Nachfolgender Vortrag wurde vom Autor am 25.1.o5 in der Arbeitsgruppe Mittel- und Osteuropa im Rahmen einer Diskussion zum Thema 60. Jahrestag der Befreiung gehalten: Prof. Dr. sc. Horst Schützler Der „Große Vaterländische“ - im heutigen Russland Der „ Große Vaterländische“ oder ein „anderer Krieg“ - konträre Sichten (Über „alte und neue Wahrheiten“, „rostige Legenden“ und „neues Herangehen“) Vor 60 Jahren - mit dieser Angabe begann vor etwa vier Jahren in Russland der geballte Rückblick auf den Großen Vaterländischen Krieg mit dem Überfall Hitlerdeutschlands am 22. Juni 1941 und den großen Höhepunkten der Moskauer, Stalingrader und Kursker Schlacht, der Befreiung Leningrads aus der faschistischen Blockade sowie den großen Schlachten des Jahres 1944. Er wird seine Kulmination im Mai dieses Jahres mit dem Jubiläum des Sieges der Alliierten und der Befreiung Deutschlands finden. Diese Rückbesinnung war und ist mit vielen Auseinandersetzungen im Wandel und Wechsel von Gesellschaft, Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung, wie er in den letzten 15 Jahren vor sich ging, verbunden. Ich bin in diesen Jahren entsprechend meinen begrenzten Möglichkeiten als „Historiker im Ruhestand“ und den in Deutschland erschließbaren Materialien der Fragestellung nachgegangen: Was denkt und schreibt man im heutigen Russland über den Großen Vaterländischen Krieg? Ich habe dazu Vorträge gehalten, jüngst eine Broschüre vorgelegt (das Heft 67 erschien in der Schriftenreihe „Pankower Vorträge“ der Hellen Panke zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur e.V. mit dem Titel „Der Große Vaterländische – Was für ein Krieg!?“ und will heute und hier versuchen, einen Einblick in diese Auseinandersetzungen in jenem Land zu geben, dessen Bevölkerung vor 60 Jahren an der ersten und wichtigsten Front des Zweiten Weltkrieges den größten, opferreichsten Anteil am Sieg über den 2 Faschismus und die Befreiung Deutschlands hatte. Zur Situation Ein Schüler der 11. Klasse kommt nach einer Geschichtsstunde nach Hause und wirft seinem Urgroßvater vor: „Großvater, du hast gesagt, dass ihr gesiegt habt, aber tatsächlich hat Stalin euch als ‚Kanonenfutter’ genutzt“. Über den Inhalt von Schulbüchern zur Geschichte aufgebrachte Kriegsveteranen wandten sich vor einiger Zeit an Präsident Putin. Dieser reagierte; ein Lehrbuch wurde zurückgezogen; die Lehrbücher sind generell zu überarbeiten; ihre große Zahl soll reduziert werden. Sie haben zur patriotischen und staatsbürgerlichen Erziehung entsprechend einem „Staatsprogramm“ vom Februar 2001 beizutragen. In den vergangenen zwei Jahren wurde ausgiebig über Inhalt und Gestaltung eines Lehrbuches „Geschichte Russlands im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ für die 9. und 11. Klasse diskutiert und dabei der Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges große Beachtung geschenkt. Akademiemitglied Tschubarjan, Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte der Akademie der Russischen Föderation und selbst Mitautor des Lehrbuches „Vaterländische Geschichte im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ äußerte sich in einem Interview im Juni 2002 u.a. zum Platz und zur Darstellung des Großen Vaterländischen Krieges: Beim Großen Vaterländischen Krieg sehe ich kein besonderes Problem. Die Sicht der Gesellschaft auf diesen ist einheitlich. Frage: Aber wie ist es mit der Diskussion darüber: Wer begann den Krieg? Wer den Krieg begann, ist allen verständlich und bekannt. Es gibt die Meinung Viktor Suworows. Ich würde im Lehrbuch darauf hinweisen, dass eine solche Meinung existiert; sie gründet sich auf ein-zwei Dokumente. Ich würde diese Dokumente anführen und schaut, vergleicht und denkt selbst. Das ist alles. In der Darstellung des Krieges ist es meines Erachtens notwendig, neue Sujets, neue Themen, die es früher in den Lehrbüchern nicht gab, einzuführen. Notwendig ist es über die Kollaboration zu berichten. ... Notwendig ist es, das Thema „Die Sowjetgesellschaft und der Krieg“ breiter zu behandeln. Man muss mit der 3 Gedankenwelt der Menschen bekannt machen, mit ihrem alltäglichen Leben; man muss über das äußerst niedrige Lebensniveau berichten und daran erinnern, dass die Stimmung in der Gesellschaft nicht immer und überall der Losung entsprach: „Der Sieg wird unser sein!