Selbstmanagement bei chronischen Erkrankungen - content

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Geleitwort
Geleitwort
Zu den generellen Definitionsmerkmalen einer chronischen Erkrankung zählen
das Vorliegen einer biologischen oder psychologischen Störungsursache, eine
Erkrankungsdauer von mindestens einem Jahr und das Auftreten von Folgebelastungen in mindestens einem der folgenden Bereiche: Einschränkungen der
Alltagsaktivitäten, die Angewiesenheit auf Hilfe zur Kompensation oder Minimierung der funktionellen Einschränkung und ein erhöhter Bedarf an medizinisch-psychologischer Versorgung. Chronisch kranke Kinder und Jugendliche
bedürfen in der Regel einer dauerhaften Therapie. Diese bedingt eine kontinuierliche Disziplin im Rahmen der Therapiemitarbeit, gegebenenfalls auch im
Ertragen von wiederholten schmerzhaften Prozeduren sowie im Tolerieren von
körperlichen, mentalen oder ästhetischen Behandlungsnebenwirkungen. Nach
einem Regelschema von Petermann münden diese Faktoren in einem Circulus
vitiosus: Die chronische Krankheit führt unweigerlich zu einer familiären Belastung.
Das resultierende Bewältigungsverhalten hängt von verschiedenen Merkmalen des Patienten und der Familie ab, insbesondere von den verfügbaren Ressourcen, die geeignet sind, Belastungen abzupuffern. Deswegen gilt es auch ein
psychosoziales Betreuungskonzept zu entwickeln, nach dem die Patienten selbst
und die betroffenen Familien von einem interdisziplinären, interaktiv arbeitenden Team betreut werden müssen. Patienten und Familien sollten dabei je nach
Bedarf und in Abhängigkeit von Diagnose, Krankheitsstadium und vom Schweregrad der Erkrankung sowie vom Alter des Kindes verschiedene Mitglieder
des Teams in Anspruch nehmen können. Zur Bewältigung der Erkrankung und
zur notwendigen Prävention und Reduktion von Belastungen ist neben der
Verbesserung der familiären Integration insbesondere die Mobilisation von
sozialer Unterstützung von Bedeutung. Einen hohen Stellenwert haben zudem
die Erhöhung der Langzeitcompliance zur Durchführung der notwendigen
Therapiemaßnahmen und die systematische Anleitung zur Selbsthilfe, z. B.
durch Schulungsprogramme. Entsprechende Programme sind in den letzten
Jahren beispielhaft z. B. für das Asthma bronchiale, die Adipositas und den
Diabetes mellitus entwickelt worden. Hieran haben sich weitere Selbstbehandlungsprogramme für andere chronische Erkrankungen orientiert. Die Erfolge
dieser Maßnahmen wurden evaluiert und wissenschaftlich dokumentiert.
Im vorliegenden Buch werden neben den Besonderheiten von Selbsthilfeprogrammen bei spezifischen Erkrankungen die Grundlagen, die Rahmenbedingungen für die Implementierung der Selbstmanagementprogramme sowie spezifische Techniken zur Förderung des Selbstmanagements abgehandelt.
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Geleitwort
Das Buch knüpft nahtlos an den kürzlich publizierten Band des gleichen Autorenteams mit dem Titel „Psychische Entwicklung bei chronischer Krankheit
im Kindes- und Jugendalter“ an und stellt eine wertvolle Ergänzung dar. Die
beiden Autoren sind seit vielen Jahren am Dr. von Haunerschen Kinderspital
tätig und verfügen über große Erfahrung in der Behandlung chronisch kranker
Kinder und Jugendlicher. Da die Zunahme chronischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter und damit auch die Bewältigung dieser Erkrankungen
eine wichtige Problematik in der Kinderheilkunde und der Jugendmedizin darstellt, hoffe ich sehr, dass dieser Band eine große Leserschaft findet.
