106 Ursprünge und Integrationsprozesse rechten Krieg mit Ludwig XI., der manche Position räumen mußte. Ähnlich wie Paris unter Étienne Marcel 1358 den hohen politischen Zielen nahe schien und dann in kürzester Zeit in eine tiefe Niederlage stürzte, endete diese Adelsliga geradezu am Nullpunkt, als Herzog Karl der Kühne von Burgund 1477 den Tod fand. 4 Die dritte Integration: Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. Das 16. Jh. wurde in der ersten Hälfte durch die Konsolidierung der Monarchie, einen demographischen und sozioökonomischen Aufschwung und eine kulturelle Blüte gekennzeichnet. Die zweite Hälfte wurde entscheidend durch die Religions- und Bürgerkriege, die konfessionelle Zerrissenheit der Bevölkerung, einen Machtverfall der Monarchie und Momente des sozioökonomischen Einbruchs geprägt. Die Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten nahm allmählich ab, es kam zu einer deutlicheren ideologischen Trennung der vier Stände (Arme, Bettler, Vaganten usf. als „vierter Stand“, eine zeitgenössische Klassifizierung). Die Adelsideologie nahm rassische Elemente in sich auf. Dennoch präsentierte sich Frankreich am Ende des Jahrhunderts als stabile absolute Monarchie und als eine Nation – langfristig wirksame Faktoren hatten sich vorerst durchgesetzt. Die allgemein übliche Bezeichnung der Religionskriege als Bürgerkriege verweist nebenbei darauf, daß wir es in der Tat mit einer Nation zu tun haben. Bei den ideologischen Rechtfertigungen der Bürgerkriege ging es im Kern immer um die Einheit der Nation: sei es, daß eine bestimmte Nationalgeschichte konstruiert wurde, in deren Tradition sich die eine oder die andere Partei selbstbewußt stellte, sei es, daß der Gedanke der religiösen Toleranz mit dem Appell an die Einheit Frankreichs und seines Volkes verknüpft wurde. Niemand war wirklich bereit, die Einheit des Landes einem konfessionellen Territorialismus oder einer Verteilung der Macht auf halbsouveräne Territorien wie im benachbarten Reich zu opfern. Seit dem ausgehenden 15. Jh. wurden „Volk“ und „Nation“ in einen Zusammenhang gebracht. Deshalb stellt das 16. Jh. eine entscheidende Etappe für die französische Nationswerdung trotz aller konstatierbarer Zerrissenheit dar. Viele der politischen Forderungen und Realitäten verweisen ungleich mehr als das 17. Jh. auf den Ausgang des 18. Jh. Das 16. Jh. war in mancher Hinsicht ein politisch radikales 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 107 und sehr von Gegensätzen geprägtes Jahrhundert, Versuche, es auf einen einzigen Nenner zu bringen, sind nicht sinnvoll. In diesem Kapitel wird zunächst der Prozeß der Nationswerdung seit dem ausgehenden Mittelalter behandelt, anschließend wird die allgemeine Geschichte des Jahrhunderts im Aufriß dargelegt. 4.1 Frühe Anfänge der Nationswerdung: Kulturelle Referenz „Francia“ Der Name „Francia“ Jede Nationswerdung setzt die Identifizierung eines politischen Raumes mit einer Bevölkerung und deren verdichteten kulturellen Ausprägungen voraus. Ansätze zu solchen Identifizierungen begegneten schon vor dem Jahr 1000, als Prozeß der Nationswerdung lassen sie sich jedoch im Grunde erst seit Philipp August bezeichnen. War der Name Francia früher als territoriale Bezeichnung noch flexibel und nur ein Name unter vielen gewesen, gab er nun dem gesamten regnum Franciae seinen Namen. Immer häufiger wurde der König als rex Franciae statt als rex Francorum benannt. Die politische und Herrschaftsgeschichte, die zu territorialer Integration führte, war im dritten Kapitel erzählt worden. Eine Vielzahl weiterer Momente beförderte die innere Integration des Königreichs und führte zum Aufbau der kulturellen Referenz „Frankreich“, auf die sich das Nationsbewußtsein zuerst stützte. Hinsichtlich dieser kulturellen Referenz sind ganz grob zwei Stufen zu unterscheiden; die erste reicht bis in die Richelieu-Zeit, die zweite, die mit einer qualitativen Veränderung verbunden war, begann in der Zeit Ludwigs XIV. In der ersten Stufe wurde Francia zum allgemeinen Namen des Königreichs, im Vergleich mit anderen europäischen Reichen bildete sich der Topos von der „douce France“ heraus. Es fehlte auch nicht an von außen an Frankreich herangetragenen Charakterisierungen, die performativ zur Festigung der kulturellen Referenz Frankreich beitrugen. Mit Bezug auf die Pariser Universität unterschied Alexander von Roes Ende des 13. Jh. Frankreich von anderen christlichen Nationen dadurch, daß dort das studium beheimatet sei, Papst Clemens V. sprach vom regnum Franciae als einem von Gott auserwählten Volk. Unter den mittelalterlichen Herrschern wurde ein zentrales Staatsgedächtnis aufgebaut, in dem sich manifestierte, wie sehr nunmehr das Königreich als Einheit und Gesamtheit begriffen wurde. Daß mittelalterliche Könige umherreisten, um ihre Herrschaft gegenüber 108 Ursprünge und Integrationsprozesse ihren Vasallen zu festigen, ist bekannt. Spätestens seit Philipp d. Schönen hielt sich die Praxis, ausgedehnte Informationsreisen zu unternehmen, beispielsweise 1303/4 in den Süden, um die Probleme vor Ort kennenzulernen. Karl VI. unternahm eine ähnliche Reise 1389/90, um sich über einige Wochen hinweg in Toulouse aus erster Hand über die Problemlage im Süden des Reiches zu informieren. Diese Informationsreisen sind im Kontext systematischer statistischer Erhebungen zu sehen, die mit Ludwig d. Hl. 1247 einsetzten. Die berühmteste Erhebung war jene von 1328, aber sie stellt nur eine von über hundert vornehmlich im 14. und 15. Jh. dar. Die schon erwähnten enquêteurs-réformateurs erforschten nicht nur Mißbräuche in der Verwaltung, sondern sammelten auch jede Art von Information über den Zustand des Landes. Kartographie Galliens Das Königreich wurde folglich durch komplexe Informationserhebungen gewissermaßen abgebildet, bevor im 15. Jh. erste kartographische Abbildungen entstanden, die parallel zur verbreiteten Körpermetapher den geographischen Körper des Landes repräsentierten. Karl VII. ließ 1423 eine Karte des Dauphiné zeichnen, sie ist jedoch verloren gegangen. Zuvor gaben die (italienischen oder deutschen) Portulankarten für die Seefahrt eine ungefähre Vorstellung von den Küstenverläufen Frankreichs. Erst die Wiederentdeckung der ptolomäischen Geographie brachte die Produktion von Karten in Gang, die ganz im Geist der Renaissance Gallien zeigten. Bernardo Silvano gehörte 1511 zu den ersten, die brauchbare Gallien-Karten veröffentlichten. 1525 folgte Oronce Finé, ein Mathematiker aus dem Dauphiné, mit einer verbesserten Charte gallicane. Seitdem gehörte die geographisch-kartographische Repräsentation des Königreichs zu den grundlegenden Wahrnehmungsmitteln der Entität „Frankreich“. Dasselbe galt im übrigen für Regionalkarten und die Städtetopographie. Weitere Frankreichkarten entstanden unter Jean Jolivet, königlicher Kartograph unter Franz I. und Heinrich II. (erschienen 1560 und 1570), gleichzeitig zeichneten Pierre Hamon, Sekretär Karls IX., sowie Guillaume Postel entsprechende Karten (1568; 1570). Frankreichkarten fanden sich in den europaweit verbreiteten Kosmographien (Sebastian Münster) und den Atlanten des späten 16. Jh. (Abraham Ortelius, Theatrum Orbis Terrarum, 1570; Mercator-Atlas 1595). 