“ Überhaupt ist es erforderlich, in den Lehrbüchern breiter die Geschichte der Menschen darzustellen: „Der Mensch an der Front“, „Der Mensch unter Okkupation“, „Der Mensch im Hinterland“. Dann wird die Geschichte lebendig, ja, das sind unsere Leute, Sowjetmenschen. Tschubarjan wies darauf hin, ein Geschichtslehrbuch habe zur Konsolidierung der Gesellschaft beizutragen, müsse bei den Schülern die Fähigkeit zum selbständigen Denken entwickeln, dürfe nicht Quelle eines Einheitsdenkens und von Dogmen werden. Der Historiker und Publizist Michail Polikarpow schrieb Ende 2003 über „rostige Legenden“: „Viele meinen, dass der Große Vaterländische das Letzte ist, was uns eint, und dass man deshalb seine Helden - die wirklichen und die erdachten - nicht anrühren dürfe. Das ist unser aller Übel. Solange bei uns eine offizielle Geschichte existiert, die ‚rostige’ Legenden wiederholt und ihre Insolvenz zeigt, solange wird es auch einen historischen ‚underground’ und alternative Versionen geben, die manchmal phantasmagorische Formen annehmen. Das Schlimmste ist, dass die Gesellschaft durch die unterschiedliche Wahrnehmung dieses Krieges schon faktisch gespalten ist: die einen akzentuieren die Aufmerksamkeit auf die Tatsache des Sieges, andere stellen fest, dass man so nicht kämpfen durfte, dass dies ein Pyrrhussieg war“. Damit sind wir schon im Thema. Die Auseinandersetzungen um gesicherte alte und um neue Erkenntnisse, um „rostige“ Legenden und „neue Wahrheiten“, die oft keine sind, erfassen den ganzen Krieg und viele Details. Sie waren und sind besonders heftig, denn sie berühren einen zentralen Nerv des Geschichtsbewusstseins des Volkes, sein Opfer- und Selbstbewusstsein. Sie erfassen und berühren tief die gut organisierte, natürlich kleiner werdende Schicht der Kriegsveteranen, die sich ihre Verdienste um Land und Volk nicht nehmen lassen. Heute leben in Russland noch 8,1 Millionen Veteranen des Krieges, darunter etwas mehr als 4 eine Million Frontkämpfer, oft invalid, deren Zahl in den letzten fünf Jahren um 1,5 Millionen zurückging. Zudem ging und geht es um einen eminent wichtigen patriotischen Erziehungsfaktor für die junge Generation und für Militärangehörige. 5 Begriffsbild und Herangehen Das von Stalin geprägte Begriffsbild des „Großen Vaterländischen Krieges“ Synonym für einen gerechten, umfassenden Volkskrieg zur Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes“ und zur Befreiung anderer Völker - blieb in der Geschichtsschreibung und im Volke, trotz mancher Angriffe und Umschreibungsversuche, erhalten. Es wird - nach meiner Auffassung zu Recht - weiter Verwendung finden, obwohl das „sozialistische“ Vaterland, die Sowjetunion, nicht mehr vorhanden ist; das Vaterland, das „große Russland“, wie manche patriotisch überhöht schreiben, aber bleiben wird. Einerseits wurden unter diesem Begriffsbild sowjetische Stereotype sozialistischer Siegesgewissheit bedient, wie das der Gesetzmäßigkeit des Sieges über das faschistische Deutschland, der politisch-moralischen Einheit der Sowjetgesellschaft, der Stalinschen Kriegskunst u. a.. Andererseits wurden „neue Wahrheiten“ über einen „anderen Krieg“ - so ein provokanter Buchtitel aus dem Jahre 1996 - der „totalitären, stalinistischen“ Sowjetunion verkündet. Zu dem trat das Bemühen, in komplexer Sicht und Wertung dem „Phänomen“ des Krieges und des Sieges einer „sozialistisch-stalinistischen“ Gesellschaft mit ihr eigenen Kräften und Zwängen auf die Spur zu kommen. Einen „anderen Krieg“ als den „Großen Vaterländischen“ wollen einige Historiker wie der Rektor der Moskauer Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität, Juri Afanassjew, Herausgeber des Buches „Drugaja wojna“ / „Ein anderer Krieg: 1939 - 1945“ und historisierende, antikommunistische Publizisten wie der Philologe Boris Sokolow, Wladimir Beschanow, der vom Ausland agierende, ehemalige sowjetische Geheimagent Viktor Suworow/Resun u. a. sowie auch Schriftsteller mit der Entlarvung von Lügen und Legenden, der Aufdeckung von „Geheimnissen“ und „Wahrheiten“ des Krieges in das Geschichtsbild bringen. Sie postulieren immer wieder penetrant bestimmte Sichten, Meinungen und Auffassungen in polemischer Polarisation zu den zur Sowjetzeit üblichen und auch danach oft beibehaltenen. In der sowjetischen Historiographie war der Große Vaterländische Krieg der größte Mythos und leider spielt er diese