Kapitel 11 Lebesguemessbare Funktionen 11.1 Definition Wir übertragen nun die Lebesguemessbarkeit von Mengen auf die Lebesguemessbarkeit von Funktionen und werden erkennen, dass dieses neue Konzept eng an gewisse Stetigkeitseigenschaften von Funktionen gekoppelt ist. Definition 11.1. Sei Ω ⊂ Rn Lebesguemessbar. Die Funktion f : Ω → R ∪ {±∞} heißt Lebesguemessbar, falls für alle c ∈ R die Menge {x ∈ Ω : f (x) > c} Lebesguemessbar ist. Tatsächlich gilt der Satz 11.1. Sei Ω ⊂ Rn Lebesguemessbar. Die Funktion f : Ω → R ∪ {±∞} ist Lebesguemessbar genau dann, wenn ◦ ◦ ◦ {x ∈ Ω : f (x) ≥ c} Lebesguemessbar ist für alle c ∈ R, oder {x ∈ Ω : f (x) < c} Lebesguemessbar ist für alle c ∈ R, oder {x ∈ Ω : f (x) ≤ c} Lebesguemessbar ist für alle c ∈ R. Beweis. Übungsaufgabe. ⊓ ⊔ 11.2 Lebesguemessbare Funktionen Folgendes Resultat macht eine Aussage über mehrdimensionale Riemannintegrierbare Funktionen. Da wir die Konstruktion des Riemannintegrals im Rn nicht kennengelernt haben, können wir den Beweis nur für eindimensionale Funktionen erbringen, wollen ihn aber als Übungsaufgabe belassen. 331 332 11 Lebesguemessbare Funktionen Satz 11.2. Folgende Funktionen sind Lebesguemessbar: (i) (ii) stetige Funktionen auf Lebesguemessbaren Mengen; Riemannintegrierbare Funktionen auf Jordanmessbaren Mengen. Beweis. (i) Mit einem beliebigen c ∈ R betrachten wir die offene Menge Θ := (c, +∞) ⊂ R. Da f stetig ist, ist das Urbild f −1 (Θ ) ⊂ Ω dieser Menge ebenfalls offen und demnach Lebesguemessbar. Das zeigt die erste Behauptung. (ii) Der Beweis der Lebesguemessbarkeit Riemannintegrierbarer Funktionen bedarf einer detaillierten Einführung des mehrdimensionalen Riemannintegrals, die wir im Rahmen dieser Vorlesung nicht erbracht haben. Den Fall einer Dimension belassen wir als Übung. Damit schließen wir den Beweis des Satzes ab. ⊓ ⊔ Satz 11.3. Es gelten die folgenden Aussagen. (i) Ist f : Ω → R Lebesguemessbar, so auch | f (x)|, (ii) f (x)+ := max{0, f (x)} , Sind f , g : Ω → R Lebesguemessbar, so auch f (x) ∨ g(x) := max { f (x), g(x)}, (iii) α f (x), f (x) + g(x), f (x) · g(x), f (x)2 . Sind f (1) , f (2) , . . . : Ω → R Lebesguemessbar, so auch g(x) := sup f (k) (x) , k=1,2,... (v) f (x) ∧ g(x) := min { f (x), g(x)}. Sind f , g : Ω → R Lebesguemessbar, so auch f (x) + α , (iv) f (x)− := max{0, − f (x)} . lim sup f (k) (x) , k→∞ inf k=1,2,... f (k) (x) , lim inf f (k) (x) . k→∞ Sind f und g Lebesguemessbar, und ist F : R2 → R stetig, so ist auch die Komposition F( f , g) Lebesguemessbar. Beweis. Wir geben nur Beweisideen für die Behauptungen (i), (ii) und (iv). (i) Wir ermitteln für beliebiges c ∈ R {x ∈ Ω : | f (x)| < c} = {x ∈ Ω : f (x) < c} ∩ {x ∈ Ω : f (x) > −c} . Beide Mengen auf der rechten Seite sind Lebesguemessbar, da nach Voraussetzung f Lebesguemessbar ist. Also ist auch | f | Lebesguemessbar. Die Lebesguemessbarkeit von f + und f − folgen aus (ii). 