Der „Große Vaterländische“

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Nachfolgender Vortrag wurde vom Autor am 25.1.o5
in der Arbeitsgruppe Mittel- und Osteuropa im Rahmen einer Diskussion zum
Thema 60. Jahrestag der Befreiung gehalten:
Prof. Dr. sc. Horst Schützler
Der „Große Vaterländische“ - im heutigen Russland
Der „ Große Vaterländische“ oder ein „anderer Krieg“ - konträre Sichten
(Über „alte und neue Wahrheiten“, „rostige Legenden“ und
„neues Herangehen“)
Vor 60 Jahren - mit dieser Angabe begann vor etwa vier Jahren in Russland
der geballte Rückblick auf den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Überfall
Hitlerdeutschlands am 22. Juni 1941 und den großen Höhepunkten der
Moskauer, Stalingrader und Kursker Schlacht, der Befreiung Leningrads aus
der faschistischen Blockade sowie den großen Schlachten des Jahres 1944.
Er wird seine Kulmination im Mai dieses Jahres mit dem Jubiläum des Sieges
der Alliierten und der Befreiung Deutschlands finden.
Diese Rückbesinnung war und ist mit vielen Auseinandersetzungen im Wandel
und Wechsel von Gesellschaft, Geschichtsverständnis und
Geschichtsschreibung, wie er in den letzten 15 Jahren vor sich ging,
verbunden.
Ich bin in diesen Jahren entsprechend meinen begrenzten Möglichkeiten als
„Historiker im Ruhestand“ und den in Deutschland erschließbaren Materialien
der Fragestellung nachgegangen: Was denkt und schreibt man im heutigen
Russland über den Großen Vaterländischen Krieg?
Ich habe dazu Vorträge gehalten, jüngst eine Broschüre vorgelegt (das Heft 67
erschien in der Schriftenreihe „Pankower Vorträge“ der Hellen Panke zur
Förderung von Politik, Bildung und Kultur e.V. mit dem Titel „Der Große
Vaterländische – Was für ein Krieg!?“ und will heute und hier versuchen,
einen Einblick in diese Auseinandersetzungen in jenem Land zu geben,
dessen Bevölkerung vor 60 Jahren an der ersten und wichtigsten Front des
Zweiten Weltkrieges den größten, opferreichsten Anteil am Sieg über den
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Faschismus und die Befreiung Deutschlands hatte.
Zur Situation
Ein Schüler der 11. Klasse kommt nach einer Geschichtsstunde nach Hause
und wirft seinem Urgroßvater vor: „Großvater, du hast gesagt, dass ihr gesiegt
habt, aber tatsächlich hat Stalin euch als ‚Kanonenfutter’ genutzt“.
Über den Inhalt von Schulbüchern zur Geschichte aufgebrachte
Kriegsveteranen wandten sich vor einiger Zeit an Präsident Putin.
Dieser reagierte; ein Lehrbuch wurde zurückgezogen; die Lehrbücher sind
generell zu überarbeiten; ihre große Zahl soll reduziert werden. Sie haben zur
patriotischen und staatsbürgerlichen Erziehung entsprechend einem
„Staatsprogramm“ vom Februar 2001 beizutragen.
In den vergangenen zwei Jahren wurde ausgiebig über Inhalt und Gestaltung
eines Lehrbuches „Geschichte Russlands im 20. und zu Beginn des 21.
Jahrhunderts“ für die 9. und 11. Klasse diskutiert und dabei der Darstellung
des Großen Vaterländischen Krieges große Beachtung geschenkt.
Akademiemitglied Tschubarjan, Direktor des Instituts für Allgemeine
Geschichte der Akademie der Russischen Föderation und selbst Mitautor des
Lehrbuches „Vaterländische Geschichte im 20. und zu Beginn des 21.
Jahrhunderts“ äußerte sich in einem Interview im Juni 2002 u.a. zum Platz und
zur Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges:
Beim Großen Vaterländischen Krieg sehe ich kein besonderes Problem. Die
Sicht der Gesellschaft auf diesen ist einheitlich. Frage: Aber wie ist es mit der
Diskussion darüber: Wer begann den Krieg? Wer den Krieg begann, ist allen
verständlich und bekannt. Es gibt die Meinung Viktor Suworows. Ich würde im
Lehrbuch darauf hinweisen, dass eine solche Meinung existiert; sie gründet
sich auf ein-zwei Dokumente. Ich würde diese Dokumente anführen und schaut, vergleicht und denkt selbst. Das ist alles. In der Darstellung des
Krieges ist es meines Erachtens notwendig, neue Sujets, neue Themen, die
es früher in den Lehrbüchern nicht gab, einzuführen. Notwendig ist es über die
Kollaboration zu berichten. ... Notwendig ist es, das Thema „Die
Sowjetgesellschaft und der Krieg“ breiter zu behandeln. Man muss mit der
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Gedankenwelt der Menschen bekannt machen, mit ihrem alltäglichen Leben;
man muss über das äußerst niedrige Lebensniveau berichten und daran
erinnern, dass die Stimmung in der Gesellschaft nicht immer und überall der
Losung entsprach: „Der Sieg wird unser sein!“ Überhaupt ist es erforderlich, in
den Lehrbüchern breiter die Geschichte der Menschen darzustellen: „Der
Mensch an der Front“, „Der Mensch unter Okkupation“, „Der Mensch im
Hinterland“. Dann wird die Geschichte lebendig, ja, das sind unsere Leute,
Sowjetmenschen. Tschubarjan wies darauf hin, ein Geschichtslehrbuch habe
zur Konsolidierung der Gesellschaft beizutragen, müsse bei den Schülern die
Fähigkeit zum selbständigen Denken entwickeln, dürfe nicht Quelle eines
Einheitsdenkens und von Dogmen werden.