Rolle auch heute in der 6 Historiographie Russlands. Die Erfahrungen dieses Krieges muss man aufs Neue erfassen, postulierte Boris Sokolow im Jahre 2001. Problemfelder und Schwerpunkte Überblickt man die Debatten und die Literatur über den Krieg und seinen Verlauf, so sind bestimmte Problemfelder und Schwerpunkte deutlich. Präventivkriegsdebatte: Immer wieder wurde und wird über den Weg in den Krieg, also über den Vorabend des Großen Vaterländischen Krieges, gestritten und geschrieben. Es überwiegen die Stimmen, die der sowjetischen Außenpolitik in Umkehrung früherer Sichten - sicher zu Recht - eine aggressive, imperiale Außenpolitik zuschreiben. Dabei wird insbesondere auf die Verwirklichung der völkerrechtswidrigen, geheimen Zusatzabkommen zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939, umstritten als „Diktatoren-Pakt“, auf die Angliederung der baltischen Staaten und den sowjetisch-finnischen Winterkrieg 1939/40 bezug genommen. Nach dem Untergang der Sowjetunion entbrannte mit starker internationaler Beteiligung, darunter auch deutscher, eine heiße Präventivkriegsdebatte, ausgelöst durch Viktor Suworows Buch „Ledokol“ / „Der Eisbrecher“. „Ungeplante Diskussion: Bereitete Stalin einen Angriffskrieg gegen Hitler vor?“ lautete der Titel eines 1995 erschienenen Buches mit Diskussionsbeiträgen. Sie interpretierten vor allem Stalins Auftreten vor Absolventen der Militärakademie am 5. Mai 1941 im Kreml, Dokumentenentwürfe des Generalstabes zur Kriegsplanung und die Dislozierung der Streitkräfte in den westlichen Grenzgebieten unterschiedlich. Anfang 1995 wurden der Handvoll offener Befürworter - in der Literatur sind neben Suworow vor allem die Namen Meltjuchow, Neweshin und Danilow präsent - dieser bei den Nazis entliehenen Propagandathese auf einer internationalen Konferenz in Moskau die Leviten gelesen: Es sei unzulässig, sich auf einzelne militärische Maßnahmen oder Instruktionen der Armeeführung zu berufen, ohne dieser der Politik zuzuordnen. Die Rote Armee habe 1941 weder eine Offensive vorbereitet, noch wäre sie zu einer solchen fähig gewesen. Auch die deutsche 7 Führung sei im Juni 1941 von keiner akuten Bedrohung durch die sowjetischen Streitkräfte ausgegangen. Doch angesichts mancher politischer und marktwirtschaftlicher Zweckbestimmungen, unterschiedlicher Interpretierbarkeit bestimmter Sachverhalte und Quellen bzw. ihres Fehlens bereitet das „Syndrom des Angriffskrieges“ - so ein Buchtitel aus dem Jahre 1997 - russischen Historikern weiter Kopfschmerzen. Der bekannte „Geschichtspublizist“ Lew Besymenski hat in seiner jüngsten Schilderung des „Pokerspiels der Diktatoren Stalin und Hitler“ alle Vermutungen von einem Präventivkrieg Stalins gegen Hitler als „belletristische Übungen“ gewertet. Doch der Direktor des Instituts für die Geschichte Russlands der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation, Andrei Sacharow, würdigte beim „neuen Herangehen an die Geschichte Russlands“ diese „Übungen“ als „selbständige wissenschaftliche Richtung“, vor allem jüngerer Leute.(konträre Sichten!) Katastrophendebatte Natürlich stand die Anfangsphase des Krieges, als das Land an den Rand des Abgrunds geriet, in einer „Katastrophendebatte“ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das zur Sowjetzeit übertriebene Überraschungsmoment wurde schnell relativiert und in ein Ensemble von Ursachen und Fehlentscheidungen, die die politische und militärische Führung traf, eingeordnet. Das betraf die rechtzeitige Bestimmung des Zeitpunktes des Überfalls mit den sich daraus ergebenden Festlegungen, das notwendige Handeln der Truppen im Falle eines tiefen strategischen Durchbruchs des Gegners und eine Verteidigung im strategischen Maßstab. Die Schuld für dieses sträfliche Fehlverhalten geben viele in erster Linie Stalin und seiner nächsten Umgebung - Molotow, Malenkow, Berija, Woroschilow und anderen. Insbesondere die „Säuberung“, man kann auch sagen die „Enthauptung“ der Roten Armee kurz vor Kriegsbeginn, der über 40 000 Offiziere, etwa 8o Prozent des Kommandeurbestandes zum Opfer fielen, hatte, wie kaum bestritten wird, katastrophale Folgen. Doch Suworow/Resun wollte 1998 mit 8 seinem Buch „Säuberung. Warum enthauptete Stalin die Armee?