„Aus der Reihe tanzende“ Zähne

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26.10.2007
13:36 Uhr
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Dental Culture
DENTAL TRIBUNE
Austrian Edition · Nr. 11/2007 · 2. November 2007
„Aus der Reihe tanzende“ Zähne
Formen, Verbreitung und Hintergründe künstlicher Zahndeformationen
Teil 1 – Zahnfeilungen
Von Mag. Jeannette Enders
LEIPZIG – Körperdeformationen finden wir in den vielfältigsten Formen bei allen Völkern
der Erde vor. Sämtliche äußeren Organe des menschlichen
Körpers galten in der Vergangenheit hinein als Gegenstand
künstlicher Modifikationen.
Bis heute unterzieht sich der
Mensch, nicht selten unter erheblichen Mühen und Qualen,
künstlichen Veränderungen an
Haaren, Nägeln, Haut, Lippen,
Zähnen, Nase, Augen, Ohren,
Genitalien, Fingern oder am
kompletten Brustkorb.
Auch wenn viele Formen des
Körperschmucks wie ein saisonaler Modetrend wirken, existieren die meisten von ihnen schon
seit Jahrhunderten und haben ihren Ursprung seit Urzeiten.
afrikanische Kontinent sowie
Australien, Asien und Polynesien.
In den Quellen, in denen sich
Angaben über Gebissdeformationen der Vergangenheit finden
lassen, können folgende Hauptformen herausgestellt werden:
– Zahnfeilung
– Zahnextraktion
– Zahnfärbung
– Ausschmücken der Zähne mit
Metall- und Steineinlagen.
Innerhalb dieser Grundformen gibt es Kombinationsformen, so zum Beispiel Zahnschwärzung und -feilung an ein
und demselben Gebiss.
sehr fein zugespitzt, während bei
den Subtribus M’Tschanja vier
Vorderzähne des Ober- und Unterkiefers mit Einschnitt in der Mitte
versehen sind.“ (Hildebrandt, in
Ihering 1882: 228).
Ein gut erhaltener Kinderschädel mit prägnanten Beschleifungen der oberen und
mittleren Schneidezähne aus
dem Besitz des zahnärztlichen
Instituts Tübingen gab Stumpp
Anlass, sich mit dem Thema der
Zahndeformationen näher zu beschäftigen. Bei dem Schädel handelt es sich um einen afrikanischen Knabenschädel, an dessen
oberen Schneidezähnen eine sogenannte Zackenfeilung vorgenommen wurde. In der Disserta-
Für Europäer gelten weiße
ebenmäßige Zähne als ideales
Schönheitsmerkmal mit einer
hohen Wertschätzung und großem Prestige. Zahnlücken werden geschlossen, Zähne größer
gestaltet und Zahnoberflächen
verschönert. Keramische Verblendschalen, Kronen, Keramikinlays, Implantate oder Bleaching – dank modernster Technologien und neuer zahnärztlicher Werkstoffe wird der Natur
nachgeholfen. Das Wunschbild
des westlichen Kulturkreises von
weißen ebenmäßigen Zähnen
gilt zwar mittlerweile weltweit
als Ideal, doch nach wie vor existieren Kulturkreise mit völlig
konträren Vorstellungen von
Zahnfarbe oder Zahnstellung.
Zahndeformationen konnten
bereits in ur- und frühgeschichtlicher Zeit nachgewiesen werden. Archäologische Fundorte
sind Babylonien, das Aztekenreich Mittelamerikas sowie Regionen Südamerikas. Als klassische Erdteile für Zahnumgestaltungen der Gegenwart gelten der
Die Zahnfeilung auf Bali
Als ein wichtiges Initiationsritual im Leben der Balinesen gilt
die Zeremonie der Zahnbefeilung Metatah. Mit dem Eintritt in
die Pubertät werden den jungen
Menschen die mittleren sechs
Zähne des Oberkiefers im Verlauf einer speziellen Zeremonie
abgefeilt und auf eine Linie begradigt.