Der Historiker und Publizist Michail Polikarpow schrieb Ende 2003 über
„rostige Legenden“: „Viele meinen, dass der Große Vaterländische das Letzte
ist, was uns eint, und dass man deshalb seine Helden - die wirklichen und die
erdachten - nicht anrühren dürfe. Das ist unser aller Übel. Solange bei uns
eine offizielle Geschichte existiert, die ‚rostige’ Legenden wiederholt und ihre
Insolvenz zeigt, solange wird es auch einen historischen ‚underground’ und
alternative Versionen geben, die manchmal phantasmagorische Formen
annehmen. Das Schlimmste ist, dass die Gesellschaft durch die
unterschiedliche Wahrnehmung dieses Krieges schon faktisch gespalten ist:
die einen akzentuieren die Aufmerksamkeit auf die Tatsache des Sieges,
andere stellen fest, dass man so nicht kämpfen durfte, dass dies ein
Pyrrhussieg war“.
Damit sind wir schon im Thema.
Die Auseinandersetzungen um gesicherte alte und um neue Erkenntnisse, um
„rostige“ Legenden und „neue Wahrheiten“, die oft keine sind, erfassen den
ganzen Krieg und viele Details. Sie waren und sind besonders heftig, denn sie
berühren einen zentralen Nerv des Geschichtsbewusstseins des Volkes, sein
Opfer- und Selbstbewusstsein. Sie erfassen und berühren tief die gut
organisierte, natürlich kleiner werdende Schicht der Kriegsveteranen, die sich
ihre Verdienste um Land und Volk nicht nehmen lassen. Heute leben in
Russland noch 8,1 Millionen Veteranen des Krieges, darunter etwas mehr als
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eine Million Frontkämpfer, oft invalid, deren Zahl in den letzten fünf Jahren um
1,5 Millionen zurückging. Zudem ging und geht es um einen eminent wichtigen
patriotischen Erziehungsfaktor für die junge Generation und für
Militärangehörige.
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Begriffsbild und Herangehen
Das von Stalin geprägte Begriffsbild des „Großen Vaterländischen Krieges“ Synonym für einen gerechten, umfassenden Volkskrieg zur Verteidigung des
„sozialistischen Vaterlandes“ und zur Befreiung anderer Völker - blieb in der
Geschichtsschreibung und im Volke, trotz mancher Angriffe und
Umschreibungsversuche, erhalten. Es wird - nach meiner Auffassung zu
Recht - weiter Verwendung finden, obwohl das „sozialistische“ Vaterland, die
Sowjetunion, nicht mehr vorhanden ist; das Vaterland, das „große Russland“,
wie manche patriotisch überhöht schreiben, aber bleiben wird.
Einerseits wurden unter diesem Begriffsbild sowjetische Stereotype
sozialistischer Siegesgewissheit bedient, wie das der Gesetzmäßigkeit des
Sieges über das faschistische Deutschland, der politisch-moralischen Einheit
der Sowjetgesellschaft, der Stalinschen Kriegskunst u. a.. Andererseits
wurden „neue Wahrheiten“ über einen „anderen Krieg“ - so ein provokanter
Buchtitel aus dem Jahre 1996 - der „totalitären, stalinistischen“ Sowjetunion
verkündet. Zu dem trat das Bemühen, in komplexer Sicht und Wertung dem
„Phänomen“ des Krieges und des Sieges einer „sozialistisch-stalinistischen“
Gesellschaft mit ihr eigenen Kräften und Zwängen auf die Spur zu kommen.
Einen „anderen Krieg“ als den „Großen Vaterländischen“ wollen einige
Historiker wie der Rektor der Moskauer Staatlichen Geisteswissenschaftlichen
Universität, Juri Afanassjew, Herausgeber des Buches „Drugaja wojna“ / „Ein
anderer Krieg: 1939 - 1945“ und historisierende, antikommunistische
Publizisten wie der Philologe Boris Sokolow, Wladimir Beschanow, der vom
Ausland agierende, ehemalige sowjetische Geheimagent Viktor
Suworow/Resun u. a. sowie auch Schriftsteller mit der Entlarvung von Lügen
und Legenden, der Aufdeckung von „Geheimnissen“ und „Wahrheiten“ des
Krieges in das Geschichtsbild bringen. Sie postulieren immer wieder penetrant
bestimmte Sichten, Meinungen und Auffassungen in polemischer Polarisation
zu den zur Sowjetzeit üblichen und auch danach oft beibehaltenen.