“ den „Beweis“ führen, dass „Stalin richtig, präzise und entschlossen handelte, als er die Armee von ‚genialen’ Feldherren säuberte“. Der „Beweis“ brachte nichts Neues und verfiel. Wie verhielt sich der allgewaltige Stalin in den ersten Tagen des Krieges? Diese Frage hat immer wieder interessiert. In der Beantwortung führte sie, genährt durch Memoiren, bis zum - auch hier zu Lande kolportierten - Extrem, in den ersten zehn Tagen habe sich der schockierte Diktator in seiner Datsche verkrochen. Doch anhand der Eintragungen im Besucherbuch zu Stalins Arbeitskabinett im Kreml zeigte der bekannte Publizist und Historiker Roy Medwedjew unlängst dezidiert für die ersten zehn Tage, dass Stalin in dieser chaotischen Zeit weitgehend „normal“ arbeitete, im Kreml anwesend war, Besucher empfing, Beratungen hatte und Anordnungen traf - oft folgenschwer unrichtige. Lediglich am 29./30. Juni, nach der Aufgabe von Minsk, gab es eine „Krise der Führung“, als er im Generalstab explodierte, sich auf seine Datsche zurückzog und niemand an sich heranließ. Angesichts der bitteren Niederlagen und der Millionen Militärangehörigen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten und in den Kämpfen ihr Leben ließen, angesichts der schwer errungenen militärischen Erfolge und des schließlichen Sieges, wofür Stalin, seine Marschälle und Generäle verantwortlich waren und Anteil hatten, war und bleibt die Frage des Kampfeswillens, der Kampfmoral und der Kampfesführung wichtiger Gegenstand der Erinnerung und heftiger, oft emotionaler Auseinandersetzungen. Doch ist sie weniger Objekt umfassender Untersuchungen. Letzteres gilt besonders zur Problematik von Kampfeswillen und Kampfmoral, zu Sowjetzeiten kaum kritisch hinterfragt, aber auch heute von Militärhistorikern - zumindest öffentlich - nicht ergiebig erörtert. Zur Kampfesführung der beiden Gegner äußerte sich der mehrmals in Ungnade gefallene, als „Marschall des Sieges“ aufgewertete Georgi Shukow zugespitzt schon gegen Ende der 60er Jahre (und seines Lebens - er starb vor 30 Jahren am 18. Juni 1974) nicht in seinen, unwürdigen konjunkturellen Korrekturen unterworfenen Memoiren “Gedanken und Erinnerungen“, sondern 9 gegenüber dem ehemaligen Frontkorrespondenten und bekannten Schriftsteller Konstantin Simonow: „Man muss klar sagen, dass die deutsche Armee zu Beginn des Krieges besser als unsere Armee vorbereitet, ausgebildet, bewaffnet und psychologisch auf den Krieg eingestellt war... Man muss auch bekennen, dass der deutsche Generalstab und überhaupt die deutschen Stäbe damals besser funktionierten als unser Generalstab und unsere Stäbe insgesamt, dass die deutschen Befehlshaber in jener Periode besser und gründlicher überlegten, als das unsere Kommandeure taten. Wir lernten erst im Verlaufe des Krieges, die Deutschen zu schlagen, und das war ein langwieriger Prozess“. Diese realistische Sicht des Kämpfen- und Siegenlernens sowohl auf der unteren Ebene der Soldaten als auch der oberen, vor allem der Befehlshaber, ist sowohl für den einzelnen Befehlshaber, wie den Obersten Befehlshaber Stalin und seinen Stellvertreter Shukow, sowie Jeremenko, Konew, Malinowski, Rokossowski, Timoschenko u. a., für die einzelnen Operationen und Schlachten als auch für den Kriegsverlauf insgesamt heftig umstritten. (Dieser Streit wurde schon zur Sowjetzeit als „Marschallstreit“ geführt, z. B. zur Stalingrader Schlacht und zur Schlacht um Berlin, in dem auch sehr persönliche Motive mitschwangen. Er wird heute von anderen, oft diskreditierend, fortgeführt. Eine Shukow-Literatur boomt, doch auch Publikationen über Stalin nehmen zu - sicherlich nicht zufällig.) In der Wochenzeitung „Argumente und Fakten“ gab es anlässlich des 60. Jahrestages des Sieges in der Stalingrader Schlacht unter der Überschrift „Sensation: Wahrheit und Lüge über die Stalingrader Schlacht“ ein bissiges Duell zwischen dem Bestseller-Publizisten Wladimir Beschanow und dem bekannten, bejahrten Historiker Georgi Kumanjow. Ja, Stalingrad hielt stand, konstatierte Beschanow. Dies sei keine Legende, sondern ein wirkliches Wunder, das der mächtigen Initiative von unten, der natürlichen Eigenschaft des russischen Soldaten, seiner Standhaftigkeit und Initiative, zu verdanken sei und nicht den „großen Feldherren“, die über die 10 Wolga verschwanden. Zum höchsten Befehlshaber wurde der Bataillonskommandeur, der mit den Soldaten kämpfte und fiel. Für „Väter“ der Stalingrader Schlacht halten sich einige - Chruschtschow, Jeremenko und Shukow. Dieser glänzte in Stalingrad nicht besonders, sondern fuhr in der Hauptrichtung Rshew - nordwestlich von Moskau gewaltige Verluste ein, die, wie bei Stalingrad, verschwiegen und im Vergleich mit den deutschen heruntergerechnet wurden. Überhaupt hätten die sowjetischen Militärhistoriker immer Probleme mit der Arithmetik gehabt und die sowjetischen Generäle, die „roten Napoleons“, mit der Kriegskunst. Kumanjow widersprach hinsichtlich der hohen Verluste und bekräftigte die Urheberschaft von Shukow und Wassilewski an der Kesselschlacht. Er wies die Darstellung als Verleumdung zurück, in der Stadt rechts der Wolga hätten nur Offiziere bis zum Range eines Bataillonskommandeurs gemeinsam mit den Soldaten gekämpft. Er kam zu dem Schluss, dass derartige „Neuerer“Auslassungen, die auf „Wahrheit in letzter Instanz“ Anspruch erheben und sich in der Regel nicht auf seriöse Quellen stützen, nicht weiterführen in einer Zeit, in der ein objektives Geschichtsbild ohne Anschwärzungen und eigene Phantasien notwendig sei. Auch die Kursker Schlacht im Juli/August 1943, die größte des Zweiten Weltkrieges überhaupt, wie oft geschrieben wurde, war Gegenstand des öffentlichen Meinungsstreites hinsichtlich ihrer Opfer, Ergebnisse und Bedeutung. Unter der Fragestellung „Warum verloren wir die Schlacht bei Procherowka (die große, verlustreiche Panzerschlacht am 12. Juli - H. S.), aber gewannen die Kursker Schlacht?“ differenzierte Michail Polikarpow frühere Siegessichten und kritisierte das Festhalten der meisten Medien an „rostigen Legenden“ zur Schlacht anlässlich ihres 60. Jahrestages. In der Gesamtsicht des Krieges und des Kämpfen- und Siegenlernens finden sich in beachtlichen Maße Meinungen wie die des im Jahre 2001 verstorbenen Kriegsveteranen und bekannten Schriftstellers Viktor Astafjew: „Wir haben einfach und bis zuletzt nicht gelernt zu kämpfen“. Sie treffen auf heftigen Widerspruch, vor allem bei Kriegsteilnehmern. 11 Die nicht seltene, variierte Ansicht, die sowjetischen Heerführer hätten immer Probleme mit der Kriegskunst gehabt und „talentlos“ gekämpft, konterte der Präsident der Akademie für Militärwissenschaften, der auch als Militärhistoriker sehr streitbare, gegen „Orthodoxe“ und „Liberale“ austeilende Armeegeneral Machmud Garejew mit dem Verweis, es sei nicht zu verstehen, dass die kenntnisreichen deutschen Generäle, die alles richtig machten, eine Niederlage erlitten, während die „unbegabten“ sowjetischen Heerführer den Sieg errangen. Er habe die Überlegenheit der sowjetischen Kriegskunst zu konstatieren. Dahinter standen seine Studien, u. a. ein Buch über die „Größe und Einmaligkeit der Feldherrnkunst“ Marschall Shukows, was geradezu vom Titel her zum Widerspruch reizte. Durch Forschung und Publikation sind in den zurückliegenden 15 Jahren neue Bestandteile in das Kriegsgeschehen eingeordnet worden, die früher übergangen oder nur rudimentär behandelt wurden, und jetzt ausgedeutet werden. Zugleich wurden andere übergangen bzw. umgedeutet. Es wurde die Problematik der Repressalien sowohl gegen Soldaten und Offiziere der Streitkräfte, gegen ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Heimat, gegen Bürger des Hinterlandes als auch gegen ganze Völker als Wesenselement des stalinistischen Systems und Instrument der Kriegführung in das Blickfeld gerückt. Der Befehl Nr. 227 Stalins vom 28. Juli 1942 „Keinen Schritt zurück“ fand dabei beträchtliche Aufmerksamkeit, aber eine geteilte Meinung. Die oft schon so genannte „Tragödie der Gefangenschaft“, d. h. das schwere Schicksal der Millionen Kriegsgefangenen sowohl der sowjetischen in deutscher Hand und danach in der Heimat als auch der deutschen und anderen in der Sowjetunion wurde als wesentlicher Bestandteil der Geschichte des Krieges erfasst. Im Zahlenstreit geht man von russischer Seite zumeist von ca. 2,4 Millionen kriegsgefangener Deutscher aus, von denen knapp über zwei Millionen zurückkehrten und etwa 360.000 verstarben. 