DTA1107_08_Enders 8 26.10.2007 13:36 Uhr Seite 1 Dental Culture DENTAL TRIBUNE Austrian Edition · Nr. 11/2007 · 2. November 2007 „Aus der Reihe tanzende“ Zähne Formen, Verbreitung und Hintergründe künstlicher Zahndeformationen Teil 1 – Zahnfeilungen Von Mag. Jeannette Enders LEIPZIG – Körperdeformationen finden wir in den vielfältigsten Formen bei allen Völkern der Erde vor. Sämtliche äußeren Organe des menschlichen Körpers galten in der Vergangenheit hinein als Gegenstand künstlicher Modifikationen. Bis heute unterzieht sich der Mensch, nicht selten unter erheblichen Mühen und Qualen, künstlichen Veränderungen an Haaren, Nägeln, Haut, Lippen, Zähnen, Nase, Augen, Ohren, Genitalien, Fingern oder am kompletten Brustkorb. Auch wenn viele Formen des Körperschmucks wie ein saisonaler Modetrend wirken, existieren die meisten von ihnen schon seit Jahrhunderten und haben ihren Ursprung seit Urzeiten. afrikanische Kontinent sowie Australien, Asien und Polynesien. In den Quellen, in denen sich Angaben über Gebissdeformationen der Vergangenheit finden lassen, können folgende Hauptformen herausgestellt werden: – Zahnfeilung – Zahnextraktion – Zahnfärbung – Ausschmücken der Zähne mit Metall- und Steineinlagen. Innerhalb dieser Grundformen gibt es Kombinationsformen, so zum Beispiel Zahnschwärzung und -feilung an ein und demselben Gebiss. sehr fein zugespitzt, während bei den Subtribus M’Tschanja vier Vorderzähne des Ober- und Unterkiefers mit Einschnitt in der Mitte versehen sind.“ (Hildebrandt, in Ihering 1882: 228). Ein gut erhaltener Kinderschädel mit prägnanten Beschleifungen der oberen und mittleren Schneidezähne aus dem Besitz des zahnärztlichen Instituts Tübingen gab Stumpp Anlass, sich mit dem Thema der Zahndeformationen näher zu beschäftigen. Bei dem Schädel handelt es sich um einen afrikanischen Knabenschädel, an dessen oberen Schneidezähnen eine sogenannte Zackenfeilung vorgenommen wurde. In der Disserta- Für Europäer gelten weiße ebenmäßige Zähne als ideales Schönheitsmerkmal mit einer hohen Wertschätzung und großem Prestige. Zahnlücken werden geschlossen, Zähne größer gestaltet und Zahnoberflächen verschönert. Keramische Verblendschalen, Kronen, Keramikinlays, Implantate oder Bleaching – dank modernster Technologien und neuer zahnärztlicher Werkstoffe wird der Natur nachgeholfen. Das Wunschbild des westlichen Kulturkreises von weißen ebenmäßigen Zähnen gilt zwar mittlerweile weltweit als Ideal, doch nach wie vor existieren Kulturkreise mit völlig konträren Vorstellungen von Zahnfarbe oder Zahnstellung. Zahndeformationen konnten bereits in ur- und frühgeschichtlicher Zeit nachgewiesen werden. Archäologische Fundorte sind Babylonien, das Aztekenreich Mittelamerikas sowie Regionen Südamerikas. Als klassische Erdteile für Zahnumgestaltungen der Gegenwart gelten der Die Zahnfeilung auf Bali Als ein wichtiges Initiationsritual im Leben der Balinesen gilt die Zeremonie der Zahnbefeilung Metatah. Mit dem Eintritt in die Pubertät werden den jungen Menschen die mittleren sechs Zähne des Oberkiefers im Verlauf einer speziellen Zeremonie abgefeilt und auf eine Linie begradigt. Die Prozedur hat starke spirituelle Wurzeln in der hinduistischen Tradition Balis. Nach dem Glauben