Die kontinuierliche Wiederherstellung von Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext DISSERTATION der Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Internationale Beziehungen (HSG) zur Erlangung der Würde eines Doktors der Sozialwissenschaften vorgelegt von Marcus Wörner aus Deutschland Genehmigt auf Antrag der Herren Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm und Dr. Thomas Schumacher Dissertation Nr. 4440 Difo-Druck GmbH, Bamberg 2015 Die Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Internationale Beziehungen (HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen Stellung zu nehmen. St. Gallen, den 29. Mai 2015 Der Rektor: Prof. Dr. Thomas Bieger I Zusammenfassung Im Feld der Betriebswirtschaft erfreut sich das Thema Führung seit langer Zeit anhaltender Aufmerksamkeit. Debatten über Führung lassen sich in zahlreichen Publikationen finden, von Lobeshymnen auf heroische Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaftspresse bis hin zu tiefgründigen wissenschaftlichen Studien in Wissenschaftsjournalen. Dabei lässt sich feststellen, dass die wissenschaftlichen Beschreibungen von Führung an Komplexität gewonnen haben. Führung wird zunehmend als eine dynamische, relationale und verteilte Aufgabe dargestellt. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich mit Blick auf das Führung zugrunde liegende Verständnis von Führungslegitimität nicht beobachten. Heutige theoretische Verständnisse von Führungslegitimität bauen nach wie vor stark auf Überlegungen Max Webers (1922) auf, der Legitimität als die Basis für Herrschaft betrachtete. Solche Legitimität wird meist als Besitz von Führungspersönlichkeiten betrachtet, der auf ihren persönlichen Eigenschaften oder ihrer organisationalen Position gründet. Neuere Untersuchungen im Bereich Führungslegitimität (z.B. Chakravarthy und Gargiulo, 1998; Denise et al., 2001) betonen, dass formale Autorität zunehmend ungenügend ist, um Führungslegitimität sicherzustellen. Auf diese Weise wird ein komplexeres Verständnis von Führungslegitimität angedeutet. Es werden jedoch keine Definitionen angeboten, die diese Konzeption von Führungslegitimität präzisieren würden, so dass Webers Ausführungen weitgehend alternativlos bleiben. Die vorliegende Arbeit nutzt ein Prozessverständnis organisationaler Kommunikation basierend auf Luhmanns Systemtheorie, um Führungslegitimität als eine andauernde organisationale Errungenschaft zu definieren. Sie trägt zudem zur Forschung bei, indem Kommunikationsprozesse in einem organisationalen Kontext empirisch beobachtet werden, um das Phänomen der Führungslegitimität zu untersuchen. Auf der Basis einer longitudinalen Fallstudie in einer heterarchischen Organisation wird der verständnissteigernde Nutzen einer Prozessperspektive von Führungslegitimität aufgezeigt. Es wird veranschaulicht, wie unterschiedliche Interventionspraktiken dazu beitragen können, Führungslegitimität kontinuierlich neu zu erschaffen. Dabei wird betont, dass die identifizierten Interventionspraktiken zugleich divers und komplementär sind. Sie ergänzen sich in den Dimensionen: Förderung von Kooperation und Einführung von Unterschieden; direkte und indirekte Kommunikation; inhaltsbezogene und beziehungsorientierte Kommunikation. Ein praktischer Beitrag der Erkenntnisse dieser Arbeit kann sich dabei auch für klassische hierarchische Organisationen als nützlich erweisen, da sich in heutigen komplexen Organisationen strikt hierarchische Führungsansätze von Befehl, Umsetzung und Kontrolle zunehmend als unwirksam erweisen. II Abstract In the domain of business administration the topic of leadership revels in perpetual attention. It is discussed in various publications, reaching from the unreflecting adulation of heroic leadership in manager magazines to profound scientific research in scientific journals. As can be found, however, the scientific description of leadership has over time gained in complexity. Leadership is increasingly portrayed as a dynamic, relational and distributed task within organizations. Yet a similar development cannot be found with regard to the underlying subject of leadership legitimacy. Today’s theoretical understanding of leadership legitimacy is still largely founded on the conceptions of Max Weber (1922) who regards legitimacy as an individual possession that enables domination. Such legitimacy is generally perceived to be built on personal traits and the organizational position of a leader. Recent literature on leadership legitimacy (e.g. Chakravarthy and Gargiulo, 1998; Denise et al., 2001) has emphasized that formal authority is increasingly insufficient to establish leadership legitimacy. Thus, such literature is hinting at a more complex understanding of legitimacy. Yet the concept of leadership legitimacy has largely remained undefined, thereby leaving Weber as the only viable point of reference. The present thesis employs a process understanding of organizational communication based on Niklas Luhmann’s systems theory to define leadership legitimacy as an ongoing organizational accomplishment, rather than a static individual possession. Furthermore, it contributes to the research on leadership legitimacy by exploring communicative processes in an organization and thereby empirically studying the phenomenon of leadership legitimacy. Based on a longitudinal empirical case study in a heterarchical organizational context the explanatory power of a process perspective of leadership legitimacy is shown. It is illustrated how different intervention practices can contribute to the continuous recreation of leadership legitimacy. In this regard it is also emphasized that the identified intervention practices are as diverse as complementary: Some are geared towards helping to establish cooperation while others strive to introduce differences into the observed organization; some avail themselves of direct communication while others are built more strongly on indirect forms of communication; and finally both content-related as well as relation-related intervention practices could be observed. As a practical contribution the present thesis’s finding how leadership legitimacy can be continuously recreated in a non-hierarchical context may proof exceedingly useful even for hierarchical organizations, since in today’s complex organizations classic hierarchical leadership behaviours of command and control are becoming increasingly inutile. III Inhaltsübersicht Zusammenfassung .................................................................................................... I Abstract .............................................................................................................. II Inhaltsübersicht ........................................................................................................III Inhaltsverzeichnis .................................................................................................... V Abbildungsverzeichnis ......................................................................................... VIII Tabellenverzeichnis ................................................................................................ IX Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................... X 1 Einleitung........................................................................................................ 1 1.1 Eine neue Perspektive von Führungslegitimität ......................................... 1 1.2 Vorgehen und Forschungsbeitrag der Arbeit ............................................. 4 1.3 Aufbau und Struktur der Arbeit .................................................................. 8 2 Ein Prozessverständnis von Führungslegitimität ......................................11 2.1 Abgrenzung der wissenschaftlichen Debatte um Führungslegitimität .......11 2.2 Führungslegitimität – Ein Definitionsversuch ............................................18 3 Ein systemisches Verständnis von Führung und Führungsaufgaben .....32 3.1 Personen- und eigenschaftsorientierte Führungstheorien ........................33 3.2 Führungstheorien jenseits der klassischen Personen- und Eigenschaftsorientierung ..........................................................................44 3.3 Beschreibung einer systemischen Führungstheorie .................................58 4 Forschungsverständnis und Methodologie ................................................87 4.1 Beschreibung eines systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschungsverständnisses .......................................................................88 4.2 Beschreibung der Forschungsmethode ....................................................99 4.3 Datenerhebung und Datenauswertung ...................................................108 4.4 Der Forschungsprozess als iterativer Entwicklungsprozess ...................131 5 Empirischer Forschungskontext: Heterarchie und Organisation der Deutschen Genossenschaftsbanken ..............................................137 5.1 Heterarchien als Alternative zum hierarchischen Organisationsverständnis .......................................................................138 5.2 Die VR-Organisation als Heterarchie ......................................................146 IV 5.3 6 ESPrit – eine strategische Initiative des BVR ...........................................172 6.1 Entstehung und Vorbereitungsphase von ESPrit ....................................173 6.2 Durchführung der ESPrit-Module ............................................................178 6.3 Etablierung von Lernpartnerschaften und Austauschmöglichkeiten .......190 6.4 Interaktion mit Verbänden und Verbundunternehmen ............................191 6.5 Fazit ........................................................................................................195 7 8 Empirischer Forschungsfokus: Strategisches Kompetenzzentrum BVR.163 Führungslegitimität stiftende Interventionspraktiken .............................199 7.1 10 charakteristische Interventionspraktiken des BVR .............................201 7.2 Das Zusammenspiel der legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken....243 Schlussbetrachtung....................................................................................261 Anhang ...........................................................................................................270 A. Übersicht der durchgeführten Interviews .........................................................270 B. Feldtagebücher und empirische Beobachtungskontexte .................................272 C. Dokumente der Forschungspartner .................................................................276 Literaturverzeichnis ..............................................................................................280 V Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung .................................................................................................... I Abstract .............................................................................................................. II Inhaltsübersicht ........................................................................................................III Inhaltsverzeichnis .................................................................................................... V Abbildungsverzeichnis ......................................................................................... VIII Tabellenverzeichnis ................................................................................................ IX Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................... X 1 Einleitung........................................................................................................ 1 1.1 Eine neue Perspektive von Führungslegitimität ......................................... 1 1.2 Vorgehen und Forschungsbeitrag der Arbeit ............................................. 4 1.3 Aufbau und Struktur der Arbeit .................................................................. 8 2 Ein Prozessverständnis von Führungslegitimität ......................................11 2.1 Abgrenzung der wissenschaftlichen Debatte um Führungslegitimität .......11 2.2 Führungslegitimität – Ein Definitionsversuch ............................................18 2.2.1 Das klassische Verständnis von Legitimität angelehnt an Max Weber ................................................................................................... 20 2.2.2 Ein prozessorientiertes Verständnis von Führungslegitimität ............... 23 3 Ein systemisches Verständnis von Führung und Führungsaufgaben .....32 3.1 Personen- und eigenschaftsorientierte Führungstheorien ........................33 3.1.1 Die Führungskraft im Zentrum der Führungsliteratur ............................ 