12 Zur Geschichte des Krieges und darüber hinaus gehört auch die Problematik des Lebens und Leidens von etwa 4,5 Millionen sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in Deutschland. Von ihnen kehrten bis Dezember 1946 rund 3,6 Millionen zusammen mit etwas über 1, 8 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in die Heimat zurück. „Deportiert nach Hause“ titelt Pavel Poljan überzogen seine entsprechende Untersuchung. Endlich wurde auch „Katyn“, die Ermordung von 25 000 polnischen Offizieren durch NKWD-Einheiten im Frühjahr 1940, als „Staatsverbrechen“ publik (aber noch nicht von allen angenommen, wie das Buch „Feldherr Stalin“ von Solowjow/Suchodejew zeigt). Der Blick auf das sowjetische Hinterland unter dem Aspekt „Alles für die Front“ wurde intensiver, differenzierter und problemorientierter. Er erfasste auch die Leistungen der „Arbeitsarmee“, in die etwa 300 000 Sowjetdeutsche gepresst wurden, der „Gulag-Industrie“, den Beitrag der Russisch-Orthodoxen Kirche und die Leistungen der Frauen im unspektakulären „Alltag des Krieges“. “Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, sagt Swetlana Alexijewitsch. Doch Leben und Schicksal der Frauen nicht nur im Hinterland, sondern auch im okkupierten Gebiet, als Zwangsarbeiterin in Deutschland, als Angehörige der Roten Armee und als Soldatenwitwe verdienen größere Würdigung und Hochachtung. Überhaupt, eine Alltags- und Sozialgeschichte des Krieges, die die vielen Erinnerungen und Einzeldarstellungen des Lebens in diesem Krieg allseitig erfasst, ist noch zu schreiben. Dazu gehört dann meines Erachtens auch das kulturelle und wissenschaftliche Leben, die ideologische Arbeit der KPdSU, die Kriegspropaganda - Themen, die in den letzten Jahren kaum gründlich behandelt wurden. Besser gewürdigt wird die Hilfe der Alliierten (Lend-lease-Lieferungen der USA) in ihrem großen materiellen Wert für die Rote Armee und die sowjetische Rüstungsindustrie und ihren moralischen Wirkungen. 13 Doch die extreme „neue Wahrheit“, ohne die westlichen Lieferungen hätte die Sowjetunion den Krieg nicht gewinnen können, wird als „Unwahrheit“ zurückgewiesen. Anlässlich des 60. Jahrestages der Landung westalliierter Truppen in der Normandie am 6. Juni 1944 gab es euphorische Danksagungen: „Für Overlord, für die Fleischkonserven, für Lend-lease, für die Lkws und die Würstchen, für die Rettung Westeuropas nicht nur vor Hitler, sondern auch vor Stalin“. Kriegsveteranen hingegen vermissten eine deutliche Danksagung für ihre Leistungen an der Ersten Front, die erst die Zweite ermöglichten. Zu den großen Komplexen des Krieges und der Kriegserinnerung gehört die faschistische Okkupation, die etwa 60 Millionen Menschen und acht Unionsrepubliken erfasste, von denen sechs heute selbständige Staaten mit eigenem Geschichtsverständnis sind. Doch das große, vielschichtige Thema des alltäglichen Lebens unter faschistischer Besatzungsherrschaft, wozu in der Zuspitzung Partisanenbewegung und Kollaboration gehören, ist dürftig zur Darstellung und Diskussion gebracht worden. Die Partisanenbewegung wird jetzt weniger heroisch als vielmehr tragisch gesehen. Sie ist nur vereinzelt, in letzter Zeit etwas verstärkt im Blick. Mehr Aufmerksamkeit fand das „heiße“ Thema der Kollaboration, der beträchtlichen Zusammenarbeit mit dem Feind, die es nach sowjetischem Postulat kaum gegeben hatte, aber zum realen Geschichtsbild des Krieges gehört. Der Historiker Michail Semirjaga hat dazu ein umfangreiches Buch „Kollaboration. Wesen. Typologie und Erscheinung in den Jahren des Zweiten Weltkrieges“ im Jahre 2001 als Versuch einer Verallgemeinerung vorgelegt. Die Kollaboration von Sowjetbürgern war im Verhältnis zur Bevölkerungszahl stärker ausgeprägt als in anderen Ländern. Sie erwuchs nach Meinung Semirjagas nicht so sehr aus Sympathie mit der faschistischen Ideologie und mit Hitlerdeutschland als aus den sozialpolitischen und nationalen Bedingungen der UdSSR, die das stalinistische Regime geschaffen hatte. Die Sicht zu dieser Thematik wurde zumeist eingeengt und zugespitzt auf den im Juli 1942 in Gefangenschaft geratenen, abtrünnigen General 14 Andrei Wlassow, die von ihm mitgegründete „Russische Befreiungsarmee“ und die Kosaken in der Polarisation: „antistalinistischer Patriot oder Verräter der Heimat“. Obwohl Vertretern dieser Art „Patriotismus“ Gelegenheit zur Darlegung ihres „Befreiungskampfes“ gegeben wurde, und sie sich durch die Geschichte bestätigt dünken, ist doch in der Bevölkerung das Gefühl und Bewusstsein vorherrschend, dass man mit dem Todfeind nicht paktieren durfte. Empfehlungen, die russischen Kollaborateure als Menschen zu sehen, die im „Kampf mit dem Bösen im Bündnis mit dem Bösen“ handeln