In der sowjetischen Historiographie war der Große Vaterländische Krieg der
größte Mythos und leider spielt er diese Rolle auch heute in der
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Historiographie Russlands. Die Erfahrungen dieses Krieges muss man aufs
Neue erfassen, postulierte Boris Sokolow im Jahre 2001.
Problemfelder und Schwerpunkte
Überblickt man die Debatten und die Literatur über den Krieg und seinen
Verlauf, so sind bestimmte Problemfelder und Schwerpunkte deutlich.
Präventivkriegsdebatte:
Immer wieder wurde und wird über den Weg in den Krieg, also über den
Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges, gestritten und geschrieben.
Es überwiegen die Stimmen, die der sowjetischen Außenpolitik in Umkehrung
früherer Sichten - sicher zu Recht - eine aggressive, imperiale Außenpolitik
zuschreiben. Dabei wird insbesondere auf die Verwirklichung der
völkerrechtswidrigen, geheimen Zusatzabkommen zum deutsch-sowjetischen
Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939, umstritten als „Diktatoren-Pakt“, auf
die Angliederung der baltischen Staaten und den sowjetisch-finnischen
Winterkrieg 1939/40 bezug genommen.
Nach dem Untergang der Sowjetunion entbrannte mit starker internationaler
Beteiligung, darunter auch deutscher, eine heiße Präventivkriegsdebatte,
ausgelöst durch Viktor Suworows Buch „Ledokol“ / „Der Eisbrecher“.
„Ungeplante Diskussion: Bereitete Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler vor?“
lautete der Titel eines 1995 erschienenen Buches mit Diskussionsbeiträgen.
Sie interpretierten vor allem Stalins Auftreten vor Absolventen der
Militärakademie am 5. Mai 1941 im Kreml, Dokumentenentwürfe des
Generalstabes zur Kriegsplanung und die Dislozierung der Streitkräfte in den
westlichen Grenzgebieten unterschiedlich. Anfang 1995 wurden der Handvoll
offener Befürworter - in der Literatur sind neben Suworow vor allem die
Namen Meltjuchow, Neweshin und Danilow präsent - dieser bei den Nazis
entliehenen Propagandathese auf einer internationalen Konferenz in Moskau
die Leviten gelesen: Es sei unzulässig, sich auf einzelne militärische
Maßnahmen oder Instruktionen der Armeeführung zu berufen, ohne dieser der
Politik zuzuordnen. Die Rote Armee habe 1941 weder eine Offensive
vorbereitet, noch wäre sie zu einer solchen fähig gewesen. Auch die deutsche
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Führung sei im Juni 1941 von keiner akuten Bedrohung durch die
sowjetischen Streitkräfte ausgegangen.
Doch angesichts mancher politischer und marktwirtschaftlicher
Zweckbestimmungen, unterschiedlicher Interpretierbarkeit bestimmter
Sachverhalte und Quellen bzw. ihres Fehlens bereitet das „Syndrom des
Angriffskrieges“ - so ein Buchtitel aus dem Jahre 1997 - russischen Historikern
weiter Kopfschmerzen. Der bekannte „Geschichtspublizist“ Lew Besymenski
hat in seiner jüngsten Schilderung des „Pokerspiels der Diktatoren Stalin und
Hitler“ alle Vermutungen von einem Präventivkrieg Stalins gegen Hitler als
„belletristische Übungen“ gewertet. Doch der Direktor des Instituts für die
Geschichte Russlands der Akademie der Wissenschaften der Russischen
Föderation, Andrei Sacharow, würdigte beim „neuen Herangehen an die
Geschichte Russlands“ diese „Übungen“ als „selbständige wissenschaftliche
Richtung“, vor allem jüngerer Leute.(konträre Sichten!)
Katastrophendebatte
Natürlich stand die Anfangsphase des Krieges, als das Land an den Rand des
Abgrunds geriet, in einer „Katastrophendebatte“ im Zentrum der
Aufmerksamkeit.
Das zur Sowjetzeit übertriebene Überraschungsmoment wurde schnell
relativiert und in ein Ensemble von Ursachen und Fehlentscheidungen, die die
politische und militärische Führung traf, eingeordnet. Das betraf die
rechtzeitige Bestimmung des Zeitpunktes des Überfalls mit den sich daraus
ergebenden Festlegungen, das notwendige Handeln der Truppen im Falle
eines tiefen strategischen Durchbruchs des Gegners und eine Verteidigung im
strategischen Maßstab. Die Schuld für dieses sträfliche Fehlverhalten geben
viele in erster Linie Stalin und seiner nächsten Umgebung - Molotow,
Malenkow, Berija, Woroschilow und anderen.
Insbesondere die „Säuberung“, man kann auch sagen die „Enthauptung“ der
Roten Armee kurz vor Kriegsbeginn, der über 40 000 Offiziere, etwa 8o
Prozent des Kommandeurbestandes zum Opfer fielen, hatte, wie kaum
bestritten wird, katastrophale Folgen. Doch Suworow/Resun wollte 1998 mit
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seinem Buch „Säuberung. Warum enthauptete Stalin die Armee?“ den
„Beweis“ führen, dass „Stalin richtig, präzise und entschlossen handelte, als er
die Armee von ‚genialen’ Feldherren säuberte“. Der „Beweis“ brachte nichts
Neues und verfiel.