34 3.1.2 Kritik an personen- und eigenschaftsorientierten Führungstheorien .... 35 3.1.3 Zusammenfassende Würdigung ........................................................... 43 3.2 Führungstheorien jenseits der klassischen Personen- und Eigenschaftsorientierung ..........................................................................44 3.2.1 Situational Leadership .......................................................................... 44 3.2.2 Transactional Leadership ..................................................................... 46 3.2.3 Transformational Leadership ................................................................ 49 3.2.4 Zusammenfassung und kritische Würdigung........................................ 55 3.3 3.3.1 Beschreibung einer systemischen Führungstheorie .................................58 Führung und Entscheidung .................................................................. 60 VI 3.3.2 Unsicherheitsabsorption durch Führung ............................................... 65 3.3.3 Management von Entscheidungsprämissen ......................................... 74 3.3.4 Beobachtung von Führungslegitimität auf der Basis eines systemischen Führungsverständnisses ................................................ 83 4 Forschungsverständnis und Methodologie ................................................87 4.1 Beschreibung eines systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschungsverständnisses .......................................................................88 4.1.1 Systemtheorie und Konstruktivismus.................................................... 88 4.1.2 Rekonstruktion von Praxis durch Beobachten 2. Ordnung ................... 89 4.1.3 Erwartungen an systemtheoretische Forschung .................................. 92 4.1.4 Gütekriterien systemtheoretischer Forschung ...................................... 94 4.2 Beschreibung der Forschungsmethode ....................................................99 4.2.1 Exploratives Forschungsvorgehen ..................................................... 100 4.2.2 Die Methode der longitudinalen Fallstudie.......................................... 103 4.2.3 Auswahl der Fallstudie und Beobachtungsfokus ................................ 105 4.3 Datenerhebung und Datenauswertung ...................................................108 4.3.1 Feldzugang und Rolle der Forschenden............................................. 108 4.3.2 Datenerhebung ................................................................................... 113 4.3.3 Auswertung der Daten und Rekonstruktion von Praxis ...................... 121 4.4 5 Der Forschungsprozess als iterativer Entwicklungsprozess ...................131 Empirischer Forschungskontext: Heterarchie und Organisation der Deutschen Genossenschaftsbanken ........................................................137 5.1 Heterarchien als Alternative zum hierarchischen Organisationsverständnis .......................................................................138 5.2 Die VR-Organisation als Heterarchie ......................................................146 5.2.1 Ursprünge der deutschen Genossenschaftsbanken ........................... 147 5.2.2 Heutige Struktur der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken 149 5.2.3 Die Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken als Heterarchie ....................................................... 159 5.3 6 Empirischer Forschungsfokus: Strategisches Kompetenzzentrum BVR.163 ESPrit – eine strategische Initiative des BVR ...........................................172 6.1 Entstehung und Vorbereitungsphase von ESPrit ....................................173 6.2 Durchführung der ESPrit-Module ............................................................178 6.3 Etablierung von Lernpartnerschaften und Austauschmöglichkeiten .......190 6.4 Interaktion mit Verbänden und Verbundunternehmen ............................191 VII 6.5 7 Fazit ........................................................................................................195 Führungslegitimität stiftende Interventionspraktiken .............................199 7.1 10 charakteristische Interventionspraktiken des BVR .............................201 7.1.1 Betonung der lokalen Autonomie aller Volksbanken und Raiffeisenbanken ................................................................................ 202 7.1.2 Aktive Involvierung von lokalen Banken, Verbänden und Verbundunternehmen ......................................................................... 204 7.1.3 Gezielte Nutzung von Ressourcen-Limitationen auf der Seite der VR-Banken ......................................................................................... 210 7.1.4 Steigerung und Bearbeitung von Unsicherheiten ............................... 214 7.1.5 Bereitstellung eines breiten Portfolios modular aufgebauter strategischer Konzepte und Methoden ............................................... 219 7.1.6 Unterstützung strategischer Konzepte durch praktische Werkzeuge . 224 7.1.7 Erleichterung der jährlichen Auditing Prozesse .................................. 227 7.1.8 Förderung von Wissensaustausch und kollektiver Meinungsbildung zwischen den VR-Banken .................................................................. 230 7.1.9 Nutzung sozialer Mobilisierung der VR-Banken untereinander .......... 236 7.1.10 Kommunikation jenseits der formalen Bank-Hierarchien .................... 240 7.2 8 Das Zusammenspiel der legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken....243 7.2.1 Förderung von Kooperation und Einführung von Unterschieden ........ 246 7.2.2 Direkte und indirekte Kommunikation ................................................. 250 7.2.3 Inhaltsbezogene und beziehungsorientierte Kommunikation ............. 255 7.2.4 Zusammenfassung ............................................................................. 258 Schlussbetrachtung....................................................................................261 Anhang ...........................................................................................................270 A. Übersicht der durchgeführten Interviews .........................................................270 B. Feldtagebücher und empirische Beobachtungskontexte .................................272 C. Dokumente der Forschungspartner .................................................................276 Literaturverzeichnis ..............................................................................................280 VIII Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Prozessualer Zusammenhang zwischen Führungslegitimität und Führung .....................................................................................29 Abbildung 2: Der VR Finanzverbund ...................................................................153 Abbildung 3: ESPrit Konzept des BVR ................................................................175 Abbildung 4: Ablauf des ESPrit Projektes...........................................................176 Abbildung 5: Auswirkungen der verschiedenen Interventionspraktiken .........247 Abbildung 6: Art der Kommunikation ..................................................................251 Abbildung 7: Fokus der Kommunikation.............................................................256 IX Tabellenverzeichnis Tabelle 1: 10 legitimitätsstiftende Interventionspraktiken des BVR .................245 Tabelle 2: Durchgeführte Interviews in der VR-Organisation ............................271 Tabelle 3: Beobachtungen im Zusammenhang mit ESPrit ................................274 Tabelle 4: Feldtagebücher: Beobachtungen in Volksbanken ............................275 Tabelle 5: Dokumente der Forschungspartner ...................................................279 X Abkürzungsverzeichnis Abb. Abbildung ADG Akademie Deutscher Genossenschaften Anm. Anmerkung BSH Bausparkasse Schwäbisch Hall BVR Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken ca. circa CEO Chief Executive Officer DGRV Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband DRV Deutscher Raiffeisenverband DZ Bank Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank engl. englisch ESPrit Erfolgreiche Strategien im Privatkundengeschäft GAD Gesellschaft für automatische Datenverarbeitung GBF Genossenschaftliches Bank-Führungsseminar ibid. ibidem insb. insbesondere MNC Multinational Corporation osb Organisation für Systemische Beratung PROFI profitables Firmenkundengeschäft resp. respektive u.a. unter anderem usw. und so weiter v.a. vor allem XI vgl. vergleiche VR Volksbanken und Raiffeisenbanken VR-Gruppe Gruppe der Volksbanken und Raiffeisenbanken VR-Organisation Gruppe der Volksbanken und Raiffeisenbanken WGZ Bank Westdeutsche Genossenschafts-Zentralbank z.B. zum Beispiel ZDK Zentralverband der deutschen Konsumgenossenschaft ZGV Zentralverband gewerblicher Verbundgruppen 1 1 Einleitung To observe attentively is to remember distinctly; […] And the difference in the extent of the information obtained, lies not so much in the validity of the inference as in the quality of the observation. The necessary knowledge is that of what to observe. - Edgar Allan Poe, The Murders in the Rue Morgue 1.1 Eine neue Perspektive von Führungslegitimität Führung ist eines der am häufigsten diskutierten Themen der Betriebswirtschaft. Nicht nur in der Wirtschaftspresse und der betriebliche Praxis, sondern auch in der Betriebswirtschaftstheorie lassen sich unzählige Publikationen zum Thema Führung finden. Dies stellte Burns bereits im Jahr 1987 fest, indem er über 130 verschiedene Definitionen von Führung identifizierte (Bruns, 2010). Und auch seit dieser Beobachtung von Burns hat das Feld der Führungsforschung einen ständigen Storm neuer Publikationen hervorgebracht. Vor diesem Hintergrund ist es für jede Forschungsarbeit, die sich im weiteren Sinne mit Führung beschäftigt, eine besondere Herausforderung, ihren Mehrwert im Angesicht der umfangreichen bestehenden Führungsliteratur zu rechtfertigen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich dabei auf das Teilgebiet der Führungslegitimität. Auch der Legitimitätsbegriff ist in der Literatur über Führung häufig zu finden, er wird jedoch in den meisten Fällen nicht im Detail untersucht und diskutiert. Eine der konzeptionell umfangreichsten Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Legitimität bietet nach wie vor Max Weber (1922). Sein Verständnis von Legitimität liegt bis heute vielen Diskussionen über Legitimität zumindest implizit zugrunde. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass “many researchers employ the term legitimacy, but few define it.“ (Suchmann, 1995; S. 572). Der Ausgangspunkt dieser Arbeit ist diese offensichtliche Diskrepanz zwischen der allgemeinen Führungsforschung und der Forschung zu Führungslegitimität. Erstere steht im Fokus vieler Publikationen. Der Begriff der Führung wird konzeptionell immer wieder neu aufgerollt und weiterentwickelt. Ein Ausdruck hierfür ist die unübersichtliche Anzahl an Definitionen, was unter Führung zu verstehen ist. Der Begriff der Führungslegitimität wird dabei in vielen Publikationen zu Führung 2 mitgeführt, aber meist findet keine tiefe konzeptionelle Auseinandersetzung damit statt, was genau unter Legitimität zu verstehen ist. Demnach sind Verständnisse von Führungslegitimität in der Regel implizit und in vielen Fällen an die frühen Konzeptionen Max Webers angelehnt. Unter Führungslegitimität wird oftmals eine Entität verstanden, die im Besitz von Führungskräften sein sollte, damit diese Führung ausüben können – sprich ihren Willen gegenüber Untergebenen durchsetzen können. 