Wissen Sonntag, 26. Juli 2015 / Nr. 30 Zentralschweiz am Sonntag 43 Ein OP-Roboter verlangt nach Routine MEDIZIN Operationsroboter sind nur so gut wie der Chirurg, der sie bedient. Zu den europaweit führenden Spezialisten gehört Agostino Mattei vom Luzerner Kantonsspital. Er sagt, dass Qualität höhere Fallzahlen erfordert. Rasante Entwicklung " pb. Bis vor 30 Jahren kannte man in den OP-Sälen nichts anderes als die klassische Chirurgie: Der Brustoder Bauchraum wird durch grosse Schnitte und in Handarbeit durch den Chirurgen geöffnet. Nachteil: Es entstehen grössere Wunden, die mehr schmerzen und den Patienten länger ans Spitalbett binden. " In den 1990er-Jahren wurde die konventionelle Laparoskopie (Schlüssellochchirurgie) entwickelt: Statt einem grossen Bauchschnitt werden nur noch zwei bis drei zentimeterlange Schnitte am Körper angebracht. Durch diese Schlitze werden Operationswerkzeuge und eine Kamera eingeführt. Der Chirurg operiert, indem er durch die Kamera in das Körperinnere sieht und mit eingeführten Pinzetten und Schere im Körperinneren operiert. PIRMIN BOSSART [email protected] 2008 hat die Urologie des Luzerner Kantonsspitals die Robotertechnik eingeführt. Seitdem haben spezialisierte Operationsteams über 600 Eingriffe mit dieser Technologie durchgeführt. Davon waren über 400 Prostatakrebsoperationen. «Mit diesen Zahlen gehören wir schweizweit zu den führenden Zentren», sagt Agostino Mattei, Chefarzt Urologie und Leiter Roboterchirurgie am Luzerner Kantonsspital. Er ist ein Pionier in der roboterassistierten Chirurgie. Hohe Fallzahlen sind für ihn aussagekräftig: Sie belegen die an einer Klinik vorhandene Erfahrung, insbesondere die Routine des Chirurgen. Mit dem Roboter sind hochpräzise Operationen möglich. Dadurch verringert sich die Rekonvaleszenz des Patienten (siehe Kasten). Das ist mit ein Grund für den aktuellen Run auf die neue Technologie. Plötzlich wollten alle Spitäler einen solchen Roboter haben. «In der Schweiz gibt es mittlerweile 23 Roboter für 8,2 Millionen Menschen. Es hat mehr Roboter als hoch erfahrene Roboterchirurgen», sagt Mattei. Als Vergleich führt er England an. Dort sind es zehn Roboter bei einer Bevölkerung von rund 50 Millionen. " Die Roboter-Technologie, die Ende der 1990er-Jahre entwickelt wurde, geht noch einen Schritt weiter: Der Chirurg wird zum Operateur, der nicht mehr am Operationstisch beim Patienten arbeitet, sondern daneben an einer Konsole sitzt und Instrumente und Kamera steuert. Am Operationstisch assistiert ein weiterer Arzt, der über Erfahrungen in der Schlüssellochchirurgie verfügt. " Mit dem Roboter hat der Chirurg drei Hände zur Verfügung. Allfällige Zitterbewegungen werden mit einem Filter neutralisiert. Zum andern ermöglicht eine hochauflösende 3-D-Kamera, dass der Chirurg an der Konsole das Operationsfeld räumlich sieht, wie mit zwei richtigen Augen. Vergrösserungen bis zum Faktor 10 erlauben ein sehr differenziertes Handhaben der Instrumente. Die Technik hat sich in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt, die Bildauflösung ist noch schärfer geworden. Erfahrene Teams können extrem präzis und auch sehr gewebeschonend arbeiten. Technologie ist nicht günstig Einen Da-Vinci-Roboter anzuschaffen, kostet rund 2 Millionen Franken. Weitere 200 000 Franken kostet der Servicevertrag. Dazu kommt das Einwegmaterial in der Höhe von zirka 3000 bis 4000 Franken, das für jede Operation neu beschafft werden muss. Mit andern Worten: Die Refinanzierung bedingt, dass diese Roboter möglichst ausgelastet und vielseitig eingesetzt werden. «Es sind jedoch derzeit nur wenige Eingriffe, die von dieser Technologie tatsächlich profitieren», weiss Mattei. Dazu gehörten