug - - Selbstwertprobleme: sind gebunden an die Entwicklung der sozialen Perspektivenübernahme, daher ab Übergang vom Vorschulalter zum Grundschulalter, vorher situationsund bezugspersonenbezogen, nicht außerhalb der Belastungssituation Depersonalisation = Erleben der Selbstspaltung („Ich bin woanders als mein Körper) Identitätsdiffusion = Unsicherheit über Identität („Ich weiß nicht, wer ich bin. Vielleicht bin ich jemand anderer“) Fremdbeeinflussungserlebnisse = Beeinträchtigung der Eigenbestimmung („Ich gehorche nicht meinem eigenen Willen, Ich bin unter fremder Kontrolle.“) Gedankenentzug („Andere nehmen mir meine Gedanken weg“) Gedankenausbreitung („Andere Menschen wissen um meine Gedanken und beeinflussen sie.“) Gedankeneingebung („Fremde Menschen flößen mir bestimmte Gedanken ein.“) Realitätsbezug Wahn kann beim Kind erst auftreten, wenn das Kind eine Hauptrealität hat und soziale Perspektiven übernehmen kann, also frühestens mit 5 bis 7 Jahren. Wahn wird zur Hauptrealität, gemeinsame Realität mit anderen wird zur Nebenrealität Kennzeichen der Wahnideen: - subjektive Gewissheit Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und logische Schlüsse (Unkorrigierbarkeit) Unmöglichkeit des Inhalts (kann anderen nicht verständlich gemacht und nicht mit ihnen geteilt werden) (Jaspers, 1973) Einsamkeit und Nichtkommunikation Wahnwahrnehmungen: Stufe 1: Wahnstimmung = Grunderwartung an die Welt voll Angst, Misstrauen, Unheimlichkeit. Derealisation (Wirklichkeit ist unwirklich). Anmutungserlebnisse (Die Blätter fallen im Herbst – uns erwartet der Tod) Stufe 2: Anmutungserlebnisse mit Eigenbeziehungen (Die Blätter fallen im Herbst – das gilt mir) Stufe 3: Anmutungserlebnisse mit Eigenbeziehung und unverrückbarer Bedeutung (Dass die Blätter im Herbst vom Baum fallen, wurde für mich gemacht, um mir ein Zeichen zu setzen. Oder: dass die Kinder am Spielplatz so laut lachen, gilt mir, um mich aus der Wohnung zu vertreiben) kindliche Pseudopsychosen: Kinder wahnhafter Eltern können die Wahnvorstellungen der Eltern übernehmen („folie à deux“) =– verschwindet in anderem sozialen Kontext sehr rasch Wahnformen: Beziehungswahn (Liebeswahn, Eifersuchtswahn); Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn; Schuldwahn, Versündigungswahn; Größenwahn; Verarmungswahn; Abstammungswahn (ich bin nicht das Kind meiner Eltern); Weltuntergangswahn; Schwangerschaftswahn; Wahnhafter Ungezieferbefall Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 31 von 36 -> Persönlichkeitsentwicklungsstörungen Charakteristika der Persönlichkeitsentwicklungsstörungen: - - Aus der Anamnese: für die Entwicklung notwendige und förderliche Einflüsse haben nicht stattgefunden; oder Einflüsse waren Anlass zur Devianz der Entwicklung - Der Zusammenhang damit ist dem Patienten nicht „einsichtig“, wird nicht „gewusst“ - Störung imponiert als bleibend und ist nur schwer beeinflussbar - Verhaltenseigenschaften haben Charakterwert - Patient zeigt wenig Angst und kaum Leidensgefühl aus der Anamnese: für die Entwicklung förderliche und notwendige Einflüsse haben nicht stattgefunden oder waren Anlass zur Devianz langdauernde verformende Einflüsse Zusammenhang zu diesen lebensgeschichtlichen Umständen ist dem Betroffenen nicht bewusst Störung ist bleibend und schwer beeinflussbar die entwickelten Verhaltenseigenschaften haben Charakterwert wenig Leidensgefühl und Angst Persönlichkeitsentwicklungsstörungen durch Triebstörung: Sexuelle Identitätsstörung: Zeigt sich meist schon in der frühen Kindheit: angeborenes Geschlecht wird abgelehnt Transsexualismus: will als Angehöriger des anderen Geschlechts leben, wünscht sich chirurgische und hormonelle Behandlung, denkt und fühlt gegengeschlechtlich, will in der gegengeschlechtlichen Rolle sozial anerkannt werden, liebt körperlich gleichgeschlechtliche Person, erlebt sich aber nicht als homosexuell. Bis jetzt keine genetische Ursache gefunden. Transvestitismus: trägt gelegentlich Kleider des anderen Geschlechts, um zeitweilig diesem anzugehören, wünscht aber keine Geschlechtsumwandlung. Keine sexuelle Erregung beim Umziehen Fetischistischer Transvestismus: Umkleiden ist mit sexueller Erregung verbunden Paraphilien (früher: Perversionen): Störung der sexuellen Präferenz Fetischismus: tote Objekte werden als Stimuli für sexuelle Erregung und Befriedigung gebraucht, oft als Ersatz für menschlichen Körper Exhibitionismus: wiederholte Neigung, Genitalien vor dem anderen Geschlecht in der Öffentlichkeit zu entblößen, ohne zu näherem Kontakt aufzufordern oder diesen zu wünschen Voyeurismus: wiederholt auftretender und ständiger Drang, anderen Menschen bei sexuellen Handlungen oder Intimitäten zuzusehen. Pädophilie: sexuelle Präferenz für Kinder, vorpubertär oder in einem frühen Stadium der Pubertät. Meist nur bei männlichen Jugendlichen. Sadismus: selten im Kindes- und Jugendalter, am ehestens bei schwer Verwahrlosten und jugendlichen Kriminellen Masochismus: Tätowieren Pubertätsaskese (Triebhaftes wird abgelehnt) Promiskuität: häufig bei körperlich akzelerierten Mädchen, oft ohne erotische Empfindung, ohne affektive Bindung. Anzeichen für beginnende sexuelle Verwahrlosung, oft hypersexualisiertes Kindheitsmilieu Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 32 von 36 Persönlichkeitsentwicklungsstörungen durch Störung der Ich-Funktionen: Borderline-Störung Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen: können nicht allein sein, suchen Kontakt und zerstören ihn, soziale Integration gelingt nicht, Affekte sind ungesteuert und unstrukturiert, Wut und Depression vorherrschend, Verzweiflung und Einsamkeitsgefühle, mangelhafte Impulskontrolle, Selbstbeschädigung, Störung der Identitätsintegration: narzisstische Störung, Depersonalisation, Derealisation, paranoide Ideen Soziale Integrationsstörungen: Sekten Sucht: (Probierer und User) Hedonistisch oder zur Bekämpfung von Depression und Dysphorie Kennzeichen der Sucht: - übermäßiges Verlangen - Erhöhung der Dosis - Körperliche und psychische Abhängigkeit Persönlichkeitsentwicklungsstörungen durch Störung der Über-Ich-Funktionen: Verwahrlosung: frühkindliche Deprivation - Entmutigung, Kontaktschwäche, Vagieren, Schulschwänzen - Frustrationsintoleranz, gleichzeitig Sensations- und Abenteuerlust - Aggressivität, Lügen, Arbeits- und Leistungsstörungen - Soziale Anpassungsschwierigkeiten, oppositionelles Verhalten - Kriminalität Autismus Kannerscher Autismus (Kanner, 1944): ICD 9: Autismus = frühkindliche Psychose heute: Autismus = tiefgreifende Entwicklungsstörung, ab der Geburt manifest, bereits vor dem 3. Lebensjahr beeinträchtige Entwicklung in einem der drei Bereiche: - Störung der rezeptiven und expressiven Sprache - Störung der Entwicklung selektiver sozialer Zuwendung und Interaktion - Beeinträchtigung des funktionalen oder symbolischen Spielens Asperger-Syndrom: Keine allgemeine Sprachentwicklungsverzögerung oder kognitive Entwicklungsstörung, Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und stereotype Verhaltensmuster Rett-Syndrom: Schwere Störung der expressiven und rezeptiven Sprache, psychomotorische Verlangsamung, stereotype Handbewegungen 75% der autistischen Kinder sind mental retardiert, Defizite in der Wahrnehmungsorganisation und Aufmerksamkeit, Mangel an sozial ausgerichteten Affektäußerungen, Defizit beim Verständnis von Motiven und Zielen anderer Menschen, Mangel an spontanem Lächeln. Ursachen ungeklärt, genetische und/oder cerebral-biochemische Faktoren werden angenommen. Gestörte Eltern-Kind-Interaktionen werden heute mehr als Folge denn als Ursache gesehen Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 33 von 36 -> Psychosen Exogene Psychosen: Ätiologie: durch unmittelbare Erkrankung des Gehirns, durch eine Allgemeinerkrankung, durch toxische Einwirkung hervorgerufen Symptomatologie: Leitsymptom: Bewusstseinsstörung: Bewusstsein ist in Helligkeit, Klarheit und Weite eingeschränkt, qualitative Bewusstseinsstörungen: (beim Kind erst ab mittlerem Schulalter) Verlauf: heilt mit Grundkrankheit aus, in der Rekonvaleszenz treten psychotische Episoden in abgeschwächter Form weiter auf. Zurück bleibt oft ein diffuses hirnorganisches Psychosyndrom. Endogene Psychosen „endogen“: trotzdem oft durch Lebensereignisse ausgelöst; für Endogenität spricht: eigengesetzlicher Verlauf (transkulturelle Studien zeigen, dass schizophrene Primärsymptome in verschiedenen Kulturkreisen sehr ähnlich sind) schizophrene Psychosen: Theorien zur Genese: - anlagebedingt: dafür spricht: wenn beide Eltern