mussten, finden kaum Resonanz. Abgelehnt wurde das Ersuchen der Bewegung „Für Glauben und Vaterland“ an das Oberste Gericht Russlands, Wlassow und andere zu rehabilitieren. Das Militärkollegium des Obersten Gerichts bestätigte am 1. November 2001 das im Jahre 1946 gefällte und vollstreckte Todesurteil wegen Landesverrat gegen Wlassow und weitere elf Offiziere. Zu jeder Kriegsgeschichte und Kriegserinnerung gehört das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten, der Umgang der Armee mit der Zivilbevölkerung - eine Thematik, die im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Befreiung verstärkt erörtert werden wird. Die Darstellung und Diskussion des - wie ich es formuliere -schwierigen, hilfreichen, aber mit beträchtlichen Gewalttätigkeiten verbundenen Umgangs der Roten Armee mit der deutschen Zivilbevölkerung hat nach langer Zeit der Zurückhaltung in den letzten Jahren in Umfang und Differenzierung zugenommen. So gibt es im vierten Band „Der Große Vaterländische Krieg. Militärhistorische Abrisse“, 1999 erschienen, einen speziellen Abschnitt „Die Deutschen und die Rote Armee“. Hier wird das unzulässige, gewalttätige Vorgehen von Angehörigen der Roten Armee gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung zumeist spontanem Verhalten zugeschrieben. Das ergab sich aus dem Gefühl des Hasses auf den Feind angesichts seiner Gräueltaten auf sowjetischem Boden, aus einer Siegermentalität, „dem Sieger ist alles erlaubt“, gepaart mit dem Verdruss, sehen zu müssen, dass die Deutschen viel besser lebten als 15 die Sieger, und der Enthemmung unter Alkohol. Dies führte zur Vernichtung bzw. Aneignung deutschen Eigentums und zu Vergewaltigungen. Das widersprach der offiziellen Linie der sowjetischen Führung, zwischen der Hitlerclique und dem deutschen Volk zu unterscheiden und wurde - soweit fassbar - als Verbrechen geahndet. Doch wirkte das Beharrungsvermögen früherer, durch Agitation und Propaganda geprägter, undifferenzierender Vorstellungen von allen Deutschen als Okkupanten und Verbrechern weiter, zumal eine Erziehung der Armeeangehörigen zu einem friedfertigen Verhältnis zur deutschen Bevölkerung und zur Verhinderung von Misshandlungen mit Verspätung einsetzte und nicht die erforderlichen Ergebnisse brachte. Die Vorbereitung auf die Besatzungsaufgaben war unzureichend. All das konterkarierte die ernsthaften Anstrengungen der sowjetischen Besatzungsmacht, das Leben schnell zu normalisieren und den deutschen aufbauwilligen, demokratischen Kräften wirksame Unterstützung zu gewähren. Für Berlin - dies sei dieser Sicht hinzugefügt - verbinden sich diese Anstrengungen für die ersten Nachkriegswochen mit dem Namen und Wirken des ersten sowjetischen Stadtkommandanten, Generaloberst Nikolai Bersarin. Im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Sieges und der Befreiung sind weitere Materialien und Beiträge zu dieser Thematik zu erwarten. Von deutscher Seite wurde bereits durch Elke Scherstjanoi mit der Herausgabe des Bandes „Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen“ ein verdienstvoller Anfang gemacht. Der Band enthält neben 161 Briefen auch Beiträge deutscher und russischer Autoren. Die Merzalows - Vater und Tochter - betrachten das Verhältnis „Rote Armee und deutsche Zivilbevölkerung“ als „ein vernachlässigtes Thema der sowjetischen und postsowjetischen Geschichtsschreibung“. Immer wieder wurde und wird über die Quellen, den Preis und die Früchte des Sieges, die Folgen und Lehren des Krieges nachgedacht, gestritten und geschrieben. Nach Feststellungen gegen Ende der 80er Jahre, die auch heute zumeist akzeptiert und offiziell angegeben werden, verlor die UdSSR ein Drittel ihrer 16 materiellen Werte und mehr als 27 Millionen Menschen, darunter 8,7 Millionen Militärangehörige. Manche sehen sie als Opfer „zweier Diktaturen“. Hoch war der viel diskutierte „Preis des Sieges“, der nicht immer mit militärischen Notwendigkeiten zu erklären und manchen zu niedrig angesetzt ist. Für manche liegt die Erklärung darin: die sowjetischen Soldaten und Offiziere kämpften geduldig, wie ihnen befohlen und mit den Waffen, die sie erhielten. Die sowjetischen Feldherren „führten den Krieg nicht mit Sachkenntnis, sondern mit der Zahl und viel Blut“. „Wir siegten, - nach der Sicht des Schriftstellers Viktor Astafjew - indem wir dem Feind den Weg mit Leichnamen versperrten“. „Wir Landwehrleute - so der 85jährige, hochgeschätzte Schriftsteller Daniil Granin im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Befreiung Leningrads aus der Blockade - fuhren ohne Waffen an die Front. Wir hielten den Feind auf, indem wir uns unter die Panzer legten. Die Verluste der ersten Monate 2. 