Prostatakrebs, gewisse Formen von Nierenkrebs, einige spezielle Gebärmutter- und ganz wenige Dickdarmoperationen. «Das ist das relativ enge Anwendungsfeld, bei dem sich der Robotereinsatz wirklich auszahlt.» Natürlich könne man auch eine Blinddarmoperation mit dem Roboter machen, lächelt der Chirurg, «aber das wäre, wie wenn man mit einem 28-Tönner ein paar Blumenkisten transportiert». Die grosse Verbreitung dieser teuren Technologie in den Schweizer Spitälern und das enge Anwendungsfeld führen dazu, dass Anlagen zu wenig genutzt herumstehen. Laut Mattei gibt es «nur wenige Maschinen in der Schweiz, die zu 100 Prozent ausgelastet sind». Marketing-Instrument Hightech im Operationssaal: Der Chirurg arbeitet mit der Roboter-Technologie nicht am Operationstisch beim Patienten,sondern er sitzt an einer Konsole und bedient so die Instrumente. Bild © 2015 Intuitive Surgical, Inc. Versuchung, den Roboter für Eingriffe zu nutzen, bei denen er nicht nötig wäre. Agostino Mattei gehört in der Schweiz zu den Pionieren der Roboterchirurgie und ist europaweit einer der Spezialisten auf diesem Gebiet. Kürzlich wurde er an einen internationalen Kongress von 9000 Urologen in Madrid eingeladen, um eine «state-of-the-art lecture» zu halten. Dort ging es um die Qualität in der Roboterchirurgie. Mattei konnte von den Erfahrungen am Luzerner Kantonsspital berichten, das sich in der Roboterchirurgie mit den besten Referenzzentren der Welt messen kann. Die steigende Zahl von Robotern in den Schweizer Spitälern wirkt sich laut Mattei auch auf die Qualität aus. «Die Qualität der Maschine ist unbestritten. Aber ein guter Roboter macht nicht automatisch eine gute Operation. Dazu braucht es einen erfahrenen Chirurgen Bündelung der Kräfte mit einem erfahrenen Team. Ein Chirurg Um eine sehr gute Qualität zu erreimacht Erfahrungen, indem er möglichst chen, werden bei roboterassistierten viel operiert», sagt Mattei. Erst wenn ein Eingriffen am Luzerner Kantonsspital je Chirurg 50 bis 60 nach Operation speProstataoperationen zifische Teams eingesetzt. Mattei: «Wir pro Jahr mache, sei «Nur wenige Roboter haben ein Team, das er nach internationalen Standards ein 70 bis 80 Prostatasind zu 100 Prozent krebsoperationen «high-volume surausgelastet.» geon», verfüge also macht, und ein Team, AG O ST I N O M ATT E I , über eine Top-Erfahdas 40 NierenoperaLU Z E R N E R KA N TO N S S P I TA L rung. tionen durchführt. Es Der Zusammensind immer die gleihang leuchtet ein: Je chen Leute.» Mit einmehr Roboter in den Spitälern stehen, gespielten Schwerpunktteams werde es desto weniger können die notwendigen möglich, auch an einem kleinen ZentFallzahlen erreicht werden, die ein rum relevante Fallzahlen zu erreichen. Chirurg benötigt, um die nötige ErMattei sorgt sich, dass mit der zufahrung zu erlangen. Aber wie gut ist nehmenden Anschaffung von Robotern eine Maschine, wenn sie von Leuten in der Schweiz die sehr gute Qualität bedient wird, die wenig damit arbeiten? nicht mehr in allen Fällen gewährleistet Die Robotertechnologie, vermutet Mat- werden könnte. Er fände es besser, nur tei, sei für viele Spitäler halt auch ein wenige Zentren zu haben, an denen Marketing-Instrument. Und wegen der erfahrene Teams mit Robotern operiernotwendigen Fallzahlen bestehe die ten, um die Qualität zu sichern. " Zu den grossen Vorteilen der roboterassistierten Chirurgie gehört, dass sie die Nebenwirkungen der herkömmlichen Chirurgie ausschalten kann: Es gibt keine grossen Wunden mehr, das Infektionsrisiko sinkt, der Schmerzmittelverbrauch geht zurück. Die Patienten können nach ein paar Tagen das Spital verlassen. Somit reduzieren sich auch die Kosten für die Rehabilitation. Prostatakrebs: Teils wird mit Eingriff zugewartet KRANKHEIT Haupteinsatzgebiet für den Operationsroboter ist wie im Haupttext erwähnt Prostatakrebs. Er ist in der Schweiz die häufigste Krebsart überhaupt. Rund 6100 Männer erkranken pro Jahr daran (30 Prozent aller Krebsdiagnosen bei Männern). Fast alle Patienten (99 Prozent) sind zum Zeitpunkt der Diagnose über 50 Jahre alt. Agostino Mattei (Bild), Chefarzt Urologie und Leiter Roboterchirurgie am Luzerner Kantonsspital, beantwortet die wichtigsten Fragen. Kann man Prostatakrebs vorbeugen? Agostino Mattei: Nein, nach dem heutigen Wissensstand ist das nicht möglich. Ab wann und wie oft sind Vorsorgeuntersuchungen angezeigt? Mattei: Wenn niemand in der Familie von Prostatakrebs betroffen ist oder war, kann sich der Patient auf seinen Wunsch hin zwischen 50 und 70 Jahren untersuchen lassen. Je nach dem bei der Erstuntersuchung ermittelten PSA-Wert (Anm.: Prostata-spezifisches Antigen; es wird durch eine Blutentnahme bestimmt) im Turnus von einem, zwei oder drei Jahren. Bei familiärer Vorbelastung wird ein regelmässiger Untersuch bereits ab 45 Jahren empfohlen. Was sind Prostatakrebs-Symptome? Mattei: Prostatakarzinome im Anfangsstadium, das heisst auf das Prostatainnere begrenzt, können ohne Untersuchung oft unentdeckt bleiben, da sie keine Beschwerden auslösen. Symptome eines wachsenden Karzinoms können Harnstrahlabschwächung oder eine Abflussbehinderung der Blase sein. Hier kann der Urologe durch Untersuchungen (Blutuntersuchungen, gegebenenfalls Gewebsentnahme) Klarheit schaffen. Fortgeschrittene Tumore können Knochenschmerzen verursachen oder zu hochgradigen Harntransportstörungen bis hin zur Harnverhaltung führen. Was, wenn Krebs diagnostiziert wird? Mattei: Die Therapie ist bei jedem Patienten individuell zu wählen. Der Schweregrad des Tumorleidens, die Situation hinsichtlich möglicher Ableger des Tumors sowie die ganze Ausbreitung müssen in Betracht gezogen werden. 70 bis 90 Prozent der Tumore, die lokal begrenzt sind, werden heute durch Vorsorgeuntersuchungen frühzeitig erkannt. Bei diesen Tumoren ist eine Heilung möglich. Unter Umständen kann durch eine aktive Überwachung («Active Surveillance») vorerst auf einen Eingriff oder eine Strahlentherapie verzichtet werden. Bei der «Active Surveillance» wird durch regelmässige Untersuchungen sichergestellt, dass im Falle einer Veränderung des Tumors immer noch eine Therapie mit Heilung möglich ist. Ist man nach einer Operation beeinträchtigt, zum Beispiel bezüglich Inkontinenz oder erektile Dysfunktion? Mattei: Bei 85 Prozent der operierten Patienten gibt es drei Monate nach dem Eingriff keinen Urinverlust mehr. Nach einem Jahr sind weit mehr als 90 Prozent der Patienten vollständig trocken. Bei etwa 50 bis 60 Prozent der operierten Patienten wird die Erektionsfunktion beeinträchtigt. Das ist aber behandelbar. Und je erfahrener der Chirurg und sein Team, um so weniger Probleme entstehen Wie ist die Prognose? Mattei: Bei Prostatakrebs, der sich auf die Prostata beschränkt und früh erkannt wird, besteht die Möglichkeit auf eine vollständige Heilung. Wenn der Tumor einen niedrigen Risikofaktor hat, kann dieser durch systematische Kontrollen – in der Regel alle drei Monate – überwacht werden. Bei fortgeschrittenen Tumoren hängt die Prognose vom allgemeinen Zustand ab und davon, wie der Patient auf die Therapie (Medikamente, Infusionen) anspricht. Patienten, die aufgrund der statistischen Lebenserwartung voraussichtlich weniger als zehn Jahre zu leben haben, sterben in der Regel nicht an einem bereits vorhandenen Prostatatumor, sondern an einer anderen Allgemeinerkrankung wie etwa Herz-Kreislauf-Versagen. INTERVIEW HANS GRABER [email protected]