Auszug aus: Prewo, Wilfried: Vom Mündel zum mündigen Bürger, Wahlfreiheit und Sicherheit im Wandel – Eckpfeiler eines neuen europäischen Sozialmodells, Centre for the New Europe (CNE), Brüssel 2006, S. 29-38 Lohnfortzahlung im Krankheitsfall In der Regel sind europäische Arbeitgeber dazu verpflichtet, krankgeschriebenen Arbeitnehmern den gesamten oder zumindest fast den gesamten Arbeitslohn befristet weiterzuzahlen. Die Dauer dieser Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber beschränkt sich in Europa in der Regel auf einen Zeitraum von einigen Wochen bis zu drei Monaten pro Krankheitsfall. Danach übernehmen der Staat oder die Krankenversicherung die Zahlungen, oft auf niedrigerem Niveau. Die Lohnfortzahlungsleistungen des Arbeitgebers können bis zu 100 Prozent des Bruttolohns betragen (z.B. in Deutschland); sie beginnen entweder am ersten Tag (entspricht einem Selbstbehalt von Null), wie in Deutschland und Dänemark, oder nach einer Karenzzeit von ein bis drei Tagen (z.B. ein Tag in Belgien und Schweden, drei Tage in Italien und Frankreich), während derer der Arbeitnehmer das Lohnausfallrisiko trägt.1 Wenn der Arbeitgeber wie im Fall Deutschlands ab dem ersten Krankheitstag 100 Prozent des Einkommens zahlt, wiegt das Problem des "moral hazard" am schwersten; ob echte Krankheitsleiden oder "Krankfeiern" vorliegen, ist vom Arbeitgeber kaum feststellbar. Krankheitsbedingt gingen in Deutschland im Jahr 2000 ca. 4,2 Prozent der Arbeitstage verloren.2 Die Kosten für die deutsche Wirtschaft belaufen sich aktuell auf 3,6 Prozent des Direktentgelts.3 Internationale Unterschiede bei krankheitsbedingten Fehltagen, die, wie unten gezeigt, um den Faktor 2 bis 3 variieren, haben offenkundig nichts mit dem Gesundheitszustand der Arbeitnehmer zu tun (Abb. unten). 1 Das Problem Der Krankenstand variiert von Land zu Land mit der Höhe der im Krankheitsfall gewährten Leistungen, wie ein internationaler Querschnitt in der untenstehenden Abbildung zeigt.4 Dies legt nahe, daß unterschiedliche Regelungen der Lohnfortzahlung und weniger internationale Unterschiede des Gesundheitszustands, falls es solche überhaupt gibt, die Unterschiede beim Krankenstand bestimmen. Beispiel Schweden: Die Erfahrungen Schwedens bieten ein gutes Beispiel dafür, wie sich das Verhalten (Dauer der Krankschreibungen) innerhalb eines Landes ändert, wenn Lohnfortzahlungsleistungen modifiziert werden. Ende 1987 wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von der sozialdemokratischen Regierung Schwedens auf 100 Prozent angehoben (von zuvor 90 Prozent) und begann am ersten (anstatt wie zuvor am zweiten) Tag der Krankschreibung. Als Resultat stieg der Krankenstand in Schweden von 7,7 Prozent im Jahr 1986 auf den Höchststand von 9,7 Prozent im Jahr 1988 (Abb. unten). Im Zuge der schweren Krise in Schweden wurden – unter der konservativen Reformregierung (1991-1994) – in den Jahren 1991, 1992 und 1993 Abstriche gemacht: für den ersten Tag wurde nicht mehr gezahlt, die Zahlungen für den zweiten und dritten Tag wurden auf 75 Prozent gesenkt, die für die Tage 4-14 auf 90 Prozent. Parallel dazu sanken die Krankschreibungen von ihrem Höhepunkt von 9,7 Prozent im Jahr 1988 auf 3,8 Prozent im Jahr 1997.5 2 Mit nur einem unbezahlten Krankheitstag und Pflichtleistungen von 75-90 Prozent verlangte die schwedische Reformpolitik der frühen 1990er Jahre sicherlich kein zu großes Opfer. Trotzdem führten diese relativ harmlosen Korrekturen zu einem Rückgang des Krankenstands um 60 Prozent! Die erfolgreiche Reform traf dennoch auf politischen Widerstand, und in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – dann wieder unter einer sozialdemokratischen Regierung – schwang das Pendel in Schweden zurück. Die Lohnfortzahlungsleistungen wurden wieder angehoben, und der Krankenstand stieg bis 2002 stetig auf 6,1 Prozent an. Dies ist ein überzeugendes Beispiel für den Einfluß staatlicher Politik auf das Verhalten rationaler Bürger. Der Fall Schwedens ist auch ein Beispiel für die Hindernisse, die sich Reformen in den Weg stellen. Obwohl eigentlich jeder zugeben müßte, daß