München, August 2010
Prof. Dr. Dr. h. c. Dietrich Reinhardt
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Vorwort der Herausgeber
Vorwort der Herausgeber
Der vorliegende Band basiert auf einem Symposium zum Thema „Selbstmanagement bei chronischer Krankheit im Kindes- und Jugendalter“, zu dem die
Herausgeber Wissenschaftler1 verschiedener Fachrichtungen, Vertreter der
Krankenkassen und des Bundesversicherungsamtes sowie Experten aus der
Industrie im Dezember 2008 eingeladen hatten, um die vielfältigen Facetten
der Thematik interdisziplinär zu erörtern. Für den vorliegenden Band wurden
die Vorträge ausgearbeitet. Ergänzend wurden weitere Fachbeiträge, die sich
insbesondere mit den entwicklungs- und motivationspsychologischen Grundlagen des Selbstmanagements, der Anwendung von Selbstmanagementtechniken bei einzelnen Krankheitsbildern und spezifischen Techniken des Selbstmanagements befassen, einbezogen.
Nachdem sich die psychologische Literatur im Kontext chronischer Krankheiten im Kindes- und Jugendalter bis vor einigen Jahren schwerpunktmäßig
mit Fragen der Adaptation und des Copings sowie den Determinanten von
Compliance und Non-Compliance befasst hat, wird in neueren Ansätzen zunehmend die Bedeutung des eigenverantwortlichen Selbstmanagements der
jungen Patienten und ihrer Familien betont. Im Mittelpunkt des Selbstmanagement-Ansatzes stehen die Autonomie des Menschen und die als erlernbar betrachtete Fähigkeit zur Selbstregulation. Gemäß dem Selbstmanagement-Ansatz
sollte dem Menschen bei der Gestaltung seines Lebens eine aktive Rolle zugeschrieben und die Freiheit des Einzelnen maximiert werden. Gleichzeitig wird
von einem Pluralismus von Werten und Lebensstilen ausgegangen und die
Dynamik des menschlichen Lebens hervorgehoben. Aus den Merkmalen dieses
Menschenbildes lassen sich übergeordnete therapeutische Strategien für die
Betreuung von Familien mit einem chronisch körperlich kranken Kind bzw.
Jugendlichen ableiten. Hierzu zählen insbesondere die umfassende Patienteninformierung und Patientenschulung sowie die Maximierung der Eigenverantwortung für die Durchführung des Behandlungsregimes.
Bereits seit Mitte der 1990er Jahre hat der Selbstmanagement-Ansatz Berücksichtigung in den verschiedenen Behandlungsempfehlungen der Fachgesellschaften gefunden. Für eine Reihe chronischer Erkrankungen wie Asthma
bronchiale, Diabetes mellitus, Neurodermitis und Adipositas sind strukturier-
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Die Personenbezeichnungen im Text beziehen sich gleichermaßen auf Frauen wie
auf Männer. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde jedoch darauf verzichtet,
in jedem Fall beide Geschlechter zu benennen.
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Vorwort der Herausgeber
te und qualitätsgesicherte Patienten- bzw. Familienschulungen integraler Bestandteil der Therapie. Zwischenzeitlich wurden auch für seltenere Krankheitsbilder wie das Nephrotische Syndrom Schulungsprogramme konzipiert und
evaluiert. Das gemeinsame Ziel dieser Programme besteht darin, die Kinder
und Jugendlichen in altersangemessener Weise zu Sachverständigen für ihre
Gesundheit, ihr Wohlbefinden und das Krankheitsmanagement auszubilden.
Dies ist nicht nur für diejenigen Kinder und Jugendlichen ein erstrebenswertes
Ziel, die wiederholt die Erfahrung von krankheitsbedingten Einschränkungen
und Abhängigkeiten gemacht haben, sondern stellt eine generelle Herausforderung für das Gesundheitssystem dar.