Wie verhielt sich der allgewaltige Stalin in den ersten Tagen des Krieges?
Diese Frage hat immer wieder interessiert. In der Beantwortung führte sie,
genährt durch Memoiren, bis zum - auch hier zu Lande kolportierten - Extrem,
in den ersten zehn Tagen habe sich der schockierte Diktator in seiner Datsche
verkrochen. Doch anhand der Eintragungen im Besucherbuch zu Stalins
Arbeitskabinett im Kreml zeigte der bekannte Publizist und Historiker Roy
Medwedjew unlängst dezidiert für die ersten zehn Tage, dass Stalin in dieser
chaotischen Zeit weitgehend „normal“ arbeitete, im Kreml anwesend war,
Besucher empfing, Beratungen hatte und Anordnungen traf - oft folgenschwer
unrichtige. Lediglich am 29./30. Juni, nach der Aufgabe von Minsk, gab es
eine „Krise der Führung“, als er im Generalstab explodierte, sich auf seine
Datsche zurückzog und niemand an sich heranließ.
Angesichts der bitteren Niederlagen und der Millionen
Militärangehörigen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten und in den Kämpfen
ihr Leben ließen, angesichts der schwer errungenen militärischen Erfolge und
des schließlichen Sieges, wofür Stalin, seine Marschälle und Generäle
verantwortlich waren und Anteil hatten, war und bleibt die Frage des
Kampfeswillens, der Kampfmoral und der Kampfesführung wichtiger
Gegenstand der Erinnerung und heftiger, oft emotionaler
Auseinandersetzungen. Doch ist sie weniger Objekt umfassender
Untersuchungen. Letzteres gilt besonders zur Problematik von Kampfeswillen
und Kampfmoral, zu Sowjetzeiten kaum kritisch hinterfragt, aber auch heute
von Militärhistorikern - zumindest öffentlich - nicht ergiebig erörtert.
Zur Kampfesführung der beiden Gegner äußerte sich der mehrmals in
Ungnade gefallene, als „Marschall des Sieges“ aufgewertete Georgi Shukow
zugespitzt schon gegen Ende der 60er Jahre (und seines Lebens - er starb vor
30 Jahren am 18. Juni 1974) nicht in seinen, unwürdigen konjunkturellen
Korrekturen unterworfenen Memoiren “Gedanken und Erinnerungen“, sondern
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gegenüber dem ehemaligen Frontkorrespondenten und bekannten
Schriftsteller Konstantin Simonow: „Man muss klar sagen, dass die deutsche
Armee zu Beginn des Krieges besser als unsere Armee vorbereitet,
ausgebildet, bewaffnet und psychologisch auf den Krieg eingestellt war... Man
muss auch bekennen, dass der deutsche Generalstab und überhaupt die
deutschen Stäbe damals besser funktionierten als unser Generalstab und
unsere Stäbe insgesamt, dass die deutschen Befehlshaber in jener Periode
besser und gründlicher überlegten, als das unsere Kommandeure taten. Wir
lernten erst im Verlaufe des Krieges, die Deutschen zu schlagen, und das war
ein langwieriger Prozess“.
Diese realistische Sicht des Kämpfen- und Siegenlernens sowohl auf
der unteren Ebene der Soldaten als auch der oberen, vor allem der
Befehlshaber, ist sowohl für den einzelnen Befehlshaber, wie den Obersten
Befehlshaber Stalin und seinen Stellvertreter Shukow, sowie Jeremenko,
Konew, Malinowski, Rokossowski, Timoschenko u. a., für die einzelnen
Operationen und Schlachten als auch für den Kriegsverlauf insgesamt heftig
umstritten.
(Dieser Streit wurde schon zur Sowjetzeit als „Marschallstreit“ geführt,
z. B. zur Stalingrader Schlacht und zur Schlacht um Berlin, in dem auch sehr
persönliche Motive mitschwangen. Er wird heute von anderen, oft
diskreditierend, fortgeführt. Eine Shukow-Literatur boomt, doch auch
Publikationen über Stalin nehmen zu - sicherlich nicht zufällig.)
In der Wochenzeitung „Argumente und Fakten“ gab es anlässlich des
60. Jahrestages des Sieges in der Stalingrader Schlacht unter der Überschrift
„Sensation: Wahrheit und Lüge über die Stalingrader Schlacht“ ein bissiges
Duell zwischen dem Bestseller-Publizisten Wladimir Beschanow und dem
bekannten, bejahrten Historiker Georgi Kumanjow.
Ja, Stalingrad hielt stand, konstatierte Beschanow. Dies sei keine Legende,
sondern ein wirkliches Wunder, das der mächtigen Initiative von unten, der
natürlichen Eigenschaft des russischen Soldaten, seiner Standhaftigkeit und
Initiative, zu verdanken sei und nicht den „großen Feldherren“, die über die
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Wolga verschwanden. Zum höchsten Befehlshaber wurde der
Bataillonskommandeur, der mit den Soldaten kämpfte und fiel.
