Teil 1 Unfallchirurgische Grundlagen 2. Die gesundheitspolitische Bedeutung der Unfallchirurgie in Deutschland und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft H.J. Oestern In der Bundesrepublik Deutschland verunfallen jährlich zwischen 4 und 5 Millionen Menschen. Hinter dieser Zahl verbirgt sich nicht nur das individuelle Leid mit der Plötzlichkeit und Unverrückbarkeit des Ereignisses und den sich daraus ergebenden persönlichen Auswirkungen, sondern darüber hinaus haben diese Zahlen auch eine erhebliche Bedeutung für die Gesellschaft, die sich nicht nur in den Krankheitskosten, sondern auch in der Arbeitsunfähigkeit der Verletzten und in möglichen Rentenzahlungen widerspiegeln. Epidemiologie Die Zahl der Verletzten in den alten Bundesländern hatte vor etwa 25 Jahren das höchste Niveau erreicht. Seit dieser Zeit haben die deutlich verbesserten unfallchirurgischen Behandlungsmöglichkeiten und Verkehrssicherheitsmaßnahmen dazu beigetragen, daß die Zahl der Verkehrstoten sowie der Schwer- und Leichtverletzten gesenkt werden konnte. Betrug die Zahl der Schwerverletzten im Jahre 1970 beispielsweise noch rund 165000, so sank dieser Wert 1994 auf 91000 ab. Auch die Leichtverletztenzahl hat eine rückläufige Tendenz, von 367000 im Jahre 1970 auf 324000 im Jahre 1994 [7] (Abb. 1). Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich nun auch in den neuen Bundesländern ab. Auch hier ist die Zahl der Verletzten und Toten anfangs nach der Wiedervereinigung sehr hoch gewesen und hat seitdem eine abnehmende Tendenz. Daraus ergibt sich, daß sich die Gesamtzahl der Schwerverletzten für das vereinte Deutschland nur um etwas über 4000 zwischen 1991 und 1994 verminderte. Die Zahl der Leichtverletzten stieg sogar von 374000 auf 389000. Die Gesamtzahl der Verletzten nahm 1996 um 3,6% ab und betrug 494000 (Leicht- und Schwerverletzte) (Abb. 2 und 3). Eine ähnliche Entwicklung wie bei den Schwer- und Leichtverletzten nahm auch die Zahl der Verkehrstoten. Die höchsten Zahlen waren im Land Brandenburg zu beobachten. Die Zahl der Getöteten/100000 Einwohner betrug hier im Jahre 1989 16, war 1991 mit 36,3 Getöteten/100000 am höchsten und nahm dann wieder auf 31,8 im Jahr 1993 ab. Diese Zahl ist fast 9mal so hoch wie die Vergleichszahl von 3,6 Verkehrstoten/100000 Einwohner im Land Bremen. 1996 ging die Zahl der Verkehrstoten im Land Brandenburg um 14,5% zurück, die Zahl der Verletzten um 6,8%. Während 1994 802 Menschen in Brandenburg ums Leben kamen, waren es 1995 768 und 1996 657 Menschen. Jeder Zweite starb bei einer Kollision mit einem Alleebaum. Insgesamt erfreulich ist der Rückgang der Verkehrstoten von 11300 im Jahre 1991 auf 8755 im Jahre 1996. Im Gebiet der EU liegt diese Zahl bei 45000, in Indien mit den meisten Verkehrstoten liegt diese Zahl bei 60000. Fahrzeugbestand und Fahrzeugleistungen Diese Entwicklung der Verletztenzahlen ist interessant vor dem Hintergrund der Zunahme der zulassungspflichtigen Kraftfahrzeuge. Deren Zahl betrug im Jahre 1970 16,8 Mio. und 1994 46,3 Mio. Entsprechend deutlich war auch der Anstieg der Fahrleistungen. So wurden auf den Bundesautobahnen im Jahre 1970 35 Mrd. Kilometer zurückgelegt und 1994 bereits 175,4 Mrd. Kilometer. Arbeits- und Wegeunfälle Die Zahl der Arbeitsunfälle stieg von 880.000 im Jahr 1950 (11,02 Mill. Vollzeitarbeiter) auf 1,42 Mio. im Jahre 1995 (30,3 Mill. Vollzeitarbeiter). Besonders hoch war die Zahl der Arbeitsunfälle 1960 mit knapp 2,3 Mio. (17,8 Mill. Vollzeitarbeiter). Entscheidend zu der inzwischen rückläufigen Entwicklung haben die verbesserten Arbeitssicherheitsmaßnahmen beigetragen. Einen ähnlichen Verlauf nahm auch die Zahl der Wegeunfälle, deren Höhe im Jahr 1950 69000 betrug und 1995 knapp 206000 (Abb. 4). Auch hier war die Zahl 1960 am höchsten. 