Um chronisch kranke Kinder und Jugendliche und ihre Eltern in die Lage zu
versetzen, ein möglichst hohes Maß an Verantwortlichkeit für die Therapiemaßnahmen zu übernehmen, müssen gemeinsam mit dem Arzt bzw. dem Behandlungsteam unter Berücksichtigung der aktuellen Lebenssituation der Familie zunächst realistische Behandlungsziele definiert und im Anschluss daran
adäquate Problemlösungsfertigkeiten trainiert werden. Bei der Vermittlung der
jeweils spezifischen Schulungsinhalte sollten insbesondere diejenigen Verhaltensstrategien ausgeformt werden, die dem Kind oder Jugendlichen bzw. den
Eltern ein hohes Maß an Handlungskompetenz im Alltag erlauben. Von besonderer Bedeutung ist daher die Vermittlung von Fertigkeiten, die eine situationsangemessene Handhabung der allgemeinen Strategien im Umgang mit der
Krankheit ermöglichen. Da es aufgrund der komplexen Verläufe chronischer
Krankheiten nicht möglich ist, alle in Zukunft auftretenden Problemsituationen
antizipieren und entsprechende Lösungsstrategien einüben zu können, sollte
zudem auch die Förderung von Kreativität und Flexibilität einen hohen Stellenwert haben. Um eine solide Motivation des Patienten zur Mitwirkung bei
der Therapie aufzubauen und dauerhaft zu implementieren, sind neben der
adäquaten Vermittlung relevanter Wissensinhalte in Form von Patientenschulungsprogrammen auch spezifische verhaltensmedizinische Maßnahmen von
Bedeutung. Eine wesentliche Voraussetzung für die langfristige Förderung von
Eigenverantwortlichkeit und Autonomie besteht zudem in einer stützenden
Beziehung zu den einzelnen Mitgliedern des Behandlungsteams im Sinne eines
Coachings.
Die Art der Gestaltung der Informationsvermittlung bzw. der Patientenschulung ist stark abhängig vom Alter des Kindes bzw. Jugendlichen. Grundsätzlich
sollten die Kinder und Jugendlichen alle Komponenten des Krankheitsmanagements selbst übernehmen, für die sie über die notwendigen kognitiven, motorischen, motivationalen und emotionalen Voraussetzungen verfügen. So sind
beispielsweise Kinder mit Typ-1-Diabetes bereits im Alter von drei bis vier
Jahren in der Lage, unter Aufsicht Blutglukosemessungen selbstständig durchzuführen. Sie können die Teststreifen einlegen und den Bluttropfen auftragen,
der zuvor von der Betreuungsperson gewonnen wurde. Die Verantwortung für
die korrekte Umsetzung der Therapiemaßnahmen liegt jedoch zunächst noch
bei den Eltern. Mit dem Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz werden
die Verantwortlichkeiten dann schrittweise übertragen, um eine Loslösung von
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den Eltern ohne Gefährdung der Gesundheit zu ermöglichen. In den Schulungen Jugendlicher ist darauf zu achten, dass die Unterrichtsmaterialien auf
krankheitstypische Problemsituationen zugeschnitten und die jeweiligen Konkretisierungen an der Lebenswelt des einzelnen Patienten orientiert sind. Wesentlich ist zudem das Einüben sozialer Kompetenzen in Situationen, in denen
Gruppendruck und damit die Gefahr der Vernachlässigung relevanter Therapiemaßnahmen besteht. Ferner ist zu berücksichtigen, dass aufgrund einer
häufig noch unzureichenden Selbstkontrollfähigkeit die Gefahr der Überforderung besteht.
In welchem Umfang dem Kind bzw. Jugendlichen die Verantwortung für das
Krankheitsmanagement übertragen wird, sollte gemeinsam mit dem jungen
Patienten, den Eltern und dem Behandlungsteam entschieden werden. Dabei
sollten nicht das kalendarische Alter des Patienten bzw. soziale Vergleichsprozesse als Grundlage dienen, sondern es sollte jeweils individuell eruiert werden,
welche Voraussetzungen gegeben sind. Dabei sind die Kinder bzw. Jugendlichen
unbedingt danach zu fragen, welche Schritte sie sich bereits zutrauen und
welche Schwierigkeiten möglicherweise auftreten könnten. Im Rahmen der
Verlaufskontrolle ist dann zu prüfen, ob die jeweiligen Techniken hinreichend
beherrscht werden. Werden Defizite konstatiert, sollte die weitere Aufgabenübertragung zunächst zurückgestellt werden.