11.2 Lebesguemessbare Funktionen (ii) 333 Hierzu beachten wir {x ∈ Ω : ( f ∧ g)(x) > c} = {x ∈ Ω : f (x) > c} ∩ {x ∈ Ω : g(x) > c} sowie {x ∈ Ω : ( f ∨ g)(x) > c} = {x ∈ Ω : f (x) > c} ∪ {x ∈ Ω : g(x) > c} . (iii) (iv) Auch hier sind die rechten Seiten jeweils Lebesguemessbar, was die Lebesguemessbarkeit von f ∧ g und f ∨ g impliziert. Übungsaufgabe. Man überlege sich zunächst (vgl. Beweispunkt (ii)) ∞ n o [ x ∈ Ω : sup f (k) (x) > c = {x ∈ Ω : f (k) (x) > c} . k=1,2,... k=1 Die rechte Seite dieser Mengenidentität ist aber Lebesguemessbar als abzählbare Vereinigung Lebesguemessbarer Mengen. Also ist die Funktion g(x) := sup f (k) (x) k=1,2,... Lebesguemessbar. Aus (wieder Übung!) inf k=1,2,... f (k) (x) = − sup k=1,2,... − f (k) (x) entnehmen wir die Lebesguemessbarkeit des Infimums, und wegen lim sup f (k) (x) = k→∞ inf sup f ( j) (x) k=1,2,... j≥k und lim inf f (k) (x) = sup inf f ( j) (x) k→∞ (v) k=1,2,... j≥k folgern wir die Lebesguemessbarkeit des Limes superior und Limes inferior. Übungsaufgabe. Damit schließen wir unseren Beweis ab. ⊓ ⊔ Konvergiert nun eine Folge beschränkter und Lebesguemessbarer Funktionen f (k) auf der Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ Rn gegen eine Funktion f : Ω → R, d.h. existiert der punktweise Grenzwert f (x) = lim f (k) (x), k→∞ so ist dieser natürlich gleich dem lim sup f (k) (x). k→∞ 334 11 Lebesguemessbare Funktionen Also gilt auch der Satz 11.4. Es sei f (k) : Ω → R, k = 1, 2, . . . , eine Folge Lebesguemessbarer Funktionen auf einer Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ Rn , die punktweise gegen eine Funktion f : Ω → R konvergiert, so ist auch f Lebesguemessbar. Solche Eigenschaften besitzen Riemannintegrierbare Funktionen in der Regel nicht! Beispiel 11.1. Hier ein Gegenbeispiel: Bezeichnet q1 , q2 , . . . eine Abzählung der rationalen Zahlen in (0, 1), so setzen wir 1 für x ∈ {q1 , q2 , . . . , qk } f (k) (x) := . 0 sonst Für jedes k = 1, 2, . . . gilt dann Z1 f (k) (x) dx = 0 im Riemannschen Sinn, 0 aber die Grenzfunktion, d.h. die Dirichletsche Sprungfunktion, ist nicht mehr Riemannintegrierbar. 11.3 Approximation Lebesguemessbarer Funktionen Nach H. Lebesgue lassen sich Lebesguemessbare Funktionen auch durch sogenannte einfache Funktionen approximieren. Definition 11.2. Sei Ω ⊂ Rn Lebesguemessbar und durch endlich viele, paarweise disjunkte Mengen Ωk wie folgt ausgeschöpft Ω= n [ Ωk . k=1 Unter einer einfachen Funktion verstehen wir dann einen Ausdruck der Form n ϕ (x) = ∑ ck χΩk (x) k=1 mit reellen Zahlen ck und den charakteristischen Funktionen 1, falls x ∈ Ωk χΩk (x) = . 