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Einführung
Helene Neumayr
Verortung der Integrativen Gestalttherapie
im klinischen Feld
Die Schwerpunktsetzung dieses Bandes auf klinische Themen wirft die
Frage auf, ob und in welcher Weise die Integrative Gestalttherapie (im Fol­
genden IGT genannt)1 bisher im klinischen Feld verortet war und ist. Dazu
lassen sich unterschiedliche Sichtweisen und divergierende Einschätzun­
gen festmachen.
Der Gestalttherapie wurde (und wird?) historisch bedingt oftmals ein
Schattendasein in der klinischen Krankenbehandlung zugewiesen und sie
wird im öffentlichen (aber auch internen) Bewusstsein eher einseitig als
spezifischer Methodenansatz denn als theoretisch fundiertes Heilverfah­
ren wahrgenommen. Dennoch waren und sind Gestalttherapeutinnen
und -therapeuten immer schon im klinischen (ambulanten und statio­
nären) Feld tätig und leisten dort mit ihrem therapeutischen Ansatz und
ihrer beziehungsorientierten Grundhaltung fundierte Arbeit. Sie sind je­
doch mit ihrer fachspezifischen Ausrichtung meist nicht explizit sichtbar.
Es scheint aber, dass die IGT im klinische Bereich, oder auch umgekehrt
der klinische Bereich in der IGT, nun wieder mehr in den Fokus der Auf­
merksamkeit gerät und – nicht zuletzt durch eine andere Gewichtung der
klinischen Fächer in der Psychotherapieausbildung – einen höheren Stel­
lenwert bekommt.
Die diskrepante Wahrnehmung der Gestalttherapie im klinischen Feld
lässt sich möglicherweise mit der historischen Entwicklung der klassi­
schen Gestalttherapie in zwei Richtungen begründen. In der Spätphase
seines Wirkens, nach der Trennung von Laura Perls, entwickelte Fritz Perls
mit seinen eindrucksvollen Demonstrationen in den Encounter-Gruppen
1
Die Integrative Gestalttherapie ist ein, nach dem Österreichischen Psychotherapiege­
setz von 1991 so benanntes und anerkanntes psychotherapeutisches Heilverfahren.
Die Fachsektion Integrative Gestalttherapie im ÖAGG wurde 1992 als Ausbildungs­
einrichtung für das Fachspezifikum Integrative Gestalttherapie gesetzlich aner­
kannt.
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Helene Neumayr
der Human-Potential-Bewegung der 1960/70er-Jahre (am Esalen-Institut
in Kalifornien) den sogenannten „West-Coast-Style“ und machte damit
die Gestalttherapie weit über die Grenzen der USA hinaus bekannt. Sein
Fokus auf die Anwendung gestalttherapeutischer Techniken zur Selbst­
erfahrung und Persönlichkeitsentwicklung (z. B. „Hot Seat“ und „Empty
Chair“), aber auch seine theoriekritischen Aussagen ließen jedoch in der
Überlieferung ein einseitiges Bild des vielschichtigen Gestaltansatzes ent­
stehen. Demgegenüber verstand die New Yorker Gruppe um Laura Perls
und Paul Goodman die Gestalttherapie nicht in erster Linie als Metho­
denpool kreativer Techniken zur Selbsterfahrung, sondern sie fundierten
mit ihren Schriften und ihrer therapeutischen Arbeit die Gestalttherapie
als philosophisch-erkenntnistheoretischen und anthropologisch begrün­
deten Ansatz („East-Coast-Style“), dessen wichtigster Anwendungsbereich
immer schon im klinischen Arbeitsfeld angesiedelt war (Fuhr/Sreckovic/
Gremmler-Fuhr, 2001a; Staemmler/Bock, 2004).