Mit der systematischen Berücksichtigung des Selbstmanagement-Ansatzes
in der Betreuung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien gehen vielfältige Gewinne einher. Eines der Hauptziele des systematischen
Empowerments der Patienten besteht in der Sicherung bzw. Steigerung der
Lebensqualität, indem der Patient in die Lage versetzt wird, eigene Präferenzen
einzubringen, eigenverantwortlich zu handeln und sein Leben stärker selbst zu
bestimmen. Gleichzeitig trägt ein eigenverantwortliches Krankheitsmanagement zur Prävention von Akutkomplikationen und Folgeerkrankungen und
den damit verbundenen zusätzlichen Arztbesuchen bzw. Sekundärhospitalisierungen bei. Je besser der Patient aufgeklärt ist, umso souveräner kann er Entscheidungen treffen und erforderliche Anpassungen in der Behandlung selbst
vornehmen. Durch die Patientenorientierung und die gemeinsame Zielbestimmung sollte eine höhere Mitwirkungsbereitschaft bei den erforderlichen Behandlungsmaßnahmen erzielt werden können und damit eine bessere Therapieumsetzung gelingen. Die Förderung des Selbstmanagements ist somit nicht
nur eine ethische Verpflichtung, sondern gleichsam auch eine ökonomische
Notwendigkeit, wobei die Wirksamkeit und die Nachhaltigkeit einzelner Maßnahmen selbstverständlich sorgfältig zu prüfen sind.
Der vorliegende Band unternimmt den Versuch, den aktuellen Stand der Forschung zum Thema Selbstmanagement bei chronischer Krankheit im Kindesund Jugendalter zu dokumentieren, um Möglichkeiten der Implementierung
unterschiedlicher Maßnahmen in den Klinik- und Praxisalltag und Perspektiven
für weitere Studien zu den Wirkungsweisen einzelner Programme aufzuzeigen
und einen kreativen Umgang mit neuen Medien zur Steigerung der Selbstmanagement-Kompetenzen anzuregen. Dazu soll in einem ersten Teil zunächst der
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Begriff des Selbstmanagements erläutert und entwicklungs- und motivationspsychologische Grundlagen sowie die kulturspezifischen Besonderheiten des
Selbstmanagements dargestellt werden. Darüber hinaus wird auf den Stellenwert
von Selbstmanagement-Interventionen bei Kindern mit besonderem Versorgungsbedarf eingegangen. Der zweite Teil befasst sich mit den Rahmenbedingungen für die Implementierung von Selbstmanagement. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die Patientensouveränität steigern und die
Informationsasymmetrie zulasten des Patienten korrigieren lässt. Dabei geht es
im einzelnen um Selbstmanagement in strukturierten Behandlungsprogrammen
für chronisch Kranke, um ökonomische Aspekte des Selbstmanagements, das
Selbstmanagement aus der Sicht der Krankenkassen und die institutionalen
Voraussetzungen für die Umsetzung von Selbstmanagement. Im dritten Teil wird
auf die Anwendung von Selbstmanagementtechniken bei einzelnen chronischen
Erkrankungen eingegangen. Im Mittelpunkt stehen dabei Asthma bronchiale,
Diabetes mellitus, Adipositas, angeborene Herzfehler und chronische Nierenerkrankungen. In den beiden abschließenden Kapiteln werden spezifische Techniken zur Förderung des Selbstmanagements präsentiert.
Als Herausgeber des Bandes möchten wir uns bei unseren Autorinnen und
Autoren für die äußerst konstruktive Zusammenarbeit bedanken. Durch das
große Engagement bei der Erstellung der anspruchsvollen wissenschaftlichen
Beiträge konnte diese dem aktuellen Forschungsstand entsprechende Übersicht
über die Thematik erstellt werden. Unser ganz besonderer Dank gilt Dr. Wiese
vom Bundesversicherungsamt in Bonn, der die Herausgeber in zahlreichen
Gesprächen dazu ermuntert hat, die Thematik inter- und multidisziplinär zu
erörtern und den Stellenwert der Patientenautonomie und -souveränität in der
Versorgung chronisch Kranker herauszuarbeiten. Ulrike Merkel vom Verlag
W. Kohlhammer danken wir für die Betreuung von Verlagsseite, ihre stets
geduldige und zuversichtliche Art und die hilfreichen Anregungen. Bei Dr.