Für „Väter“ der Stalingrader Schlacht halten sich einige - Chruschtschow,
Jeremenko und Shukow. Dieser glänzte in Stalingrad nicht besonders,
sondern fuhr in der Hauptrichtung Rshew - nordwestlich von Moskau gewaltige Verluste ein, die, wie bei Stalingrad, verschwiegen und im Vergleich
mit den deutschen heruntergerechnet wurden. Überhaupt hätten die
sowjetischen Militärhistoriker immer Probleme mit der Arithmetik gehabt und
die sowjetischen Generäle, die „roten Napoleons“, mit der Kriegskunst.
Kumanjow widersprach hinsichtlich der hohen Verluste und bekräftigte
die Urheberschaft von Shukow und Wassilewski an der Kesselschlacht. Er
wies die Darstellung als Verleumdung zurück, in der Stadt rechts der Wolga
hätten nur Offiziere bis zum Range eines Bataillonskommandeurs gemeinsam
mit den Soldaten gekämpft. Er kam zu dem Schluss, dass derartige „Neuerer“Auslassungen, die auf „Wahrheit in letzter Instanz“ Anspruch erheben und sich
in der Regel nicht auf seriöse Quellen stützen, nicht weiterführen in einer Zeit,
in der ein objektives Geschichtsbild ohne Anschwärzungen und eigene
Phantasien notwendig sei.
Auch die Kursker Schlacht im Juli/August 1943, die größte des Zweiten
Weltkrieges überhaupt, wie oft geschrieben wurde, war Gegenstand des
öffentlichen Meinungsstreites hinsichtlich ihrer Opfer, Ergebnisse und
Bedeutung.
Unter der Fragestellung „Warum verloren wir die Schlacht bei Procherowka
(die große, verlustreiche Panzerschlacht am 12. Juli - H. S.), aber gewannen
die Kursker Schlacht?“ differenzierte Michail Polikarpow frühere Siegessichten
und kritisierte das Festhalten der meisten Medien an „rostigen Legenden“ zur
Schlacht anlässlich ihres 60. Jahrestages.
In der Gesamtsicht des Krieges und des Kämpfen- und Siegenlernens
finden sich in beachtlichen Maße Meinungen wie die des im Jahre 2001
verstorbenen Kriegsveteranen und bekannten Schriftstellers Viktor Astafjew:
„Wir haben einfach und bis zuletzt nicht gelernt zu kämpfen“. Sie treffen auf
heftigen Widerspruch, vor allem bei Kriegsteilnehmern.
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Die nicht seltene, variierte Ansicht, die sowjetischen Heerführer hätten immer
Probleme mit der Kriegskunst gehabt und „talentlos“ gekämpft, konterte der
Präsident der Akademie für Militärwissenschaften, der auch als
Militärhistoriker sehr streitbare, gegen „Orthodoxe“ und „Liberale“ austeilende
Armeegeneral Machmud Garejew mit dem Verweis, es sei nicht zu verstehen,
dass die kenntnisreichen deutschen Generäle, die alles richtig machten, eine
Niederlage erlitten, während die „unbegabten“ sowjetischen Heerführer den
Sieg errangen. Er habe die Überlegenheit der sowjetischen Kriegskunst zu
konstatieren. Dahinter standen seine Studien, u. a. ein Buch über die „Größe
und Einmaligkeit der Feldherrnkunst“ Marschall Shukows, was geradezu vom
Titel her zum Widerspruch reizte.
Durch Forschung und Publikation sind in den zurückliegenden 15 Jahren neue
Bestandteile in das Kriegsgeschehen eingeordnet worden, die früher
übergangen oder nur rudimentär behandelt wurden, und jetzt ausgedeutet
werden. Zugleich wurden andere übergangen bzw. umgedeutet.
Es wurde die Problematik der Repressalien sowohl gegen Soldaten und
Offiziere der Streitkräfte, gegen ehemalige Kriegsgefangene und
Zwangsarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Heimat, gegen Bürger des
Hinterlandes als auch gegen ganze Völker als Wesenselement des
stalinistischen Systems und Instrument der Kriegführung in das Blickfeld
gerückt.
Der Befehl Nr. 227 Stalins vom 28. Juli 1942 „Keinen Schritt zurück“ fand
dabei beträchtliche Aufmerksamkeit, aber eine geteilte Meinung.
Die oft schon so genannte „Tragödie der Gefangenschaft“, d. h. das
schwere Schicksal der Millionen Kriegsgefangenen sowohl der sowjetischen in
deutscher Hand und danach in der Heimat als auch der deutschen und
anderen in der Sowjetunion wurde als wesentlicher Bestandteil der Geschichte
des Krieges erfasst. Im Zahlenstreit geht man von russischer Seite zumeist
von ca. 2,4 Millionen kriegsgefangener Deutscher aus, von denen knapp über
zwei Millionen zurückkehrten und etwa 360.000 verstarben.
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Zur Geschichte des Krieges und darüber hinaus gehört auch die Problematik
des Lebens und Leidens von etwa 4,5 Millionen sowjetischen
Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in Deutschland. Von ihnen kehrten bis
Dezember 1946 rund 3,6 Millionen zusammen mit etwas über 1, 8 Millionen
sowjetischen Kriegsgefangenen in die Heimat zurück.