1996 betrug die Zahl der Arbeits- und Wegeunfälle 1,47 Mill. (- 9,4% gegenüber 1995). Die meldepflichtigen Unfälle (Arbeits- und Wegeunfälle) nahmen im ersten Halbjahr 1997 um 42233 (-5,8%) gegenüber 1996 ab. Die Unfallquote betrug 1995 je 1000 Vollarbeiter 46,7 und je 1 Mio. Arbeitsstunden 29,73 meldepflichtige Unfälle. Die Unfallquote für die meldepflichtigen Wegeunfälle betrug 5,9 je 1000 Versicherungsverhältnisse. Im Jahre 1960 betrug hier die Zahl der Arbeitsunfälle je 1000 Vollarbeiter noch 126,7 und die der Wegeunfälle 13,9. Insgesamt waren im Jahre 1995 30323479 Vollarbeiter und 2823228 Unternehmen bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften versichert. Die Aufwendungen für die Unfallverhütung betrugen im Jahr 1995 bei den Berufsgenossenschaften über 1,1 Mrd. DM [1], die sich sehr positiv auf die Entwicklung der Arbeitsunfälle ausgewirkt haben. Rentenzahlungen Die Zahl der erstmals in einem Geschäftsjahr gezahlten Renten betrug bei den Arbeitsunfällen 1950 45000 und bei den Wegeunfällen 5400. Dem gegenüber stehen im Jahre 1995 erstmals gezahlte Rentenzahlungen in einer Höhe von rund 35000 bei den Arbeits- und 9500 bei den Wegeunfällen (Abb. 5). Der Rentenbestand beläuft sich 1995 auf 760000 bei den Verletzten und Kranken, etwa 117000 bei den Witwen und knapp 20000 bei den Waisen. Dies entspricht einer Gesamtsumme von 8,9 Mrd. DM im Jahre 1995 (Abb. 6). Die Aufwendungen für Verletztenrenten betrug je Patient 8398 DM, bei den Witwen- und Witwerrenten 19573 DM und 12329 DM bei den Waisenrenten. Altersstruktur der Verletzten Am häufigsten sind bei Verkehrsunfällen mit Personenschäden Erwachsene zwischen dem 25. und dem 35. Lebensjahr beteiligt (Abb. 7), etwa zwei Drittel aller Verkehrsunfallverletzten sind jünger als 45 Jahre. Verlust an Arbeitsjahren durch Todesfälle unter dem 45.Lebensjahr Die enorme menschliche und volkswirtschaftliche Bedeutung zeigt die Betrachtung der Altersstruktur der Verkehrstoten: Besonders junge Menschen sind von tödlichen Verkehrsunfällen betroffen. Betrachtet man die Zahl der verlorenen Arbeitsjahre im Hinblick auf die häufigsten Todesursachen (Unfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Neoplasma), so sind es bei den Männern die Unfälle mit 48,6%, gefolgt von Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 20,8% und Neoplasma mit 25,6%. Bei den Frauen zeigt sich ein umgekehrtes Verhältnis, hier stehen die neoplasmatischen Erkrankungen an erster Stelle mit 53,9%, gefolgt von Unfällen mit 24,3% und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 21,8% (Abb. 8). Betrachtet man nun den Verlust an Lebensarbeitsjahren durch die verschiedenen Todesursachen insgesamt, so weisen die Unfälle einen Verlust von 304270 Arbeitsjahren auf, gefolgt von den Karzinomen mit 239530 Arbeitsjahren und den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 164000 Arbeitsjahren (Abb. 9). Neben der ökonomischen und medizinischen Dimension müssen dabei natürlich auch die soziale und die ethische Dimension beachtet werden. Außer den direkten Kosten (Behandlungskosten, Personal- und Sachkosten) und