1594 publizierte Maurice Bouguereau in Tours sein Théâtre françoys, ein gesamtfranzösisches Kartenwerk. 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 109 Diese Art von bildlicher Repräsentation setzte eine bestimmte Vorstellung von Grenze voraus. Zwischen dem 12. und 15. Jh. trat neben die unzähligen inneren Grenzen der Lehnsgebiete, Seigneurien und Apanagen das Bewußtsein einer globalen politischen Grenze, die in enger Anlehnung an die Verbreitungsgebiete der französischen Sprache gedacht wurde. „Die Sprachgrenze zog die politische Grenze zu sich heran“. (Albert Rigaudière) Philipp d. Schöne belegte ein- und ausgehende Waren an den Grenzen des Reichs mit Zöllen, d. h., es entstand nach und nach ein Netz von Zoll- und Kontrollposten, die imaginär mit einer Linie verbunden werden konnten: Erst die Identifizierung von Grenze mit Linie macht ja die kartographische Repräsentation eines politisch-geographischen Staatskörpers möglich. In der gleichen Zeit wurden Befestigungswerke zunehmend an den äußeren Grenzen des Königreichs angelegt; der Hundertjährige Krieg trieb diese Entwicklung voran. Für diese militärische Grenze wurde seit dem Ende des 14. Jh. das Wort frontière verwendet. Im 16. Jh. mehrten sich Reisen im Landesinnern und Reisebeschreibungen, die auf Berichten von Pilgern, Kaufleuten, Kolporteuren und anderen mobilen Personen beruhten. Der Arzt Charles Estienne ließ 1552 einen Guide des chemins de France erscheinen, in dem die Hauptreisewege, Reiseetappen, die Schwierigkeiten des Wegs, aber auch die Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten der durchreisten Regionen beschrieben wurden. Der königliche Geograph Nicolas de Nicolay beschrieb sehr detailliert die Regionen Berry, Bourbonnais, Lyonnais und Beaujolais (Descriptions générales, redigiert 1567 bis 1573). In der ersten Hälfte des 16. Jh. bedeckte das Königreich eine Fläche von rd. 450.000 qkm. Für die Nord-SüdDurchquerung rechnete man 19 Reisetage und für die West-Ost-Reise 22. Zwischen der Geschwindigkeit des Fußreisenden, der 15 bis 20 km zurücklegte, und dem Eilboten, der es auf 150 km am Tag bringen konnte, lagen freilich bedeutende Unterschiede. Legt man die materiellen Reisebedingungen zugrunde, bedeutete die Durchmessung des französischen Raums in etwa soviel, wie heute die Durchmessung der Strecke Paris-Moskau mit dem Auto, also gewissermaßen die West-Ost-Durchmessung Europas. (Arlette Jouanna) Um so mehr fällt ins Gewicht, daß Frankreich in dieser Zeit in der Imagination zu einer kulturellen Referenz zusammengeschlossen werden konnte. 110 Ursprünge und Integrationsprozesse Franken, Gallier, „Francigermani“, Franzosen? Inwieweit ist es berechtigt, für diese Zeit von „Franzosen“ zu sprechen? Zum einen definierte sich die Bevölkerung durch ihre Zugehörigkeit zum kulturellen und politischen Raum, der durch die frontière umschlossen wurde. Sie definierte sich durch vielfältige Abgrenzungen, die mit der Ausbildung nationaler Stereotypen in den Kreuzzügen begannen und bei der juristischen Definition des „Fremden“ endeten. Sie war den integrierenden Kräften der Politik und Verwaltung ausgesetzt, der beschleunigte Fluß von Informationen und Meinungen nach der Einführung der Drucktechnik eröffnete neue Möglichkeiten, die Elemente der kulturellen Referenz Frankreich im Publikum zu verbreiten. Vor allem die Humanisten definierten, was ein Franzose sei; im ersten Kapitel, bezüglich der Frage, wann „französische“ Geschichte beginne, war von ihnen schon die Rede gewesen. Sie bemühten sich um eine historische Klärung der Abstammung, nicht ohne der Mythographie zu verfallen, sie erforschten die Geschichte der Institutionen des Reichs. Z. T. erfolgte dies aus einer Abwehrhaltung gegenüber der Arroganz der Italiener und Deutschen heraus: die einen ließen nur Griechenland und Rom als Kulturen gelten, der Rest war Barbarei, die anderen nährten ihr Selbstverständnis am Busen von Tacitus’ Germania. Zu den Begründern der frühneuzeitlichen Frankreichhistoriographie zählte Robert Gaguin (ca. 1433 bis 1501), der 1495 ein Compendium super Francorum origine et gestis drucken ließ und das bis 1586 siebzehn Auflagen erlebte. Die 1550er Jahre waren besonders reich an national-historiographischen Schriften. Zu nennen sind von Guillaume Postel (1510 bis 1581) die Apologie de la Gaule contre les malevoles escripvains (1552), von Jean Picard De prisca Celtopaedia (1556, Von der alten keltischen Kultur), von Robert Céneau (1483 bis 1560; Bischof von Avranches) seine Gallica Historia (1557) und von Petrus Ramus der 1559 in Latein und Französisch erschienene Traité des meurs et façons des anciens Gaulois. Soweit man sich nicht auf den gallischen, sondern den fränkischen Ursprung bezog, war es verlockend, sich auf Tacitus zu stützen, der den Germanen als besondere Eigenschaft die Liebe zur Freiheit zuwies. Der bedeutende Jurist Charles Dumoulin (1500 bis 1566) behandelte in seinem Kommentar zur Coutume von Paris (1539) die Franken deshalb als Francigermani. Mit ihren Fragen nach dem Herkommen der Franzosen trugen die Humanisten zur Selbstdefinition der Franzosen im Verhältnis zu Deutschen und anderen bei. Eine besondere Rolle spielte in ihren 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 111 Geschichtswerken die Geschichte des Königtums, die Elemente der Königstheologie ebenso wie die Fundamentalgesetze, allen voran das Salische Gesetz. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen katholischer Liga und Hugenotten nahm die Historiographie eine eminent politische Funktion an. François Hotman (1524 bis 1590; De Francogallia) verteidigte für die Hugenotten die Geltung des Salischen Gesetzes bezüglich der Thronfolge und warf der katholischen Liga vor, dieses Fundamentalgesetz außer Kraft setzen zu wollen. Die Religionskriege bedeuteten auch insoweit „Bürgerkriege“, als es um die Frage ging, wer der Tradition der französischen Geschichte treu blieb, wer der bessere Franzose war. Die Nation definierte sich nicht nur über historische und kulturelle Elemente sowie über die durch politische Integration erzeugte Kohärenz, sondern auch durch politische Institutionen und politisch-philosophische Ideen, die am Volks-Begriff anknüpften. 