Die IGT, wie sie in der Fachsektion IG des ÖAGG gelehrt wird, ist im
Spannungsfeld beider Strömungen der klassischen Gestalttherapie sowie
in deren Weiterentwicklungen im europäischen Raum verortet. Sie knüpft
an die theoretischen Grundlagen der klassischen Gestalttherapie an, er­
weiterte aber in den 1970/80er-Jahren v. a. unter dem Einfluss der inte­
grativen Theorieentwicklungen Hilarion Petzolds sowohl ihre philosophi­
sche Basis und klinische Theorie als auch ihre methodisch-technischen
Vorgangsweisen. In den letzten Jahrzehnten wurde ein spezielles Augen­
merk auf neuere Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Säug­
lingsforschung sowie der Hirnforschung gelegt. Durch die Einbeziehung
der „Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik“ (OPD) fand
eine Erweiterung im diagnostischen Verständnis und therapeutischen
Vorgehen der IGT statt, wobei die Integration psychodynamischer Kon­
zepte auf der Basis einer streng intersubjektiv gedachten Anthropologie
und Persönlichkeitstheorie eine theoretische Herausforderung darstellt.
Die IGT beinhaltet in ihrem Gesamtkonzept eine theoretisch begründete
Praxeologie und Methodenlehre mit spezifischen Interventionsstrategien,
therapeutischen Haltungen und Vorgehensweisen (vgl. dazu auch „Struk­
tur der Theorie des Gestalt-Ansatzes“ nach Fuhr/Sreckovic/GremmlerFuhr, 2001a, S. 6).
Einführung
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Definitionen und Begriffsbestimmungen
Integrative Gestalttherapie
Der Begriff Integrativ wird in der IGT mehrdimensional verstanden und
verwendet. Auf der Ebene von Persönlichkeitstheorie sowie Gesundheitsund Krankheitslehre wird die Fähigkeit zur Assimilation und zur ganz­
heitlichen Integration von stärkenden wie kränkenden, förderlichen wie
hinderlichen, heilenden wie traumatisierenden Erfahrungen als Grundla­
ge einer gesunden Persönlichkeit gesehen und gilt somit als wesentlicher
Faktor für leiblich-seelisch-geistig-soziale Gesundheit – oder auf dem an­
deren Pol als Krankheit.
Auf der Ebene des therapeutischen Vorgehens meint Integrativ aber
auch theorie- und methodenintegrativ. Die IGT als theoretisch begrün­
deter Ansatz ist offen für eine schulenübergreifende Theoriebildung und
für den Einsatz unterschiedlicher Methoden und Techniken, die sich als
vorteilhaft und wirksam für die Behandlung von bestimmten Störungs­
bildern erwiesen haben. Die Einbeziehung von Techniken aus anderen
Verfahren erscheint gerade im klinischen (ambulanten wie stationären)
Feld von Vorteil, da Menschen mit schweren seelischen Leiderfahrungen
dadurch auf vielfältige Weise erreicht werden können. Wichtig ist dabei
jedoch, dass die Auswahl nicht willkürlich geschieht und die integrierten
Methodenansätze auch in ihrem Menschenbild und ihren theoretischen
Grundlagen den Grundpositionen der IGT entsprechen (Fuhr/Sreckovic/
Gremmler-Fuhr, 2001a). Dies wirft die Frage auf, inwieweit die theoreti­
schen Grundpositionen unterschiedlicher Verfahren wirklich mit denen
der IGT vereinbar sind. Die Klärung dieser Frage ist eine anspruchsvolle
theoretische Arbeit, die bisher noch viele unerledigte Fragestellungen of­
fen lässt.
Der methodenintegrative Ansatz scheint aber auch einem Trend unse­
rer heutigen Zeit zu entsprechen, der eine Annäherung der Psychothera­
pie-Verfahren in ihren therapeutischen Haltungen und Vorgehensweisen
mit sich bringt. Damit dies jedoch nicht zu einer Verwässerung und Belie­
bigkeit der Verfahren, Methoden und Techniken führt, ist eine fundierte,
fachlich-professionelle, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den
und Rückbesinnung auf die je eigenen theoretischen Grundpositionen
unerlässlich.