den indirekten Kosten (Produktionsausfall, Arbeitszeitverlust, Verdienstausfall, Folgekosten durch eine erhöhte Lebenserwartung) müssen insbesondere die intangiblen Kosten und Nutzen (wie beispielsweise Glück, Freude, Angst, Trauer Lebensqualität), die nicht ohne weiteres monetär bewertet werden können, Berücksichtigung finden. Bei den Todesursachen liegen im internationalen Vergleich Rußland und die USA mit 23,4 bzw. 15,8 Toten/100000 Einwohner bei Unfällen an erster bzw. zweiter Stelle, während Deutschland mit 11,2 an dritter Stelle liegt (Tabelle 1). Die volkswirtschaftlichen Kosten, die in den USA für einen tödlich Verletzten aufgebracht werden müssen, belaufen sich auf rund 318000 Dollar, für einen stationär behandelten 34.116 Dollar und einen ambulant behandelten Verletzten 518 Dollar. Frakturen im Alter Die Zunahme der alten Bevölkerung in den nächsten Jahren hat zur Folge, daß die Zahl der Frakturen im hüftnahen Oberschenkelbereich erheblich ansteigen wird. Nach Hochrechnungen wird sich deren Zahl bis zum Jahr 2010 gegenüber 1987 um nahezu 300% steigern, von 46 auf 138 Fälle je 100000 Einwohner [4]. Diese Entwicklung wird zwangsläufig zu erheblichen finanziellen Belastungen unseres Gesundheitssystems beitragen. Unfallchirurgische Versorgungsstruktur Die Zahl der unfallchirurgischen Kliniken hat sich in den Jahren 1991-1996 entsprechend den gesellschaftspolitischen Ansprüchen für eine weitere Spezialisierung weiter nach oben entwickelt. Spezialisierung schafft größere Erfahrung, bessere Ergebnisse und eine günstigere Kostenentwicklung. Im Jahr 1991 waren 238 unfallchirurgische Kliniken mit einer Gesamtbettenzahl von 17092 und 435 Intensivbetten in Deutschland vorhanden. Diese Zahl stieg im Jahr 1994 auf 270 Kliniken mit 18761 Betten und 530 Intensivbetten an. Behandelt wurden in unfallchirurgischen Abteilungen 1991 insgesamt 427587 Patienten mit 5613444 Pflegetagen. Dies entsprach einer Verweildauer von 13,1 Tagen [3]. Im Jahr 1994 wurden bereits 503590 Patienten mit 5917197 Pflegetagen behandelt. Dies entspricht einer Verweildauer von 11,8 Tagen (Abb. 10). Zum Vergleich betrug im selben Zeitraum die Zahl der Aufnahmen in den thorax- und kardiovaskularchirurgischen Kliniken 84753 mit nahezu 1,2 Mio. Pflegetagen. Die durchschnittliche unfallchirurgische Abteilung umfaßt etwa 74 Betten, hat 3 Oberärzte, 7 Assistenzärzte und 2 AiP sowie einen Chefarzt. Dem gegenüber hat die durchschnittliche "allgemeinchirurgische" Abteilung 83 Betten, 1 Chefarzt, 3-4 Oberärzte, 8-9 Assistenten und 2-3 AiP. Aufgabenbereich der Unfallchirurgie Definitionsgemäß umfaßt das Fach Unfallchirurgie die gesamte Behandlung des unfallchirurgischen Patienten von der Erstbehandlung bis zur vollständigen Rehabilitation und Begutachtung. Der Unfall kennt keine anatomischen und funktionellen Grenzen, deshalb versteht sich der Unfallchirurg nicht nur als behandelnder Arzt, sondern darüber hinaus als derjenige, der den Patienten betreut und ihn bis zu seiner Gesundung begleitet. Dies beinhaltet neben den speziellen unfallchirurgischen Erfahrungen auch Kenntnisse in den Nachbargebieten, um die optimale Behandlung für den Verunfallten zu gewährleisten. Dementsprechend umfassen die wichtigsten Teilgebiete der Unfallchirurgie die Prävention von Unfallverletzungen, die präklinische Versorgung, die stationäre und ambulante Behandlung von Verletzungen sowie die Rehabilitation und die Begutachtung. Die