4.2 Die Generalstände, Repräsentanten der nation 1484: „tout le peuple du royaume“ 1483 berief Anne de Beaujeu als Regentin die Generalstände für 1484 ein. Statt die Mitglieder wie bisher individuell zu berufen, wurden die drei Stände aufgefordert, auf der Ebene der Ämter (bailliages) Vertreter zu wählen. So wählten je der Adel und der Klerus einschließlich des Pfarrklerus in eigenen Versammlungen ihre Repräsentanten. Der dritte Stand, Städte und Landgemeinden, wählten gemeinsam ihre Vertreter. Die Regentin, die mit den Ständen über die Regentschaft verhandeln wollte, begründete dieses Verfahren damit, daß die anstehenden Probleme das ganze Volk („tout le peuple du royaume“) beträfen. In seiner Eröffnungsrede vom 15. Januar 1484 bezeichnete der Kanzler die Versammlung als „Elite der Nation“. Mit dem Repräsentationssystem und der Charakterisierung der Generalstände als Vertreter der Nation wurde der mittelalterliche Entstehungsprozeß der Generalstände zum Abschluß gebracht. Wahlmodus und Verständnis der Generalstände blieben bis 1614 wirksam. Die Nichteinberufung der Generalstände zwischen 1615 und 1789 verhinderte nicht, daß das im ausgehenden 15. Jh. manifest gewordene Grundverständnis lebendig blieb und nach 1787 eine schnelle praktische Wiederbelebung der Generalstände ermöglichte. Wie im dritten Kapitel dargestellt, hatte sich Philipp d. Schöne in der Auseinandersetzung mit Papst und Templern des Rückhalts der 112 Ursprünge und Integrationsprozesse Stände versichert. Grundsätzlich handelte es sich um eine Art von Notabelnversammlungen, deren Mitglieder der König persönlich berief und deren Zustandekommen auf der Verpflichtung der Vasallen zu Leistung von Rat gegenüber dem König beruhte. Da die Städte einen finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Machtfaktor bedeuteten, war ihre Einbeziehung neben Adel und Klerus selbstverständlich. In monetären Angelegenheiten konsultierten Ludwig d. Hl. und seine Nachfolger u. U. ausschließlich ihre bonnes villes. Berücksichtigt wurden anfangs nur die bonnes villes, privilegierte Städte mit einer besonders engen Beziehung zum König, später kamen unter dem Druck der tatsächlichen Verhältnisse weitere Städte hinzu. Doch schon 1308 und 1314 waren im Rahmen des dritten Standes einige bourgs (Marktflecken) und Dörfer ebenso vertreten wie die Universität Paris. Philipps Erfahrungen mit diesen Versammlungen waren positiv gewesen, sie erbrachten ihm den nötigen öffentlichen Meinungsrückhalt für seine europäische Politik. Die Ständeversammlungen erfüllten frühzeitig eine genuin politische Funktion. Mehrfach holten sich die französischen Könige im 14. und 15. Jh. bei den Ständeversammlungen Rückendeckung, wenn sie mit den Engländern nach militärischen Niederlagen unvorteilhafte Verträge hatten schließen müssen. Ihre Strategie bestand darin, die Verträge von den Ständen ablehnen und sich Steuern für neue Kriegszüge zur Revision der Lage bewilligen zu lassen. Dies machte die Kriege gegen England mehr als anderes zu einer Angelegenheit der Nation. Der Institutionalisierungsprozeß der Generalstände – der Ausdruck trois états stammt aus dem späten 13. Jh.; seit dem 14. Jh. wurde zunehmend von assemblée des trois états gesprochen – nährte sich aus einer Reihe kirchen- und römischrechtlicher Praktiken und Debatten. Aus der Rechtslehre der Kanonisten des 12. Jh. und der weiteren Konzilsbewegung schwappte der Grundsatz Quod omnes tangit ab omnibus approbetur auf die Ständeversammlungen über. Dies bezog sich auf die Bewilligung von Steuern wie auf die Prüfung von Verträgen, die der König für das Königreich mit anderen Mächten abschloß. Darüberhinaus wurde das Prinzip der procura (rechtliche Vertretungsvollmacht) aufgegriffen, das in Gerichtsprozessen bereits praktiziert wurde, aber auch von Vasallen, die sich von Fachleuten vertreten ließen, statt selber vor dem König zur Beratung zu erscheinen. Aus der allgemeinen Anwendung des Prokurationsprinzip entstand das erwähnte Repräsentationsprinzip. 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 113 Anders als im Fall des englischen Parliament führte die Konsultation der Stände nicht zu einer permanenten Institution. Die Einberufung der Stände blieb ins Ermessen des Königs gestellt. Bis zur inneren Konsolidierung Frankreichs unter Heinrich IV. waren die Könige jedoch immer wieder auf den ausdrücklichen ständischen Rückhalt angewiesen. Bis in die Mitte des 14. Jh. dienten die unterschiedlichen Versammlungen vorwiegend der Konzertierung von König und Ständen. Allmählich wuchs sich jedoch das Bedürfnis nach réformation des Königreichs zur ständigen Aufgabe der Stände aus. Während Ludwig d. Hl. 1254 noch aus eigenem Antrieb, die Stände konsultierend, eine Reformordonnanz erlassen hatte, geschah dies in den folgenden Jahrhunderten auf Druck der öffentlichen Meinung und der Stände. Es bürgerte sich die Abfassung von Beschwerdeheften (cahiers de doléances) ein, denen spezielle Sollizitationen einzelner Gruppen zur Seite traten. Zumeist ging es um den Steuerdruck, Kompetenzanmaßungen der königlichen Funktionsträger u. ä., weniger um das institutionelle Gefüge an sich. Die besprochene ständische Aktion unter Étienne Marcel 1357 hätte u. U. zur Einführung eines Parliament führen können, da die Zeit für die Forderung nach einer dauerhaften Beteiligung der Stände, insbesondere des dritten Standes, an der Politik aufgeschlossen war. Die allseitigen Exzesse machten aus dieser Frage der zukünftigen politischen Verfassung jedoch eine Frage nach der materiellen Macht im Staat, die militärisch zugunsten des Königs gelöst wurde. Die Stände als Teil des corpus mysticum sive politicum Die Körpermetapher und aus der medizinischen Betrachtung des Körpers abgeleitete Kategorien wie die Synkope bildeten das gängigste und sicherlich eingängigste, da am leichtesten nachzuvollziehende bildliche und sprachliche Mittel, die Zusammengehörigkeit von vielen Elementen in einem Ganzen deutlich zu machen. Alles, was in der Wirklichkeit einen engeren Zusammenhang ausgebildet hatte, wurde mit der Körpermetapher belegt. Seit dem 13. Jh. ist der Begriff corpus rei publicae mysticum (Vinzenz von Beauvais; Gilbert von Tournai) belegbar, eine Analogie zur Bezeichnung der Kirche als corpus mysticum. Den Juristen war der Begriff corpus dienlich, um Gemeinschaften als „Körperschaften“ juristisch als fiktive Person zu definieren. Gerade die Ausprägung unterschiedlicher Gemeinschaften und Kommunen legte es nahe, auch Dorf, Stadt, Provinz, Reich und Welt jeweils als corpus mysticum zu fassen. Die Bezeichnung impli- 114 Ursprünge und Integrationsprozesse zierte, daß diese corpora moralische und ethische Gemeinschaften darstellten, eine Folge der Aristoteles-Rezeption und der Verbindung der politischen Begriffe aus kirchlicher Tradition mit den aristotelischen Kategorien. Der Staat als corpus morale et politicum trat in der Vorstellungswelt gleichberechtigt neben die Kirche als corpus mysticum et spirituale. Dem entsprach in der französischen Politik die Bereinigung der Machtgemengelage seit der Zeit um 1300. Nach 1300 erfreute sich eine andere, ebenfalls aus der kanonistischen Tradition stammende Metapher einiger Beliebtheit: der König (oder Kaiser) heiratet das Königreich. Dies zielte auf die Unveräußerlichkeit der Krondomäne i. S. einer Mitgift der res publica, die wie die rein männliche Königsnachfolge in Frankreich zu den lois fondamentales der Monarchie zählte. Entwickelt wurde diese Ansicht von den Kommentatoren des römischen Rechts, unter denen hier Lucas de Penna (um 1320 bis 1390) hervorzuheben ist, da seine ,Lehre’ im Frankreich des 16. Jh. ausführlich rezipiert wurde. Charles de Grassaille, René Choppin (1537 bis 1606), François Hotman und Jean Bodin (1529 bis 1596) wiederholten die These, daß die Krondomäne die Mitgift der res publica und deshalb unveräußerlich sei. Im Krönungsordo von 1547 (Heinrich II.) wurde erstmals die zum Ritus gehörige Überreichung des Rings mit der Formel erläutert: „le roy espousa solennellement le royaume“. „Noch deutlicher waren die Rubriken des Ordo von 1594 [Heinrich IV.]