balinesischer Hindus ist das menschliche Wesen durch drei Züge geprägt, nämlich: 1. „guna satwam“ (ruhig, still, ehrlich, weise, rechtschaffend, vornehm) 2. „guna rajas“ (dynamisch, begierlich, selbstgefällig, gewalttätig, störend) 3. „guna tamas“ (passiv, bequem, auf Kosten anderer auf Erfolg bedacht). Vorübergehende Dekorationen am Körper, so die Hautbemalung, oder dauerhafte Körperveränderungen, wie beispielsweise Schädel- und Zahndeformationen, besaßen in der Vergangenheit meist religiöse Bedeutung. Oft standen sie in enger Beziehung zu Lebenszyklen und dienten neben der Schmuckfunktion zur Kennzeichnung der Altersstufen und der sozialen Stellung des Trägers. Der deformierende Gesichtsschmuck gilt als unvergänglich und hält ein Leben lang. Wichtiger Körperteil hierbei ist der Zahn. Sowohl europäische, afrikanische oder asiatische Kulturen verändern das natürliche Erscheinungsbild der Zähne teilweise oder komplett, je nach kulturellem Kontext, Schönheitsvorstellungen und medizinischtechnischen Stand. tet die Zeremonie Metatah auf Bali. Sowohl „guna rajas“ als auch „guna tamas“ tragen die sogenannten „sad ripu“, die 6 Feinde Gier, Habsucht, Zorn, Hochmut, Trunkenheit/Ohnmacht, Eifersucht des Menschen in sich, welche ihn in die Irre führen und ihn in Elend, Kummer und Leid stürzen können. Abb. 1: Ansicht eines menschlichen Schädels mit Zahnfeilung und Einlagen aus Pyrit und Jade an den Oberkieferfrontzähnen. Tlaxala/Mexiko, um 900 n.Chr. British Museum, London. Formen und Vorkommen von Zahnfeilungen Bei den indigenen Bevölkerungsgruppen auf der Insel Yucatán beobachtete man das Abfeilen der Zähne als Schönheitsideal. Die Tradition der Zahnfeilung wurde ebenfalls in Südamerika, und zwar in Paraguay, im Küstengebiet sowie im Amazonastiefland Brasiliens vorgefunden (Lasch 1901: 15). tion „Über die künstliche Deformation der Zähne bei den Naturvölkern mit einem eigenen Fall eines afrikanischen Knabenschädels“ wird der Anthropologe Unterwelz wie folgt zitiert: „Zähne wie die Gefeilten (des afrikanischen Kinderschädels: Anm. des Verf.) kommen bei den Manyema am westlichen Ufer des Tanganjika-Sees vor. Sie feilen zweizackig, machmal auch dreizackig, nicht nur die mittleren Schneidezähne, sondern manchmal auch die seitlichen Schneidezähne und die Eckzähne. Das Feilen wird mit eisernen Feilen bewerkstelligt und wird zum Zeichen der Pubertät ausgeführt.“ (Unterwelz in Stumpp 1934: 13). Etliche Autoren, so der Forschungsreisende Hildebrandt, beobachteten sogenannte Spitzfeilungen in Ostafrika: „Bei den Subtribus Marambo werden die vier Vorderzähne des Oberkiefers gespitzt. Bei den Subtribus der M’Tschingoli sind die vier vorderen Ober- und Unterkieferzähne Die Tradition der Zahnfeilung ist bis in die Gegenwart hinein bei verschiedensten Bevölkerungsgruppen vorhanden. Zumeist wird sie bei Initiationszeremonien zum Zeichen des Eintritts Jugendlicher in das Erwachsenenalter durchgeführt. Ein anschauliches Beispiel bie- 1886 wurde von Francisco Plancarte ein Schädel im heutigen Mexiko ausgegraben, der Zahnfeilungen aufwies. Die Azteken spitzten sich die Frontzähne mithilfe von Schleifsteinen raubtierartig zu. Jeder dieser 6 Wesensarten ist ein Zahn der Oberkieferfront von