„Deportiert nach Hause“ titelt Pavel Poljan überzogen seine entsprechende
Untersuchung.
Endlich wurde auch „Katyn“, die Ermordung von 25 000 polnischen
Offizieren durch NKWD-Einheiten im Frühjahr 1940, als „Staatsverbrechen“
publik (aber noch nicht von allen angenommen, wie das Buch „Feldherr Stalin“
von Solowjow/Suchodejew zeigt).
Der Blick auf das sowjetische Hinterland unter dem Aspekt „Alles für die Front“
wurde intensiver, differenzierter und problemorientierter.
Er erfasste auch die Leistungen der „Arbeitsarmee“, in die etwa 300 000
Sowjetdeutsche gepresst wurden, der „Gulag-Industrie“, den Beitrag der
Russisch-Orthodoxen Kirche und die Leistungen der Frauen im
unspektakulären „Alltag des Krieges“.
“Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, sagt Swetlana Alexijewitsch. Doch
Leben und Schicksal der Frauen nicht nur im Hinterland, sondern auch im
okkupierten Gebiet, als Zwangsarbeiterin in Deutschland, als Angehörige der
Roten Armee und als Soldatenwitwe verdienen größere Würdigung und
Hochachtung.
Überhaupt, eine Alltags- und Sozialgeschichte des Krieges, die die
vielen Erinnerungen und Einzeldarstellungen des Lebens in diesem Krieg
allseitig erfasst, ist noch zu schreiben. Dazu gehört dann meines Erachtens
auch das kulturelle und wissenschaftliche Leben, die ideologische Arbeit der
KPdSU, die Kriegspropaganda - Themen, die in den letzten Jahren kaum
gründlich behandelt wurden.
Besser gewürdigt wird die Hilfe der Alliierten (Lend-lease-Lieferungen
der USA) in ihrem großen materiellen Wert für die Rote Armee und die
sowjetische Rüstungsindustrie und ihren moralischen Wirkungen.
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Doch die extreme „neue Wahrheit“, ohne die westlichen Lieferungen hätte die
Sowjetunion den Krieg nicht gewinnen können, wird als „Unwahrheit“
zurückgewiesen.
Anlässlich des 60. Jahrestages der Landung westalliierter Truppen in der
Normandie am 6. Juni 1944 gab es euphorische Danksagungen: „Für
Overlord, für die Fleischkonserven, für Lend-lease, für die Lkws und die
Würstchen, für die Rettung Westeuropas nicht nur vor Hitler, sondern auch vor
Stalin“. Kriegsveteranen hingegen vermissten eine deutliche Danksagung für
ihre Leistungen an der Ersten Front, die erst die Zweite ermöglichten.
Zu den großen Komplexen des Krieges und der Kriegserinnerung gehört
die faschistische Okkupation, die etwa 60 Millionen Menschen und acht
Unionsrepubliken erfasste, von denen sechs heute selbständige Staaten mit
eigenem Geschichtsverständnis sind.
Doch das große, vielschichtige Thema des alltäglichen Lebens unter
faschistischer Besatzungsherrschaft, wozu in der Zuspitzung
Partisanenbewegung und Kollaboration gehören, ist dürftig zur Darstellung
und Diskussion gebracht worden. Die Partisanenbewegung wird jetzt weniger
heroisch als vielmehr tragisch gesehen. Sie ist nur vereinzelt, in letzter Zeit
etwas verstärkt im Blick.
Mehr Aufmerksamkeit fand das „heiße“ Thema der Kollaboration, der
beträchtlichen Zusammenarbeit mit dem Feind, die es nach sowjetischem
Postulat kaum gegeben hatte, aber zum realen Geschichtsbild des Krieges
gehört. Der Historiker Michail Semirjaga hat dazu ein umfangreiches Buch
„Kollaboration. Wesen. Typologie und Erscheinung in den Jahren des Zweiten
Weltkrieges“ im Jahre 2001 als Versuch einer Verallgemeinerung vorgelegt.
Die Kollaboration von Sowjetbürgern war im Verhältnis zur Bevölkerungszahl
stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Sie erwuchs nach Meinung
Semirjagas nicht so sehr aus Sympathie mit der faschistischen Ideologie und
mit Hitlerdeutschland als aus den sozialpolitischen und nationalen
Bedingungen der UdSSR, die das stalinistische Regime geschaffen hatte.
Die Sicht zu dieser Thematik wurde zumeist eingeengt und zugespitzt
auf den im Juli 1942 in Gefangenschaft geratenen, abtrünnigen General
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Andrei Wlassow, die von ihm mitgegründete „Russische Befreiungsarmee“
und die Kosaken in der Polarisation: „antistalinistischer Patriot oder Verräter
der Heimat“.
Obwohl Vertretern dieser Art „Patriotismus“ Gelegenheit zur Darlegung ihres
„Befreiungskampfes“ gegeben wurde, und sie sich durch die Geschichte
bestätigt dünken, ist doch in der Bevölkerung das Gefühl und Bewusstsein
vorherrschend, dass man mit dem Todfeind nicht paktieren durfte.