130. 000. Wir hatten keine Nachrichtengeräte, weder Gewehre, noch Artillerie. Wir alle waren Fleisch, junges, verlaustes Fleisch. Unser Krieg war zu Beginn sauber. Aber dann, als wir die Grenze überschritten, wurde er schmutzig. Wir waren angefüllt mit einem solchen Hass, dass wir töteten, ohne hinzusehen“. Das sind bittere Sentenzen, aber die „Wahrheit in letzter Instanz“? Ich glaube es nicht! Autoren, wie Garejew, Karpow, Jemeljanow, Solowjow/Suchodejew u. a. verweisen auf die schwere Gesamtsituation des Landes, die komplizierten Kampfbedingungen, den notwendigen Lernprozess, verlorene Schlachten und schwer errungene Siege, ohne allerdings systemimmanenten Faktoren große Bedeutung zuzumessen. Sie wenden sich auch zu Recht gegen die moralische Unlauterkeit derjenigen, die die Opfer maßlos aufbauschen und die Führungsfähigkeit der sowjetischen Generäle verunglimpfen, um damit den Sozialismus sowjetischer Prägung zu diskreditieren. 17 Stolz auf den Sieg Bei all den Problemen, Schwierigkeiten, Niederlagen und Siegen, die in der Volksmeinung, Publizistik und Geschichtsschreibung angesprochen und erörtert wurden, bleibt in der Gesamtsicht dieser weltgeschichtlich bisher einmaligen Auseinandersetzung die Tatsache evident, das schließlich doch die Sowjetunion aus ihr als Sieger hervorging. Bestimmend war dafür auf sowjetischer Seite der Wille der großen Mehrheit der Bevölkerung, die Heimat - gleichwohl als „sozialistisch“ oder „nationalvaterländisch“ erfasst - aufopferungsvoll gegen den Aggressor, der nicht als „Befreier“ umzuwerten war, zu verteidigen. Dazu kam die wachsende Fähigkeit der sowjetischen Führungsorgane, das Land und seine Bevölkerung - nicht zuletzt mit der Symbolfigur Stalin - für die Kriegführung zu mobilisieren und die Unterstützung der Anti-Hitler-Koalition. Unübersehbar ist zudem das Element des Zwanges und der Gewalt, das in jedem Krieg zur Anwendung kommt, das aber dem stalinistischen System eigen war und nun wirkungsvoll für die Ziele des Krieges eingesetzt wurde. Sicherlich war der Sieg zwiespältig, gab er doch dem stalinistischen System einen „zweiten Atem“ mit der Legitimation der nationalen Rettung und dem Aufstieg des Landes zur sozialistischen Weltmacht. Er erhielt und festigte ein diktatorisches - viele meinen ein totalitäres - Regime, das den Sieger, das Volk, noch lange in Fesseln halten konnte. Doch die Menschen und Völker der Sowjetunion, die im Kriege zusammenhielten und trotz mancher Repressalien zusammenblieben, retteten sich und ihr Land vor Unterwerfung und Vernichtung. Sie erbrachten immense Leistungen und Opfer zur Niederringung Hitlerdeutschlands und zur Rettung der Weltzivilisation vor dem Faschismus und seiner Barbarei. Das sind bleibende, unschätzbare „Früchte des Sieges“. Die Sowjetunion ging aus dem Krieg als eine Weltmacht ersten Ranges hervor; doch sie brauchte Jahre, um sich von den schrecklichen Wunden des 18 Krieges zu erholen und der Bevölkerung einen bescheidenen, gesicherten Lebensstandard zu gewährleisten. Viele fragen aber nach dem Zerfall der Weltmacht UdSSR und dem sozialen Abstieg der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung beunruhigt und enttäuscht nach greifbaren, konkreten „Früchten“ und finden keine zufriedenstellende Antwort. Doch etwa 76 Prozent der Erwachsenen sind - laut Umfragen im letzten Jahr - noch heute in Russland stolz auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und sehen ihn als das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Ein berechtigter Stolz! Mit dem Blick auf den nahenden 60. Jahrestag des Sieges und den dazu beabsichtigten und eingeleiteten Maßnahmen darf wohl abschließend festgestellt werden: Im zerrütteten und zerstrittenen, in der Welt zurückgestuften Russland bildet der „Große Vaterländische Krieg“ mit seiner Symbolkraft eine unfassende Klammer, mit der sich Volkselan, Patriotismus und nationale Größe, militärische Stärke und weltpolitische Geltung als Erfahrungswert und Anspruch binden lassen. Und das geschieht.