Die Prozedur hat starke spirituelle Wurzeln in der hinduistischen Tradition Balis. Nach dem
Glauben balinesischer Hindus
ist das menschliche Wesen durch
drei Züge geprägt, nämlich:
1. „guna satwam“ (ruhig, still,
ehrlich, weise, rechtschaffend,
vornehm)
2. „guna rajas“ (dynamisch, begierlich, selbstgefällig, gewalttätig, störend)
3. „guna tamas“ (passiv, bequem,
auf Kosten anderer auf Erfolg
bedacht).
Vorübergehende Dekorationen am Körper, so die Hautbemalung, oder dauerhafte Körperveränderungen, wie beispielsweise Schädel- und Zahndeformationen, besaßen in der
Vergangenheit meist religiöse
Bedeutung. Oft standen sie in enger Beziehung zu Lebenszyklen
und dienten neben der Schmuckfunktion zur Kennzeichnung der
Altersstufen und der sozialen
Stellung des Trägers.
Der deformierende Gesichtsschmuck gilt als unvergänglich
und hält ein Leben lang. Wichtiger Körperteil hierbei ist der
Zahn. Sowohl europäische, afrikanische oder asiatische Kulturen verändern das natürliche Erscheinungsbild der Zähne teilweise oder komplett, je nach kulturellem Kontext, Schönheitsvorstellungen und medizinischtechnischen Stand.
tet die Zeremonie Metatah auf
Bali.
Sowohl „guna rajas“ als auch
„guna tamas“ tragen die sogenannten „sad ripu“, die 6 Feinde
Gier, Habsucht, Zorn, Hochmut,
Trunkenheit/Ohnmacht, Eifersucht des Menschen in sich, welche ihn in die Irre führen und ihn
in Elend, Kummer und Leid stürzen können.
Abb. 1: Ansicht eines menschlichen Schädels mit Zahnfeilung und Einlagen aus
Pyrit und Jade an den Oberkieferfrontzähnen. Tlaxala/Mexiko, um 900 n.Chr.
British Museum, London.
Formen und Vorkommen
von Zahnfeilungen
Bei den indigenen Bevölkerungsgruppen auf der Insel
Yucatán beobachtete man das Abfeilen der Zähne als Schönheitsideal. Die Tradition der Zahnfeilung wurde ebenfalls in Südamerika, und zwar in Paraguay,
im Küstengebiet sowie im Amazonastiefland Brasiliens vorgefunden (Lasch 1901: 15).
tion „Über die künstliche Deformation der Zähne bei den Naturvölkern mit einem eigenen Fall
eines afrikanischen Knabenschädels“ wird der Anthropologe
Unterwelz wie folgt zitiert:
„Zähne wie die Gefeilten (des afrikanischen Kinderschädels: Anm.
des Verf.) kommen bei den Manyema am westlichen Ufer des
Tanganjika-Sees vor. Sie feilen
zweizackig, machmal auch dreizackig, nicht nur die mittleren
Schneidezähne, sondern manchmal auch die seitlichen Schneidezähne und die Eckzähne. Das Feilen wird mit eisernen Feilen bewerkstelligt und wird zum Zeichen der Pubertät ausgeführt.“
(Unterwelz in Stumpp 1934: 13).
Etliche Autoren, so der
Forschungsreisende Hildebrandt,
beobachteten sogenannte Spitzfeilungen in Ostafrika: „Bei den
Subtribus Marambo werden die
vier Vorderzähne des Oberkiefers
gespitzt. Bei den Subtribus der
M’Tschingoli sind die vier vorderen Ober- und Unterkieferzähne
Die Tradition der Zahnfeilung ist bis in die Gegenwart hinein bei verschiedensten Bevölkerungsgruppen vorhanden. Zumeist wird sie bei Initiationszeremonien zum Zeichen des Eintritts Jugendlicher in das Erwachsenenalter durchgeführt.
Ein anschauliches Beispiel bie-
1886 wurde von Francisco
Plancarte ein Schädel im heutigen Mexiko ausgegraben, der
Zahnfeilungen aufwies. Die Azteken spitzten sich die Frontzähne mithilfe von Schleifsteinen raubtierartig zu.
