Haus der Wannsee-Konferenz Raum 6 – Handlungsspielräume unter deutscher Besatzunga Der Weg zur Vernichtung der Juden in Ost- und Südosteuropa war nicht eindeutig vorgezeichnet. Die Befehlsgeber waren auf die Bereitschaft ihrer Untergebenen zur Ausführung ihrer Anordnungen angewiesen, aber auch auf Unterstützung aus der einheimischen Bevölkerung. Im Verlauf der Verfolgung eröffneten sich den Beteiligten unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Wie sie sich verhielten, hing nicht nur von Befehlen und äußeren Zwängen, sondern auch von ihrer Deutung der Situation, ihren Einstellungen und Motiven ab. Die Bereitschaft Einheimischer, mit den deutschen Besatzern zusammenzuarbeiten, variierte nach Region, politisch-ideologischer Orientierung und persönlichen Interessen. Juden wurden manchmal von Nachbarn versteckt, stießen aber meist auf deren Teilnahmslosigkeit und Furcht. Sie waren auch mit Kollaborateuren konfrontiert, die sie denunzierten, beraubten und sich sogar an ihrer Ermordung beteiligten, weil sie Juden hassten, sich deutschen Befehlen fügten und sich von der Beteiligung am Judenmord materielle oder politische Vorteile versprachen. Unter den Deutschen in den Besatzungsgebieten gab es nur wenige, die sich Befehlen zur Mitwirkung an den Morden entzogen oder sich um die Rettung von Juden bemühten. Ihre Handlungen beweisen, dass humanes Verhalten auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft möglich und in manchen Fällen erfolgreich war. Die Juden standen den Mordkommandos zunächst wehrlos gegenüber. Doch entwickelte sich vielerorts Widerstand. Um das von den Deutschen geschaffene Elend in den Ghettos zu lindern, wurden Selbsthilfeorganisationen geschaffen. Aktiver Widerstand war durch räumliche und soziale Isolation und den chronischen Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und Waffen erschwert. Die Flucht aus den Städten und der Anschluss an Partisanenverbände gelangen nur im Ausnahmefall. Blieb der bewaffnete Widerstand in den Ghettos letztlich ohne Erfolg, so retteten doch ab 1942/43 jüdische Partisaneneinheiten tausenden von Menschen das Leben. Deutsche Besatzung im östlichen Europa 1941-1944 Kollaboration Nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus der damaligen litauischen Hauptstadt Kaunas am 22. Juni 1941 gingen litauische Nationalisten gewaltsam gegen die jüdische Bevölkerung vor. Die Pogrome wurden auch nach der deutschen Besetzung der Stadt am 24. Juni fortgesetzt. Wehrmachtsinstanzen verhielten sich völlig passiv. Auf Weisung Heydrichs ermunterte der Führer der »Einsatzgruppe A«, SS-Brigadeführer Stahlecker, das Vorgehen der Mordkommandos und versuchte zugleich, die litauischen Milizen dem Befehl der deutschen Sicherheitspolizei zu unterstellen. Bei Massakern in der Stadt und in den umliegenden Forts VII und IX kamen bis zum 11. Juli 1941 annähernd 7.800 Juden ums Leben. „Den Selbstreinigungsversuchen antikommunistischer oder antijüdischer Kreise in den neu zu besetzenden Gebieten sind keine Hindernisse zu bereiten. Sie sind im Gegenteil, allerdings spurenlos, zu fördern, ohne daß sich diese örtlichen „Selbstschutz“-Kreise später auf Anordnungen oder gegebene politische Zusicherungen berufen können.