Empfehlungen, die russischen Kollaborateure als Menschen zu sehen, die im
„Kampf mit dem Bösen im Bündnis mit dem Bösen“ handeln mussten, finden
kaum Resonanz.
Abgelehnt wurde das Ersuchen der Bewegung „Für Glauben und Vaterland“
an das Oberste Gericht Russlands, Wlassow und andere zu rehabilitieren. Das
Militärkollegium des Obersten Gerichts bestätigte am 1. November 2001 das
im Jahre 1946 gefällte und vollstreckte Todesurteil wegen Landesverrat gegen
Wlassow und weitere elf Offiziere.
Zu jeder Kriegsgeschichte und Kriegserinnerung gehört das Verhältnis
zwischen Siegern und Besiegten, der Umgang der Armee mit der
Zivilbevölkerung - eine Thematik, die im Zusammenhang mit dem 60.
Jahrestag der Befreiung verstärkt erörtert werden wird.
Die Darstellung und Diskussion des - wie ich es formuliere -schwierigen,
hilfreichen, aber mit beträchtlichen Gewalttätigkeiten verbundenen Umgangs
der Roten Armee mit der deutschen Zivilbevölkerung hat nach langer Zeit der
Zurückhaltung in den letzten Jahren in Umfang und Differenzierung
zugenommen.
So gibt es im vierten Band „Der Große Vaterländische Krieg. Militärhistorische
Abrisse“, 1999 erschienen, einen speziellen Abschnitt „Die Deutschen und die
Rote Armee“. Hier wird das unzulässige, gewalttätige Vorgehen von
Angehörigen der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung
zumeist spontanem Verhalten zugeschrieben. Das ergab sich aus dem Gefühl
des Hasses auf den Feind angesichts seiner Gräueltaten auf sowjetischem
Boden, aus einer Siegermentalität, „dem Sieger ist alles erlaubt“, gepaart mit
dem Verdruss, sehen zu müssen, dass die Deutschen viel besser lebten als
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die Sieger, und der Enthemmung unter Alkohol. Dies führte zur Vernichtung
bzw. Aneignung deutschen Eigentums und zu Vergewaltigungen. Das
widersprach der offiziellen Linie der sowjetischen Führung, zwischen der
Hitlerclique und dem deutschen Volk zu unterscheiden und wurde - soweit
fassbar - als Verbrechen geahndet. Doch wirkte das Beharrungsvermögen
früherer, durch Agitation und Propaganda geprägter, undifferenzierender
Vorstellungen von allen Deutschen als Okkupanten und Verbrechern weiter,
zumal eine Erziehung der Armeeangehörigen zu einem friedfertigen Verhältnis
zur deutschen Bevölkerung und zur Verhinderung von Misshandlungen mit
Verspätung einsetzte und nicht die erforderlichen Ergebnisse brachte.
Die Vorbereitung auf die Besatzungsaufgaben war unzureichend. All das
konterkarierte die ernsthaften Anstrengungen der sowjetischen
Besatzungsmacht, das Leben schnell zu normalisieren und den deutschen
aufbauwilligen, demokratischen Kräften wirksame Unterstützung zu gewähren.
Für Berlin - dies sei dieser Sicht hinzugefügt - verbinden sich diese
Anstrengungen für die ersten Nachkriegswochen mit dem Namen und Wirken
des ersten sowjetischen Stadtkommandanten, Generaloberst Nikolai Bersarin.
Im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Sieges und der Befreiung sind
weitere Materialien und Beiträge zu dieser Thematik zu erwarten.
Von deutscher Seite wurde bereits durch Elke Scherstjanoi mit der
Herausgabe des Bandes „Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von
der Front (1945) und historische Analysen“ ein verdienstvoller Anfang
gemacht. Der Band enthält neben 161 Briefen auch Beiträge deutscher und
russischer Autoren. Die Merzalows - Vater und Tochter - betrachten das
Verhältnis „Rote Armee und deutsche Zivilbevölkerung“ als „ein
vernachlässigtes Thema der sowjetischen und postsowjetischen
Geschichtsschreibung“.
Immer wieder wurde und wird über die Quellen, den Preis und die Früchte des
Sieges, die Folgen und Lehren des Krieges nachgedacht, gestritten und
geschrieben.
Nach Feststellungen gegen Ende der 80er Jahre, die auch heute zumeist
akzeptiert und offiziell angegeben werden, verlor die UdSSR ein Drittel ihrer
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materiellen Werte und mehr als 27 Millionen Menschen, darunter 8,7 Millionen
Militärangehörige. Manche sehen sie als Opfer „zweier Diktaturen“.
Hoch war der viel diskutierte „Preis des Sieges“, der nicht immer mit
militärischen Notwendigkeiten zu erklären und manchen zu niedrig angesetzt
ist.
Für manche liegt die Erklärung darin: die sowjetischen Soldaten und Offiziere
kämpften geduldig, wie ihnen befohlen und mit den Waffen, die sie erhielten.
Die sowjetischen Feldherren „führten den Krieg nicht mit Sachkenntnis,
sondern mit der Zahl und viel Blut“.
„Wir siegten, - nach der Sicht des Schriftstellers Viktor Astafjew - indem wir
dem Feind den Weg mit Leichnamen versperrten“.