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Helene Neumayr
Das klinische Feld
_
Der Begriff klinisch, vom Lateinischen clinice und Griechischen klinike
_
_
(téchne ) oder klíne = Bett; klínein = (sich) neigen, (an)lehnen, beugen her­geleitet, kann allgemein als „Heilkunst für bettlägerig Kranke“ oder „Heil­
kunst am Krankenbett“ (Duden, 2014) übersetzt werden. Er hat jedoch
viele Bedeutungen und bezieht sich im vorliegenden Band auf die Noso­
logie oder Krankheitslehre der IGT, auf IGT als klinisches Verfahren zur
Behandlung krankheitswertiger Störungen, auf klinische Seminare im
Ausbildungskontext, die sich mit Krankheitsbildern beschäftigen und auf
den klinischen Behandlungskontext in einem ambulanten oder stationä­
ren Setting. Der Begriff der klinischen Krankenbehandlung ist auch im
Unterschied zur Vorsorge, Prävention, Beratung und Selbsterfahrung zu
verstehen.
Der Begriff des Feldes kann ebenfalls in unterschiedlicher Weise ver­
standen werden. Im Kontext dieses Bandes wird er vordergründig im Sin­
ne von Schwerpunkt, Gebiet oder spezifischem Arbeits- und Anwendungs­
bereich verwendet. In Anlehnung an die Feldtheorie von Kurt Lewin wird
der Begriff des Feldes in der IGT jedoch grundlegend als ein menschliches
Kräfte- oder Erfahrungsfeld („Organismus/Umwelt-Feld“) verstanden, das
eine räumliche Repräsentation der psychologischen Wirklichkeit einer
Person darstellt. Das Individuum wird in diesem Erfahrungsfeld als unge­
teilte Einheit von Organismus und Umwelt verstanden, welche in ständi­
gem Kontakt und Austausch stehen und sich in einem fortlaufenden Pro­
zess der kreativen Anpassung an die stets wandelnden Bedingungen des
Feldes anpassen müssen (Parlett, 2001). Das Feld ist einheitlich, es umfasst
Organismus und Umwelt. „Innen“ und „Außen“ (Ich-Selbst und Welt)
gehören zusammen, sind Teil des Feldes. Es gibt nicht, wie oft fälschlich
rezipiert wird, den Organismus und sein Umweltfeld bzw. in seinem Um­
weltfeld. Alle auftretenden Ereignisse in der menschlichen Entwicklung
können als Veränderungen der Kräfteverhältnisse in diesem einheitlichen
Organismus/Umwelt-Feld verstanden werden, die Auswirkungen auf den
gesamten Lebenshintergrund und auf die aktuellen Lebensbezüge haben
(Parlett, 2001).
Einführung
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Gesundheit und Krankheit
Gesunde oder kranke Entwicklung wird demnach abhängig von der je­
weiligen Qualität der Kontaktprozesse, die das einheitliche Feld organi­
sieren, gesehen. Für ein integrativ-gestalttherapeutisches Verständnis von
Gesundheit und Krankheit bedeutet dies: Nicht die Person ist gesund oder
krank, sondern Gesundheit und Krankheit sind als Teil der Gesamtheit
des Lebensraumes oder Erfahrungsfeldes einer Person zu verstehen und
unterliegen den wandelnden Bedingungen dieses Feldes (Parlett, 2001).
Dementsprechend kann Krankheit in integrativ-gestalttherapeutischer
Begrifflichkeit als „Nicht-Erfüllung“ oder „Störung“ der Selbstregulation
und Fähigkeit zur kreativen Anpassung im Organismus/Umwelt-Feld be­
zeichnet werden, insofern die Störung eine Entfaltung dieser „Kräfte“ be­
hindert oder blockiert. Gleichzeitig werden Störungen und Krankheit aber
auch als dem Menschsein Zugehörendes angenommen (Fuhr/Sreckovic/
Gremmler-Fuhr, 2001b, S. 639). Unter dem Einfluss Petzold’scher The­
oriebildung hat die IGT in ihrem Krankheitsverständnis aber auch die
„Entwicklungsgeschichte der Anpassungsmuster“ im Blick, den lebensge­
schichtlichen Hintergrund, wie jemand durch erfahrene Defizite, Trauma­
ta, Konflikte oder Störungen in den Beziehungserfahrungen „geworden“
ist, nicht warum jemand so geworden ist.