“ Schreiben Heydrichs an die Höheren SS- und Polizeiführer in den besetzten Ostgebieten über die Aufgaben der Sicherheitspolizei und des SD, 2. Juli 1941 (BA Berlin) 1 „Als Adjutant […] dieses Stabes erhielt ich den Befehl, den Stab der in Kowno liegenden 16. Armee aufzusuchen und in Verbindung mit diesem für den Stab der Heeresgruppe dort Quartier vorzubereiten. Am Vormittag des 27. Juni traf ich dort ein. Auf der Fahrt in die Stadt kam ich an einer Tankstelle vorüber, die von einer dichten Menschenmenge umlagert war. In dieser befanden sich auch viele Frauen, die ihre Kinder hochhoben oder, um besser sehen zu können, auf Stühlen und auf Kisten standen. Der immer wieder aufbrausende Beifall - Bravo-Rufe, Händeklatschen und Lachen - ließ mich zunächst eine Siegesfeier oder eine Art sportliche Veranstaltung vermuten. Auf meine Frage jedoch, was hier vorgehe, wurde mir geantwortet, daß hier der „Totschläger von Kowno“ am Werk sei. Kollaborateure und Verräter fänden hier endlich ihre gerechte Bestrafung! Nähertretend aber wurde ich Augenzeuge wohl des furchtbarsten Geschehens, das ich im Verlaufe von zwei Weltkriegen gesehen habe. Auf dem betonierten Vorplatz dieser Tankstelle stand eine mittelgroßer, blonder und etwa 25jähriger Mann, der sich gerade ausruhend auf einen armdicken Holzprügel stützte, der ihm bis zur Brust reichte. Zu seinen Füßen lagen etwa 15 bis 20 Tote oder Sterbende. Aus einem Wasserschlauch floßständig Wasser und spülte das vergossenen Blut in einen Abflussgully. Nur wenige Schritte hinter diesem Manne standen etwa 20 Männer, die von bewaffneten Zivilisten bewacht -, in stummer Ergebenheit auf ihre grausame Hinrichtung warteten. Auf einen kurzen Wink trat dann der Nächste schweigend vor und wurde auf die bestialischste Weise mit dem Holzknüppel zu Tode geprügelt, wobei jeder Schlag von begeisterten Zurufen seitens der Zuschauer begleitet wurde. Bei Armee-Stab erfuhr ich sodann, daß diese Massen-Exekutionen dort bereits bekannt waren, und daß diese selbstverständlich das gleiche Entsetzen und die gleiche Empörung wie bei mir hervorgerufen hatten. Ich wurde jedoch darüber aufgeklärt, daß es sich hier anscheinend um ein spontanes Vorgehen der litauischen Bevölkerung handle, die an Kollaborateuren der vorausgegangenen russischen Besatzungszeit und an Volksverrätern Vergeltung übe. Mithin müßten diese grausamen Exzesse als rein innerpolitische Auseinandersetzungen angesehen werden, mit denen - wie auch „von oben“ angeordnet sei - der litauische Staat selber, daß heißt, ohne Eingreifen der deutschen Wehrmacht, fertig zu werden hätte. Die öffentlichen Schau-Hinrichtungen wären bereits verboten worden, und man hoffe, daß dieses Verbot ausreiche, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.“ Zeugenbericht des ehemaligen Adjutanten beim Stab der Heeresgruppe Nord, von Bischoffshausen, vom 19. April 1959 betreffend den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Kaunas (Kovno) am 27. Juni 1941 (BA Ludwigsburg) Die jüdische Bevölkerung der Stadt Kaunas wird von litauischen Nationalisten durch die Straßen getrieben, vermutlich zwischen dem 25. und 27. Juni 1941 (BA Ludwigsburg) Juden werden von litauischen Nationalisten nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Kaunas öffentlich erschlagen, vermutlich zwischen dem 25. und 27. Juni 1941 (BA Ludwigsburg) 2 Ein mit einem Holzknüppel bewaffneter litauischer Nationalist präsentiert sich vor einer Reihe erschlagener jüdischer Einwohner der Stadt Kaunas, vermutlich zwischen dem 25. und 27. Juni 1941 (BA Ludwigsburg) Zuschauer Die Filmemacherin Leni Riefenstahl wurde am 12. September 1939 bei Dreharbeiten in der polnischen Kleinstadt Konskie Augenzeugin eines deutschen Kriegsverbrechens: Soldaten der Wehrmacht zwangen jüdische Männer, in einem Park ein Grab für vier hinter der Front erschossene deutsche Soldaten auszuheben. Als