die Lohnfortzahlungspolitik der 80er Jahre für diejenigen Exzesse exemplarisch war, mit denen sich Schwedens Wohlfahrtsstaat durch überhöhte Preise aus den Weltmärkten herauskatapultiert hatte, kostete selbst eine so moderate Veränderung wie die Anfang der 90er Jahre enorme politische Kraft. Beispiel Deutschland: Während in Deutschland jedermann ein Lippenbekenntnis zur Senkung der Lohnnebenkosten ablegt und viele die gegenwärtige Lohnfortzahlungspolitik als Hauptkandidaten für eine gründliche Überarbeitung sehen, gerät auch hier der bloße Vorschlag von geringfügigen Veränderungen, wie z.B. der Senkung des Niveaus der Lohnfortzahlung auf 80 Prozent, ins Kreuzfeuer der Gewerkschaften. Im Oktober 1996 wurde die arbeitgeberfinanzierte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf ein gesetzliches Minimum von 80 Prozent des Lohns gesenkt – statt vorher 100 Prozent. Dies erfolgte gegen den massiven Protest der 3 Gewerkschaften, die danach auch in den Tarifverträgen durchsetzten, daß weiterhin 100 Prozent von Arbeitgeberseite gezahlt wurden. Dennoch war das gesetzliche Minimum von 80 Prozent derart unpopulär, daß es die Bundestagswahl 1998 wesentlich beeinflußte. Nach der gewonnenen Wahl hat die rot/grüne Koalition ihr Wahlversprechen eingelöst und die gesetzliche Lohnfortzahlungspflicht 1999 wieder auf 100 Prozent angehoben. Die Reform In unserem Vorschlag der Befähigung zur Eigenverantwortung wird ein solcher Verteilungskonflikt vermieden. Einschränkungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall werden nach der Regel "keiner soll verlieren" finanziell ausgeglichen, und die Reform wird durch finanzielle Anreize schmackhaft gemacht. Weder Staat noch Arbeitgeber werden Leistungseinschnitte von oben herab diktieren. Der einzelne Arbeitnehmer wählt freiwillig bestimmte Leistungseinschnitte und kommt im Gegenzug in den Genuß von Ersparnissen, genauso wie er sich bei der Automobilversicherung für Selbstbehalte bei Teiloder Vollkasko entscheiden kann. Das Ausnutzen der heutigen Regelung – hier: ihrer Fehlanreize zum Krankfeiern – ist eine logische Folge der vollständigen oder zumindest nahezu vollständigen Lohnfortzahlung und der eingeschränkten Möglichkeit, die vermeintliche Arbeitsunfähigkeit wirksam zu überprüfen.6 Diese Fehlanreize würden mit einem Systemwechsel nach dem Prinzip "Befähigung zur Eigenverantwortung" ausgemerzt werden. Die Kosteneinsparungen oder Effizienzgewinne wären außergewöhnlich hoch. 4 Entsprechend der Reformkriterien des Kundenmodells ergeben sich folgende Reformschritte: (1) Die Arbeitgeber überweisen einen Betrag, der ihren bisherigen Kosten für Lohnfortzahlungsleistungen entspricht – in der Industrie verursachten die Lohnfortzahlungen Kosten von 3,6 Prozent (2004) des Direktentgelts (Westdeutschland) – auf das SSK des einzelnen Arbeitnehmers.7 Der einzelne Arbeitnehmer wiederum ist dann dafür verantwortlich, sich selbst gegen Einkommensverluste durch Krankheit innerhalb der bisher arbeitgeberfinanzierten Lohnfortzahlungsperiode abzusichern. Der ausgezahlte Betrag reicht aus, um eine Versicherung in Höhe der bisherigen Lohnfortzahlung abzuschließen. Niemand wird schlechter gestellt. (2) Der Arbeitnehmer muß nicht alle krankheitsbedingten Einkommensausfälle zu 100 Prozent oder vom ersten Tag an versichern. Das Kundenmodell fordert eine Versicherungspflicht nur dort, wo ungesicherte Einkommensverluste den Arbeitnehmer zur Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützung zwingen würden. Da nur einige Wochen abgedeckt werden müssen, wäre es ohne weiteres denkbar, auf die Einführung einer Versicherungspflicht für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gänzlich zu verzichten. Viele Arbeitnehmer verfügen über Ersparnisse, und für diejenigen, die keine haben, würden sich die Arbeitgebereinzahlungen auf ihr SSK bald zu einem ausreichenden Betrag summieren. Da trotzdem eine Mindestabdeckung selbst eines so begrenzten Risikos politisch wünschenswert wäre, genügte sicher eine Versicherungspflicht auf dem Niveau der Arbeitslosenversicherung (ca. 60 Prozent des Nettoeinkommens).8 