In der Theorie der IGT gibt es keinen allgemeingültigen, objektiven
Maßstab für Gesundheit und Krankheit. Der Gesundheits- und Krank­
heitsbegriff unterliegt persönlichen und kulturellen Entwicklungspro­
zessen, historischen Veränderungen und gesellschaftlichen Wertungen.
Gesundheit ist als ein dynamisches Gleichgewicht zwischen körperlichen
und seelischen Strukturen und Funktionen im Austausch mit der Umwelt
zu verstehen, wobei psychosoziale Faktoren wesentlich zur Entstehung
und Aufrechterhaltung von Krankheit beitragen können.
Dieser Gesundheitsbegriff steht der Definition von Gesundheit durch
die WHO (Weltgesundheitsorganisation) von 1948 nahe, die Gesundheit
als Grundrecht jedes Menschen anerkennt und als einen „Zustand völli­
gen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens“ definiert, der
„nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ bedeutet. Gesund­
heit wird nicht als einmal erreichter und damit unveränderlicher „Zu­
stand“ beschrieben, sondern bedarf einer täglich immer wieder neu und
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Helene Neumayr
aktiv herzustellenden „Balance“ (BMG, 2010). „Gesundheitsförde­rung“
im Sinne der „Ottawa-Charta“ von 1986 „zielt dabei auf einen Prozess
ab, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Ge­
sundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit
zu befähigen“ (BMG, 2010). Zu den Handlungsstrategien einer gesund­
heitsfördernden Gesamtpolitik zählen u. a. die Schaffung gesundheitsför­
derlicher Lebenswelten sowie das Entwickeln persönlicher Kompetenzen,
die es Personen und Gruppen ermöglichen sollen, die Kontrolle über ihre
Gesundheit und Gesundheitserhaltung zu gewinnen. Die 1997 verab­
schiedete „Jakarta-Deklaration“ zur Gesundheitsförderung im 21. Jahr­hundert bestätigt die Kernaussagen der „Ottawa-Charta“ und betont u. a.
die Förderung sozialer und politischer Verantwortung für Gesundheit so­
wie die Stärkung der gesundheitlichen Potenziale von Gemeinschaften
und der Handlungskompetenzen des Einzelnen (BMG, 2010).
Einblick in Konzepte und Theorien der Integrativen
Gestalttherapie
Was zeichnet nun die IGT aus? Welche spezifischen Ansätze und theoreti­
schen Grundlagen hat sie für die therapeutische Arbeit im klinischen Feld
anzubieten?
Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in gestalttherapeutische Kon­
zepte und Grundpositionen gegeben werden, die von den Autorinnen des
vorliegenden Bandes vertreten und von den Herausgeberinnen für den
klinischen Bereich als relevant erachtet werden. Der Einblick erhebt kei­
nesfalls Anspruch auf Vollständigkeit. Er soll einen Rahmen herstellen für
die spezifische Ausgestaltung und Verknüpfung der IGT-Grundpositionen
mit den klinischen Störungsbildern und Phänomen in den nachfolgen­
den Beiträgen.
Gestalt – Figur und Hintergrund
Der Begriff Gestalt wird in der Gestaltpsychologie als ganzheitliches Erfah­
rungsphänomen oder als dynamische Einheit einer sich stets wandelnden
Form verstanden. In einem fortwährenden Gestaltbildungsprozess („Fi­
gur-Hintergrund“) oder Gestaltzyklus (auch Kontaktzyklus genannt) rü­
Einführung
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cken stets neue Bedürfnis- und Wahrnehmungsfiguren aus einem diffusen
Erfahrungs- und Lebenshintergrund in den Vordergrund der Wahrneh­
mung, werden klar und prägnant erfahrbar und streben in kreativ-schöp­
ferischer Weise nach Erfüllung, Anpassung und Integration, um als Erfah­
rung von Ganzheit wieder in den diffusen Hintergrund treten zu können
(Gremmler-Fuhr, 2001a). Dies wird auch als „Tendenz zur guten Gestalt“
bezeichnet. Die auftauchenden Figuren (Bedürfnisse, Impulse, Handlun­
gen, Bewertungen) entstehen nie losgelöst vom Hintergrund, sondern
entfalten sich in den Wechselbeziehungen im Organismus/Umwelt-Feld.