Eckzahn zu Eckzahn zugeordnet. Je auffallender diese einzelnen Zähne in Form und Stellung sind, umso größer ist auch der negative Einfluss des entsprechenden Charakterzuges auf seinen Träger. Daher ist es für jeden Balinesier erstrebenswert, ebenmäßige Zähne zu besitzen, von denen keiner die Merkmale etwa eines animalischen Reißzahnes zeigt. Die Zähne der Oberkieferfront, d.h. die o.g. Eigenschaften „niederer Kreaturen“, werden auf ein sozial verträgliches Maß reduziert. Der Balinese wird somit rituell von tierischen Lastern befreit. Fortan besitzt er die Reife eines Erwachsenen. Das Ereignis ist mit einem großen Familienfest verbunden. Stefan Klaas berichtet in seiner Dissertation „Das Zahnfeilen der Hindus auf Bali im Umfeld von Riten und Symbolen“ ausführlich über den Initiationsritus und der damit verbundenen Zeremonie. So wird die Zeremonie in der Regel zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensjahr, spätestens bis zur Hochzeit, vollzogen. Als Ort der Zeremonie dient ein eigens geschmückter und mit Opferbeigaben versehener Pavillon oder ein Teil des Familientempels. Instrumente Abb. 2: Figur aus Ton mit dargestellten Zahnfeilunen, die entweder einem Schönheitsideal oder zur Kennzeichnung eines sozialen Standes dienten. Maya-Kultur. Museo Nacional de Antropología e Historía, Tlaxcala/Mexiko. Abb.3:Patre,die älteste Tochter des Altschamanen Teopatrekerey von der indonesischen Mentawai-Insel Siberut mit ihren vom Vater im Ober- und Unterkiefer exakt zugespitzten Schneidezähnen. Die Zahnzuspitzung führt die Heranwachsenden ins Erwachsenenleben ein und soll die Würde des Erwachsenseins betonen. Foto: H. Zahorka der Feilungsdurchführung sind Feile, Hammer, Meißel, ein kleines zylindrisches Stück Sandelholz als Aufbisshilfe sowie die als Speischale dienende Hälfte einer Kokosnuss (Klaas 1999: 33ff). Die Zeremonie wird durch einen Priester durchgeführt. Mit einem Gebet werden die zu initiierenden Jugendlichen geheiligt und symbolisch die Zähne der Oberkieferfront und der damit verbundenen Dämonen vernichtet. Dann kann der „sanging“, der „Zahnfeiler“, mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Er platziert „einen kleinen Zylinder aus Zuckerrohr zwischen die Zahnreihen der Jugendlichen, (...), um die Kiefer offen zu halten (...). Dann nimmt er eine kleine Feile „kikir“ und beginnt, mit dem Zeigefinger auf dem Rücken, zu feilen, wobei er sich auf die Oberkieferfront beschränkt, jene sechs Zähne also, in denen die „sad ripu“ (die sechs Feinde des Menschen: persönliche Anmerkung), beherbergt sind.“ (Klaas 1999: 39). Der Grad der Zahnbefeilung hängt vom Wunsch des Einzelnen ab. Am Ende der Prozedur wird eine Mundspülung aus Honig, Sandelholzpulver, Kalk, Kurkuma, Areca-Nuss, Betelblättern, Gambir und Wasser gereicht. Weitere Gebete beenden die Zeremonie für die nun frisch Initiierten im Familientempel. DT Für die Abdruckgenehmigung der Abbildungen 1 bis 3 gilt den Autoren Heinz E. Lässig und Rainer A. Müller des Buches „Die Zahnheilkunde in Kunst- und Kulturgeschichte“ sowie Herrn Herwig Zahorka, Forstökologe für internationale Consulings und ständiger Auslandsexperte bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) recht herzlicher Dank.