die Juden auf Weisung eines deutschen Polizeioffiziers den Ort verließen, gab der Flakoffizier Bruno Kleinmichl zwei Schüsse auf die vermeintlich Fliehenden ab. Wehrmachtssoldaten feuerten daraufhin planlos in die von Panik erfasste Gruppe und töteten zweiundzwanzig Menschen. Riefenstahl protestierte beim Befehlshaber der 10. Armee, General Walter von Reichenau, gegen das Vorgehen der deutschen Soldaten und legte ihr Amt als Kriegsberichterstatterin nieder. Ein Kriegsgericht verurteilte Leutnant Kleinmichl zu einem Jahr Haft. Das Urteil wurde aufgrund von Hitlers Amnestie für deutsche Kriegsverbrechen vermutlich nicht vollstreckt. Retter Am 26. Juli 1942 - wenige Tage nach Himmlers Weisung, bis Jahresende alle Ghettos in Polen aufzulösen versperrten Wehrmachtssoldaten einer Polizeieinheit den Zugang zum Ghetto in Przemysl und verhinderten so eine geplante Räumungsaktion. Zur Begründung für diese ungewöhnliche Maßnahme verwiesen Ortskommandant Max Liedtke und sein Adjutant, Dr. Albert Battel, auf eine Vereinbarung mit der örtlichen Polizei: Jüdische Zwangsarbeiter für die Wehrmacht waren vom Abtransport aus dem Ghetto auszunehmen. Battel selbst holte mit einer Abteilung Soldaten weitere 80 bis 100 Juden aus dem Ghetto und gewährte ihnen Schutz in der Ortskommandantur. Major Max Liedtke, Mai 1941 (Foto Privatbesitz) 3 In den folgenden Tagen führten jedoch SS und Polizei die Räumung durch: Mindestens 10.000 Juden wurden in das Todeslager Belzec deportiert oder bereits vor Ort erschossen. Auf Betreiben Himmlers sollte Battel nach Kriegsende aus der NSDAP ausgestoßen und in Haft genommen werden. „Ich beabsichtige, Battel sofort nach dem Kriege verhaften zu lassen. Außerdem darf ich vorschlagen, daß zu gegebener Zeit gegen Battel auch ein Parteigerichtsverfahren mit dem Ziel des Ausschlusses aus der Partei eingeleitet wird.“ Schreiben Himmlers an den Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, Martin Bormann, 3. Oktober 1942 (BA Berlin) 4 6.5. Widerstand Zwischen 1941 und 1944 bestand im unzugänglichen Waldgebiet von Naliboki (Weißrussland) eine große jüdische Partisanengruppe unter Führung von Anatolij »Tuvia« Bielski und dessen Brüdern. Die Gruppe nahm an Operationen der sowjetischen Partisanenführung teil, konzentrierte sich aber auf die Sicherung des eigenen Überlebens und die Rettung jüdischer Flüchtlinge - hauptsächlich aus dem Ghetto der Stadt Nowogrudok. Die Organisation eines ausgedehnten »Familienlagers« mit improvisiertem Hospital, Schule, Werkstätten und einer Synagoge ermöglichte auch Frauen, Kindern und Alten das Überleben. Nach dem deutschen Rückzug im Sommer 1944 kehrte Bielski mit über 1.200 Geretteten nach Nowogrudok zurück. Viele ehemalige »Bielski-Partisanen« wanderten nach Kriegsende über Deutschland in die USA und nach Israel aus. Gruppenaufnahme der jüdischen Partisanengruppe um Anatolij "Tuvia" Bielski (1906-1987) während der Wache an einer improvisierten Flugpiste im NalibokiWald (Weißrussland), vermutlich 1943/1944. Gruppenaufnahme ehemaliger "BielskiPartisanen" im Lager für "Displaced Persons", Föhrenwald bei München, 3. April 1948 (USHMM Washington) (USHMM Washington) „Der Feind machte keinen Unterschied. Sie griffen wahllos Menschen und töteten sie. Würde ich sie nicht bloß nachahmen, wenn ich einfach ein paar Deutsche - irgendwelche Deutsche - umbrachte? Es würde sich nicht auszahlen, und für mich hätte das auch keinen Sinn. Ich wollte retten, nicht töten.“ Tuvia Bielski im Interview mit der Soziologin Nechama Tex, Brooklyn, New York 1987. 5