. Sie besagten, der König heirate am Tag der Krönung sein Königreich, um untrennbar mit seinen Untertanen verbunden zu sein, auf daß sie einander wie Gatte und Gattin liebten.“ (Ernst H. Kantorowicz) Es blieb nicht bei der Bezeichnung des Staats oder des regnum als politisch-moralischem Körper, auch populus, civitas, patria und die Stände wurden in dieses Verständnis einbezogen. Der Jurist Jean de Terrevermeille (geb. um 1370) gehörte zur Umgebung Karls VII., der 1418 aus Paris nach Bourges hatte fliehen müssen und dessen Thronfolge infragegestellt war. Um die Thronfolge der Willkür wechselnder politischer Machtverhältnisse zu entziehen, erklärte der Jurist, „die Thronfolge beruhe auf Gewohnheitsrecht und sei mit Zustimmung der drei Stände wie auch des ganzen »staatsbürgerlichen oder mystischen Körpers des Reiches« eingeführt worden. Er betonte, die königlichen oder weltlichen Würden des Reiches seien öffentlicher Natur und kein Privateigentum, denn sie gehörten »dem ganzen staatsbürgerlichen oder mystischen Körper des Reiches«“. (Ernst H. Kantorowicz) 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 115 Eine dritte Denkfigur, die die Körpermetapher nutzte, wurde von Jean Gerson (1363 bis 1429) mit Autorität vertreten. Die drei Stände machten ihm zufolge die organische Struktur des corpus mysticum Frankreichs aus, es seien aber alle Untertanen verpflichtet, das Haupt – den König – zu schützen, wie alle Glieder eines Körpers zum Schutz des Hauptes beitrügen. Er folgerte daraus, daß jeder mit seinem Stand zufrieden sein müsse, ein Argument, das spätere Verfasser politischer Abhandlungen über die französische Monarchie wie Claude de Seyssel („Grant Monarchie de France“, 1515) oder Charles Loyseau („Traité des Ordres et Simples Dignitez“, 1610) nachdrücklich wiederholten. Schon Gerson neigte dazu, den König mit dem corpus mysticum sive politicum zu identifizieren. Christine de Pisan (1365 bis um 1430) hob in ihrem Livre du corps de policie die solidarische Teilhabe aller Glieder an der Harmonie des Gesellschaftskörpers hervor. In der Körpermetapher wurden König und Stände – oder allgemeiner Untertanen – fest aneinander gebunden. Je nach Blickwinkel konnten dabei die politischen Rechte der Stände oder der Gehorsam der Untertanen herausgestrichen werden. Diese Frage wurde im Lauf des 16. Jh. zugunsten des Gehorsams entschieden. Das 16. Jh. war in Teilen eine Hochzeit der Generalstände, zugleich eine Art Endzeit. Loyseau beschrieb die ständische Ordnung als perfekte Ordnung, meinte damit aber nicht die Teilhabe von Ständen an der politischen Machtausübung. Die Generalstände traten 1614 zum vorerst letzten Mal zusammen und trennten sich ohne greifbares Ergebnis. Die Teile und das Ganze: Provinzen und Provinzialstände Während auf der Ebene der Monarchie Legitimations- und Sanktionsbereich zusammenwuchsen und den modernen Territorialstaat begründeten, und die Generalstände in Maßen die Bedeutung einer politischen Repräsentation der Nation annahmen, zeichneten sich auch die institutionellen Konturen der Provinzen zunehmend ab. In der Regel verfügten sie über Provinzialstände, die teils auf königlichem Privileg beruhten, teils auf andere Traditionen zurückgingen. Adelsrevolten um 1315 hatten das französische Königtum gezwungen, die Privilegien der Provinzen nach und nach zu bestätigen; das war in gewissem Sinn der Preis, der für die erfolgreiche Eingrenzung der Macht ehemals großer Territorialfürsten zu zahlen war. In der gleichen Zeit setzte die schon erwähnte Kodifikation der regionalen Gewohnheitsrechte ein, die im 16. Jh. zu einem flächendeckenden Abschluß gebracht wurde. Die Provinzen nahmen institutionell und 116 Ursprünge und Integrationsprozesse rechtlich Gestalt an und bildeten in Anlehnung an ihre höchsten Institutionen wie die Provinzparlamente und -stände eigenständige Identitäten aus, die dennoch das Ganze, das Königreich, nicht fundamental infragestellten. Burgund, über dessen Weg im 3. Kapitel berichtet wurde, ist dafür das beste Beispiel: bei aller burgundischer Identitätsstiftung wurde der Zusammenhang mit dem Königreich Frankreich gewahrt und dadurch zum Ausdruck gebracht, daß Burgund als die im Rang erste Provinz Frankreichs galt. Historiker des 19. Jh. sahen in der Geschichte Burgunds in kleinerem Maßstab eine repräsentative Geschichte Frankreichs. Loyalität gegenüber der Provinz oder Region und Loyalität gegenüber dem Ganzen, dem Königreich, schlossen sich nicht aus. Die Ideologen der Französischen Revolution sahen darin einen Widerspruch, die Menschen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit nicht – ebensowenig, wie die meisten Menschen im 19. Jh. 4.3 Die Generalstände von 1484 bis 1614 und die politische Philosophie des 16. Jahrhunderts Cahiers de doléances und politische Meinungsäußerung Die Einberufung der Generalstände lag im Ermessen des Königs; sie tagten infolgedessen unregelmäßig, aber sie tagten. Sie können nicht ohne weiteres als Volkes Stimme interpretiert werden, aber die Ausarbeitung von Beschwerdeheften auf der Basis von Gemeinden und Korporationen bedeutete die Gelegenheit zu unmittelbarer politischer Meinungsäußerung. Die Anordnung zur Abhaltung von Wahlversammlungen wurde in den Dörfern vom Pfarrer nach der Messe von der Kanzel verlesen. Daraufhin versammelten sich die Haushaltsvorstände einschließlich der Witwen in dieser Funktion. Die Versammlung wurde von einem königlichen oder grundherrschaftlichen Richter oder von einem der Einwohner geleitet. Alle Versammelten äußerten nacheinander ihre Meinungen, ein Schreiber, z. B. der örtliche Notar, schrieb die Beschwerden nieder. Anschließend wurde ein Vertreter des Dorfs für die nächste Wahlstufe auf der Ebene einer königlichen Vogtei oder des Bailliage gewählt. Sicher wurden auf dem Weg bis zu den eigentlichen Repräsentanten der Stände auf den Ständetagen die Basishefte z. T. verwässert, aber Vergleiche zwischen den großen Ordonnanzwerken des 16. Jh., die wie die Ordonnanz von Blois 1579 nach Generalständetagen (1576) erlassen wur- 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 117 den, zeigen, daß ein Teil der Forderungen von der Basis dem entsprach, was von der königlichen Gesetzgebung schließlich berücksichtigt wurde. (Beat Hodler) Bis 1614 tauchen sowohl auf Generalwie Provinzialständetagen bäuerliche Vertreter auf. Im Vergleich zur Regierungs- und Gesetzgebungspraxis des Absolutismus war das Volk im 16. Jh. direkter an der Politik beteiligt. Im Vordergrund standen Kirchenfragen, die Mißbräuche der königlichen Verwaltung, Steuerungerechtigkeiten, Langsamkeit und Kostspieligkeit der Justiz usw. Zu den bezeichnenden, aber nicht erfüllten Forderungen gehörte die nach der Wahl der Pfarrer, die gerade auch in bäuerlichen Beschwerdeheften formuliert wurden. Nicht zu verkennen ist die Tatsache, daß die Generalstände vorwiegend in Krisensituationen einberufen wurden: 1484 während der Régence, 1560 (Orléans) nach dem Tod des Königs, 1561 (Pontoise), 1576 und 1588 (jeweils Blois) in der Zeit der Religionskonflikte und -kriege. 