Chr.Nelius : Lineare Algebra (SS 2006) 1 Kap. III. Vektorräume §9. Der Begriff des Vektorraumes Zunächst wird an einige Beispiele erinnert, die in der Vorlesung behandelt worden sind. (0.1) SATZ: Vektoren der anschaulichen Ebene E lassen sich addieren und mit reellen Skalaren multiplizieren. Für die Addition gelten die folgenden Regeln: A0 ) Je zwei Vektoren ~ v und w ~ wird ein eindeutig bestimmter Vektor ~ v+w ~ zugeordnet . A1 ) Für alle Vektoren ~ u, ~ v und w ~ gilt (~ u+~ v) + w ~ =~ u + (~ v + w) ~ (Assoziatives Gesetz) A2 ) Für alle Vektoren ~ v und w ~ gilt ~ v+w ~ =w ~ +~ v (Kommutatives Gesetz) A3 ) Es existiert ein Vektor ~ o mit ~ v +~ o = ~ v (Existenz eines Nullvektors) A4 ) Zu jedem Vektor ~ v gibt es einen Vektor w ~ mit ~ v+w ~ =~ o (Existenz von negativen Vektoren) für alle Vektoren ~ v Für die skalare Multiplikation gelten die folgenden Regeln: SM0 ) Jedem (Skalar) r ∈ IR und jedem Vektor ~ v wird ein eindeutig bestimmter Vektor r~ v zugeordnet . SM1 ) r(~ v + w) ~ = r~ v + rw ~ SM2 ) (r + s)~ v = r~ v + s~ v SM3 ) r(s~ v ) = (rs)~ v SM4 ) 1~ v=~ v für alle ~ v, w ~ ∈E und alle r, s ∈ IR Chr.Nelius : Lineare Algebra (SS 2006) Auch die Vektoren des Anschauungsraumes A lassen sich addieren und mit Skalaren multiplizieren, wobei die entsprechenden Rechenregeln wir in (0.1) gelten. Auf der Menge IRn der n–Tupel reeller Zahlen lassen sich komponentenweise eine Addition und eine skalare Multiplikation definieren, deren wichtigste Eigenschaften in den Sätzen (3.4) und (3.7) zusammengefaßt sind: (3.4) SATZ: Für die Addition auf IRn gelten die folgenden Regeln: A0 ) Je zwei Elementen a und b aus IRn wird eine eindeutig bestimmte Summe a + b ∈ IRn zugeordnet A1 ) Für alle a, b, c ∈ IRn gilt (a + b) + c = a + (b + c) (Assoziatives Gesetz) A2 ) Für alle a, b ∈ IRn gilt a + b = b + a (Kommutatives Gesetz) A3 ) Es existiert on ∈ IRn mit a + on = a für alle a ∈ IRn (Existenz eines Nullelementes) A4 ) Zu jedem a ∈ IRn gibt es ein b ∈ IRn mit a + b = on (Existenz von negativen Elementen) (3.7) SATZ: Für die skalare Multiplikation auf IRn gelten die folgenden Regeln: SM0 ) SM1 ) SM2 ) SM3 ) SM4 ) Jedem r ∈ IR und jedem a ∈ IRn wird ein eindeutig bestimmtes Element ra ∈ IRn zugeordnet r(a + b) = ra + rb (r + s)a = ra + sa für alle a, b ∈ IRn und alle r, s ∈ IR r(sa) = (rs)a 1a = a 2 Chr.Nelius : Lineare Algebra (SS 2006) Auf der Menge Mm,n (IR) der (m × n)–Matrizen reeller Zahlen lassen sich elementweise eine Addition und eine skalare Multiplikation definieren, deren wichtigste Eigenschaften in den Sätzen (4.3) und (4.6) zusammengefaßt sind: (4.3) SATZ: Für die Addition auf Mm,n (IR) gelten die folgenden Regeln: A0 ) Je zwei Elementen A und B aus Mm,n (IR) wird eine eindeutig bestimmte Summe A + B ∈ Mm,n (IR) zugeordnet A1 ) Für alle A, B, C ∈ Mm,n (IR) gilt (A + B) + C = A + (B + C) (Assoziatives Gesetz) A2 ) Für alle A, B ∈ Mm,n (IR) gilt A + B = B + A (Kommutatives Gesetz) A3 ) Es existiert O ∈ Mm,n (IR) mit A + O = A für alle A ∈ Mm,n (IR) (Existenz eines Nullelementes) A4 ) Zu jedem A ∈ Mm,n (IR) gibt es ein B ∈ Mm,n (IR) mit A + B = O (Existenz von negativen Elementen) (4.6) SATZ: Für die skalare Multiplikation auf Mm,n (IR) gelten die folgenden Regeln: SM0 ) SM1 ) SM2 ) SM3 ) SM4 ) Jedem r ∈ IR und jedem A ∈ Mm,n (IR) wird ein eindeutig bestimmtes Element rA ∈ Mm,n (IR) zugeordnet r(A + B) = rA + rB A, B ∈ M (r + s)A = rA + sA m,n (IR) und r, s ∈ IR r(sA) = (rs)A 1A = A 