Das, was zur Figur wird, erhält nur in Beziehung zum Hintergrund Sinn
und Bedeutung (Fuhr/Sreckovic/Gremmler-Fuhr, 2001b).
Ganzheitsprinzip und ganzheitliches Selbst
Der Gestalt-Ansatz beruht auf dem Ganzheitsprinzip der Gestaltpsycho­
logie, dass das Ganze mehr und etwas anderes als die Summe seiner Teile
ist. Auf das Beispiel einer Melodie bezogen bedeutet dies: Nicht die einzel­
nen Töne für sich genommen machen eine Melodie, sondern deren spe­
zifische Struktur und Abfolge-Ordnung sowie die Bezogenheit der Töne
zueinander und das „Dazwischen“ bestimmen die Einzigartigkeit einer
Melodie. Die IGT geht davon aus, dass der Mensch eine Ganzheit oder
untrennbare Einheit von Körper, Geist und Seele darstellt, und dass er
mit seinem sozialen und ökologischen Umfeld unauflöslich verschränkt
ist.2 Demgemäß gibt es in der IGT auch ein ganzheitliches Verständnis
des Selbst und seiner Funktionen, das sich einerseits jeweils neu in seinen
Beziehungen zur Umwelt und im Kontakt mit dem Umweltfeld konsti­
tuiert und verändert und andererseits „als existentielles Phänomen mit
Kontinuität und Konsistenz“ begriffen wird, das auch in einen transperso­
nalen Bezug gesetzt werden kann (Fuhr/Sreckovic/Gremmler-Fuhr, 2001a,
S. 3).
2
Vgl. dazu die erste Fassung der anthropologischen Grundformel Petzolds: „Der
Mensch ist ein Körper-Seele-Geist-Wesen in einem sozialen und ökologischen Kon­
text und Kontinuum“ (Petzold, 1988, S. 185–186).
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Helene Neumayr
Gegenwarts- und Kontextbezogenheit vor dem Hintergrund
des Lebensganzen
Integrativ-gestalttherapeutisches Arbeiten bezieht sich gleichermaßen
auf die Gegenwärtigkeit des Erlebens („Hier und Jetzt“) wie auf die sinn­
hafte Einbettung der auftretenden Phänomene in den Hintergrund der
Lebensgeschichte („Dort und Damals“) und zukünftiger Erwartungen.
Es gilt, in einem dialogischen Prozess mit den Klientinnen und Klien­
ten die je spezifischen Kontextbedingungen und die Beschaffenheit ihres
persönlichen Organismus/Umwelt-Feldes zu erkennen, ihre individuellen
Entwicklungsbedingungen und Beziehungserfahrungen wahrzunehmen,
sinnlich-körperlich zu begreifen, „durchzuarbeiten“, in Sprache zu fassen,
in ihrer subjektiven Bedeutung zu verstehen und in einen ganzheitlichen
Sinnzusammenhang zu integrieren. Beides sind wesentliche Vorausset­
zungen zur Integration ganzheitlicher Erfahrungen, d. h. zur Entwicklung
einer integrierten, gesunden Persönlichkeit. Die Fähigkeit zur Integration
ist damit Grundvoraussetzung für Wachstum und Veränderung im Sinne
Arnold Beissers paradoxer Theorie der Veränderung: „Werde die/der du
bist“ (Gremmler-Fuhr, 2001a).