1593 wurden in Paris ligistische „Generalstände“ abgehalten. 1527 und 1558 wurden Notabelnversammlungen einberufen. Die Versammlung von 1527 sollte den Bruch des Madrider Vertrags von 1526 besiegeln, den Franz I. als Gefangener Karls V. unterschrieben hatte – der König versicherte sich der öffentlichen Meinung –, 1558 sollten außerordentliche Steuern und Kredite zur Beilegung der Finanzkrise des Staates bewilligt werden, was auch geschah. Erstmals auf den Ständetagen von Orléans 1560 tagten die drei Stände getrennt, was die gewachsenen Spannungen und Gegensätze innerhalb der Dreiständegesellschaft deutlich widerspiegelt. Die Kopfzahl pro Stand variierte, aber 1576 beispielsweise zählte der Dritte Stand 186 Abgeordnete (171 bestätigt), während der Klerus durch 110 und der Adel durch 86 Mandatsträger repräsentiert war. Der Dritte war annähernd so stark wie die beiden anderen Stände zusammen. Denkt man an die Diskussionen 1788/89, zeigt sich einmal mehr das politische Gewicht der Generalstände und des Dritten Standes des 16. Jh. Da die Steuerforderungen der Regierung erst während der Versammlung auf den Tisch gelegt wurden, wandten die Vertreter mit Erfolg ein, daß sie kein Mandat von ihren Wählern erhalten hätten, Steuern zu bewilligen. Sie beriefen sich im Grunde auf ein imperatives Mandat. Die Stände wurden für 1561 erneut nach Pontoise geladen, diesmal unter ausdrücklicher Angabe der steuerlichen Tagesordnung. Es erwies sich im weiteren Verlauf des 16. Jh., daß Generalstände kein Mittel waren, neue Steuern durchzusetzen. Daran scheiterte auch die Versammlung von 1614. Dies war einer der 118 Ursprünge und Integrationsprozesse Hauptgründe, warum bis 1789 keine Generalstände mehr einberufen wurden. 1560 und 1561 wurden Forderungen nach regelmäßiger Abhaltung der Generalstände erhoben, Adel und Dritter Stand wollten die Entscheidung über Krieg und Frieden an die Generalstände delegiert wissen. Die Ständeversammlungen des 16. Jh. bildeten ein Forum für brisante Forderungen zur politischen Mitbestimmung des Volks. Das erwies sich erneut auf der Versammlung von 1576, die eine Teilung der Souveränität zwischen Generalständen, König und Staatsrat in Erwägung zog, eine Idee, gegen die Jean Bodin, Deputierter des Dritten Standes des Vermandois in seinen „Sechs Büchern über den Staat“ (1576) energisch anschrieb. Die Ständeversammlung besaß ein deutliches Bewußtsein davon, daß sie Frankreich – la France – repräsentiere, ja, daß sie Frankreich sei, aber sie war freilich in ihren Meinungen gespalten. Die Generalstände von 1588 knüpften an die politischen Forderungen von 1576 an, nachdrücklich vertraten sie die Auffassungen, daß einstimmige Beschlüsse der Generalstände Gesetzeskraft hätten und vom König bestätigt werden müßten. Auf diesem Hintergrund ist die Bestätigung des Édit d’Union 1588 durch Heinrich III. zu verstehen. Die Generalstände – die Wahlen waren wie schon 1576 unter erheblichen Pressionen der Liga verlaufen – endeten mit der Ermordung führender Repräsentanten des ligistischen Adels und des Dritten Standes. Wenig später wurde Heinrich Opfer der Theorie vom Tyrannenmord, die die Pariser Ligisten dem König entgegenschleuderten. Am 1. August 1589 wurde Heinrich von dem Dominikaner (Jakobiner) Jacques Clément erstochen. Monarchomachische und kontraktualistische Lehren Die Lehre vom Tyrannenmord wurde sowohl auf protestantischer wie katholischer Seite vertreten, die zahlreichen Autoren werden unter dem Begriff „Monarchomachen“ zusammengefaßt. Die Tyrannenmordlehre war eng mit der Lehre sei es der Volkssouveränität, sei es ausgedehnter Rechte des Volks gegenüber dem König verbunden. Die radikalsten Stimmen berechtigten jeden beliebigen Bürger zum Tyrannenmord, andere schränkten den Kreis der „Berechtigten“ auf die hohen Funktionsträger der Monarchie ein. Die seit 1560 von den Generalständen geforderten politischen Mitwirkungsrechte des Volks stützten sich auf die Vertragslehren, die seit Marsilius von Padua im 14. Jh. Schritt für Schritt Gewicht erhalten hatten. Sie waren, das eben beweisen die französischen Generalstän- 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 119 deversammlungen, keineswegs nur die Angelegenheit eines engen Zirkels gelehrter Köpfe, sondern sie fungierten als Leitkategorie politischen Handelns. Sie deckten eine große Bandbreite von Vorstellungen ab, die vom Verlangen nach rechtlichem und existentiellem Schutz des Untertanen (Etienne de la Boétie, 1530 bis 1563; „Discours de la servitude volontaire“, 1546 oder 1548) bis zur Theorie der Volkssouveränität reichten. Eine Vielzahl von Schriften hob die gegenseitigen Verpflichtungen von Volk und König hervor, vergaß nicht zu unterstreichen, daß der König für das Volk, nicht aber das Volk für den König da sei (so im „Réveille-Matin“ von 1573, einer weitverbreiteten protestantischen Schrift, und in den späteren Schriften von Théodore de Bèze, z. B. Le droit des magistrats sur leurs sujets). Die Vertragslehre implizierte im allgemeinen ein Widerstandsrecht für das Volk oder seine Repräsentanten. Daß sich Vorausblicke auf das spätere 18. Jh. aufdrängen, war bereits erwähnt worden, und so sieht Simone Goyard-Fabre in den Vertragslehren des 16. Jh. bereits eine Lehre vom contrat social entfaltet. Am weitesten in diese Richtung wagten sich Du Plessis-Mornay und Languet in Vindiciae contra tyrannos, 1579 unter dem Pseudonym Junius Brutus erschienen, vor. Der Begriff „Volk“ (peuple) wird bei den politischen Schreibern des 16. Jh. von „Masse“ (multitude) und populace abgesetzt, z. T. mit der sanior pars der Bevölkerung, den freien Bürgern (citoyens) identifiziert. Der freie Bürger bedient sich aktiv seiner Vernunft und seines Willens, beim geknechteten Untertanen bleibt beides passiv. Die Generalstände wurden zumeist ausdrücklich zur sanior pars gerechnet, insofern sie wie öffentliche Funktionsträger das Ganze des Volks, den Volkskörper (corps du peuple) repräsentierten. Angesichts der überlieferten bäuerlichen Beschwerdehefte des 16. Jh., die Auskunft über die politische Vorstellungswelt auf dem Land geben, ist der Schluß zu ziehen, daß ein Gutteil der bäuerlichen Bevölkerung vom Begriff peuple eingeschlossen wurde. In Frankreich zeichnete sich im 16. Jh. durchaus eine konstitutionelle Alternative zur absoluten Monarchie ab; daß es weder zu einer konstitutionellen Monarchie englischer Ausprägung oder zu einer Republik niederländischer Ausprägung kam, hing mit den gewaltigen sozialen Spannungen und Gefällen zwischen den Ständen zusammen. 