3 Chr.Nelius : Lineare Algebra (SS 2006) Das Gemeinsame an diesen Beispielen ist, daß jeweils eine Menge gegeben ist, auf der zwei Rechenoperationen definiert sind, und zwar • eine Addition und • eine skalare Multiplikation mit reellen Zahlen. Es gelten nun für die beiden Verknüpfungen in allen Beispielen ganz entsprechende Rechenregeln. Wir definieren im folgenden den allgemeinen Begriff eines Vektorraumes, unter dem sich alle angeführten Beispiele wiederfinden lassen. Dazu abstrahieren wir zum einen von der speziellen Menge (Menge der Vektoren der Ebene oder des Raumes, der n–Tupel, der (m × n)–Matrizen) und der speziellen Definition der Rechenoperationen (Vektoradditon, Addition von n–Tupeln bzw. Matrizen und die jeweiligen skalaren Multiplikationen). Wir gehen also von einer ganz beliebigen Menge aus, über deren Elemente wir keine näheren Informationen haben, und zwei auf dieser Menge definierten Verknüpfungen, von denen wir auch nicht wissen, wie sie definiert sein sollen. Das Entscheidende ist aber, daß für diese beiden Rechenoperationen Rechenregeln gelten, die denen in den Beispielen entsprechen. Aus diesen Grund–Rechenregeln lassen sich ganz allgemein weitere Rechenregeln herleiten, die dann auch in allen konkreten Beispielen für Vektorräume gültig sein müssen. Dies ist natürlich eine enorme Arbeitserleichterung: Eine einmal allgemein für Vektorräume bewiesene Rechenregel gilt in allen Fällen, in denen ein konkreter Vektorraum vorliegt. Wir haben schon in früheren Übungsaufgaben gesehen, wie sich für die Rechenoperationen auf IRn aus den Grundregeln weitere Rechenregeln herleiten lassen. Wir werden dann auch noch allgemeinere Eigenschaften beliebiger Vektorräume untersuchen, die wir in gewissen Spezialfällen schon kennengelernt haben. 4 Chr.Nelius : Lineare Algebra (SS 2006) 5 (9.1) DEF: Eine Menge V zusammen mit zwei Rechenoperationen + (Addition) und ·IR (Skalarmultiplikation mit reellen Zahlen) heißt ein reeller Vektorraum (oder Vektoraum über dem Körper der reellen Zahlen), wenn folgende Eigenschaften erfüllt sind: A0 ) Je zwei Elementen v und w aus V wird eine eindeutig bestimmte Summe v + w ∈ V zugeordnet A1 ) Für alle u, v, w ∈ V gilt (u+v)+w = u+(v +w) (Assoziatives Gesetz) A2 ) Für alle v, w ∈ V gilt v + w = w + v (Kommutatives Gesetz) A3 ) Es existiert oV ∈ V mit v + oV = v für alle v ∈ V (Existenz eines Nullelementes) A4 ) Zu jedem v ∈ V gibt es ein w ∈ V mit v + w = oV (Existenz von negativen Elementen) SM0 ) Jedem r ∈ IR und jedem v ∈ V wird ein eindeutig bestimmtes Element rv ∈ V zugeordnet SM1 ) r(v + w) = rv + rw SM2 ) (r + s)v = rv + sv für alle v, w ∈ V SM3 ) r(sv) = (rs)v SM4 ) 1 v = v und alle r, s ∈ IR Bezeichnungen und Bemerkungen: Die Elemente eines Vektorraumes über IR heißen Vektoren , die Elemente aus IR Skalare. Das Element oV ∈ V nach A3 ) ist eindeutig bestimmt und heißt Nullvektor in V . Das zu v nach A4 ) existierende Element w ∈ V mit v + w = oV ist eindeutig bestimmt und heißt der zu v negative Vektor . Er wird mit −v bezeichnet. Außerdem setzt man v − w := v + (−w) für zwei Vektoren v, w ∈ V . Chr.Nelius : Lineare Algebra (SS 2006) 6 (9.3) SATZ: In einem reellen Vektorraum V gelten die folgenden Rechenregeln (hierbei sind v, w ∈ V und r, s ∈ IR beliebig): a) 0 v = oV b) r oV = oV c) −(r v) = (−r) v = r (−v) d) r v = oV =⇒ insbesondere: −v = (−1) v (r = 0 oder v = oV ) e) r 6= 0 und r v = r w f ) v 6= oV und r v = s v =⇒ =⇒ v=w r = s.