1 Dabei wird meist nicht reflektiert, ob dieses Verständnis von Führungslegitimität vereinbar ist mit den gleichzeitig diskutierten Führungstheorien. Dieser Frage nimmt sich die vorliegende Arbeit an. Es wird der Versuch unternommen, Führungslegitimität aus einem neuen Blickwinkel zu beobachten. Auf dieser Basis soll ein neues Verständnis von Führungslegitimität erarbeitet werden. Ferner soll mit diesem neuen Verständnis empirisch untersucht werden, wie Führungslegitimität erlangt werden kann. Somit wird im Sinne des zu Anfang dieses Kapitels aufgeführten Zitats nicht behauptet, dass in dieser Arbeit Inferenzen erarbeitet werden, die der bisherigen Forschung im Bereich Führung entgangen sind. Eine solche Behauptung wäre angesichts der Vielzahl bestehender Literatur schwer vertretbar. Der Ansatz ist vielmehr, dass eine neue Beobachtungsweise des Phänomens der Führungslegitimität gewählt wird, die es zulässt, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Diese neue Perspektive auf Führungslegitimität lässt sich anhand einer Schilderung aus der empirischen Fallstudie darstellen, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Über den Verlauf der Forschungsarbeit konnte die strategische Initiative ESPrit des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) eng begleitet werden. Dabei handelte es sich um eine Initiative, deren Ziel es war, „zu einer optimierten Marktpositionierung und Vertriebsleistung“ 2 der Volksbanken beizutragen. Der BVR nahm somit innerhalb der genossenschaftlichen Finanzgruppe eindeutig eine Führungsaufgabe wahr. Er startete eine Initiative, um das Privatkundengeschäft der Volksbanken zu stärken und die Gruppe als Ganzes voranzubringen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass jede einzelne Volksbank organisatorisch und rechtlich völlig unabhängig ist. Der BVR verfügt über keinerlei Weisungsbefugnisse oder Mitspracherechte bezüglich der strategischen oder operativen Geschäftspolitik der Volksbanken und Raiffeisenbanken. Außerdem kann sich der BVR auch nicht auf eine in der Tradition der genossenschaftlichen Finanzgruppe verankerte 1 2 Zur Herleitung des Weberschen Legitimitätsverständnisses siehe Kapitel 2.2.1. Dok-007 3 Führungsrolle berufen, da er seine strategische Führungsrolle erst seit dem Jahr 2004 ausübt. 3 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was erlaubt es dem BVR, eine derartige Führungsrolle innerhalb der VR-Organisation zu spielen? Woraus gewinnt der BVR als Organisationseinheit seine Führungslegitimität, wenn diese strukturell nicht langjährig verankert und rechtlich gegenüber Banken nicht durchsetzbar ist? Hieraus lässt sich die These aufstellen, dass Führungslegitimität kein feststehender Besitz von Führung sein muss, der zum Beispiel im Sinne von Weber auf einer legalen oder traditionalen Herrschaft aufbaut. Führungslegitimität, so kann vermutet werden, sollte vielmehr als etwas betrachtet werden, das in organisationaler Kommunikation immer wieder aufs Neue erarbeitet werden muss und damit selbst ein Prozess ist und keine Entität, kein fixer Zustand. Deshalb spricht der Titel dieser Arbeit von der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität. Hierbei stützt sich die vorliegende Arbeit insbesondere auf Niklas Luhmanns organisationstheoretische Überlegungen im Rahmen der neueren Systemtheorie. Aus der Perspektive der Systemtheorie sind statische Abgrenzungen zwischen Führung und Geführten aufgrund ihrer formalen Position in Organisationen fragwürdig: „Die alte Asymmetrie der Logik von Herr und Knecht gilt nicht mehr. Nicht nur der Knecht muss beobachten, wie der Herr ihn beobachtet. Auch der Herr muss beobachten, wie er vom Knecht beobachtet wird. Die Beziehung ist voll auf ein Beobachten zweiter Ordnung umgestellt. Und sie ist auf dieser Ebene symmetrisch angelegt.“ (Luhmann, 2006; S. 323) Führung zeichnet sich somit durch einen prozessualen, dialogischen Charakter aus und folglich gilt es zu überlegen, wie Führungslegitimität selbst in einem solchen Prozess immer wieder hergestellt werden und erst durch diese kontinuierliche Wiederherstellung aufrecht erhalten werden kann. Neben der Systemtheorie lehnt sich das organisationale Verständnis dieser Arbeit dabei auch an weiteren prozesstheoretischen Überlegungen an (vgl. insbesondere Hernes, 2008; Tsoukas und Chia, 2002; Chia und Holt, 2009; Weick, 1995). Die grundsätzliche Ausgangslage aller Überlegungen ist somit, dass Organisationen selbst in einem ständigen Prozess des Werdens begriffen sind. Hieraus lässt sich, wie beschrieben, eine neue Perspektive für die Betrachtung des Phänomens der Führungslegitimität ableiten, die dieses selbst als einen Prozess versteht. Statt des individualistischen Besitzes einzelner Führungspersönlichkeiten wird Führungslegitimität damit non-individualistisch und dynamisch konzipiert. Das Kernanliegen dieser Arbeit ist es, dieses Konzept von Führungslegitimität im Detail 3 Für eine detaillierte Darstellung vgl. Kapitel. 5.3. 4 auszuarbeiten und auf seiner Basis eine empirische Untersuchung anzustellen, wie Führungslegitimität in der unternehmerischen Praxis kontinuierlich wiederhergestellt werden kann. 1.2 Vorgehen und Forschungsbeitrag der Arbeit Nachdem der Ausgangspunkt für den angestrebten Erkenntnisgewinn dieser Arbeit in der Wahl einer bislang von der Forschung nicht ausgeschöpften Prozessperspektive von Führungslegitimität beschrieben wurde, sollen nun das konkrete Forschungsvorgehen und der Forschungsbeitrag der vorliegenden Arbeit näher erläutert werden. Die Forschungsfrage dieser Arbeit lässt sich dabei wie folgt formulieren: Durch welche Interventionspraktiken kann Führungslegitimität in einer Wirtschaftsorganisation unter Abwesenheit hierarchischer Strukturen in einem ständigen Prozess wiederhergestellt werden? Aus dieser Forschungsfrage lassen sich die zentralen Überlegungen für den weiteren Verlauf der Arbeit entnehmen. Zum einen ist in ihr unverkennbar das bereits vorgängig skizzierte Verständnis von Führungslegitimität als einem kontinuierlich ablaufenden Prozess verankert. Ein zweiter entscheidender Aspekt der Forschungsfrage ist die Fokussierung der Forschung auf Interventionspraktiken. Eine Intervention ist hierbei als ein Verhalten von Führung zu verstehen, dem eine klare Intention zugrunde liegt, deren Wirkung jedoch von der Reaktion des intervenierten Systems bestimmt wird. Während eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Interventionsbegriff an späterer Stelle erfolgt 4 , gilt es hier bereits hervorzuheben, was durch den Fokus auf Interventionspraktiken ausgeklammert wird. Einzelpersonen und deren individuelle Eigenschaften sollen nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Vielmehr geht es darum, auf einer sehr viel abstrakteren Ebene zu betrachten, wie Entscheidungskommunikationen von Führung in Form von Interventionspraktiken zur kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität führen können. Ferner nimmt die Forschungsfrage zwei Einschränkungen des Forschungskontexts vor. Es wird einerseits von Führungslegitimität in Wirtschaftsorganisationen gesprochen. Hiermit soll eine deutliche Abgrenzung von der großen Zahl an Untersuchungen zu Legitimität in der politischen und staatlichen Sphäre gezogen werden. Wie im nachfolgenden Kapitel beschrieben wird, sind etliche Legitimitätsüberlegungen aus diesen Kontexten nicht zwangsläufig auf Wirtschaftsorganisationen übertragbar. 4 Siehe Kapitel 3.3.4 5 Weiter wird die Betrachtung von Führungslegitimität auf einen Kontext ohne hierarchische Strukturen eingeschränkt. Hiermit wird bereits auf das empirische Forschungsvorgehen hingewiesen. Um den potenziellen prozessualen Charakter von Führungslegitimität möglichst deutlich beobachten zu können, ist ein empirischer Extrem-Kontext im Sinne von Pettigrew (1990) zu bevorzugen. Es wird hierbei davon ausgegangen, dass Führungslegitimität zwar auch in hierarchischen Organisationen in einem ständigen Kommunikationsprozess kontinuierlich neu erschaffen werden muss. Jedoch ist dieser Prozess hier unter Umständen in einer empirischen Untersuchung weniger klar nachvollziehbar. Wie Neuberger (2007) betont: „Hierarchie ist eine Diskussions-Beendigungs-Institution, die eben darum auch die Tendenz hat, sich nicht in Frage stellen zu lassen, nicht mit sich selbst zu beschäftigen.“ (S. 186) Nur weil Diskussionen offiziell beendet werden, bedeutet dies selbstverständlich nicht, dass sie damit erledigt sind und dass Hierarchien nicht dennoch ständig hinterfragt werden. Jedoch findet diese Kommunikation tendenziell eher im Verborgenen statt und ist deshalb für einen empirischen Beobachter äußerst schwer nachvollziehbar. Von besonderem Vorzug für die vorliegende Forschungsfrage ist deshalb ein Forschungskontext, in dem keine derartige Diskussions-Beendigungs-Institution vorhanden ist. Aus diesem Grund wurde die empirische Forschung dieser Arbeit in einem heterarchischen Organisationskontext durchgeführt. 5 Heterarchien zeichnen sich dadurch aus, dass Führung nicht strukturell bedingt an einem bestimmten Ort einer Organisation fixiert ist: „At one time it may be one of your neighbors who is making the decision, at another you, as the neighbor of others” (von Foerster, 1984; S. 8). Aus dieser Beschreibung wird bereits ersichtlich, dass Führung in Heterarchien, wenn sie ihren Führungsanspruch über die Zeit behaupten will, in erhöhtem Maße darauf angewiesen ist, ihre Führungslegitimität ständig erneut zu erschaffen und damit aufrecht zu erhalten. Führung kann sich im heterarchischen Kontext nicht auf die organisationale Struktur berufen, sondern muss bei jeder einzelnen Entscheidung erneut rechtfertigen, weshalb sie dazu legitimiert ist, diese Entscheidung für die Organisation als Ganzes zu treffen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll im heterarchischen Organisationskontext der Deutschen Genossenschaftsbanken empirisch untersucht werden, durch welche Interventionspraktiken es einer der zentralen strategischen Führungseinheiten dieser Organisation erfolgreich gelingt, ihre Führungslegitimität in einem kontinuierlichen Prozess ständig aufs Neue wiederherzustellen. Die vorliegende Arbeit positioniert sich dabei im Feld der Forschung zum Themenbereich der Leadership Legitimacy. Während eine ausführliche Diskussion zu Forschungsrichtungen im Bereich der Legitimitätsforschung im nachfolgenden 5 Vgl. insbesondere Gunnar Hedlund (1986; 1994); für eine detaillierte Erörterung des heterarchischen Organisationstyps siehe Kapitel 5.1 6 Kapitel erfolgt, sei an dieser Stelle bereits kurz darauf hingewiesen, dass es ein äußerst weites Feld wissenschaftlicher Betrachtungen zum Themengebiet der Legitimität gibt. Hierbei stehen insbesondere Fragen zu Legitimität von politischer Meinungsbildung oder staatlicher Exekutivgewalt im Zentrum vieler Forschungsarbeiten. Im betriebswirtschaftlichen Bereich spielt insbesondere eine Vielzahl von Studien zur Frage organisationaler Legitimität im Verhältnis zu ihren externen Anspruchsgruppen eine zentrale Rolle. Ein etwas jüngerer Forschungszweig im Bereich der Betriebswirtschaft konzentriert sich jedoch explizit auf die Frage der Führungslegitimität (Leaderhip Legitimacy) innerhalb von Wirtschaftsorganisationen. Zentrale Publikationen stammen insbesondere von Kostava und Zaheer (1999), Chakravarthy und Gargiulo (1998), sowie Denis, Lamothe und Langley (2001). Ihre Überlegungen konzentrieren sich dabei auf ein Verständnis von Führungslegitimität, das gerade nicht mehr durch die hierarchische Position von Führung gewährleistet wird. Thematisiert werden zunehmend divergierende Ansprüche von Geführten, zum Beispiel in pluralistischen Organisationen, vor deren Hintergrund die Etablierung von Führungslegitimität immer anspruchsvoller wird. Während jedoch in diesen Studien implizit ein Verständnis von Führungslegitimität angelegt ist, das Führung durch ihr eigenes Tun ständig erarbeiten muss, ist ein solches Verständnis bisher noch nicht konzeptionell ausgearbeitet worden. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie eine radikal prozesstheoretische Perspektive von Führungslegitimität entwickelt und auf dieser Basis empirische Erkenntnisse zum Prozess der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität zu gewinnen sucht. Beitrag der Forschungsarbeit zur Leadership Legitimacy Debatte Es soll nun im Einzelnen dargestellt werden, welchen Forschungsbedarf die vorliegende Arbeit im Umfeld der Leadership Legitimacy Forschung sieht und welchen Beitrag sie vor diesem Hintergrund erbringen möchte. Als erstes wurde im Rahmen der bisherigen Debatte zu Leadership Legitimacy wie bereits beschrieben noch nicht im Detail darauf eingegangen, was genau unter Führungslegitimität zu verstehen ist. 6 Meist wird stillschweigend davon ausgegangen, dass der Leser ein klares Bild von dem hat, was Legitimität genannt wird. Hier möchte die vorliegende Arbeit einen konzeptionellen Beitrag leisten, indem sie unterschiedliche Legitimitätsverständnisse diskutiert und aufzeigt, wie ein prozesstheoretisches Verständnis von Führungslegitimität definiert werden kann. In einem zweiten Schritt wird ersichtlich, dass für die Nutzung eines solchen prozessualen Verständnisses von Führungslegitimität näher darauf eingegangen 6 Vgl. Kapitle 2 7 werden muss, was unter dem Begriff der Führung zu verstehen ist. Hier bietet die bestehende betriebswirtschaftliche Literatur eine Fülle von Ansatzpunkten. Darauf aufbauend soll unter Hinzunahme der Systemtheorie ein Führungsverständnis entwickelt werden, das mit dem zuvor beschriebenen Prozessverständnis von Führungslegitimität vereinbar ist. Dabei wird insbesondere auf Niklas Luhmanns neuer Systemtheorie zurückgegriffen (siehe v.a. Luhmann, 2006). Der Vorteil der Systemtheorie in diesem Zusammenhang ist zum einen, dass sie Organisationen als ständig ablaufende Kommunikationsprozesse betrachtet und damit zu einem Prozessverständnis von Führungslegitimität passt. Darüber hinaus abstrahiert die Systemtheorie sehr stark von Individuen. Da die meisten Führungstheorien sich auf Führungskräfte als Individuen konzentrieren, ist es nur schwer denkbar, auf ihrer Basis ein Prozessverständnis von Führungslegitimität konzeptionell durchhalten zu können. Hier bietet die Systemtheorie deutliche Vorzüge. Und abschließend zeichnet sich die Systemtheorie im Kreis unterschiedlicher Prozesstheorien dadurch aus, dass ihr eine umfassende Organisationstheorie zugrunde liegt. Eine solche ist bei anderen prozesstheoretischen Publikationen (z.B. Chia und Holt, 2009) nicht immer erkennbar. Der Umstand, dass alle Überlegungen im Rahmen dieser Arbeit, sich auf eine grundlegende Organisationstheorie stützen können, ermöglicht es, Führung als eine organisational ausdifferenzierte Spezialfunktion in den Blickpunkt zu nehmen, ohne sich zu ihrem Verständnis auf das Hilfskonstrukt der Zuschreibung von Führung auf einzelne Führungspersönlichkeiten bedienen zu müssen. Auch dies erleichtert es Führungslegitimität durchgängig als Prozess zu betrachten. Eine dritte Forschungslücke, die in der vorliegenden Arbeit angesprochen werden soll, ist der allgemeine Mangel sowie eine starke Einseitigkeit vorliegender empirischer Studien zum Thema Führungslegitimität. Einen solchen Mangel an empirischen Untersuchungen attestiert zum Beispiel Suchmann (1995). 