120 Ursprünge und Integrationsprozesse „Weder Insekten noch Würmchen“ – Das vorläufige Ende der Generalstände 1614/15 Vertrags- und Volkssouveränitätslehren bezogen sich auf das verfassungsmäßig repräsentierte Volk, nicht auf, um eines der gängigen Klischees der Zeit zu nennen, das „Tier mit einer Million Köpfen“ oder die „armseligen Tiere“. Auf den Generalständen von 1614 sah sich Jean Savaron, Deputierter von Clermont-Ferrand und königlicher Rat, genötigt, dem König deutlich zu sagen, daß er weder „Insekten noch Würmchen vor sich habe, die seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit einforderten, sondern daß es sein armes Volk sei, mit Vernunft begabte Kreaturen“ – „Volk“ und „Vernunft“ verweisen auf die Debatten um die politischen Rechte des Volks im 16. Jh. zurück. Offiziell wurden die Generalstände von 1614 (Oktober 1614 bis Februar 1615; Paris) anläßlich der Volljährigkeit Ludwigs XIII. zusammengerufen, tatsächlich waren sie aber eine Folge einer Adelsrevolte unter Führung der Prinzen aus königlichem Geschlecht (Januar bis Mai 1614). Überall fühlte sich der (Schwert)Adel aus der gesellschaftlichen Führung und von den Fleischtöpfen der Wirtschaft wie der Politik verdrängt, er beklagte seine mangelnden Bildungschancen. Eine Lösung dieser tiefen sozialen Spannungen im Sinne des Schwertadels konnten und sollten nach dem Willen der Regentin und Königinmutter die Generalstände nicht erbringen, sie zerstritten sich an steuerlichen Fragen, so daß der Monarch in die dankbare Rolle des obersten Schiedsrichters im Reich schlüpfen konnte, sehr zugunsten der Befestigung der absoluten Monarchie in Frankreich. 4.4 Widerstandsrecht und Widerstand Nicolaus Boerius und das Widerstandsrecht der Bauern Das Widerstandsrecht spielte nicht nur in der monarchomachischen Lehre eine wesentliche Rolle, sondern auch im gewissermaßen alltäglichen Leben. Das 16. Jh. ist erfüllt von politischen Widerstandsaktionen, die vom individuellen Widerstand über Gerichtsprozesse bäuerlicher Gemeinden gegen einen Grundherrn, über städtische Aufruhre und Aufstände bis hin zu bauernkriegsartigen Steuerrevolten reichen. Die rechtliche Legitimität solcher Widerstände wurde mitnichten von vorneherein verneint, sondern gründlich geprüft und in Grundsätzen bestätigt. Der berühmte Bordelaiser Jurist Nicolaus Boerius (1469 bis 1539; Präsident am Parlament Bordeaux) bejahte 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 121 ausdrücklich ein Widerstandsrecht der Bauern gegen ihre Grundherren, wenn diese gegen ihre Pflichten verstießen und die Rechte der Untertanen verletzten bzw. ohne deren Zustimmung (kontraktualistische Komponente!) die Abgaben erhöhten. Das gut ausgebaute französische Gerichtswesen eröffnete der Bevölkerung aussichtsreiche gerichtliche Wege, erfolgreich Widerstand gegen Unrecht und Ungesetzlichkeiten zu leisten. Die Rechtslehre stand hier auf der Seite noch des Ärmsten, während beträchtliche Teile des Adels diese Form der Verrechtlichung von Konflikten durch die Gerichte und die Juristen noch nicht akzeptieren wollten. Die „grande Rebeyne“ von 1529 in Lyon und die neue Armenethik An gewaltsamen Aufständen mangelte es nicht. Gewalt wurde allerdings auch auf seiten der Aufständischen nach bestimmten Regeln angewendet, selbst wenn willkürliche Gewalt im Volkszorn vorkam. Gewalt wurde angewendet, wenn die rechtlichen und moralischen Mittel der Konfliktlösung erschöpft waren oder nicht funktionierten. Gewaltsame Aufstände wurden von örtlichen Machthabern oder dem König in der Regel mit Gewalt niedergeschlagen, häufig erfolgte aber im Nachhinein durch Zugeständnisse, Reformen oder die Institutionalisierung von Hilfsmaßnahmen eine implizite Anerkennung der Aufstandsmotive. Hungerrevolten, Gesellenaufstände und Steuerrevolten machten den größten Teil gewaltsamen Widerstandes aus. Seit dem ersten Drittel des 16. Jh. liefen die Reallöhne der Textilund Bauarbeiter, überhaupt der Arbeiter und Gesellen, der Inflation und der überdurchschnittlichen Aufwärtsentwicklung der Getreidepreise hinterher. Ein Bauarbeiter, der als Alleinverdiener eine vierköpfige Familie ernährte, gab in normalen Jahren 50 bis 60% seines Lohns für Getreide als Grundnahrungsmittel aus und weitere 20% für den übrigen Subsistenzbedarf. Mit dem kläglichen Rest wurden Miete, Kleidung u. a. bezahlt. In Zeiten der Hungersnot wie 1529 und 1531 in Lyon, wenn sich der Getreidepreis verdoppelte, vervier- oder verfünffachte, reichte der Lohn nicht einmal für den Grundbedarf an Getreide. Dies trieb im April 1529 tausende Hungernde in Lyon auf die Straßen und zum Aufstand (sog. „grande Rebeyne“). Getreidespeicher wurden ebenso geplündert wie die Häuser reicher Händler. Zeitgenössische Berichte über diese Notzeiten um 1530 lassen keinen Zweifel, daß es um Überleben oder Sterben ging. Ausgemergelte 122 Ursprünge und Integrationsprozesse Gestalten, als seien sie dem Grab entstiegen, suchten Brot oder starben in den Straßen. Gegen die Plünderer wurde zwar die Stadtmiliz ins Feld geführt, allerdings wurden auch Hilfeleistungen für die Hungernden auf die Beine gestellt und koordiniert. Daraus entstand in Lyon 1534 die Aumône générale, eine Zentralstelle für die Vergabe von Almosen, über die zugleich Ausbildungsplätze für Kinder oder Dienststellen in den Haushalten der Vermögenden sowie öffentliche Arbeiten (Gräben säubern, Straßenfegen . . .) für Arbeitslose besorgt wurden. Letzteres nahm sehr schnell Zwangscharakter an, außerdem wurde die individuelle Hilfeleistung zugunsten dieser kollektiven, kontrollierten ,Solidarität’ eingeschränkt oder sogar verboten. Neben unbestreitbaren ethischen Motiven der Armenfürsorge hub dort auf Initiative der Stadtbürger die Ausübung einer gewissen Biomacht über die Körper der Armen an, die für die Armenfürsorge der Frühen Neuzeit insgesamt kennzeichnend wurde. Sie folgte der neuen Armenethik des Juan Luis Vivès (De subventione pauperum, Brügge 1526), der in der Arbeit eine Grundlegung der menschlichen Würde erkannte, daraus aber eben auch auf den Zwang zur Arbeit folgerte, moralische Gesichtspunkte mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verbindend. Die Aumône générale von Lyon gehörte in Frankreich zu den ersten Gründungen dieser Art, es folgten ähnliche Einrichtungen in Paris, Dijon, Troyes, Amiens, Poitiers oder Rouen. Streiks im Druckergewerbe Einen anderen Widerstandstyp repräsentierten die Gesellen des Druckergewerbes, dem aufsteigenden „Industriezweig“ des 16. Jh. An einer Druckerpresse arbeiteten sechs bis sieben qualifizierte Gesellen, ein mittlerer Betrieb verfügte über drei, ein größerer über fünf bis sechs Pressen. Die Betreiber von Druckereien befanden sich in einer eher ungünstigen Situation, da sie mit Kapital arbeiteten, das ihnen die Buchhändler vorstreckten. Das heißt, sie mußten täglich liefern oder ansehnliche Vertragsstrafen zahlen. In Frankreich schwebte zwischen 1539 und 1572 ein langanhaltender Konflikt um die Gehälter der Druckergesellen. Streiks gehörten zu den bewährten Methoden der Gesellen. Auf ein Stichwort („tric“) eines Gesellen hin legten alle Gesellen eines Betriebes die Arbeit nieder und zogen sich in eine Taverne zurück. Dem Unternehmer blieb wenig anderes übrig als die Tavernenrechnung zu bezahlen, um die Gesellen wieder an die Arbeit zu holen. Diese sanktionierten Streikbrecher sehr hart und unterbanden die Beiziehung von Ersatzkräften wie Lehrlingen oder 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 123 Druckern aus Nachbarstädten. Ein königliches Edikt vom 10. September 1572 regelte endlich die Gehälter sowie die Pflichten und Rechte der Unternehmer wie der Gesellen. Steuerrevolten Schließlich beherrschten für einige Jahre Salzsteuerrevolten den Südwesten Frankreichs (1542 bis 1548). Die Salzsteuer, die gabelle, wurde im Südwesten im Gegensatz zum übrigen Frankreich nur in geringem Ausmaß erhoben. Franz I. (1515 bis 1547) versuchte zwischen 1540 und 1542 eine einheitliche gesetzliche Grundlage für die Erhebung dieser Steuer durchzusetzen. Dies löste im Südwesten eine breite Revoltenbewegung aus, in der auch ein scharfer Stadt-LandGegensatz sichtbar wurde. Städte besaßen z. T. Steuerprivilegien und wurden verdächtigt, die Steuereinnehmer zu schützen, aber Städte wie Marennes und La Rochelle erhoben sich dennoch 1542. Sie unterwarfen sich recht schnell wieder und der König erwies sich gnädig: er lud ihre Repräsentanten an seinen Tisch. 