schizophren sind: Wahrscheinlichkeit 4060%, dass auch die Kinder schizophren werden. Wenn nur ein Elternteil schizophren, sinkt die Wahrscheinlichkeit auf 10-15 % - psychoanalytisch: die Phänomenologie entspricht der präobjektiven Phase beim Kleinkind - interfamiliäre Kommunikationsstörungen: double-bind-Kommunikation, schizophrenogene Mutter - Kinder- und Jugendneuropsychiatrische Theorienbildung: Störung im Rahmen der Entwicklung der Integration zentralnervöser Strukturen durch frühkindliche Hirnschädigung: mangelhafte Ausbildung der Ich-Strukturen dysfunktionale Ausbildung der funktionellen Hirnorgane, die bei Belastung entgleist (LEMPP) Symptome: 1. Wahnstimmung: schon bei infantilen schizophrenen Psychosen; = mit vitaler Angst verknüpfte Veränderungsgefühle, Bedrohungserlebnisse, Vernichtungsangst Angstzustände, raptusartig, oft in Zusammenhang mit Banalereignis, abrupter Wechsel der Befindlichkeit 2. Störung der Affektivität: Affekt stimmt nicht mit Umgebung überein. Wechsel zwischen abruptem Zurückziehen und überschwänglicher Zuwendung, Dysphorie, 3. Denkstörung: Zerfahrenheit, Konzentrationsunfähigkeit, bizarre Einfälle. Bei Befragung schildern die Jugendlichen Gedankenlautwerden, Gedankenbeeinflussung, sprunghaftes Denken, das als quälend erlebt wird. 4. Antriebsstörung: entweder gesteigert, Erregungszustände, oder reduziert, apathisch, inaktiv, plötzliches Verändern der Sprache, „Mit-sich-selber-reden“, Logorrhoe oder Mutismus. Tobsüchtige Erregung mit Schreianfällen und Angst- wird oft als Verhaltensstörung missgedeutet. Erzieherische Intervention führt zu panik- und raptusaritgen Exazerbationen. 5. Kommunikationsstörung: Kinder verneinen und verweigerndie Kommunikation, verkriechen sich, entwickeln aber manchmal extreme Bindung an einen Gegenstand (Übergangsobjekt?) 6. Depersonalisation: persönliche Identität wird in Frage gestellt, Körperschemastörung, hypochondrische Beschäftigung mit dem eigenen Körper Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 34 von 36 7. Akzessorische Symptome: - Halluzinationen: meist akustisch, selten optisch; taktile bevorzugt bei exogenen Psychosen - bei längerem Bestehen der Krankheit: Veränderungen im motorischen Gehabe: eckig, bizarr, grimassierend - zu Beginn oft vegetative Symptome: Schwitzen, Störung des Biorhythmus, - regressives Verhalten: Veränderung der Sprache, Einnässen, Einkoten Verlauf: Unterschied zwischen Psychosen des frühen Kindesalters und denen der Pubertät: Kindesalter: - schleichend, progredient, wenig produktiv - erregt, katatoniform, stürmisch (günstigere Prognose) nach dem 12/14. Lebensjahr: Verlauf wie bei Erwachsenen: - hebephren: = symptomarm, affektive Verflachung, in der Folge Skurrilität, - simplex: = Denkstörung, Antriebsstörung, Affektdissoziation, Depersonalisation, Autismus, paranoide Wahnbildungen, oft in der Pubertät starke Stimmungsschwankungen, - kataton: = akut einsetzend, ängstliche Grundstimmung, ekstatisch, starke vegetative Zeichnung, kataleptische Symptome, Halluzinationen, stuporähnliche Zustände - Zwangsverlauf (Sonderling): selten, kaum ein akutes schizophrenes Symptom, emotional leer, schrullig, meist nicht am Beginn zu erkennen, erst imVerlauf - depressive bzw manisch-depressive Psychosen depressive und manisch-depressive Psychosen: Kennzeichen: (wie im Erwachsenenalter): - Veränderung der Stimmungslage - Veränderung des Antriebs - Veränderung der Vitalität - Auftreten körperlicher Symptome (Schlaf-, Appetitstörungen Manie: gesteigerter Antrieb, gehobene Stimmung, Kritiklosigkeit, Unruhe Depression: verninderter Antrieb, traurige Gestimmtheit, weinerliche Müdigkeit, Hypochondrien, Ängste, Appetitlosigkeit, Obstipation Zykloidie: Manisch und depressiv alterniert, kaum vor dem 10/11 Lebensjahr Verursachung: endogene Verursachung, erblich (eineiige Zwillinge: 70%, zweieiige: 20%), phasenhaft psychoanalytisch: Objektverlust in der frühen Kindheit Differentialdiagnose manischer Zustandsbilder: Angetriebenheit, gehobene Stimmungslage auch bei Oligophrenen In der Pubertät: schizophrene Psychose beginnt mit manischen Symptomen Kinder- und Jugendpsychiatrie Seite 35 von 36 Weiterführende Literatur Döpfner, M., Schürmann, S., & Frölich, J. 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