Kontaktgrenze – Kontakterleben – Kontaktfunktionen
Als Gesundheits- und Krankheitsmodell sowie als diagnostische Leitlinie
zur Identifikation von Störungen wird in der Theorie der IGT die Qualität
der Kontaktgrenze und des Kontakterlebens im Organismus/Umwelt-Feld
sowie das Konzept der Kontaktfunktionen oder Kontaktunterbrechun­
gen bzw. Kontaktstile (Konfluenz, Introjektion, Projektion, Retroflek­
tion u. a.) herangezogen. Diese werden als spezifische Reaktionsformen
auf Störungen im Kontaktzyklus verstanden und zunächst im Sinne der
schöpferischen Anpassung und organismischen Selbstregulation als Be­
wältigungs- und Überlebensstrategien anerkannt und nicht als „neuroti­
sche“ Abwehrformen oder Psychopathologien gedeutet (Fuhr/Sreckovic/
Gremmler-Fuhr, 2001a; Gremmler-Fuhr, 2001a). Da für die klinische Ar­
beit das Kontaktmodell nicht ausreichend erschien, wurde das Pathoge­
nese-Konzept Petzolds, das mit den Kategorien Defizit, Trauma, Konflikt
und Störung operiert, als Erweiterung in die Theorie der IGT integriert.
Diesem liegt das humanistische Menschenbild der IGT zugrunde, das in
Einführung
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der Bezogenheit der/des Einzelnen auf die anderen und die Umwelt die
zentrale anthropologische Kategorie sieht.
Phänomenologisch-hermeneutische Haltung und dialogische
Diagnostik
Integrativ-gestalttherapeutische Diagnostik beruht einerseits auf einer
phänomenologischen Erkenntnisweise, deren therapeutisches Vorgehen
auf erlebnisaktivierendem Arbeiten beruht und sich als die drei „E“s der
Gestalttherapie charakterisieren lässt: experientielles, existentielles und
experimentelles Erforschen und Verstehen: „Wie erlebe ich mich?“ – „Wie
bin ich in meiner Lebenssituation?“ – „Was geschieht, wenn …?“ (Fuhr,
2001, S. 426). Nach Fritz Perls ist das Ziel gestalttherapeutischer Diagnos­
tik nicht, dass Therapeutinnen und Therapeuten etwas an den Patien­
tinnen und Patienten wahrnehmen, sondern dass sich diese ihrer selbst
gewahr werden (Perls, u. a. 1979, zitiert Fuhr/Sreckovic/Gremmler-Fuhr,
2001b).
Andererseits meint ein phänomenologisch-hermeneutischer Zugang
über Fritz Perls hinausgehend nicht nur ein rein phänomenologisches
Wahrnehmen dessen, „was sich zeigt“, sondern zielt auf ein subjektives
Gewahr-Werden dessen, „was ist“, im Sinne von Prägnanz und Evidenz­
erfahrungen, auf ein besseres Verstehen und Erleben von sich selbst in
seiner Lebenswelt, auf subjektive Bedeutungsgebung des eigenen „In-derWelt“ und „Zur-Welt-Seins“. „Was ist“ muss dabei in diskursiven Prozes­
sen immer wieder neu ausgelegt und verhandelt werden (Nausner, 2001,
S. 482). Die Deutung und Bedeutungsgebung liegt in einer phänomeno­
logisch-hermeneutischen Diagnostik nicht bei den Therapeutinnen und
Therapeuten, sondern es wird als wichtig erachtet, in einem dialogischen
Prozess mit den Klientinnen und Klienten vor ihrem individuellen Le­
benshintergrund die Bedeutung und den Sinn ihrer Situation und ihrer
Symptomatik zu erfassen und zu verstehen. Denn ein Symptom kann –
im Sinne der schöpferischen Anpassung – im jeweiligen Kontext sehr viel
Sinn ergeben, trotzdem aber auch leidvoll oder belastend sein.