1548 wurde der Generalleutnant des Königs in der Guyenne ermordet, so daß Heinrich II. (1547 bis 1559) unter dem Befehl des Konnetabels Montmorency ein mehrere Tausend Mann starkes Heer in die Provinz schickte. Nach gelungener Machtdemonstration wurde allerdings der alte Rechtszustand gegen Zahlung einiger Summen Geldes wiederhergestellt – die Aufstände hatten so gesehen durchaus zum Ziel geführt. Die Anwendung von Gewalt im 16. Jh. ist, solange sie bestimmten Regeln gehorchte, nicht als Zeichen des Zerfalls von Gesellschaft und Staat zu werten. Das ist auch mit Blick auf die Religionskriege zu berücksichtigen. Gewalt war bis zu einem gewissen Grad Teil der politischen Sittlichkeit und systemimmanent. (Yves-Marie Bercé) Außerhalb der Gewaltlehre der juristisch argumentierenden Monarchomachen gab es ein Verständnis von moralisch begründeter Gewaltanwendung, von der politische Morde wie 1572 (Bartholomäusnacht) und 1588 (s. o.) ausgegrenzt blieben. In weiten Teilen der Gesellschaft blieb die Auffassung moralisch legitimierter Gewalt auch im 17. Jh. bestehen, wich aber vor dem Anspruch des Staates, das Macht- und Gewaltmonopol zu besitzen, zurück. Disziplinierung der Menschen im Sinne der Ausübung von Biomacht durch den Staat unterscheidet das 17. Jh. deutlich vom 16. Jh. 124 Ursprünge und Integrationsprozesse 4.5 Allgemeine Profile des 16. Jahrhunderts: Demographie, perfekte Monarchie, Protestantismus, Heinrich IV. Demographischer Frühling In der zweiten Hälfte des 15. Jh. begann, regional verschieden, eine demographische Aufwärtsbewegung, die bis ca. 1560 anhielt und dazu beitrug, einen guten Teil der Bevölkerungsverluste infolge der Pest und der Kriege des 14./15. Jh. wettzumachen. Um 1560 lebten wieder rd. 18 Millionen Menschen in Frankreich, davon zwei Millionen in den Städten. Das Heiratsalter lag niedriger als früher, was ein bis zwei zusätzliche Kinder pro fruchtbare Ehe bedeuten konnte. Da vorerst noch genug Land zu Verfügung stand, war es leichter, in jungen Jahren einen eigenen Hausstand zu gründen und damit die notwendige wirtschaftliche Grundlage für Ehe und Familie zu schaffen. Der demographische Aufschwung zeitigte aber noch im 16. Jh. kritische Auswirkungen, da kaum Land mehr auszugeben war; das Heiratsalter stieg infolgedessen wieder (statt 16–20 Jahre bei Frauen dann 24–25 Ende des 17. Jh. (!), statt 24–25 bei den Männern 27–28 Ende des 17. Jh. (!)), mehr Frauen und Männer mußten einen zölibatären Lebensstil wählen. Im 16. Jh. konnte abgesehen von einzelnen Hungerkrisen aufgrund sehr schlechter Ernten die wachsende Bevölkerung ausreichend ernährt werden, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts trat wieder ein eher prekäres Verhältnis zwischen Ernährung und Bevölkerungsumfang ein, das mit zur relativen demographischen Stagnation des 17. Jh. beitrug. Fontainebleau – „totaler Ort“ und Sinnbild der perfekten Monarchie Vom demographischen Aufschwung und Optimismus profitierte auch die Monarchie, die unter Franz I. und Heinrich II. eine bemerkenswerte innere Stringenz erreichte. Sie resultierte aus dem Streben nach der perfekten Monarchie, was nichts anderes meint als die absolute Monarchie. Vieles, was unter Ludwig XIV. zum Modell ausgeformt wurde, erschien unter diesen Herrschern in einer ersten Form der Reife. Nach außen hin wurde die perfekte Monarchie durch eine abgestimmte Bild- und Zeremoniesprache repräsentiert. In konzentrierter Form geschah dies im Kontext der königlichen Schlösser, der höfischen Feste und der Entrées royales. Franz I. hatte zunächst eine Reihe der Loire-Schlösser umbauen lassen, ab den 1520er Jahren konzentrierte er die künstlerischen Kräfte dann auf Fontaine- 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 125 bleau, wo italienische Künstler die Richtung bestimmten. Die Abstimmung der mythologischen Bildprogramme im Innern des Schlosses und im Park, kombiniert mit Wasserspielen, ließ einen „totalen Ort“ entstehen, an dem „alles menschliche Streben, das des Körpers, des Geistes und der Seele“ zusammengeführt wurde. (Arlette Jouanna) Einem ähnlichen Zweck dienten die Hoffeste und die feierlichen Einritte des Königs in die Städte des Königreichs, zu deren Anlaß gleichfalls in prunkhaften Umzügen und ephemeren Architekturen mythologische Programme entfaltet wurden. Eine gewisse Standardisierung der mythologischen Elemente, die hier wie da Verwendung fanden, war nicht zu übersehen. Das bedeutet, daß die mythologische Bildsprache keineswegs nur einer Bildungselite vertraut war, sondern in den Städten auch in den Zünften und Gilden auf ein eingeweihtes Publikum stieß. Reißerische Elemente wie die Mitführung von „Kannibalen“ aus Brasilien bei den Umzügen 1550 in Rouen zu Ehren des Königs lockerten die Inszenierungen auf. Der Protestantismus in Frankreich Das „Bildungsgefälle“ zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten war im 16. Jh. noch weniger stark ausgeprägt als in späteren Zeiten. Gerade die breite soziale Fundierung der Reformation belegte dies vielfältig. Die Notwendigkeit einer Reform der katholischen Kirche war in Frankreich nicht weniger anerkannt als im Reich. So wundert es nicht, daß Luthers Thesen und theologische Argumente frühzeitig in Frankreich rezipiert wurden, aber sie lösten keine protestantische Massenbewegung aus. Sehr viel einflußreicher war Calvin. Bis Mitte der 1530er Jahre scheint bei Franz I. die Überzeugung gewirkt zu haben, das soziale Reformbegehren gegenüber Kirche und Glauben könne mit einer Reform der gallikanischen Kirche zufriedengestellt werden. Danach setzte eine Reihe von Edikten ein, in denen der Protestantismus als Häresie und Aufstand (sédition) gegen König und Reich gewertet, d. h. exzessiv kriminalisiert wurde. Die Exekution von „Häretikern“ konnte die Ausbreitung des Protestantismus und seine Institutionalisierung nicht verhindern. Der Schwerpunkt lag im Südwesten, Süden und Südosten, wie ein Halbkreis zog er sich von La Rochelle durch das Garonne-Tal, den Languedoc, über die Provence bis in den Dauphiné. Im übrigen Frankreich waren protestantische Gemeinden wesentlich dünner gesät. Um 1560 dürften 10% der Bevölkerung protestantischer Konfession gewesen sein – das war die Zeit der größten Verbreitung. 