Basis dieser Tätigkeit ist die Grundlagen- und klinische Forschung. Prävention Drei Gebiete seien stellvertretend für die unfallchirurgischen Bereiche der Unfallprävention genannt: 1. Verkehrsunfallforschung 2. Sportverletzungen 3. Kinderunfälle 1. Die Verkehrsunfallforschung umfaßt nicht nur Maßnahmen der Unfallverhütung, z.B. im Sinne des social marketing der Verkehrssicherheit und die detaillierte Unfallanalyse, sondern auch eine enge technische Kooperation in den Maßnahmen zur Verbesserung und Entwicklung von Sicherheitssystemen und Sicherheitsvorkehrungen. Exemplarisch seien nur die Sicherheitsgurte, Kindersitze und der Airbag genannt. Beispiele für gute medizinisch-technische Zusammenarbeit finden wir auch in verschiedenen Verkehrssicherheitsprogrammen, an denen Unfallchirurgen aktiv beteiligt sind. 2. Die Prävention umfaßt ebenso die Sportverletzungen. Bei über 25 Millionen organisierten Sportlern stellt diese Verletztengruppe einen großen unfallchirurgischen Schwerpunkt dar. Die Verbesserung von Trainingsmethoden bildet nur einen Teil der Maßnahmen zur Unfallverhütung. Durch Kenntnis sportspezifischer Funktionsabläufe und analog verletzter Strukturen kann der Unfallchirurg besonders kompetent zur verbesserten Verletzungsprävention im Sportbereich beitragen und operative Techniken fortentwickeln. Als Beispiele seien nur die Optimierung der Skibindungen sowie die Verbesserung von Sportschuhen im Rahmen der Unfallsicherheit genannt. Sportunfälle sind fester Bestandteil des Schwerpunktes Unfallchirurgie, von der Prävention bis zur vollen Rehabilitation. Diese Globalbetreuung und -versorgung ist gerade auf diesem Gebiet besonders essentiell und beginnt bereits in den Vereinen. 3. Auch in der Prävention von Kinderunfällen ist der Unfallchirurg aufgrund der Kenntnis der kindlichen Verletzungen und den direkten Vergleichsmöglichkeiten zur Erwachsenentraumatologie der geeignete Therapeut und wissenschaftliche Ansprechpartner für Präventionsmaßnahmen. Die Kindertraumatologie gehört zum Schwerpunkt Unfallchirurgie. Im Jahre 1995 verunglückten Kinder unter 15 Jahren am häufigsten als Fahrradbenutzer (34%). Allein durch die generelle Einführung der Helmpflicht für Fahrradfahrer könnte die Zahl der tödlichen Verkehrsunfälle bei diesen Kindern um 10-11% gesenkt werden. Präklinische Behandlung Die Ergebnisse in der Versorgung Schwerverletzter oder auch die Resultate bei multiplen Einzelverletzungen zeigen die enorme Bedeutung der Erstbehandlung für den Verletzten. Während vor 35 Jahren noch nahezu jeder zweite Schwerstverletzte seinen Verletzungen erlag, sind es jetzt nur noch 10 bis 15% der Verunglückten mit einem vergleichbaren Verletzungsmuster, die an einem Schädel-Hirn-Trauma oder sekundären Unfallfolgen wie dem Multiorganversagen ver-sterben. Ein Schlüssel für diese Behandlungserfolge liegt in der Kenntnis über die Behandlungsmöglichkeiten der sehr rasch nach dem Unfall einsetzenden schockbedingten Mikrozirkulationsstörungen und der mediatorvermittelten Endothelläsionen. Frühzeitige Beatmung, ausgedehnter Ersatz des Volumenverlustes, Schmerzbekämpfung, Schienung von Frakturen, Entlastung von einem Pneumothorax sind nur einige der Maßnahmen, die die Prognose des Unfallverletzten in den letzten Jahren verbessern konnten [9]. Als weitere Beispiele seien die Behandlungsmaßnahmen bei Wirbelsäulenverletzungen oder offenen Frakturen genannt, deren Gesamtprognose ebenfalls wesentlich