„Wir Landwehrleute - so der 85jährige, hochgeschätzte Schriftsteller Daniil
Granin im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Befreiung Leningrads
aus der Blockade - fuhren ohne Waffen an die Front. Wir hielten den Feind
auf, indem wir uns unter die Panzer legten. Die Verluste der ersten Monate 2. 130. 000. Wir hatten keine Nachrichtengeräte, weder Gewehre, noch
Artillerie. Wir alle waren Fleisch, junges, verlaustes Fleisch. Unser Krieg war
zu Beginn sauber. Aber dann, als wir die Grenze überschritten, wurde er
schmutzig. Wir waren angefüllt mit einem solchen Hass, dass wir töteten, ohne
hinzusehen“.
Das sind bittere Sentenzen, aber die „Wahrheit in letzter Instanz“?
Ich glaube es nicht! Autoren, wie Garejew, Karpow, Jemeljanow,
Solowjow/Suchodejew u. a. verweisen auf die schwere Gesamtsituation des
Landes, die komplizierten Kampfbedingungen, den notwendigen Lernprozess,
verlorene Schlachten und schwer errungene Siege, ohne allerdings
systemimmanenten Faktoren große Bedeutung zuzumessen. Sie wenden sich
auch zu Recht gegen die moralische Unlauterkeit derjenigen, die die Opfer
maßlos aufbauschen und die Führungsfähigkeit der sowjetischen Generäle
verunglimpfen, um damit den Sozialismus sowjetischer Prägung zu
diskreditieren.
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Stolz auf den Sieg
Bei all den Problemen, Schwierigkeiten, Niederlagen und Siegen, die in der
Volksmeinung, Publizistik und Geschichtsschreibung angesprochen und
erörtert wurden, bleibt in der Gesamtsicht dieser weltgeschichtlich bisher
einmaligen Auseinandersetzung die Tatsache evident, das schließlich doch
die Sowjetunion aus ihr als Sieger hervorging.
Bestimmend war dafür auf sowjetischer Seite der Wille der großen Mehrheit
der Bevölkerung, die Heimat - gleichwohl als „sozialistisch“ oder „nationalvaterländisch“ erfasst - aufopferungsvoll gegen den Aggressor, der nicht als
„Befreier“ umzuwerten war, zu verteidigen. Dazu kam die wachsende
Fähigkeit der sowjetischen Führungsorgane, das Land und seine Bevölkerung
- nicht zuletzt mit der Symbolfigur Stalin - für die Kriegführung zu mobilisieren
und die Unterstützung der Anti-Hitler-Koalition. Unübersehbar ist zudem das
Element des Zwanges und der Gewalt, das in jedem Krieg zur Anwendung
kommt, das aber dem stalinistischen System eigen war und nun wirkungsvoll
für die Ziele des Krieges eingesetzt wurde.
Sicherlich war der Sieg zwiespältig, gab er doch dem stalinistischen System
einen „zweiten Atem“ mit der Legitimation der nationalen Rettung und dem
Aufstieg des Landes zur sozialistischen Weltmacht. Er erhielt und festigte ein
diktatorisches - viele meinen ein totalitäres - Regime, das den Sieger, das
Volk, noch lange in Fesseln halten konnte.
Doch die Menschen und Völker der Sowjetunion, die im Kriege
zusammenhielten und trotz mancher Repressalien zusammenblieben, retteten
sich und ihr Land vor Unterwerfung und Vernichtung. Sie erbrachten immense
Leistungen und Opfer zur Niederringung Hitlerdeutschlands und zur Rettung
der Weltzivilisation vor dem Faschismus und seiner Barbarei.
Das sind bleibende, unschätzbare „Früchte des Sieges“.
Die Sowjetunion ging aus dem Krieg als eine Weltmacht ersten Ranges
hervor; doch sie brauchte Jahre, um sich von den schrecklichen Wunden des
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Krieges zu erholen und der Bevölkerung einen bescheidenen, gesicherten
Lebensstandard zu gewährleisten.
Viele fragen aber nach dem Zerfall der Weltmacht UdSSR und dem
sozialen Abstieg der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung beunruhigt und
enttäuscht nach greifbaren, konkreten „Früchten“ und finden keine
zufriedenstellende Antwort. Doch etwa 76 Prozent der Erwachsenen sind - laut
Umfragen im letzten Jahr - noch heute in Russland stolz auf den Sieg im
Großen Vaterländischen Krieg und sehen ihn als das wichtigste Ereignis des
20. Jahrhunderts. Ein berechtigter Stolz!
Mit dem Blick auf den nahenden 60. Jahrestag des Sieges und den dazu
beabsichtigten und eingeleiteten Maßnahmen darf wohl abschließend
festgestellt werden:
Im zerrütteten und zerstrittenen, in der Welt zurückgestuften Russland bildet
der „Große Vaterländische Krieg“ mit seiner Symbolkraft eine unfassende
Klammer, mit der sich Volkselan, Patriotismus und nationale Größe,
militärische Stärke und weltpolitische Geltung als Erfahrungswert und
Anspruch binden lassen. Und das geschieht.
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