Stephanie Putzker möchten wir uns dafür bedanken, dass sie sich neben ihrer
klinischen und wissenschaftlichen Arbeit die Zeit genommen hat, inhaltliche
Aspekte mit uns zu diskutieren, mit großer Sorgfalt die Druckvorlage zu erstellen und das Stichwortregister anzufertigen. Raphael von Hagen, dem zehnjährigen Sohn der Herausgeberin, danken wir für den anregenden Austausch
über das Thema Gesundheitserziehung und Eigenverantwortlichkeit sowie die
kreativen Vorschläge, Selbstmanagementstrategien kindgerecht zu vermitteln.
Cornelia von Hagen und Hans Peter Schwarz
München, August 2010
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I
Grundlagen des Selbstmanagements
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1
Begriffsbestimmung
1 Begriffsbestimmung
Antje Otto
1.1
Einleitung
Der Begriff der Compliance war lange Zeit gleichbedeutend mit der Befolgung
von Anweisungen des Arztes, ohne diese zu hinterfragen. Im Zuge der weiten
Verbreitung des Internets ist heute allerdings eine Fülle an Informationen abrufbar und für bestimmte Diagnosen werden verschiedenste alternative Heilmethoden vorgeschlagen. Der Patient kann sich ohne Arzt über Therapien informieren
und tritt durch das eigene erworbene Wissen auf kongenialer Ebene in das Gespräch mit dem Arzt ein, er wird mündig (empowered). Damit eine Therapie
möglichst konstruktiv verläuft, muss sich der Umgang mit dem Patienten an die
aktuellen Gegebenheiten anpassen. Der Fokus auf die „Compliance“ (d. h. auf
die strikte Befolgung der ärztlich-medizinischen Anweisungen) wird verschoben
in Richtung Hilfe zur Selbsthilfe und somit einem Problemlösetraining. Das Ziel
der am Versorgungsprozess beteiligten Leistungserbringer ist nicht mehr nur die
„Compliance“, sondern die „Adherence“ des Patienten. Das bedeutet, der Patient soll selbstverantwortlich aus eigener Überzeugung heraus das Beste für sich
und seine Gesundheit tun, indem auch eigene Ressourcen genutzt werden. Voraussetzung hierfür ist eine partnerschaftliche Beziehung zwischen dem Arzt und
seinem Patienten. Hieraus entstehen Herausforderungen für den Arzt und seine
Mitarbeiter, die aber, wenn sie gut umgesetzt werden, bessere Bedingungen für
die Behandlung schaffen, indem die Mitwirkungsbereitschaft durch intrinsische
Motivation des Patienten nachhaltig gestärkt wird.
Die Theorien zum Thema Selbstmanagement zeigen diese Herausforderungen für den Arzt und seine Mitarbeiter auf und geben Ansätze zur Lösung der
damit verbundenen Aufgaben. Zuerst wird hier der Begriff des Selbstmanagements genauer erläutert, bevor die Herausforderungen und Ansatzpunkte zur
Lösung beschrieben werden. Aus der Vielzahl der Theorien zum Thema Selbstmanagement wie der Lerntheorie (Rotter, 1954; Bandura, 1979), Motivationstheorie (Heckhausen, 2006), Handlungstheorie (Skinner, 1973) etc. wurde hier
die Theorie der Selbstwirksamkeitserwartung (Schwarzer, 1992) ausgewählt,
da sich hieraus zahlreiche Implikationen für die Praxis ableiten lassen.
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I Grundlagen des Selbstmanagements
1.2
Eine Begriffsklärung im Kontext
der Patientenversorgung
Selbstmanagement ist ein Oberbegriff für Therapieansätze, die darauf abzielen,
Patienten zu einer besseren Selbststeuerung anzuleiten und sie so zur möglichst
eigenständigen und aktiven Problembewältigung zu befähigen (Kanfer, 1987,
2006). Folgende Ziele resultieren daraus:
• Eine aktive Problembewältigung, d. h. nicht medizinische Wunder werden
erwartet, sondern der Patient kann seine Situation durch eigenes Verhalten
positiv beeinflussen.
• Die Autonomie des Patienten, d. h. der Patient wird als Individuum in seiner
eigenen speziellen Lage gesehen, so dass nicht bei allen Patienten mit der
gleichen Diagnose die gleiche Therapie immer genauso effektiv und effizient
sein muss.
• Die Anleitung zur Selbststeuerung, d. h. zur Selbstregulation, die später noch
genauer erläutert wird.