von der Erstbehandlung bestimmt wird. Bei den offenen Frakturen führt eine geschulte Primärbehandlung an der Unfallstelle nach unfallchirurgischen Gesichtspunkten mit Reposition, sterilem Verbinden der Wunde und Schienung zu einer deutlichen Senkung der Infektionsrate. Berechnet man die Gesamtkosten für die Behandlung eines infizierten Unter- oder Oberschenkelbruches, so ergibt sich daraus eine erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung. Die Kosten belaufen sich heute bei unkompliziertem Verlauf auf 8000 bis 10000 DM, im Vergleich dazu steigen die Kosten eines infizierten Oberschenkelbruches auf 750000 bis 1 Mio. DM. Auch die rasche Reposition eines gebrochenen oder verrenkten Wirbels führt aufgrund der Entlastung des Rückenmarkes zu einer deutlich verbesserten Gesamtprognose. Die Behandlung an der Unfallstelle, das heißt, das erste Glied der Rettungskette, muß geprägt sein von unfallchirurgischer Erfahrung und sachlicher Kompetenz. Nur derjenige kann die Bedeutung des Primärschadens werten, der später auch die weitere Behandlung gestaltet, nur derjenige kann aus schwierigen Verläufen und Komplikationen Rückschlüsse ziehen, der den Primärbefund kennt und die Erstbehandlung durchgeführt hat. Der Unfallchirurg ist nicht nur in die präklinische Behandlung eingebunden, sondern wirkt darüber hinaus aktiv als Organisator oder als maßgeblicher Mitgestalter und prägt somit die Leitlinien in der präklinischen Behandlung Verletzter. Dies kann sehr wohl auch interdisziplinär, z.B. gemeinsam mit Internisten und Anästhesisten erfolgen. In der eigenen Klinik sind nur die Kollegen in das Notarztsystem eingebunden, die die Zusatzbezeichnung "Arzt für Rettungsmedizin" besitzen. Diese Gruppe wird interdisziplinär aus Unfallchirurgen, Chirurgen, Anästhesisten und Internisten gebildet. Klinische Erstbehandlung Die Erstbehandlung des Verletzten erfolgt in der Notfallambulanz. Naturgemäß ist hier der Unfallanteil der Patienten sehr hoch und erfordert eine hohe Entscheidungskompetenz. Wegen der hohen unfallchirurgischen Patientenzahl ist in den meisten Fällen der Unfallchirurg der Organisator in diesem Bereich. Wie wichtig eine kompetente Erstbehandlung ist, zeigen Zahlen einer international vergleichenden Studie aus England. Wurden Schwerverletzte nur in 13% - statt im Zentrum eines anderen Landes in über 90% - durch einen traumatologisch sehr erfahrenen Arzt in der Anfangsphase behandelt, war bei vergleichbarem Schweregrad der Verletzten die Prognose deutlich schlechter [Yates 1997]. In der bis 1997 80622 Patienten umfassenden MTOS-Studie waren nur 18% innerhalb der ersten 2 Stunden einer notwendigen operativen Versorgung zugeführt, bei 50% vergingen mehr als 4 Stunden [10]. Besonders aufwendig ist die Behandlung der polytraumatisierten Patienten. Sie sind an der Gesamtzahl der stationär behandelten nur mit 5 bis 10% beteiligt, verursachen jedoch 25 bis 33% der Gesamtkosten einer Abteilung. Die tatsächlich anfallenden Kosten für einen Polytraumatisierten belaufen sich auf 87000 bis 106000 DM [5]. Bei diesen Berechnungen wurden Patienten mit einer Verletzungsschwere nach dem ISS (Injury Severity Scale) zwischen 30 und 40 Punkten untersucht. Die Kosten pro Tag belaufen sich etwa auf 4.750 DM oder 3,30 DM/Min. Zum Vergleich seien die Fallpauschalen für Nierentransplantationen mit 101991,18 DM, Lebertransplantationen mit 184180,19 DM oder Herztransplantationen mit einem