Jeder dieser 6 Wesensarten ist
ein Zahn der Oberkieferfront von
Eckzahn zu Eckzahn zugeordnet.
Je auffallender diese einzelnen
Zähne in Form und Stellung sind,
umso größer ist auch der negative Einfluss des entsprechenden
Charakterzuges auf seinen Träger. Daher ist es für jeden Balinesier erstrebenswert, ebenmäßige
Zähne zu besitzen, von denen
keiner die Merkmale etwa eines
animalischen Reißzahnes zeigt.
Die Zähne der Oberkieferfront, d.h. die o.g. Eigenschaften
„niederer Kreaturen“, werden
auf ein sozial verträgliches Maß
reduziert. Der Balinese wird somit rituell von tierischen Lastern
befreit. Fortan besitzt er die Reife
eines Erwachsenen. Das Ereignis ist mit einem großen Familienfest verbunden.
Stefan Klaas berichtet in seiner Dissertation „Das Zahnfeilen
der Hindus auf Bali im Umfeld
von Riten und Symbolen“ ausführlich über den Initiationsritus
und der damit verbundenen Zeremonie. So wird die Zeremonie
in der Regel zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensjahr, spätestens bis zur Hochzeit,
vollzogen. Als Ort der Zeremonie
dient ein eigens geschmückter
und mit Opferbeigaben versehener Pavillon oder ein Teil des
Familientempels. Instrumente
Abb. 2: Figur aus Ton mit dargestellten Zahnfeilunen, die entweder einem
Schönheitsideal oder zur Kennzeichnung eines sozialen Standes dienten.
Maya-Kultur. Museo Nacional de Antropología e Historía, Tlaxcala/Mexiko.
Abb.3:Patre,die älteste Tochter des Altschamanen Teopatrekerey von der indonesischen Mentawai-Insel Siberut
mit ihren vom Vater im Ober- und Unterkiefer exakt zugespitzten Schneidezähnen. Die Zahnzuspitzung führt
die Heranwachsenden ins Erwachsenenleben ein und soll die Würde des
Erwachsenseins betonen.
Foto: H. Zahorka
der Feilungsdurchführung sind
Feile, Hammer, Meißel, ein kleines zylindrisches Stück Sandelholz als Aufbisshilfe sowie die als
Speischale dienende Hälfte einer
Kokosnuss (Klaas 1999: 33ff).
Die Zeremonie wird durch einen Priester durchgeführt. Mit einem Gebet werden die zu initiierenden Jugendlichen geheiligt
und symbolisch die Zähne der
Oberkieferfront und der damit
verbundenen Dämonen vernichtet.
Dann kann der „sanging“, der
„Zahnfeiler“, mit der eigentlichen
Arbeit beginnen. Er platziert „einen kleinen Zylinder aus Zuckerrohr zwischen die Zahnreihen der
Jugendlichen, (...), um die Kiefer
offen zu halten (...). Dann nimmt
er eine kleine Feile „kikir“ und beginnt, mit dem Zeigefinger auf
dem Rücken, zu feilen, wobei er
sich auf die Oberkieferfront beschränkt, jene sechs Zähne also, in
denen die „sad ripu“ (die sechs
Feinde des Menschen: persönliche
Anmerkung), beherbergt sind.“
(Klaas 1999: 39).
Der Grad der Zahnbefeilung
hängt vom Wunsch des Einzelnen ab. Am Ende der Prozedur
wird eine Mundspülung aus Honig, Sandelholzpulver, Kalk,
Kurkuma, Areca-Nuss, Betelblättern, Gambir und Wasser gereicht. Weitere Gebete beenden
die Zeremonie für die nun frisch
Initiierten im Familientempel. DT
Für die Abdruckgenehmigung der
Abbildungen 1 bis 3 gilt den Autoren Heinz E. Lässig und Rainer A.
Müller des Buches „Die Zahnheilkunde in Kunst- und Kulturgeschichte“ sowie Herrn Herwig Zahorka, Forstökologe für internationale Consulings und ständiger
Auslandsexperte bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) recht herzlicher
Dank.
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