Von zentraler Bedeutung bei diesem dialogisch-prozessorientierten
Vorgehen sind sowohl das von Fritz Perls entwickelte Awareness-Konzept
(Achtsamkeit, Gewahrsein, fokussierte Wahrnehmung) als auch das Kon­
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Helene Neumayr
takt-Support-Modell (Stütze und Selbst-Stütze) nach Laura Perls. Ein acht­
sames, phänomenologisches Arbeiten am Vordergrund, mit dem, was sich
zeigt und zur Figur wird (Symptome, Störungen, Reaktionsweisen, Kon­
taktstile), ist ebenso wichtig, wie eine stützende therapeutische Arbeit mit
dem und am Hintergrund. Eine hauptsächliche Fokussierung auf Sympto­
me, Symptombehandlung und kategoriale Diagnostik, wie es in vielen am
medizinischen Modell angelehnten Therapieverfahren praktiziert wird,
erscheint aus integrativ-gestalttherapeutischer Sicht zu kurz gegriffen.
Beziehungsorientierung und Würde des Menschen
Das dialogische Prinzip und das Primat der Beziehung gehören zu den
Grundannahmen der IGT und sind von zentraler Bedeutung. Dialog und
lebendige Begegnung entsteht in der Interaktion, im „Zwischen“ von Per­
sonen, die miteinander in Kontakt und eine echte Ich-Du-Beziehung – im
Sinne von Martin Bubers Begriff der „Umfassung“ – treten (GremmlerFuhr, 2001b). Damit Klientinnen und Klienten in der therapeutischen Be­
ziehung ausreichend stabilisierende und Sicherheit gebende Erfahrungen
machen und integrieren können, bedarf es von Seiten der Therapeutin­
nen und Therapeuten ein behutsames und empathisches Begleiten, ein
„Da-Sein“ und nicht wertendes „Mit-Sein“. Bildlich gesprochen können
Therapeutinnen und Therapeuten dabei unterschiedliche Haltungen ein­
nehmen, um Klientinnen und Klienten in ihren spezifischen (strukturel­
len) Bedürfnissen gerecht zu werden: Sie können stützend „hinter“ oder
begleitend „neben“ ihren Klientinnen und Klienten stehen, oder manch­
mal auch ein konfrontierendes „Gegenüber“ sein.
Beziehungsorientiertes Arbeiten stellt die Therapeutinnen und Thera­
peuten aber auch vor große Herausforderungen. Wie in den nachfolgen­
den Beiträgen sichtbar wird, können psychose- oder suchterfahrene Men­
schen, genauso wie Menschen mit strukturellen, dissoziativen Störungen
oder Traumafolgestörungen, in ihren Therapeutinnen und Therapeuten
starke ambivalente Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle sowie
widersprüchlichste Empfindungen von Faszination bis Angst, Empathie
bis Abwehr, Ohnmacht, Ärger oder Scham auslösen (Reddemann, 2011).
Dieses große Spektrum an Empfindungen und Gefühlen gilt es im thera­
peutischen Prozess innerhalb eines positiven Beziehungsrahmens zu hal­
Einführung
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ten und diesen im dialogischen Austausch mit den Klientinnen und Kli­
enten immer wieder neu zu gestalten. Luise Reddemann, Begründerin der
„Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie“ (PITT), schreibt dazu
aus ihrer jahrelangen Arbeit mit Menschen, die schweres und schwerstes
Leid erfahren haben:
Um uns auf dem schmalen Grad von Anziehung und Abstoßung sicher bewegen
zu können, müssen wir all diese Empfindungen zum einen anerkennen, aber
vor allem gilt es, die Würde der PatientInnen zu achten und nachzuvollziehen,
dass, was auch immer sich zeigt, dem Überleben dient oder dienen sollte. Wir
sind aufgefordert, „das Fremde“, was auch immer es ist, im Licht der Würde zu
betrachten. Dass ein Mensch überhaupt leben will – und das unter schlimmsten
Bedingungen –, gibt ihm Würde, ebenso wie die Tatsache, dass er existiert. Viele
PatientInnen sprechen sich selbst ihre Würde ab, oder einige Anteile in ihnen
tun dies. Es ist wichtig, dass wir uns da nicht hineinziehen lassen. (Reddemann,
2011, S. 310)
Psychohygiene und Selbstfürsorge
Eine wesentliche Voraussetzung, um sich diesen Herausforderungen im­
mer wieder stellen zu können und ihnen gewachsen zu sein, ist es, sich
als Therapeutin oder Therapeut mit den eigenen Ängsten und Abgründen
auseinanderzusetzen, diese zu kennen und zu respektieren, einen acht­
samen Umgang mit den eigenen Grenzen und Ressourcen zu finden und
für sich selbst gut zu sorgen. Ein kontinuierlicher fachlicher Austausch,
Intervision und Supervision sowie interdisziplinäre Vernetzung und Zu­
sammenarbeit, z. B. in multiprofessionellen Teams im stationären Kon­
text, dienen ebenso der Psychohygiene und Selbstfürsorge wie ausrei­
chende Erholung und Ausgleich im Privatleben.