Kostenaufwand von 96712,70 DM erwähnt. Obwohl die Behandlungskosten Polytraumatisierter nachweislich etwa in der Größenordnung dieser Transplantationen liegen, gilt für Schwerverletzte weiterhin der normale Pflegesatz. Dies bedeutet, daß unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Bedingungen des Gesundheitsstrukturgesetzes die Behandlung Schwerverletzter nur mit erheblichen finanziellen Verlusten durchgeführt werden kann und dies bei einem Gesamtbudget für die medizinische Versorgung von nahezu 260 Mrd. DM. Die Zahl der unfallchirurgisch stationär behandelten Patienten betrug nahezu 1,5 Mio., davon wurden 661000 (43,4%) operativ versorgt. Besonders hoch ist die Zahl der Frakturen an den unteren Extremitäten mit 347000 im Vergleich zu den oberen Extremitäten mit nahezu 190000. Die Zahl der operativ versorgten Brüche betrug hier 63,4% für die untere Extremität und 60,5% für die obere Extremität. Im Jahre 1995 wurden insgesamt etwa 2,9 Mio. Implantate eingebracht. Darunter befinden sich allein 62300 Nägel, 197200 Platten und 76500 Fixateure. Am meisten gebraucht wurden natürlich Schrauben mit 1,6 Mio. sowie Drähte und Klammern mit 680000 (Abb. 11). Während früher die operative Frakturbehandlung eher die Ausnahme darstellte, ist sie heute z.B. bei den Schaftfrakturen der großen Röhrenknochen eher die Regel. Dies drückt sich in einer deutlichen Verringerung der Liegezeiten, aber auch der sekundären Folgen einer langen Ruhigstellung (z.B. Muskelatrophie und Gelenkeinsteifung) aus. Eine konservativ behandelte Unterschenkelfraktur war vor 25 bis 30 Jahren noch etwa 4 Wochen hospitalisiert, heute wird der Unterschenkelbruch im allgemeinen durch Marknagelung stabilisiert und der Patient kann nach 1 Woche das Krankenhaus verlassen. Dies bedeutet volkswirtschaftlich gesehen nicht nur eine Verringerung der Krankenhauskosten durch die verkürzte Liegezeit, sondern darüber hinaus eine wesentlich schnellere Rehabilitation und damit geringere weitere Folgekosten. Besonders wichtig ist die intensivmedizinische Behandlung des Unfallverletzten. Entscheidend ist hierbei, daß von Beginn an nicht durch eine Extensionsbehandlung der Frakturen die Wechsel- und Bauchlagerung des Verletzten, die für eine optimale Lungenfunktion unentbehrlich geworden ist, behindert wird. Die Aufgabe des Unfallchirurgen besteht darin, die Frakturen sofort, u.U. auch nur temporär, mittels Fixateur externe zu stabilisieren, um damit pulmonalen Komplikationen entgegenzuwirken. Die enge Kooperation auf einer Intensivstation schafft die Voraussetzungen für eine optimale Festsetzung des weiteren Managements. Diese Behandlung ist äußerst personalintensiv und jeweils individuell auf den einzelnen Patienten zugeschnitten. Im Vergleich zu anderen Intensivbereichen sind hier automatisierte oder rein computergestützte Behandlungen nur mit Einschränkungen möglich. Poststationäre Behandlung Ganz besonders wichtig ist die poststationäre Behandlung des Verunfallten, die bislang nur im berufsgenossenschaftlichen Behandlungsverfahren eine kontinuierliche Behandlung ermöglicht. Die infolge der neuen Bestimmungen nur 14 Tage umfassende poststationäre Behandlung ist gerade für die unfallchirurgische Qualitätssicherung nicht ausreichend. Der Behandlungserfolg zeigt sich in der Unfallchirurgie nicht mit der Beendigung der Wundheilung. Kontrollmöglichkeiten, gerade durch den Operateur, nach bestimmten Zeitabständen sind für den