7 Die vorliegende Arbeit möchte jedoch darüber hinausgehen, lediglich eine zusätzliche empirische Studie zum Feld der Führungslegitimität hinzuzufügen. Vielmehr soll der Einwand von Knopp und Müller (1980) berücksichtig werden, die das Problem ansprechen, dass viele empirische Studien „Legitimität ausschließlich auf den vorfindbaren Legitimitätsglauben [reduzieren]“ (S. 5). Dies rührt daher, dass in der Regel im Rahmen von empirischen Studien zu Führungslegitimität Mitarbeiter befragt werden, ob sie ihre Führungskräfte für legitim halten. Die vorliegende Arbeit wird hingegen eine Möglichkeit aufzeigen, wie auf der Basis der herausgearbeiteten Konzepte von Führung und Führungslegitimität aus empirischen Beobachtungen erschlossen werden kann, ob Führung in einem beobachteten Organisationskontext als legitim bezeichnet werden kann. Damit wird 7 Vgl. Kapitel 2.1 8 eine Möglichkeit eröffnet, sich bei der Untersuchung von Führungslegitimität von den Zuschreibungen geführter Personen lösen zu können. Ein vierter Forschungsbeitrag dieser Arbeit ist die Identifikation unterschiedlicher Interventionspraktiken, die zur kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität beitragen können. Diese Praktiken werden hierbei aus dem beschriebenen empirischen Kotext einer heterarchischen Organisation abgeleitet. Insgesamt werden 10 verschiedene derartige Interventionspraktiken dargestellt und in ihrem Einfluss auf die beobachteten Kommunikationsdynamiken beschrieben. Die Herausarbeitung dieser 10 Interventionspraktiken zeigt somit den konkreten heuristischen Mehrwert, den ein prozessuales Verständnis von Führungslegitimität bei der Beobachtung organisationaler Kommunikationsprozesse mit sich bringen kann. Der fünfte Beitrag zum Feld der Führungslegitimitätsforschung liegt in der Einführung von drei Unterscheidungen, anhand derer nachvollzogen werden kann, auf welche unterschiedlichen Arten Führungslegitimität durch die beschriebenen Interventionspraktiken wiederhergestellt werden kann. Hierbei wird die Ansicht vertreten, dass gerade eine komplementäre Diversität unterschiedlicher Arten von Interventionspraktiken es ermöglicht, Führungslegitimität auch in einem anspruchsvollen organisationalen Kontext immer wieder aufs Neue zu erschaffen. Insbesondere die letzten beiden Forschungsbeiträge werden dabei auch als äußerst relevant für die unternehmerische Praxis erachtet. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit argumentiert wird, ermöglicht der untersuchte heterarchische Organisationskontext es zwar, den Prozess der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität deutlicher zu beobachten. Es wird jedoch ebenso argumentiert, dass die Dynamiken von Führung und Führungslegitimität sich auch in anderen komplexen Organisationskontexten nicht wesentlich von denen in Heterarchien unterscheiden. Vor diesem Hintergrund können die Erkenntnisse dieser Arbeit als sinnvolle Reflexionsanstöße für eine breite unternehmerische Praxis dienen. 1.3 Aufbau und Struktur der Arbeit Die vorliegende Arbeit entwickelt die soeben grob skizzierten Überlegungen zu Führung und Führungslegitimität im Verlauf von acht Kapiteln. Zur Orientierung für den Leser soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über den Aufbau und die Struktur der Arbeit skizziert werden. Im Anschluss an die Einleitung folgt in Kapitel 2 eine Auseinandersetzung mit der bestehenden Literatur zu Legitimität und Führungslegitimität. Es wird gezeigt, wie sich der Legitimitätsbegriff über die Zeit entwickelt und gewandelt hat. Dabei wird die 9 vorliegende Arbeit im Feld der neueren Forschung zu Leadership Legitimacy positioniert und auf dieser aufbauend eine prozesstheoretische Definition von Führungslegitimität erarbeitet. Aus der Definition von Führungslegitimität im zweiten Kapitel wird offensichtlich, dass eine Definition von Führungslegitimität auf sich alleine gestellt, nach wie vor etliches im Unklaren belässt. Es ist erforderlich, das ihr zugrunde liegende Verständnis von Führung zu erklären, um die Definition von Führungslegitimität zu präzisieren. Deshalb werden in Kapitel 3 unterschiedliche Führungsverständnisse diskutiert. Hierbei werden in einem ersten Schritt klassische Führungsbetrachtungen und deren Limitationen beschrieben, um darauf aufbauend ein systemtheoretisches Verständnis von organisationaler Führung darzustellen, das mit der zuvor aufgestellten Prozessdefinition von Führungslegitimität vereinbar ist und diese weiter konkretisieren kann. Kapitel 4 stellt das Forschungsverständnis und die Methodik der vorliegenden Arbeit klar. Es werden die Kernpunkte eines systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschungsverständnisses beschrieben, um davon abzuleiten, welche Erwartungen an eine darauf aufbauende Forschung gestellt werden können und an welchen Gütekriterien diese sich messen lassen muss. Ferner wird auf die gewählte Forschungsmethode einer longitudinalen Einzelfallstudie eingegangen, wobei insbesondere die Datenerhebung und die Datenauswertung thematisiert werden. Abschließend wird die iterative Natur des dieser Arbeit zugrunde liegenden Forschungsprozess dargestellt, so dass es dem Leser teilweise ermöglicht wird, die Entwicklung der Gedanken des Verfassers im Verlauf der Forschungstätigkeit nachzuvollziehen. Kapitel 5 beschreibt den Forschungskontext der Arbeit. Hier wird zuerst allgemein das Konzept heterarchischer Organisationen vorgestellt. Anschließend wird beschrieben, wie die Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken aufgebaut ist und warum es sich bei ihr um eine Organisation handelt, die dem Idealtypus der heterarchischen Organisation besonders nahe kommt. Dabei wird vor allem der Bundesverband der VR-Organisation (BVR) näher vorgestellt, da er im Zentrum der empirischen Betrachtungen steht. In Kapitel 6 wird mittels einer dichten Beschreibung eine Rekonstruktion des ESPrit Projektes des BVR dargestellt, das den Kern der empirischen Forschungsarbeit ausmachte. Die Ausführungen dieses Kapitels sollen dem Leser ein Verständnis für die Arbeitsweise des BVR ermöglichen und dienen gleichzeitig als Ausgangspunkt für die Ableitung der Erkenntnisse im darauffolgenden Kapitel. Kapitel 7 konzentriert sich auf die Interpretation der gesammelten empirischen Daten. Hierbei werden in einem ersten Schritt 10 charakteristische legitimitätsstiftende Interventionspraktiken des BVR abgeleitet. Anschließend wird auf deren komplementäres Zusammenwirken bei der kontinuierlichen 10 Wiederherstellung von Führungslegitimität eingegangen. Hierzu werden drei Unterscheidungen eingeführt: Förderung von Kooperation / Einführung von Unterschieden; direkte Kommunikation / indirekte Kommunikation; inhaltsbezogene Kommunikation / beziehungsorientierte Kommunikation. Auf der Basis dieser Unterscheidungen können die beschriebenen Interventionspraktiken näher betrachtet werden und es kann dargestellt werden, inwieweit sie sich gegenseitig ergänzen. Abschließend werden in Kapitel 8 die gewonnenen Erkenntnisse dieser Arbeit zusammengefasst. Nach einer allgemeinen Zusammenfassung geht es in erster Linie darum, die Forschungsbeiträge dieser Arbeit im Einzelnen darzustellen. Zudem sollen Anregungen für weitere wissenschaftliche Untersuchungen formuliert werden. 11 2 Ein Prozessverständnis von Führungslegitimität Es gibt kein "Sein" hinter dem Tun, Wirken, Werden; "der Täter" ist zum Tun bloß hinzugedichtet,— das Tun ist alles. - Friedrich Nietzsche 8 Im Zentrum dieser Arbeit und der zuvor beschriebenen Forschungsfrage steht der Begriff der Führungslegitimität. Wie jedoch dieses Kapitel zeigen wird, lässt sich Führungslegitimität ebenso wie der allgemeinere Begriff der Legitimität auf recht unterschiedliche Weisen konzipieren. Trotz dieser Ambiguität verzichtet eine Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen auf eine Definition ihres jeweiligen Verständnisses von Legitimität (Suchmann, 1995). In diesem Kapitel soll deshalb eine klare Definition von Führungslegitimität herausgearbeitet werden, die es dem Leser ermöglicht, nachzuvollziehen wie dieser Begriff im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendet wird. Dabei wird wiederholt auch auf unterschiedliche wissenschaftliche Überlegungen zu Legitimität im Allgemeinen zurückgegriffen. Auch wenn Führungslegitimität im hier verstandenen Sinne ein Spezialfall von Legitimität ist, können den allgemeineren Debatten zu Legitimität ohne Zweifel wertvolle Erkenntnisse auch in Bezug auf Führungslegitimität abgewonnen werden. Darüber hinaus sind die wissenschaftlichen Debatten zu Führungslegitimität im Speziellen noch vergleichsweise jung und weisen bisher nicht den Umfang auf, der für eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung diverser Legitimitätsverständnisse nötig ist. 2.1 Abgrenzung der wissenschaftlichen Debatte um Führungslegitimität Der Begriff der Legitimität kann auf eine lange Geschichte philosophischer und wissenschaftlicher Betrachtungen zurückblicken. Bereits 1690 erörterte John Locke die Frage unter welchen Bedingungen politische Herrschaft legitim sei (Locke, 2007). Dabei baute er auf Hobbes Überlegungen auf, dass der Mensch in einem 8 Nietzsche (2010), S. 37. 12 vorstaatlichen Naturzustand keiner politischen Herrschaft unterworfen sei. Staaten entstehen auf dieser Basis unter gleichberechtigten Menschen, die von Vernunft geleitet den ungeordneten, anarchischen Naturzustand durch einen Herrschaftsvertrag mit einem Monarchen aufgeben (Hobbes, 2012). Diese Argumentation nutzte Locke, um zu begründen, dass politische Herrschaft nicht gottgegeben ist, sondern ihre Legitimität aus der Zustimmung der Herrschaftssubjekte erlangt. Somit begründete Hobbes eine bis heute anhaltende Denktradition politischer Philosophen, die in vielen Facetten die Frage stellt, auf welche Weise hoheitliche staatliche Autorität sich legitimieren könne. In den Sozialwissenschaften taucht der Legitimitätsbegriff spätestens seit Max Weber (1922) regelmäßig auf. Auch bei seinen Überlegungen steht die politische Legitimität im Mittelpunkt; er führt jedoch eine stärkere Differenzierung unterschiedlicher Legitimitätsverständnisse ein, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit näher eingegangen wird. In Webers Tradition werden Überlegungen zu Legitimität und Herrschaft fester Bestandteil etlicher soziologischer Schriften, insbesondere wenn diese sich mit politischen Gesellschaftsstrukturen auseinandersetzen. Innerhalb der frühen Wirtschaftswissenschaften spielt der Begriff der Legitimität kaum eine Rolle. Ihre Abgrenzung aus der Volkswirtschaft (z.B. Gutenberg, 1929) blendet Fragen sozialer Beziehungen weitgehend aus und hat deshalb keine unmittelbare Verwendung für die bereits bestehenden Legitimitätsüberlegungen anderer wissenschaftlicher Disziplinen. In den letzten Jahrzenten erfreut sich der Legitimitätsbegriff jedoch auch in den Wirtschafswissenschaften zunehmender Aufmerksamkeit. Die Anwendungskontexte und die Begriffsverständnisse unterscheiden sich dabei jedoch zum Teil gravierend voneinander. Aus diesem Grund ist die wirtschaftswissenschaftliche Literatur zum Thema Legitimität relativ fragmentiert. Der Großteil der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur, der sich mit