0, falls x 6∈ Ωk Einfache Funktionen nehmen also nur endlich viele Werte an; über diese charakteristische Eigenschaft können wir sie ebenso definieren. Es gilt offenbar auch der 11.3 Approximation Lebesguemessbarer Funktionen 335 Hilfssatz 11.1. Einfache Funktionen sind Lebesguemessbar. Unser nächster Satz, und hiervon insbesondere die letzte Aussage, bereitet den im folgenden Kapitel einzuführenden Begriff des Lebesgueintegrals vor. Satz 11.5. Sei f : Ω → R eine Lebesguemessbare Funktion auf der Lebesguemessbaren Menge Ω ⊂ Rn . Dann existiert eine Folge {ϕ (k) }k=1,2,... einfacher Funktionen auf Ω mit der Eigenschaft lim ϕ (k) (x) = f (x) k→∞ für alle x ∈ Ω . Ist zudem f beschränkt auf Ω , so ist die Konvergenz gleichmäßig. Und ist f nichtnegativ, so kann die approximierende Folge einfacher Funktionen monoton wachsend gewählt werden. Beweisidee. Wir geben nur eine sehr grobe Beweisidee. 1. Sei o.B.d.A. f (x) ≥ 0 für alle x ∈ Ω . Andernfalls betrachten wir die Zerlegung f (x) = 2. | f (x)| + f (x) | f (x)| − f (x) − 2 2 in zwei positive, Lebesguemessbare Anteile. Außerdem sei f : Ω → R. H. Lebesgues Approximation sieht nun wie folgt aus: Zerlege den Bildraum [0, ∞) der nichtnegativen Funktion f in halboffene Intervalle [0, ∞) = [0, 1) ∪ [1, 2) ∪ . . . ∪ [n − 1, n) ∪ [n, ∞), und betrachte hierauf eine verfeinerte Zerlegung in 2n + 2n + . . . + 2n + 1 = n · 2n + 1 3. disjunkte Teilintervalle. Setze dann ϕ (n) := n·2n k−1 χΩn,k (x) + nχΘn (x) n k=1 2 ∑ mit den Lebesguemessbaren Teilmengen k−1 k Ωn,k := x ∈ Ω : n ≤ f (x) ≤ n 2 2 4. und Θn := [n, ∞). Also sind auch alle ϕ (n) Lebesguemessbar. Nun überlege man sich | f (x) − ϕ (n) (x)| ≤ 1 2n für alle x ∈ Ω \ Θn , woraus die behauptete punktweise Approximation folgt. Damit schließen wir unsere Beweisidee ab. ⊓ ⊔ 336 11 Lebesguemessbare Funktionen 11.4 Die Sätze von Egoroff und Lusin Wir wollen ohne Beweis zwei wichtige Resultate vortragen, welche für das Verständnis Lebesguemessbarer Funktionen wichtig sind. Das erste Resultat geht auf den russischen Mathematiker und Physiker D.F. Egoroff zurück und besagt, dass punktweise Konvergenz Lebesguemessbarer Funktionen fast gleichmäßige“ Konvergenz bedeutet. ” Satz 11.6. Auf Ω ⊂ Rn mit ℓ∗ (Ω ) < ∞ sei { f (k) }k=1,2,... eine Folge Lebesguemessbarer Funktionen, die auf Ω fast überall gegen eine Lebesguemessbare und fast überall endlichwertige Funktion f : Ω → R konvergieren. Für jedes ε > 0 existiert dann eine Lebesguemessbare Teilmenge Θ ⊂ Ω mit ℓ(Ω \ Θ ) < ε , so dass { f (k) }k=1,2,... auf Θ ⊂ Ω gleichmäßig gegen f konvergiert. Die beiden Voraussetzungen ℓ(Ω ) < ∞ und | f (x)| < ∞ fast überall können nicht abgeschwächt werden, wie die folgenden zwei Beispiele zeigen. Beispiel 11.2. Auf Ω ⊂ Rn mit λ ∗ (Ω ) = ∞ betrachten wir die