Eine Alternative wäre der Beginn einer Versicherungspflicht nach einer Karenzzeit von zwei oder drei Wochen. (3) Die Versicherung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kann bei verschiedenen Versicherern nach freier Wahl des Versicherungsnehmers abgeschlossen werden. Private Versicherungsunternehmen können solche Policen anbieten, wie sie es bereits für Selbständige tun. Die Gesetzlichen Krankenkassen bieten sich ebenfalls als Versicherungsträger an. Sie sind im Besitz der versicherungsmathematisch relevanten Informationen und kompensieren im übrigen bereits diejenigen Lohnausfälle, die sich an die heutigen Lohnfortzahlungsleistungen des Arbeitgebers anschließen. (4) Wenn der Versicherungsnehmer eine Selbstbeteiligung (z.B. 60 Prozent Kompensationsniveau statt 100 Prozent) oder Selbstbehalte (z.B. zwei unbezahlte Wochen statt Zahlungen ab dem ersten Tag) wählt, macht die Prämie weit weniger als der vom Arbeitgeber auf das Sozialsparkonto überwiesene Betrag aus. Die Ersparnisse bleiben auf dem SSK und könnten entweder Lohnausfälle im Krankheitsfall kompensieren oder für eine andere soziale Absicherung verwendet werden, wie z.B. für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge. 5 Man muß kein Hellseher sein, um vorherzusagen, daß dadurch in Ländern mit überdurchschnittlichem Krankenstand dessen Dauer und Kosten auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau gesenkt würden. Man kann sich auch leicht ausmalen, daß es 1996/1997, als die damalige CDU/FDPKoalition in Deutschland die Mindestlohnfortzahlung auf 80 Prozent senkte, keinen erbitterten Widerstand der Gewerkschaften gegeben hätte bzw. dieser in sich zusammengebrochen wäre, wenn arbeitgeberseitig die 20-prozentige Absenkung durch eine Lohnerhöhung um ca. 0,7 Prozent (entsprechend 20 Prozent der heutigen Arbeitgeberkosten) steuerneutral kompensiert worden wäre. Viele Arbeitnehmer hätten diese Lohnerhöhung gut gebrauchen können – oder sich damit gegen die 20-prozentige Absenkung versichern können. Das ist Sicherheit im Wandel. Das Argument des sozialen Kahlschlags hätte nicht gezogen. Auch die Arbeitgeber gewönnen selbst bei voller Auszahlung der bisherigen Lohnfortzahlungskosten: Umgehend würden die Kapitalkosten sinken, weil die Maschinenlaufzeiten steigen, die Produktivität würde durch eine höhere Flexibilität beim Arbeitseinsatz steigen, die Kosten für Ersatzkräfte entfielen.9 Darüber hinaus würden Gesundheitskosten gespart werden, weil auch fingierte Krankschreibungen, die einen Arztbesuch voraussetzen, stark reduziert würden. 1 Stand: 1. Januar 2005. Europäische Kommission: Missoc – Gegenseitiges Informationssystem zur Sozialen Sicherheit. Brüssel 2005. 2 Rigmar Osterkamp: Work Lost Due to Illness – An International Comparison. Cesifo Forum 4/2002, S. 37. 3 Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW), Argumente Nr. 9/ 2005. 4 Rigmar Osterkamp, op. cit., S. 39. 5 Nordiske Arbeidsgiverforeninger, Stockholm 2004. 6 Der Krankenstand schwankt auch relativ zum Risiko des Arbeitsplatzverlustes. Er neigt in Zeiten der Rezession zum Rückgang, ein weiterer Beweis dafür, daß der gesundheitliche Zustand nicht der hauptsächliche Grund für Variationen bei den Krankschreibungsquoten ist. 7 Gemäß dem Grundsatz, daß niemand schlechter gestellt werden darf, darf die Auszahlung die firmenspezifischen Kosten nicht übersteigen. Unternehmen mit unterdurchschnittlichen Lohnfortzahlungskosten würden bestraft, wenn sie Auszahlungen auf der Basis des Bundesoder Branchendurchschnitts leisten müßten. 8 Arbeitslosengeld schließt ein Absinken auf Sozialhilfeniveau per Definition aus. 9 In Deutschland schätzt man die gesamten Kosten der krankheitsbedingten Fehlzeiten auf 66 Mrd. Euro oder 3,14 Prozent des BIP (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Kosten durch Arbeitsunfähigkeit 2003). Laut Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände beläuft sich die Arbeitgeberbelastung durch krankheitsbedingte Fehlzeiten auf 32 Mrd. Euro (BDA: Entgeltfortzahlung – Noch immer hohe Arbeitgeberbelastung. Arbeitgeber 04/2005. Berlin 2005). 6