Fragen der Legitimität beschäftigt, konzentriert sich auf die Fragestellung, wie Organisationen sicherstellen können, dass sie in ihrer Umwelt als legitim wahrgenommen werden. So definiert zum Beispiel Maurer (1971) Legitimität als die Rechtfertigung einer Organisation für ihre Existenz vor übergeordneten Systemen. Organisationen werden in diesem Literaturfeld in Abhängigkeit unterschiedlicher Umweltsysteme wie Gesellschaft, Märkte, usw. betrachtet. Die zentrale Überlegung dabei ist, dass Organisationen für ihr Überleben auf einen Ressourcenaustausch mit diesen Umweltsystemen angewiesen sind. Dieser Ressourcenaustausch kann jedoch nur dann stattfinden, wenn die Organisation als legitimer Interaktionspartner wahrgenommen wird. Aufgegriffen und vertieft wird diese Thematik vor allem auch in der umfangreichen Literatur aus dem Feld der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie, die auf der Überlegung gründet, „dass das Überleben einer Organisation in erster Linie von 13 deren Legitimität abhängt“ (Walgenbach und Meyer, 2008; S. 12). Der Neoinstitutionalismus geht dabei vor allem davon aus, dass Organisationen durch den Import gesellschaftlich legitimierter Strukturen und Prozesse ihre eigene Legitimität steigern oder wahren können. Es kommt somit zu einer oftmals generischen Anpassung an institutionalisierte Erwartungen der Umwelt (z.B. Meyer und Rowan, 1977; Zucker, 1977; Singh, Tucker und House, 1986). Legitimität ist nach diesem Theorieverständnis in der Regel als Konformität mit externen Erwartungen auf organisationaler Ebene konzipiert. Dieser kurze Überblick über verschiedene Literaturfelder im Zusammenhang mit einem allgemein gefassten Legitimitätsbegriff zeigt, dass dieser in diverser Hinsicht verwendet werden kann. Außerdem wurden die einzelnen Forschungsfelder aufgeführt, da einige der Arbeiten auf diesem Gebiet einen begrenzten Transfer von Ideen in die Debatte der Führungslegitimität gestatten. Insbesondere können sie als Reflexionsfläche für die vielseitigen, möglichen Betrachtungsweisen und Verständnisse im Hinblick auf den Legitimitätsbegriff dienen. Der Forschungsfokus der vorliegenden Arbeit liegt jedoch nicht auf der ansonsten in den Wirtschaftswissenschaften zumeist vorherrschenden Betrachtung von Legitimitätsbeziehungen zwischen Organisationen und ihrer Umwelt. Vielmehr soll der Anschluss an die noch vergleichsweise junge wirtschaftswissenschaftliche Debatte zum Thema Führungslegitimität (engl. Ledership Legitimacy) gesucht werden. Diese legt ihren Schwerpunkt auf die Betrachtung von Führungsbeziehungen innerhalb von Organisationen und stellt die Frage, wann von Führungslegitimität gesprochen werden kann und welche unterschiedlichen Auswirkungen die Existenz oder die Absenz einer solchen Legitimität mit sich bringen kann. Einen frühen Diskussionsbeitrag in diesem Bereich lieferte Beetham (1991). Zwar konzentriert er sich über weite Teile seiner Ausführungen auf die politische Komponente von Legitimität insbesondere im Zusammenhang mit Staaten. Er verweist jedoch auch darauf, dass in der organisationalen Führungsbetrachtung die Geführten meist als rationale Akteure betrachtet werden, die den Führenden aus Eigeninteresse Folge leisten. Dabei werde jedoch vernachlässigt, dass Führung in der Regel nur dann akzeptiert werde, wenn sie als legitim empfunden werde. Damit grenzt sich sein Legitimitätsverständnis von früheren Überlegungen der politischen und philosophischen Sphäre ab, die diese in Anlehnung an Hobbes und Locke mit der Akzeptanz von Autorität aus aufgeklärtem Eigeninteresse der Herrschaftssubjekte gleichsetzte. Aufbauend darauf zeigten Keyes et al. (2000) und Haslam (2000), dass Führungslegitimität von eine großen Bedeutung für Wirtschaftsorganisationen ist, da sie die Bereitwilligkeit von Mitarbeitern zur Zusammenarbeit mit Führung steigert. Damit wird Legitimität nicht mehr ausschließlich in der Durchsetzung von Autorität 14 verstanden. Es wird anerkannt, dass Führung, die nicht als legitim wahrgenommen wird, zwar ebenfalls in der Lage sein kann, gewisse Vorstellungen durchzusetzen. Dies erfolgt dann jedoch nur, so lange gewisse Machtmittel eingesetzt werden können. Führungslegitimität wird damit im weitesten Sinne als eine effizienzsteigernde Ressource organisationaler Führung konzipiert. Sie ermöglicht es, dass Führungsvorstellungen nicht gegen den Widerstand von Mitarbeiter durchgesetzt werden müssen, sondern tendenziell als legitim akzeptiert werden und damit eine höhere Aussicht auf Erfolg haben. Etwas allgemeiner gefasst sind die Studien von Horsney et al. (2003) und Porter et al. (2003). Sie verweisen auf die hohe Bedeutung von Legitimität in der Beziehungsgestaltung zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb von Organisationen, wenn eine Gruppe über gesteigerte Einflussmöglichkeiten verfügen möchte. Auch hier spielen die Spannungen eine Rolle, die entstehen können, wenn die Ausübung von Führungseinfluss nicht auf eine hinreichende Führungslegitimität der betreffenden untergeordneten Gruppe gestützt ist. Die genannten Publikationen scheinen somit insbesondere durch ein Führungslegitimitätsverständnis im Sinne von Kanter (1977) geeint, das klar zwischen legitimitätsinduzierter und machtinduzierter Gefolgschaft differenziert. Letztere funktioniert primär nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, basierend auf der Möglichkeit Zwang auszuüben, während erstere stärker eine normative bzw. wertebasierte Gefolgschaft beschreibt. Die Grundüberlegung der Autoren ist, dass eine Führungslegitimität, die es ermöglicht, Gefolgschaft nicht erzwingen zu müssen, in organisationalen Kontexten oft als überlegen zu betrachten ist, weil sie auf effizientere Weise Einfluss ausüben kann. Ähnliche Überlegungen lassen sich auch bei Pfeffer (1992) auffinden. Er argumentiert, dass eine Legitimität von Führung, die auf der Akzeptanz von Mitarbeitern aufbaut, der Anwendung von Zwang überlegen ist. Die Ausübung von Zwang ist für die Führenden aufwendig, weil sie den Zwang konstant aufrechterhalten müssen und weil sie ständig dazu gezwungen sind, die Umsetzung ihrer Führungsanweisungen einzufordern und zu überprüfen. Dies ist maximal dort möglich, wo einfache, standardisierte und leicht überprüfbare Tätigkeiten angeordnet werden können. Wo dies nicht der Fall ist, ist Führung zwingend darauf angewiesen, dass sie als legitim wahrgenommen wird und ihre Entscheidungen auf Akzeptanz stoßen, da der Kontrollaufwand einer ausschließlich machtinduzierten Führung nicht mehr mit einem sinnvollen Aufwand abbildbar ist. Diese Überlegungen erklären auch, warum dem Thema der Führungslegitimität insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender interner und externer Komplexität von Organisationen eine wachsende Bedeutung beigemessen wird. Denn gerade in solchen Kontexten versagen simple Modelle von Befehl, Gehorsam und Kontrolle. Kostava und Zaheer (1999) betonen zum Beispiel, dass Führung in komplexen 15 multinationalen Organisationen in wachsendem Umfang auf ihre wahrgenommene Legitimität angewiesen ist. Sie argumentieren, dass unter den Bedingungen großer Komplexität die Kontrollmöglichkeiten von Führung stark abnehmen und deshalb in stärkerem Maße die wahrgenommene Legitimität von Führung entscheidend dafür ist, inwieweit Mitarbeiter ihr Verhalten an Führungsvorgaben orientieren. In eine ähnliche Richtung lassen sich Denis et al. (2001) interpretieren. In einer Studie aus dem Health Care Bereich kommen sie zu dem Schluss, dass es vor allem in pluralistischen Organisationen zunehmend schwieriger wird, die Legitimität von Führung sicherzustellen. Pluralistische Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass eine Vielzahl stark divergierender Erwartungshaltungen und Denklogiken von Seiten unterschiedlicher Organisationsmitglieder und Umweltkontexte berücksichtigt werden müssen. In einer solchen Situation kann sich Führung laut den Autoren nicht mehr in erster Linie auf die Autorität ihrer Führungsposition berufen, sondern ist darauf angewiesen, dass sie als legitim wahrgenommen wird. Erst durch eine solche Führungslegitimität in den Augen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen, kann Führung in pluralistischen Organisationen Gestaltungsaufgaben ausüben. Noch etwas zugespitzter formulieren Chakravarthy und Gargiulo (1998) den zentralen Ausgangspunkt der Debatte um die Legitimität von Führung. Sie sind der Meinung, dass in modernen Organisationen die legitimitätsstiftende Rolle von klassischen Hierarchien abnehmen wird und Führung sich auf andere Weise legitimieren muss. Die klassische Webersche Aufteilung in 3 Typen legitimer Herrschaft halten sie hierfür nur noch für begrenzt hilfreich. Denn charismatische Führung neigt aus ihrer Sicht zur Zentrierung von Autorität an der Spitze, was immer dann problematisch ist, wenn eine Organisation auf weitläufig verteilte Kompetenzen in der Mitarbeiterschaft angewiesen wird. Und die Formen der traditionalen und legalen Herrschaft eignen sich aus ihrer Sicht noch weniger für die Legitimierung von Führung in modernen Organisationen. Als Beispiel nennen sie die Organisationsform des entrepreneurial networks: „Unlike in a Weberian bureaucracy, traditional and legal authority are not available as bases for legitimizing corporate leadership in an enterpreneurial network” (S. 441). Zusammengefasst stellt die aktuelle Leaderhip Legitimacy Debatte somit fest, dass effektives Führungsverhalten in komplexen Organisationen nicht mehr in erster Linie auf Macht oder hierarchische Positionierung innerhalb einer Organisationsstruktur setzen kann. Vielmehr wird Führungslegitimität zur zentralen Ressource von Führung, da sie sicherstellen kann, dass Führung auch dort Einfluss auf Geführte ausüben kann, wo keine Kontrollmöglichkeiten bestehen. Ein solcher Mangel an Kontrollmöglichkeiten ist dabei in heutigen komplexen Organisationen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Deshalb ist die entscheidende Frage, die sich für die genannte Literatur stellt, durch welches Verhalten Führung die eigene Legitimität sicherstellen kann. Diese Frage 16 kann zum einen innerhalb klassischer hierarchischer Organisationen gestellt werden. Es kann hinterfragt werden, ob ein auf hierarchischer Stellung basierender Führungsanspruch notwendigerweise als legitim anzusehen ist. Wenn dies verneint oder nur mit Einschränkungen bejaht wir, ist die Frage zu stellen, wie Führung sich verhalten kann, um ihre Legitimität zu steigern, ohne sich dabei primär auf die eigene organisationale Stellung zu verlassen. Die Annahme hinter dieser Fragestellung ist, dass nur eine solche gesteigerte, über eine strukturell vorgegebene hierarchische Legitimation hinausgehende Führungslegitimität es ermöglicht, auch komplexe Organisationen effektiv zu führen. Denn wie beschrieben besteht in komplexen Arbeitskontexten kaum noch die Möglichkeit, Arbeiten durch Anordnung und anschließende Kontrolle effektiv auf Mitarbeiter zu verteilen. Eine zentrale Herausforderung für Führung besteht deshalb darin, bei Mitarbeitern die gewünschte Akzeptanz für getroffene Entscheidungen zu bewirken, damit diese die gestellten Herausforderungen aus Eigeninitiative und unter Einsatz ihrer speziellen Fähigkeiten angehen. Zum anderen kann die Frage noch grundsätzlicher gestellt werden: Wie kann Führungslegitimität in Organisationen gewonnen werden, die auf eine Führungsfunktion angewiesen sind, sich aber dem klassischen Weberschen Verständnis von Herrschaft 9 entziehen? Derartige Organisationsformen, die keine Herrschaftsbeziehungen zwischen Führung und Geführten kennen, stellen einen Extremkontext (Pettigrew, 1990) für die Betrachtung von Führungslegitimität dar. In solchen Organisationen kann besonders deutlich beobachtet werden, auf welche Weise Führungslegitimität auch bei geringer Unterstützung durch strukturelle Bedingungen erlangt werden kann. Anders ausgedrückt erlauben es solche Organisationskontexte, die Aspekte von Führungslegitimität näher zu betrachten, die nicht durch eine hierarchische Struktur subventioniert werden. Es gibt bisher jedoch kaum tiefgreifende empirische Studien, die die Thematik der Führungslegitimität und Strategien zu ihrem Aufbau und Erhalt umfassend betrachten. 10 Einen ersten Schritt in diese Richtung unternahmen Studien, die die Thematik der Legitimität durch Prozessgerechtigkeit aus der Sphäre der Politikwissenschaften entlehnten. 11 Sie beschränken sich jedoch damit auf einen Teilaspekt der genannten Thematik. Chakravarthy und Gargiulo (1998) sowie Denis, 9 Vgl. Kapitel 2.2.1 Dies gilt für das gesamte Feld der Legitimitätsforschung. So meint Suchmann (1995), dass das breite Thema der organisationalen Legitimität empirisch nicht hinreichend untersucht ist und insbesondere ein zu geringes Verständnis für unterschiedliche Formen von Legitimität besteht. Es gilt jedoch umso mehr für das Feld der Führungslegitimität, in dem sich die Anzahl empirischer Studien noch deutlich geringer ausnimmt. 