Funktionenfolge der charakteristischen Funktionen fk (x) := χ[−k,k] (x), k = 1, 2, . . . , mit der Eigenschaft lim fk (x) = 1 punktweise für alle x ∈ R. k→∞ Bezeichnet nun aber Θ ⊂ R eine beliebige Teilmenge, deren Komplement R \ Θ endliches äußeres Lebesguemaß besitzt, so dass Θ selbst notwendig unbeschränkt ist, so ist die Konvergenz auf Θ nicht gleichmäßig. Es lässt sich also i.A. nicht die Voraussetzung ℓ∗ (Ω ) < ∞ abgeschwächen. Beispiel 11.3. Betrachte Ω = [0, 1] und darauf die Funktionenfolge fk (x) ≡ k, k = 1, 2, . . . , mit der Eigenschaft lim fk (x) = ∞ k→∞ punktweise für alle x ∈ [0, 1]. Die Konvergenz ist natürlich ebenfalls nicht gleichmäßig. Es lässt sich also i.A. nicht die Voraussetzung der f.ü.-Endlichkeit der Funktion f abschwächen. Das zweite Resultat ist benannt nach dem russischen Mathematiker N.N. Lusin. Hiernach sind Lebesguemessbare Funktionen fast stetig“. ” 11.5 Littlewoods drei Prinzipien 337 Satz 11.7. Seien Ω ⊂ Rn Lebesguemessbar und f : Ω → R eine fast überall endlichwertige und Lebesguemessbare Funktion. Dann gibt es zu jedem ε > 0 eine abgeschlossene Teilmenge Θ ⊂ Ω mit ℓ(Ω \ Θ ) < ε , so dass die Einschränkung g := f |Θ von f auf Θ stetig ist. Beachte: Es wird nicht behauptet, dass f stetig auf Θ ist, sondern dass die Einschränkung f |Θ von f auf Θ stetig ist. Dazu folgendes Beispiel. Beispiel 11.4. Es seien f die Dirichletsche Sprungfunktion auf ganz R und Σ eine offene Menge, welche die rationalen Zahlen Q enthält mit dem Maß ℓ∗ (Σ ) < ε , ε > 0 beliebig klein. Wir setzen Θ := Σ c . Dann ist ℓ∗ (R \ Θ ) = ℓ∗ (Σ ) < ε , und da g := f |Θ ≡ 0, ist f |Θ auch stetig. Betrachten wir f jedoch als Funktion auf ganz R, so ist f sicher nicht stetig auf Θ . 11.5 Littlewoods drei Prinzipien Der britische Mathematiker J.E. Littlewood fasste die in den vorigen Paragraphen vorgestellten Eigenschaften Lebesguemessbarer Funktionen in drei Prinzipien“ ” wie folgt zusammen. Diese Littlewoodschen Prinzipien wollen wir an dieser Stelle nur für das bislang diskutierte äußere Lebesguesche Maß aufzählen: 1. Jede Lebesguemessbare Menge Ω ⊂ Rn ist fast eine endliche Vereinigung von offenen Quadern. Denn zu beliebig vorgegebenem ε > 0 existiert stets eine offene Menge Σ ⊃ Ω mit ℓ∗ (Σ \ Ω ) < ε . Diese offene Menge kann wiederum durch abzählbar viele offene Quader dargestellt werden. 2. Jede Lebesguemessbare, fast überall endlichwertige Funktion f : Ω → R ist fast stetig. Das ist der eben vorgestellte Satz von Lusin. 3. Jede konvergente Folge Lebesguemessbarer Funktionen ist fast gleichmäßig konvergent. Das ist der oben vorgestellte Satz von Egoroff. Damit wollen wir unsere Untersuchungen zu Lebesguemessbaren Mengen und Funktionen abschließen und uns der Konstruktion des Lebesgueschen Integrals widmen.