Abschließend möchte ich nun den Bogen von den einführenden Gedan­
ken zu den nachfolgenden Beiträgen weiterspannen, in welchen die vier
Autorinnen die hier in aller Kürze vorgestellten integrativ-gestaltthera­
peutischen Ansätze in einen neuen Bezugsrahmen stellen und mit den
jeweiligen klinischen Störungsbildern und Arbeitsfeldern verknüpft.
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Helene Neumayr
Literatur
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Reddemann, Luise (2011). Zur Würde der Beschämten und: Von der Faszination
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(S. 307–311) Paderborn: Junfermann.
Staemmler, Frank-M./Bock, Werner (2004). Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie (neu gestaltete Auflage). Wuppertal: Peter Hammer Verlag.
Auf der Suche nach dem Sinn
Subjektorientierte Psychosenpsychotherapie und
Integrative Gestalttherapie
Monika Weitlaner
Zur Relevanz einer subjektorientierten therapeutischen
Haltung
Hört man psychoseerfahrenen Menschen zu, liest man ihre Berichte
(Bock/Buck/Esterer, 2007; Hansen, 2013), so wird sehr deutlich, wie viel
Sinn in scheinbar sinnlosen Handlungen stecken kann und wie sehr sich
viele dieser Menschen wünschen, dass ihnen dabei geholfen werde, das
in der Psychose Erlebte zu verstehen bzw. seine Zusammenhänge mit der
individuellen Lebensgeschichte herauszufinden. In einer Umfrage, die
Thomas Bock in seinen Psychoseseminaren zur generellen Bewertung von
Psychosen gemacht hat, trat das Bemühen, der Psychose einen Sinn zuzu­
ordnen, als besonders auffällig zu Tage (Bock/Buck/Esterer, 2007).
Nun wird aber in der gängigen Praxis psychiatrischer Behandlung
nicht selten ausgerechnet dieser Sinn ausgespart. Als relevant in der Be­
handlung von Psychosen wird an erster Stelle die Medikation gesehen
und hierfür notwendig eine zuvor bestmöglich geleistete Diagnose nach
den derzeit gängigen diagnostischen Systemen DSM-IV und ICD-10. Hier­
bei handelt es sich um rein nosologische, also rein symptombeschreiben­
de Systeme. Dem Inhalt der Psychosen wird häufig lediglich im Rahmen
der Gefährdungseinschätzung (die selbstverständlich unumgänglich und
notwendig ist) Interesse entgegengebracht, d. h. den Stimmen nur so lan­
ge zugehört, bis man feststellen kann, ob es sich um kommentierende
oder imperative, um freundliche oder destruktive handelt. Psychiatrische
Fachkräfte, die hierzu eine andere Haltung einnehmen, können diese
dennoch oft nicht leben, da die vorgegebenen Strukturen, die von der ge­
nannten verobjektivierenden Haltung geprägt sind, häufig nichts anderes
(vor allem nichts Zeitintensiveres) zulassen.
Als Ursache für das Phänomen Psychose wird seit der biologistischen
Wende in unseren Breiten vorwiegend ein Ungleichgewicht der Botenstof­
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