11 Insbesondere zu nennen sind Elsbach, 2001; DeCremer und van Knippenberg, 2002; sowie Blader und Tyler, 2003. Auf diese Studien wird später etwas näher eingegangen. 10 17 Lamothe und Langley (2001) haben empirische Studien im Bereich der Führungslegitimität vorgelegt, aber sie konzentrieren sich dabei auf Legitimität in Zeiten von tiefgreifenden Transformationen, die oft mit Krisen einhergehen. Hierbei handelt es sich jedoch um einen speziellen Zustand von Organisationen. Wie Coleman (1990) zeigt, sind Organisationsmitglieder gerade in Krisensituationen oftmals eher dazu bereit, die Legitimität von Führung anzuerkennen. Ob diese Legitimität anschließend auch dann aufrechterhalten werden kann, wenn die Organisation sich in ruhigerem Fahrwasser befindet, ist damit jedoch noch nicht zwangsläufig bewiesen. Es könnte auch vermutet werden, dass die klassische Führungsliteratur selbst die Frage der Legitimität von Führung eingehend behandelt habe. Bei einer genaueren Betrachtung dieses Feldes stellt sich hingegen heraus, dass der Großteil dieser Literatur Führung stark individualistisch konzeptualisiert. Im Vordergrund stehen die Persönlichkeitseigenschaften und Führungsstile einzelner Führungskräfte. 12 Basierend auf einem solchen Führungsverständnis versuchen zum Beispiel Zelditch und Walker (1984) Führungslegitimität mithilfe individueller Eigenschaften und Verhaltensweisen zu erklären. Diese Konzentration auf Individuen ist jedoch empirisch nur schwer zu begründen (Pettigrew und Whipp, 1991; Dachler, 1992). Wenn man Führung hingegen als organisationale Funktion betrachtet (Ogawa und Bossert, 1995; O’Toole, 2001) und nicht lediglich als die Aufgabe einzelner Individuen, wird die Auswahl der zur Verfügung stehenden Literatur stark eingeschränkt. Speziell zum Thema Legitimität von Führung als organisationaler Funktion existieren im Bereich der Führungsliteratur keine ausführlichen empirischen Studien. Auch die Untersuchungen zu Führungslegitimation von Ridgeway (1989), Johnson und Ford (1996) sowie Ford und Johnson (1998) sind in ihrer Reichweite begrenzt. Sie kommen unter anderem zu dem Schluss, dass die Autorisierung von höheren Hierarchieebenen für die Legitimität von Führung entscheidend ist. Damit kann jedoch nicht erklärt werden, wie Führung sich als Ganzes legitimiert, da die Legitimität der höheren Hierarchieebenen bereits vorauszusetzen ist. Und gerade die aus sich heraus legitimierende Funktion von Hierarchie ist in heutigen Organisationskontexten zunehmend weniger gegeben. So argumentiert Schumacher (2010): „Glaubwürdigkeit, Vertrauen und die Fähigkeit, Wirkung und Folgebereitschaft zu erzeugen, hängt […] heute nicht mehr von der Hierarchie ab“ (S. 215). Auch Luhmann (2006) spricht davon, dass Führung immer mehr in einem symmetrischen Verhältnis wechselseitiger Beobachtung mit den Geführten steht. Und Wimmer (2010) argumentiert: „Die Hierarchie sorgt nicht mehr für eine selbstverständliche, nicht befragbare Geltung der damit verbundenen Machtdifferenz. Führung muss 12 Vgl. Kapitel 3.1 & 3.2 18 sich diese Differenz von Tag zu Tag neu verdienen. Darum ist das „Wie“ der Wahrnehmung von Führungsfunktionen so enorm erfolgskritisch.“ (S. 33) Bei der Frage nach der Legitimität von Führung, wird es somit zunehmend interessant, wie sich Führung unabhängig von bestehenden hierarchischen Strukturen durch die spezifische Art der Wahrnehmung ihrer Führungsfunktion legitimieren kann. Deshalb wurde dieser Arbeit die empirische Untersuchung von Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext 13 zugrunde gelegt, da sich dort gesteigerte Beobachtungsmöglichkeiten für die Legitimierung von Führung jenseits hierarchischer Strukturelemente eröffnen. Konkret wird Führungslegitimität in einer Organisation betrachtet, in der das strategische Zentrum über keinerlei organisatorische Einflussmöglichkeiten auf die einzelnen Organisationseinheiten verfügt. Auf dieser Basis kann der zuvor beschriebenen Fragestellung nachgegangen werden, wie Führungslegitimität in einem Organisationskontext erlangt werden kann, in dem keine hierarchischen Herrschaftsbeziehungen zwischen Führung und Geführten existieren. Bevor diese Argumentation weitergeführt werden kann, ist es jedoch entscheidend, den Begriff der Führungslegitimität selbst genauer zu betrachten. Es geht darum abzugrenzen, was in der vorliegenden Arbeit unter Führungslegitimität verstanden wird und wie Führungslegitimität operationalisiert werden kann, um sie empirisch untersuchbar zu machen. 2.2 Führungslegitimität – Ein Definitionsversuch Es ist nicht immer einfach, die Legitimitätsverständnisse unterschiedlicher Autoren und Publikationen miteinander zu vergleichen. Vielfach wird davon ausgegangen, dass Legitimität nicht erklärungsbedürftig sei und ein klares Legitimitätsverständnis beim Leser stillschweigend vorausgesetzt werden kann. Aus diesem Grund wird in vielen Fällen auf eine Begriffsdefinition verzichtet: „Many researchers employ the term legitimacy, but few define it.“ (Suchmann, 1995; S. 572). Um diesem grundsätzlichen Makel des Feldes der Legitimitäts-Literatur zu begegnen, sollen an dieser Stelle verschiedene Legitimitätsverständnisse diskutiert werden und auf die Annahmen eingegangen werden, auf denen diese gründen. Darauf aufbauend wird eine Definition für den enger gefassten Begriff der Führungslegitimität abgeleitet, der dem weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt werden soll. Gerade in der Leadership Legitimacy Debatte fällt sehr deutlich auf, dass der Legitimitätsbegriff selbst oft nebulös bleibt. So bieten als ein aktuelles Beispiel Denis, 13 Vgl. Kapitel 5.1 19 Lamothe und Langley (2001) in ihrem Artikel zur Führungslegitimität in pluralistischen Organisationen keine Definition ihres Legitimitätsbegriffs an. Ähnlich verhält es sich mit weiteren Beiträgen aus dem Feld der Führungslegitimität. Zwar kann man den meisten Publikationen dieses Bereichs entnehmen, dass sie legitime Führung als Gegenpol betrachten zu einer Form von Führung, die Gefolgschaft erzwingen muss, weil sie nicht als legitim akzeptiert wird. Diese beiden Ansätze stehen jedoch nicht zwangsläufig im Gegensatz zueinander, da je nach Legitimitätsverständnis durchaus auch argumentiert werden kann, dass gerade die Möglichkeit, auf der Basis von Gewaltanwendung oder anderen Form von Zwang Autorität auszuüben, Führung legitimiert. Es zeigt sich somit, dass der Begriff der Legitimität äußerst schwer greifbar ist und zum Teil sogar konträre Begriffsverständnisse möglich sind. Aus diesem Grund ist eine intensivere Auseinandersetzung mit seiner Definition geboten. Einige differenzierte Überlegungen hierzu lassen sich bei Suchmann (1995) finden. Er entwarf basierend auf seiner Kritik an der mangelnden Klarheit des Legitimitätsbegriffs in der Mehrheit der Legitimitätsliteratur eine umfassende Darstellung unterschiedlicher Legitimitätsverständnisse. Dabei konzentrierte er sich jedoch auf das Feld der organisationalen Legitimität in Bezug auf die Anspruchsgruppen der Organisationsumwelten. Somit können seine Definitionen nicht direkt für die Thematik der Führungslegitimität übernommen werden. Was Suchmanns Arbeit jedoch deutlich macht, ist die Vielschichtigkeit des Legitimitätsbegriffs, die sich einer eindeutigen und klaren Definition entzieht. Das Ziel in dieser Arbeit ist es deshalb nicht, eine Reihe unterschiedlicher Definitionen für den Begriff der Führungslegitimität zu erarbeiten, sondern sich von der empirischen Zielsetzung leiten zu lassen, Führungslegitimität in einem heterarchischen Kontext zu beobachten. Etwas präziser ausgedrückt geht es darum, eine Definition zu entwickeln, die es ermöglicht, Führungslegitimität im Kontext von Heterarchien – im vorliegenden Fall innerhalb der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken – zu beobachten, basierend auf empirischen Beobachtungen zu analysieren und anschließend zu versprachlichen. Deshalb müssen bereits an dieser Stelle die Besonderheiten von Heterarchien, die aus Gründen einer zwangsläufig sequenziellen Darstellung erst in einem späteren Kapitel detailliert beschrieben werden können, mitreflektiert werden. Dabei gilt es insbesondere zu beachten, dass die beobachtete Führungseinheit – der BVR – über keinerlei Droh-, Sanktionierungsoder Zwangsmöglichkeiten gegenüber den von ihm geführten Volksbanken verfügt. Vor diesem Hintergrund sind im vorliegenden Forschungskontext Legitimitätskonzepte nur begrenzt wertvoll, wenn sie unter Führungslegitimität die Fähigkeit zur Durchsetzung von Gehorsam verstehen – zur Not auch mit der erzwungenen Überwindung von Widerständen. Vielmehr ist Führungslegitimität in Heterarchien als ein flüchtiges Phänomen zu verstehen, das an unterschiedlichen Orten der Organisation immer wieder vorhanden oder abwesend sein kann. Es existiert kein strukturell definiertes organisationales Zentrum, von dem aus 20 entschieden wird, sondern Führungsentscheidungen können in oft unvorhersehbarer Weise an unterschiedlichen Orten der Organisation getroffen werden. 14 Dieser Flüchtigkeit des Phänomens der Führungslegitimität wird im Folgenden durch eine prozesstheoretische Definition von Legitimität Rechnung getragen. Es soll gezeigt werden, dass Führung ihre eigene Legitimität im beobachteten Kontext ständig neu herstellen muss und es dabei insbesondere auf die Art und Weise ankommt, wie Führungs-Interventionen in Organisationen gestaltet sind. Im Zentrum der Betrachtung dieser Arbeit steht deshalb der Zusammenhang zwischen einer kontinuierlich neu zu erschaffenden Führungslegitimität und organisationalen Interventionspraktiken, die diesen unablässigen Wiederherstellungsprozess ermöglichen. Die vor diesem Hintergrund erarbeitete Definition von Führungslegitimität kann deshalb keinen Anspruch auf Exklusivität erheben. Insbesondere in nichtheterarchischen Beobachtungskontexten soll anderen Betrachtungsweisen und Definitionen von Legitimität auf keine Weise ihre Berechtigung abgesprochen werden. Es wird jedoch im Laufe dieser Arbeit argumentiert, dass die im Folgenden herausgearbeitete Prozessdefinition von Führungslegitimität auch eine wertvolle Beobachtungsperspektive für Organisationen bieten kann, in denen Führung (vermeintlich) über starke Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten verfügt. Dennoch bleibt der Begriff der Legitimität wie auch der Führungslegitimität vielschichtig und wird sich nie vollständig in eine einzige Betrachtungsweise oder Definition zwingen lassen. Krippendorff (1978) beschrieb diesen Umstand nicht ganz ohne Ironie mit folgenden Worten: „Wer die Frage nach der Legitimität von Herrschaft gültig zu beantworten vermöchte, hätte den Stein der Weisen der politischen Philosophie gefunden.“ (S. 39) 2.2.1 Das klassische Verständnis von Legitimität angelehnt an Max Weber Zu Beginn eines Definitionsversuchs von Führungslegitimität lohnt es, sich auf die ausführlichen und viel zitierten Gedanken von Max Weber (1922) im Zusammenhang mit Legitimität zurückzubesinnen. Webers zentraler Beitrag besteht darin, dass er den Legitimitätsbegriff auf eine Weise ausgearbeitet hat, die sich in den folgenden Jahrzenten als eine fruchtbare Basis für eine Vielzahl empirischer Beobachtungen erwiesen hat (Bierstedt, 1964; Kielmansegg, 1971). Eine solche Rückbesinnung auf 14 Für eine detailliertere Beschreibung von Heterarchien und der VR-Organisation als Heterarchie siehe Kapitel 5.1. Den dort folgenden Erläuterungen wird an dieser Stelle zu Zwecken der Nachvollziehbarkeit der Begriffsabgrenzung von Führungslegitimität teilweise vorgegriffen. Dies ist insbesondere deshalb nötig, weil jedes Verständnis von Legitimität grundsätzlich auch von seinem Kontext mitgeprägt wird und deshalb keine Definition von Führungslegitimität den Anspruch auf Allgemeingültigkeit in allen denkbaren Kontexten erheben kann. 21 Weber beginnt jedoch mit einer durchaus überraschenden Erkenntnis: Selbst Max Weber, der stets darauf bedacht war, für die von ihm genutzten Begriffe klare Definitionen zu erarbeiten, bietet in seinem Gesamtwerk keine einheitliche Definition von Legitimität an (Knopp und Müller, 1980). Dies kann als weiterer Beleg dafür gewertet werden, wie schwer der Legitimitätsbegriff greifbar ist. Dennoch lässt sich Webers Schriften ein für ihn charakteristisches Legitimitätsverständnis entnehmen. Dieses kommt insbesondere in seiner Beschreibung der 3 Typen legitimer Herrschaft zum Ausdruck: 1. „Rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft), - oder 2. Traditionalen Charakters: auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen ruhen (traditionale Herrschaft), - oder endlich 3. Charismatischen Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen ruhen (charismatische Herrschaft).