Behandlungserfolg mit entscheidend. Die ambulante Behandlung umfaßt auch die Rehabilitation. Die von den Berufsgenossenschaften und Krankenkassen initiierten Verfahren der EAP (erweiterte ambulante Physiotherapie) und ambulanten Rehabilitation sind gute Schritte, solange ein bestimmtes Qualitätsniveau aufrechterhalten wird und diese Einrichtungen nicht vorzugsweise gewinnwirtschaftlichen Gesichtspunkten gehorchen. Die ärztliche Weiterbetreuung in dieser Phase gehört entscheidend zur unfallchirurgischen Tätigkeit. Begutachtungsfragen erlangen eine immer größere Bedeutung und erfordern naturgemäß umfassende unfallchirurgische Kenntnisse, basierend auf wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen. Diesen enorm wichtigen Gebieten sind deshalb eigene Kapitel gewidmet. Forschung Nur die intensive Beschäftigung mit einem definierten Gebiet schafft den Rahmen für wissenschaftliche Fragestellungen. Die Forschung ist das Fundament unserer Tätigkeit. Innovative Ideen gedeihen über die tägliche Konfrontation mit Problemkreisen und relevanten Fragestellungen. Nur etwa 30% der Forschungsmittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die für chirurgische Forschung 1994 verwandt wurden, betrafen unfallchirurgische Fragestellungen. Hier sind sicherlich in der Zukunft noch Verbesserungsmöglichkeiten zu finden. Die Komplexität der Grundlagenforschung, die Erhaltung einer Kontinuität in der Forschungsrichtung, der Zeitaufwand für eine weiterführende originäre Forschung zwingen aber über Strukturverbesserungen nachzudenken, die auch dem unfallchirurgisch Forschenden befriedigende Berufschancen ermöglichen und somit zur Optimierung der unfallchirurgischen Forschung beitragen können. Ausbildungsprobleme Die Ausbildungsprobleme werden wachsen, da die Ausbildungsvoraussetzungen erschwert werden. Auch das neue Arbeitszeitgesetz wird zwangsläufig die Weiterbildungszeiten verlängern, da die Anwesenheitsmöglichkeit des ärztlichen Mitarbeiters deutlich reduziert wird. Weitere Einflüsse, die in den nächsten Jahren die Weiterbildung beeinflussen werden, sind die niedrigere Fluktuation von ärztlichen Mitarbeitern in den Kliniken aufgrund der verschlechterten Niederlassungsmöglichkeiten und eine eventuelle Stellenreduktion in den nächsten Jahren. Aber auch die ambulante Chirurgie mit definierten OP-Zeiten innerhalb, vor allem aber auch außerhalb des Krankenhauses kann eine Verminderung der Ausbildungsmöglichkeiten für kleinere und mittlere Eingriffe bedeuten. Der Gesamtanteil der für die Ausbildung möglichen Operationen wird sich auch unter diesem Druck reduzieren. Wichtig für die Unfallchirurgie ist es, nicht nur Leitlinien und Behandlungskonzepte zu definieren, sondern diese auch stetig zu verbessern. Dadurch wird es für die Unfallchirurgie auch in der Zukunft möglich sein, ihren Anspruch und Ruf als eine international akzeptierte, weltweit führende Disziplin zu verteidigen. Vergleichende Untersuchungen der deutschen Unfallchirurgie mit anderen Ländern bestätigen z. Z. diese führende Position [2, 6, 8, 10]. Dieser Weg ist persönlich entbehrungsreich, wie eine Untersuchung von den Leitern der Traumazentren Level I, d.h. den Schwerpunktkliniken in den USA, zeigt. Die drei am meisten belastenden Charakteristika für einen Unfallchirurgen sind nach dieser Analyse Nacht- und Wochenendarbeit, gestörtes Familienleben und ein nicht vorhersehbarer und kalkulierbarer Zeitablauf. Entsprechend einer Untersuchung der Tuffts-Universität stehen im Gegensatz dazu die drei wesentlichen lebensverlängernden Einflüsse: Geregelter Arbeitsrhythmus, familiäre Geborgenheit und regelmäßige sportliche Aktivität. Zusammenfassung Die Fortschritte in der unfallchirurgischen Versorgung gemeinsam mit den verbesserten Verkehrssicherheitsbestimmungen und der Fahrzeugsicherheit haben dazu geführt, daß die Zahl der Verkehrstoten im Jahre 1996 auf 8700 zurückgegangen ist. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der zulassungspflichtigen Kraftfahrzeuge von 16,8 Mio. im Jahre 1970 auf 46,3 Mio. im Jahre 1994 zu. Bei den Arbeitsunfällen betrug 1995 die Unfallquote je 1000 Vollarbeiter 46,7 und je 1 Mio. Arbeitsstunden 29,73 meldepflichtige Unfälle. Die hier durchgeführten Arbeitsplatzsicherungsmaßnahmen haben zu einer deutlichen Reduktion der Unfallzahlen geführt. Die Gesamtzahl der berufsgenossenschaftlichen Rentenzahlungen betrug 1995 8,5 Mrd. Die altersmäßige Verteilung der Verkehrsunfälle mit Personenschäden zeigt einen Gipfel zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr. Bei der Betrachtung der Zahl der verlorenen Arbeitsjahre im Hinblick auf die häufigsten Todesursachen (Unfall, Herz-KreislaufErkrankungen, Neoplasma) stehen bei den Männern die Unfälle mit 48,6%, gefolgt von den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 20,8% und den Neoplasmen mit 25,6%, an erster Stelle. Dem gegenüber ist das Verhältnis bei den Frauen umgekehrt: Die neoplastischen Erkrankungen liegen hier mit 53,9%, gefolgt von den Unfällen mit 24,3% und den HerzKreislauf-Erkrankungen mit 21,8%, an erster Stelle. Beim Verlust an Lebensarbeitsjahren weisen die Unfälle einen Verlust von 304270 Arbeitsjahren auf, gefolgt von den Karzinomen mit 239530 und den Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit 64000 Arbeitsjahren. Die besondere gesundheitspolitische Bedeutung liegt in der globalen Betreuung der Unfallverletzten, d.h. in der Prävention, der präklinischen Versorgung sowie der stationären und ambulanten Behandlung der Verletzten bis zur Rehabilitation und Begutachtung. Die konsequente Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten hat nicht nur zu einer Reduzierung der Verletzungsfolgen mit einer schnelleren Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß und wesentlich geringeren Unfallfolgen geführt, sondern auch zu einer deutlichen Verminderung der volkswirtschaftlich wirksamen Gesamtkosten. Die Organisationsstruktur der Deutschen Unfallchirurgie sowie die medizinischen Leistungen haben damit weltweit eine Vorbildfunktion erlangt. Literatur 1. BG Statistiken 1995 (Sept. 1996) Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften 2. Court-Brown CM (1995) Treatment of the polytraumatized patient in the United Kingdom. Clinic Orthop 318:36-42 3. Daten des Gesundheitswesens Ausgabe 1995 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd 51 4. Kuner EH, Schaefer DJ (1994) Epidemiologie und Behandlung der Frakturen im hohen Alter. Orthopädie 23:21-31 5. Obertacke U, Neudeck F, Wihs HJ, Schmit-Neuerburg KP (1996) Erstversorgungsund Behandlungskosten polytraumatisierter Patienten. Langenbecks Arch Suppl II: 641-645 (Kongreßbericht) 6. Scottish Accident Statistics 1980-1991 (1994). Edinburgh, The Scottish Office. Home and Health Department 7. Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1996 8. 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