Die Grundlage der Selbstmanagement-Theorien ist ein bestimmtes Menschenbild, demgemäß alle Menschen danach streben, über alle Ereignisse, die ihr
Leben unmittelbar betreffen, Kontrolle auszuüben. Mangelnde Einflussmöglichkeiten auf diese Ereignisse führen dahingegen zu Resignation oder sogar
Verzweiflung (Bandura, 1997). Tritt eine Erkrankung auf, ist die Kontrollierbarkeit des Lebens gefährdet. Die Therapie, die dem Patienten von Ärzten
angeboten wird, stellt eine Verhaltensmöglichkeit für den Patienten dar, die es
ermöglicht, ein gewisses Maß an Kontrolle zurückzuerlangen. Wenn ein Patient
die Therapie in diesem Sinne als wirksame Verhaltensmöglichkeit begreift, wird
die „Compliance“ verbessert, da eine positive Wirksamkeitseinschätzung des
Verhaltens gegeben ist und dadurch die Häufigkeit des Verhaltens steigt – in
diesem Fall die Durchführung der erforderlichen Therapiemaßnahmen. Positive Wirksamkeitseinschätzung bedeutet jedoch nicht, dass der Patient lediglich
von der Wirksamkeit der Therapie überzeugt ist, sondern die Wirksamkeitseinschätzung ist zu verstehen als Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten.
1.3
Selbstwirksamkeitserwartung
Will man ein bestimmtes Verhalten fördern, wie z. B. die Therapieeinhaltung
und -aufrechterhaltung, sollte zunächst die Selbstwirksamkeitserwartung genauer betrachtet werden, da diese ein Schlüsselfaktor für menschliches Handeln
ist und als wichtigster Mediator für die Veränderung von Verhalten gilt. Die
Selbstwirksamkeitserwartung ist die Erwartung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen durchführen zu können, die zu einem angestreb20
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1 Begriffsbestimmung
ten Ziel führen (Schwarzer, 1992). Aus dieser Definition geht hervor, dass bei
Selbstwirksamkeitserwartung ein angestrebtes Ziel existieren muss, was besonders bei chronischen Erkrankungen, insbesondere bei progredient verlaufenden, keine einfache Aufgabe darstellt. Weiterhin müssen die eigenen Kompetenzen bekannt sein, was wiederum die Fähigkeit zur Selbstreflexion
voraussetzt. Auch die nötigen Handlungen müssen geläufig sein, wie die genaue
Vorgehensweise bei der Therapie, und es muss die Erwartung bestehen, dass
diese Handlungen korrekt ausgeführt werden können. Wenn z. B. ein Diabetespatient eine Spritzenphobie hat, wird die Erwartung, in der Lage zu sein,
sich täglich mehrmals Insulin zu injizieren, eher gering sein.
Im Folgenden sollen die Prozesse, aus denen sich die Selbstwirksamkeitserwartung zusammensetzt, detaillierter beschrieben werden.
Kognitive Prozesse
Kognitive Prozesse umfassen die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
eines Individuums. Die Kognition befähigt ein Individuum, sich selbst einzuschätzen und zu reflektieren, sich Strategien und Handlungsalternativen zu
überlegen sowie sich selbst zu regulieren (Bandura, 1986). Die Selbstregulation stellt eine besondere Form der Kognition dar, nämlich die kontrollierte
Kognition. Die kontrollierte Kognition ist das Gegenteil zur automatisierten
Kognition, wie sie beim Autofahren oder Essen erfolgt. Die Selbstregulation
setzt ein, wenn ein gewohnter Verhaltensfluss bewusst unterbrochen wird. Der
Ablauf ist seriell und wird in Abbildung 1.1 dargestellt.
Korrigierendes
Feedback anhand
der Konsequenzen
Antizipatorischer
Zyklus
Externe
Situation
Stimuli
Internal psychologische
Komponenten
Reaktion
Korrektiver Zyklus
Konsequenz
Biologische
Gegebenheiten
Organismus
Ve rgleich der
Reaktion mit
bestimmten
Standards
Beeinflusst die
Wahrnehmung und
den Einfluss von
Umgebungsreizen
Attribution
Abb. 1.1: Ablaufschema der Selbstregulation (in Anlehnung an Kanfer, 1987)
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