126 Ursprünge und Integrationsprozesse Mit dem Tod Heinrichs II. 1559 an den Folgen einer Turnierverletzung begann eine Schwächeperiode der französischen Monarchie. Franz II. war erst 15 Jahre alt und starb wenig später (1560), die weiteren Söhne (Karl IX., 1560 bis 1574; Heinrich III., 1574 bis 1589) waren zunächst viel zu jung, um die Herrschaft übernehmen zu können. Diese Situation nutzten die katholischen Brüder Franz und Karl von Guise, um im Rahmen der Regentschaft Katharinas von Medici einen Teil der Macht an sich zu reißen. Auf der Seite der Protestanten, die seit 1560 regelmäßig als huguenots – Verschwörer – bezeichnet wurden, traten aus dem Hochadel die Familien Bourbon (Herrschaft über Navarra), Condé und Châtillon (Coligny entstammte dieser Familie) stärker in den Vordergrund. Die Hugenotten übten ihre Konfession entgegen den gesetzlichen Verboten von nun an in der Öffentlichkeit aus, neben die kirchliche Institutionalisierung traten politische und militärische Organisationsformen. Obwohl die Regentin um Ausgleich bemüht war und sie sich dabei auf den Kanzler Michel de l’Hôpital (1505/6 bis 1573) stützen konnte, der zu den würdigsten Persönlichkeiten des 16. Jh. zählte, gelang es ihr nicht, das Aufschaukeln einer politisch-militärischen Krise zu verhindern, die sich zum Bürgerkrieg auswuchs. Die Biographie des späteren Königs Heinrichs IV. wurde von diesen Zeitumständen geprägt. Heinrich IV. Die Regierungszeit Heinrichs IV. (1553 bis 1610; König 1589/1593 bis 1610) gilt als eine Art Goldenes Zeitalter des frühneuzeitlichen Frankreich. Heinrich stammte aus dem königlichen Haus Navarra (sein Vater gehörte dem Haus Bourbon an, seine Mutter dem Haus Albret), das als Hochburg des Protestantismus galt, und gelangte 1589 entsprechend dem französischen Erbfolgerecht auf den Thron. 1589 war er Protestant, hatte zuvor aber schon einmal die Konfession wechseln müssen. 1572 hatte er Margarete, die Schwester König Karls IX. geheiratet. Der Heirat am 18. August 1572 folgte die berüchtigte Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572, in der die in Paris anläßlich der Hochzeit befindliche protestantische Führungsschicht zusammen mit vielen Hugenotten in Paris und anschließend in der Provinz barbarisch dezimiert wurde. Noch immer geht der Streit darum, wer das Massaker eigentlich veranlaßt hat. Die Zeitgenossen machten vor allem Katharina von Medici, Königinmutter und Regentin, dafür verantwortlich. Heinrich, damals erst 19 Jahre alt, wurde am Pariser Hof wie ein Gefangener gehalten. 4 Die Nationswerdung bis zu Heinrich IV. 127 Als 1589 Heinrich der Thron zufiel, war er noch längst nicht wirklicher Machthaber in Frankreich. Stück für Stück eroberte er mit den hugenottischen Truppen das Land, Paris öffnete sich ihm aber erst, als er zur katholischen Konfession, 1593, übertrat. Der berühmte Satz „Paris ist eine Messe wert“ bezieht sich darauf. Doch auch dann war Frankreich noch nicht geeint, geschweige denn von Heinrich beherrscht. Erst 1598 war es soweit, daß von einem Königreich unter einem Machthaber, nämlich dem legitimen König, die Rede sein konnte. Das Land war durch die Religionskriege und die konfessionellen Parteiungen jahrzehntelang gespalten gewesen, hinzu kam, daß gerade Paris die Spanier, den französischen Erzfeind, in die Stadt zur Verteidigung gegen Heinrich gerufen hatte. Ein Blick auf historische Karten zeigt, wie sehr Frankreich von österreichischen und spanischen Habsburgern umschlossen war und den Zangengriff fürchtete, eine Obsession, der noch Ludwig XIV. ganz seine Außenpolitik unterordnete. Neben der Beendigung der Kriege bedeutete das Edikt von Nantes vom 13. April 1598 die wichtigste Friedensmaßnahme. Es sicherte die Gewissensfreiheit gesetzlich ab. Protestantische Gottesdienste durften dort gehalten werden, wo sie von 1596 bis August 1597 gehalten worden waren; zusätzlich in den Adelsschlössern und den Amtsorten. Paris und eine 5-Meilen-Zone waren davon ausgenommen. Rechtliche Schlechterstellungen aufgrund der protestantischen Konfession wurden beseitigt, an den höchsten Berufungsgerichten, den Parlements, wurden gemischtkonfessionelle Kammern eingerichtet. Die Hugenotten erhielten außerdem 100 befestigte Plätze zugestanden, zunächst auf acht Jahre. Der Unterzeichnung des Edikts folgte ein zäher Kleinkampf um seine Durchsetzung, zumal die Konfessionsfreiheit nur eine bedingte war. Artikel 23 bestimmte, daß das katholische Eherecht auch für die Hugenotten gelten mußte. Der innere Frieden war die eine Voraussetzung für die Stabilität der Regierung und des Landes; die politische Lehre die andere. 1576 hatte Jean Bodin die „Sechs Bücher über den Staat“ veröffentlicht, in denen er u. a. „Souveränität“ definierte. In Buch I, Kap. 8, heißt es: „Souveränität ist die absolute und dauernde Macht eines Staates.“ Wichtig ist, daß Bodin Souveränität zunächst einmal abstrakt, d. h. losgelöst von einer ganz bestimmten Verfassung, definierte. Souveränität ist ein wesentliches Element von Staat an sich. Bodin wollte den Bestand des Staates der Konfessionalisierung des Politikverständnisses 128 Ursprünge und Integrationsprozesse entziehen. In der Monarchie liegt die Souveränität beim Monarchen, und nur bei ihm. In diesem Sinne ist der Monarch „legibus solutus“, weil die Souveränität zur Änderung der Gesetze berechtigt, aber umgekehrt die Änderung der Gesetze auch der Souveränität als Legitimation bedarf. Der Monarch ist jedoch nicht „jure solutus“, der Bodinsche Souveränitätsbegriff schließt deshalb Willkürherrschaft aus. Heinrich IV. ist jener König, der jedem Franzosen ein „Hühnchen im Topf“ bescherte, so die Legende vom guten König Heinrich. Bis heute hält seine Popularität an. Durch Erleichterung bei den direkten Steuern versuchte Heinrich, die Landbevölkerung zu entlasten, andererseits erhöhte sich die Salzsteuer, die Gabelle. Durch die Kriege, umherziehende Landsknechte und Seuchen sank der Lebensstandard erheblich, viele Bauern waren so verarmt, daß nur mehr weniger als 50% des Ackerlandes im Besitz der laboureurs waren. Gefördert wurde der Handel, die Textilproduktion, die Seidenproduktion. Sein hugenottischer Wegbegleiter und Finanzminister Sully (Maximilien de Béthune, Herzog von Sully, 1560 bis 1641) schaffte es, den Staatshaushalt auszugleichen und wieder einen Staatsschatz anzulegen. Zu den prägenden finanzpolitischen Ereignissen gehörte 1604 die Einführung der Paulette (nach dem Bankier Paulet): diese Steuer legalisierte die Ämterkäuflichkeit bzw. die Vererbung von Ämtern. Bevor Heinrich umfassendere außenpolitische Pläne entwickeln und in die Tat umsetzen konnte, wurde er am 14. Mai 1610 von dem Laienbruder Ravaillac ermordet. Das erste Attentat aus religiösen Motiven auf Heinrich war es nicht gewesen. Wie die meisten Attentate dieser Art wirkte es nicht im Sinne des Attentäters: Richelieu und Heinrichs Sohn Ludwig XIII. führten die Politik auf den eingeschlagenen Wegen fort.