“ (S. 124 15) Weber verbindet den Begriff der Legitimität offensichtlich stark mit dem Begriff der Herrschaft. Herrschaft selbst definiert er dabei „in dem ganz allgemeinen Sinne von Macht, also von: Möglichkeit, den eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen“ (S. 543 16 ). Weber benutzt in diesem Zusammenhang auch die Begriffe von Befehl und Gehorsam. Von Legitimität im Weberschen Sinne kann man also immer dann sprechen, wenn eine Art von Herrschaft vorliegt, bei der angenommen werden darf, dass den Anordnungen des Herrschenden in der Regel Gehorsam entgegengebracht wird. Ein ähnliches Legitimitätsverständnis liegt der häufig zitierten Arbeit von French und Raven (1959) zugrunde, wobei sie das Zustandekommen von Legitimität insbesondere mit verinnerlichten Werten erklären: “Legitimate power of O/P [social agent/person; Anm. d. Autors] is here defined as that power which stems from internalized values in P which dictate that O has a legitimate right to influence P and that P has an obligation to accept this influence. […] In all cases, the notion of legitimacy involves some sort of code or standard, accepted by the individual, by 15 16 Zitate beziehen sich auf die revidierte Version von Wirtschaft und Gesellschaft (Weber, 1972). s.o. 22 virtue of which the external agent can assert his power” (S. 159). In Anlehnung an Weber sowie an Goldhammer und Shils (1939) sehen sie darüber hinaus eine große Ähnlichkeit zwischen Legitimität, Macht und Autorität. Legitimität stellt nach dieser Auffassung Verhaltenskonformität gegenüber Autorität sicher (French und Snyder, 1959). Dieses Verständnis von Legitimität erwies sich in unterschiedlichen Kontexten als äußerst wertvoll. Zum Beispiel existieren mannigfaltige Studien, die sich mit der Legitimität der Staatsgewalt (z.B. der Polizei) und dem Gehorsam der Bürger ihr gegenüber auseinandersetzen. Andere Studien, wie beispielsweise die letztgenannte von French und Snyder (1959), wurden in militärischen Kontexten durchgeführt. Dies sind jedoch Rahmenbedingungen, die nicht ohne weiteres auf den Führungskontext moderner Wirtschaftsorganisationen übertragbar sind. Gerade die Betrachtung von heterarchischen Organisationen lässt die Grenzen des soeben dargestellten Legitimitätsverständnisses besonders deutlich zutage treten. Dies wird offensichtlich, wenn man versucht, Webers drei Idealtypen legitimer Herrschaft auf einen heterarchischen Kontext zu übertragen: So zeichnet sich eine Heterarchie gerade dadurch aus, dass sie keine gesatzte Ordnung hat, die Anweisungsrechte eindeutig definieren. Es gibt keinen stabilen Ort innerhalb solcher Organisationen, an dem alle Entscheidungen getroffen werden oder ein Letztentscheidungsrecht vorliegt. Auch besteht keine Tradition genereller Über- oder Unterordnung, da man sonst von einer Hierarchie sprechen würde. Dies schließt auch den zweiten der Weberschen Idealtypen aus. Folglich wäre lediglich charismatische Herrschaft herausragender Individuen in Heterarchien denkbar. Ein derart auf die charismatischen Fähigkeiten von Einzelpersonen ausgerichtetes Legitimitätsverständnis entspricht jedoch nicht der Führungsrealität heterarchischer Organisationen, wie an späterer Stelle noch ausführlicher beschrieben wird. Ebenso schwierig ist eine Betrachtung von Führungslegitimität in heterarchischer Ordnung auf der Basis von French und Ravens (1959) Definition einer werteinduzierten Autorität. Gerade die Gruppe der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken verfügt über eine sehr ausgeprägte und omnipräsente gemeinsame Wertebasis und dennoch ist es undenkbar, dass zentrale Einheiten wie der BVR über eine Art von stillschweigend akzeptierter Autorität verfügen könnten, wie sie Frenchs und Ravens Definition von Legitimität zugrunde liegt. Wie jedoch im weiteren Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden soll, kann man auch innerhalb von Heterarchien durchaus von Führungslegitimität jenseits individuellen Charismas sprechen, wenn man diese nicht auf die Sicherstellung von Interaktionen im Sinne von Befehl/Gehorsam reduziert. Eine solche binäre Simplifikation soll im Folgenden deshalb vermieden werden. 23 2.2.2 Ein prozessorientiertes Verständnis von Führungslegitimität Theoretische Überlegungen sowie frühe empirische Beobachtungen im Rahmen dieser Forschungsarbeit offenbarten, dass der Organisationstypus der Heterarchie in offensichtlichem Widerspruch zu dem zuvor beschriebenen Verständnis von Legitimität basierend auf Herrschaft und Gehorsam steht. Aus diesem Grund galt es, konzeptionelle Überlegungen dahingehend anzustellen, mit welchem Verständnis von Führungslegitimität diese im Rahmen von heterarchischen Organisationen beobachtet und beschrieben werden kann. Hierzu wurde auf eine Strömung der Legitimitätsliteratur zurückgegriffen, die den Begriff der Legitimität dynamisiert und ihm zumindest implizit ein schwaches Prozessverständnis 17 zugrunde legt. Daran anschließend wurde basierend auf einer prozesstheoretischen Organisationstheorie eine Definition von Führungslegitimität erarbeitet, die auf der Basis eines starken Prozessverständnisses aufbaut. 18 Die Dynamisierung des Legitimitätsbegriffs Wenn man davon ausgeht, dass auch in einer heterarchischen Organisation Führungsaufgaben wahrgenommen werden müssen, kann am Beispiel einer Heterarchie plausibilisiert werden, dass Führungslegitimität nicht zwangsläufig mit dem Weberschen Herrschaftsverständnis und der einseitigen Anordnung von gewünschten Verhaltensweisen zusammenhängen muss. Hilfreich ist hierfür ist die von Knopp und Müller (1980) getroffene Unterscheidung zwischen einer funktionaltechnischen und einer normativ-praktischen Auffassung des Legitimitätsbegriffs: „Während die funktional-technische Auffassung [den Legitimitätsbegriff] in erster Linie unter dem Gesichtspunkt seines Beitrags für die Stabilität von Herrschaft in Ansatz bringt, spricht die normativ-praktische Auffassung von legitimen Verhältnissen überhaupt nur dann, wenn sie mit einer Minimierung von Herrschaft oder gar ihrem vollständigen Abbau und auf 17 Die Unterscheidung zwischen einem schwachen und einem starken Prozessverständnis wird von Chia und Langley (2004) beschrieben als: “The ‘weak’ view treats processes as important but ultimately reducible to the action of things, while the ‘strong’ view deems actions and things to be instantiations of process-complexes.” Vereinfacht gesagt besteht die Unterscheidung darin, ob Organisationen als Entitäten betrachtet werden, die sich jedoch durch ständige Prozesse verändern, oder ob Organisationalen radikal prozessual konzipiert werden und Entitäten lediglich als verständnisschaffende Konstruktionen bzw. Reifikationen eines Betrachters betrachtet werden (Tsoukas, 2005). 18 Für unterschiedliche Strömungen prozesstheoretischer Organisationstheorien wie zum Beispiel von Weick, Luhmann oder Latour siehe insbesondere Hernes (2008). Die Überlegungen dieses Kapitels bauen auf einem solchen Organisationsverständnis aus, das Organisationen nicht als Entitäten, sondern als Prozesse im ständigen Werden begreift. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel nicht im Einzelnen auf prozesstheoretische Publikationen eingegangen, da diese sich nicht spezifisch mit dem Konzept der Führungslegitimität auseinandersetzen und eine allgemeine Auseinandersetzung mit prozesstheoretischen Denkweisen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 24 diese Weise der Verwirklichung eines angemessenen Lebens in der Sozietät verbunden ist.“ (S. 4) Knopp und Müller beschreiben somit einen zweiten Legitimitätsbegriff, der nicht Herrschaft sicherstellt, sondern ganz im Gegenteil gerade dann zum Tragen kommt, wenn keine Herrschaft im klassischen Sinne mehr besteht. Damit weisen sie präzise auf die zentrale Herausforderung von Führungslegitimität hin, die auch in Heterarchien besteht: Obwohl ein einseitiges (hierarchisches) Herrschaftsverhältnis per Definition ausgeschlossen ist, muss Führung sich selbst legitimieren können, wenn sie eine Existenzberechtigung haben will. Knopp und Müller (1980) greifen auf Luhmanns Systemtheorie zurück, um den Unterschied beider Legitimitätsverständnisse zu veranschaulichen. Sie kommen zu dem Schluss, dass Weber Legitimität als historisch-faktisches Phänomen versteht, während Luhmann vornehmlich ein schwieriges Beschaffungsproblem sieht. Deshalb „greift Luhmann auf die bestehenden Verfahren zurück und thematisiert sie im Hinblick auf ihre immanenten, legitimitätswirksamen Tatbestände“ (S. 107). In anderen Worten könnte man somit sagen, dass Weber Legitimität als eine Entität sieht, die die Ausübung von Herrschaft sichert. Legitimität ist für ihn das stabile Fundament auf dem sich Herrschaft gründet. Diese entitative Betrachtungsweise ist jedoch nicht unumstritten. So meint Hollander (1978) „Legitimacy is not something a person possesses in a vacuum“ (S. 48). Und Luhmann beschreibt Legitimität als etwas, das auf der Basis von legitimierenden Verfahren immer wieder erneut gewonnen werden muss. Somit wird der Legitimitätsbegriff dynamisiert. Auch Suchmann (1995) sieht entitätsbasierte Legitimitätsverständnisse kritisch, da diese weitgehen statisch sind. Er folgt einer relationalen Konzeption von Legitimität: „Legitimacy represents a relationship with an audience, rather than being a possession.“ (S. 594) Basierend auf einem solchen dynamisch-relationalen Verständnis von Legitimität entstanden im Feld der Politik- und Staatswissenschaften etliche Studien, die den Zusammenhang zwischen Verhaltensweisen von Institutionen und ihrer Legitimität untersuchten. Ein zentrales Resultat verschiedener Arbeiten war dabei, dass Legitimität insbesondere durch „procedural justice“ erzielt werden kann (z.B. Tyler und Lind, 1992; Cohen-Charash und Spector, 2001; Colquit et al., 2001). Wenn Entscheidungen und Regeln auf eine Art und Weise zustande kommen, die von den durch sie Betroffenen als fair empfunden wird, werden diese Regeln eher als legitim anerkannt. Legitimität ist somit aber nicht mehr in erster Linie entitativ mit Institutionen oder Personen verbunden, sondern hängt von den jeweiligen Prozeduren ab, die einzelne Regeln hervorbrachten. Interessanterweise stellte sich diese Konzeption des Legitimitätsbegriffs auch als fruchtbar heraus, um die Legitimität von Führung in Unternehmen zu untersuchen. 25 Diverse Studien, die die zuvor beschriebenen Betrachtungen auf Wirtschaftsorganisationen ausweiteten, kamen zu dem Schluss, dass die als gerecht empfundene Ausübung von Führung deren Legitimität steigern beziehungsweise sichern kann (Elsbach, 2001; DeCremer und van Knippenberg, 2002; Blader und Tyler, 2003). Zusammenfassend zeichnet sich diese dynamischere Perspektive auf den Legitimitätsbegriff dadurch aus, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf prozessuale Aspekte konzentriert. Es wird die Frage gestellt, wie Legitimität erworben werden kann. Die zentrale Vermutung ist, dass gewisse Prozeduren und Verhaltensweisen zur Schaffung von Legitimität führen. Diesem Legitimitätsverständnis liegt somit – wie bereits beschrieben – zumindest ein schwaches Prozessverständnis zugrunde. Prozessuale Aspekte der Legitimitätsgewinnung werden deutlich ins Zentrum der Betrachtung gerückt, es besteht jedoch nach wie vor die Auffassung, dass durch den Einsatz fairer Prozeduren eine Art von Legitimität erlangt werden kann, die entitativ zu begreifen ist. Etwas plakativ ausgedrückt lässt sich sagen, dass Legitimität als dynamische, prozessual veränderbare Entität verstanden wird. Dieses schwach-prozessual geprägte Verständnis dynamisiert somit das Konzept der Legitimität und macht es dadurch besser geeignet für die Betrachtung organisationaler Führung. Dennoch weist auch dieses Legitimitätsverständnis, das dem Feld der Politikwissenschaften entstammt, gewisse Limitationen bei der Anwendung auf den hier zu betrachtenden Fall einer heterarchischen Wirtschaftsorganisation auf. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn man sich näher mit Luhmanns frühen Konzeptionen von Legitimität auseinandersetzt. Luhmann (1975) definiert Legitimität als: „generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen.“ (S. 28). Im Zusammenhang mit der Beschreibung staatlicher Institutionen ist diese Definition einleuchtend. Der Staat besitzt Legitimität, wenn seine politischen Entscheidungen, sein Handeln – zum Beispiel bei Polizeieinsätzen – auf eine generelle Toleranz stößt. Dies gilt unabhängig davon, wie dieses Handeln konkret aussieht, so lange gewisse Grenzen nicht verlassen werden. Eine ähnliche Anwendung dieser Definition ist bei der Betrachtung von Befehlsketten in hierarchisch organisierten Organisationen möglich. Hier erinnert Luhmanns Definition stark an Bernards (1938) „zone of indifference“. Entscheidungen von Vorgesetzten werden grundsätzlich akzeptiert, solange sie innerhalb der Indifferenz-Zone der Entscheidungsempfänger liegen. Die genannte Definition von Legitimität basiert jedoch auf der Annahme, dass ein festgelegter Ort existiert, an dem Entscheidungen getroffen werden, und dass auf diese Entscheidungen lediglich mit Akzeptanz oder mit Ablehnungen reagiert werden kann. Unter dieser Annahme kann Legitimität als die Unterstellbarkeit der Annahme von Entscheidungen definiert werden. 26 Eine solch deutliche Dichotomie zwischen Akzeptanz und Ablehnung ist jedoch selbst in hierarchisch geprägten Strukturen nur ein Spezialfall. Entscheidungen können teilweise akzeptiert werden und es ist sogar möglich, dass Akzeptanz bei gleichzeitiger Ablehnung vorliegt. Wenn zum Beispiel innerhalb eines Konzerns die Entscheidung für ein umfassendes Sparprogramm fällt, ist es durchaus möglich, dass dieses von einem Unternehmensbereich grundsätzlich akzeptiert wird, aber der Bereich sich selbst von der Aufforderung zum Sparen nicht direkt angesprochen fühlt. Noch deutlicher wird die Problematik in heterarchischen Organisationen. Hier gibt es keine stabile Über- und Unterordnung von Organisationeinheiten. Entscheidungen für unterschiedliche Themen können an unterschiedlichen Orten entstehen. Deshalb ist es irreführend, Betrachtungen auf eine Dichotomie von akzeptieren/nicht akzeptieren einzuschränken. Möglicherweise werden zu einem Thema unterschiedliche Entscheidungen in verschiedenen Organisationseinheiten getroffen und einzelnen Bereichen steht es frei, an welchen Entscheidungen sie sich orientieren wollen. In einem solchen Szenario ist er schwierig, Führungslegitimität über den AkzeptanzBegriff zu beschreiben. Dies soll beispielhaft anhand der heterarchisch organisierten Gruppe der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken illustriert werden. Dort existieren mehrere zentrale Organisationseinheiten, die Konzepte zu strategischen Fragestellungen erarbeiten. Ferner gibt es ca. 1.100 eigenständige Banken, die sich freiwillig entscheiden können, welche dieser Konzepte sie nutzen wollen. Wenn man nun die Führungslegitimität der zentralen Organisationseinheiten mit dem Akzeptanz-Begriff und einer „zone of indifference“ beschreiben will, ergibt sich folgende Problemstellung: Eine passive Akzeptanz der einzelnen Banken ist recht einfach zu Banken erklären zum Beispiel, dass sie die Arbeit zentraler grundsätzlich schätzen, aber dass sie für sie selbst im Moment großer Bedeutung seien. Eine solche passive Akzeptanz Organisationseinheiten ist demnach nicht ausreichend, Führungslegitimität zu sprechen. erreichen. Einheiten nicht von zentraler um von Auf der anderen Seite kann Führungslegitimität nicht von aktiver Akzeptanz in dem Sinne abhängig gemacht werden, dass Banken grundsätzlich allen Vorgaben einer zentralen Stelle unhinterfragt folgen, so lange diese innerhalb einer bestimmten Indifferenz-Zone liegen. Von einer heterarchischen Organisation lässt sich nur dann sprechen, wenn es kein klares Zentrum gibt, dessen Anordnungen einen automatischen Vorrang genießen. Führungslegitimität, die mit der Unterstellbarkeit der Annahme von Führungsentscheidungen definiert ist, ist somit bereits per Definition ausgeschlossen. 27 Es wird also deutlich, dass das Verständnis dessen, was Legitimität genannt wird, vom organisatorischen Kontext abhängt, der sie umgibt. Im Grunde sind unterschiedliche Typen von Legitimität bereits bei Max Weber vorhanden, wobei alle von ihm beschriebenen Legitimitätstypen auf einem klar hierarchisch konzipierten Herrschaftsverständnis aufbauen. Etwas differenzierter beschreiben es Knopp und Müller (1980), die davon ausgehen, dass unterschiedliche Arten von Legitimität auch unabhängig von Herrschaft existieren können: „Die Rede von der Legitimität beziehen wir nicht generell auf Herrschaft schlechthin, sondern nur auf historisch konkret existierende politische Ordnungen“ (S. 4). 19 Und auch Suchmann (1995) kommt in seiner ausführlichen Analyse verschiedener Definitionen von Legitimität zu dem Schluss: „After several decades, researchers have come far enough to understand that legitimacy is not the unitary phenomenon that many previous investigators assumed it to be“ (S. 604). Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass für die Betrachtung von Führungslegitimität – insbesondere in Organisationen ohne hierarchische Strukturen – gängige Legitimitätskonzepte nach Max Weber oder aus dem Bereich der Politikwissenschaften nur eingeschränkt tauglich sind. Dennoch zeigen die empirischen Beobachtungen, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen, dass auch in einem ausgesprochen heterarchischen Organisationskontext wie der VR-Gruppe Führungslegitimität möglich ist. Diese Führungslegitimität ist jedoch ein flüchtigeres Phänomen, als es in den bisher beschriebenen wissenschaftlichen Abhandlungen dargestellt wird. Deshalb soll versucht werden, sich diesem schwer greifbaren Phänomen von Führungslegitimität in heterarchischen Organisationen mit einem starken Prozessverständnis organisationaler Abläufe zu nähern. Führungslegitimität aus einer Prozessperspektive In den bisherigen Ausführungen wurden verschiedene Betrachtungsweisen des Legitimitätsbegriffs erörtert und ihre jeweiligen Einschränkungen dargestellt. Zudem wurde beschrieben, inwiefern dynamischere Verständnisse von Legitimität sich als geeignet erwiesen haben, um Führungsbeziehungen in Organisationen zu beschreiben. Basierend auf diesen Überlegungen, soll nun eine Definition erarbeitet werden, die sich für die Beschreibung und Beobachtung von Führungslegitimität in heterarchischen Organisationen eignet. Wie aus den bisherigen Beschreibungen 19 Ähnliches ist im Übrigen auch aus den Forschungsarbeiten zur Legitimität von Organisationen in ihrer Umwelt bekannt. So zeigt Olivier (1991), dass Legitimität auf sehr unterschiedliche Weise erreicht werden kann, und dass es neben aktiven auch sehr passive Strategien gibt. Legitimität ist somit nicht immer die Fähigkeit, eigene Vorstellungen durchsetzen zu können, sondern in vielen Fällen das Resultat der Anpassung an die existierenden Vorstellungen der Umwelt. Deshalb kommen auch Scott und Meyer (1991) zu dem Schluss, dass in unterschiedlichen Umwelten generell verschiedene Legitimierungs-Strategien zu finden sind. 28 entnommen werden kann, ist hierzu ein Legitimitätsverständnis vonnöten, das dem Konstrukt der Führungslegitimität folgende Annahmen zugrunde legt: Führungslegitimität ist kontextrelativ; es gibt verschiedene Arten von Führungslegitimität, die für verschiedene Kontexte unterschiedlich gut geeignet sind. Führungslegitimität ist nicht zwingend mit Herrschaft verbunden, sondern ist gerade auch dort von Bedeutung, wo keine Herrschaft möglich ist. Der Legitimitätsprozess darf nicht auf eine Dichotomie von Akzeptanz/Ablehnung reduziert werden, da eine solche Zweiwertigkeit die Komplexität der Verhaltensweisen zwischen Führung und Geführten zu stark vereinfacht. Führungslegitimität ist kein Besitz von Führenden, sondern ein Prozess, der sich in der Interaktion zwischen Führenden und Geführten ständig erneuert. Um eine Definition von Führungslegitimität zu entwerfen, die diesen Anforderungen gerecht wird, soll im Folgenden auf eine starke Prozesstheorie von Organisationen zurückgegriffen werden. Eine prozessuale Konzeption von Organisationen basierend auf einem starken Prozessverständnis geht davon aus, dass Organisationen keine fixen Entitäten sind, sondern sich in einem ständigen Prozess des Werdens befinden (vgl. Chia, 1996; 2003; Tsoukas und Chia, 2002; Weick 1995). Eine solche Perspektive ist ebenfalls in der Systemtheorie angelegt. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikationen, die an sich sofort wieder zerfallen. Deshalb können soziale Systeme nur als solche bestehen, wenn es ihnen gelingt, unablässig neue Kommunikationen an die aktuellen anzuschließen und dadurch einen fortlaufenden Kommunikationsprozess aufrecht zu erhalten (vgl. Luhmann, 1984; 2006). Der Kern eines solchen radikalen Prozessverständnisses von Organisationen liegt darin, dass er nicht länger die Möglichkeit zur Veränderung sondern die Fähigkeit zur Stabilität für erklärungsbedürftig hält: Wie können flüchtige Kommunikationsprozesse stabile Organisationen hervorbringen? „A central question is: What enables continuity?“ (Hernes, 2008; S. 134). Der Ausgangspunkt organisationaler Betrachtung sind somit nicht länger Entitäten, die durch Wandelprozesse verändert werden können, sondern Organisationen selbst werden als ständig ablaufende Prozesse betrachtet, deren wichtigste Leistung die selektive Ermöglichung von Stabilität darstellt (Rescher, 2003). 29 Angewendet auf Überlegungen zur organisationalen Führungslegitimität bedeutet ein derartiges Organisationsverständnis, dass nicht länger die Frage im Mittelpunkt steht, wer Führungslegitimität besitzt, oder wie Führungslegitimität einmalig gewonnen werden kann. Vielmehr gilt es zu überlegen, wie Führungslegitimität innerhalb von Organisationen ständig neu erschaffen, neu verfertigt werden kann. Ansätze derartiger Überlegungen lassen sich vor allem innerhalb der neueren Systemtheorie finden. So definiert Krause (2005) Legitimität wie folgt: „Legitimität irgendeines Entscheidungshandeln ist bei dominant funktionaler Systemdifferenzierung und ihr entsprechender Vielheit selbstreferenzieller Beobachtungen nicht mehr wie von außen (durch Gott, Tugenden, Prinzipien, Faktizitäten, Konsens) begründbar. Legitimität eines Entscheidungshandelns […] begründet sich vielmehr durch sich selbst, indem es sich in spezifischer Weise als anschlussfähig erweist. Alle Legitimation ist Selbstlegitimation.“ (S. 187) In Krauses Definition wird eindrücklich beschrieben, was dieses Legitimitätsverständnis ausmacht. Legitimität ist auf dieser Basis nicht länger vom Entscheidungshandeln zu trennen und somit in sich selbst als Prozess zu verstehen. Der Legitimitätsanspruch ergibt sich aus dem Entscheidungshandeln selbst und ist nicht länger als eine dem Entscheidungshandeln vorgelagerte Entität konzipiert. Insofern erweist sich diese Beschreibung von Krause als deutlich prozessual angelegt. Auf dieser Basis lässt sich auch ein Verständnis von Führungslegitimität definieren, das für die empirische Betrachtung heterarchischer Organisationen angemessen ist und deshalb dieser Arbeit zugrunde gelegt werden soll. Führungslegitimität wird nicht als der Besitz von Führungspersonen oder Führungsgremien verstanden. Eine Führungskraft, ein Board, eine zentrale Organisationseinheit hat keine Führungslegitimität, sondern tut Führungslegitimität. Aus diesem Verständnis heraus ist Führungslegitimität nicht die Vorbedingung von Führungshandeln, sondern selbst untrennbar mit Führungshandeln verbunden. Dieser Zusammenhang wird in der nachfolgenden Abbildung veranschaulicht: Abbildung 1: Prozessualer Zusammenhang zwischen Führungslegitimität und Führung 30 Führungslegitimität ist also selbst ein Prozess und wird im ständigen Tun der Führung re-produziert und damit unablässig neu erschaffen. Für den weiteren Verlauf der Arbeit soll Führungslegitimität deshalb wie folgt definiert sein: Führungslegitimität ist ein ständiger Prozess, in dem Führung innerhalb eines organisationalen Kontexts kontinuierlich die Fähigkeit zur Erbringung ihrer organisationalen Kernaufgaben wiederherstellt. Abschließend soll nun noch einmal zusammengefasst werden, warum die aufgestellte Definition von Führungslegitimität für den weiteren Verlauf dieser Arbeit besonders geeignet scheint. Hierbei ist insbesondere auf drei zentrale Merkmale dieser Definition hinzuweisen, die für die Betrachtung von Führungslegitimität innerhalb des ausgewählten heterarchischen Organisationskontexts von zentraler Bedeutung sind: Heterarchien zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass es keinen feststehenden Ort und keine feststehenden Personen gibt, die für bestimmte Führungsaufgaben zwangsläufig verantwortlich sind. Entscheidungen können an unterschiedlichen Orten und von unterschiedlichen Personen getroffen werden und ihre Annahme ist in höchstem Maße kontingent. Die obenstehende Definition ist deutlich auf das zuvor beschriebene Prozessverständnis von Führungslegitimität ausgelegt. Als solche ist sie geeignet, die Fragilität und Flüchtigkeit von Führungslegitimität in heterarchischen Organisationen beobachtbar und beschreibbar zu machen. In der gegebenen Definition ist ein offenes, noch näher zu definierendes Führungsverständnis verankert. Beschreibungen von Führungslegitimität, die auf Konzepte von Herrschaft, Autorität und Akzeptanz gründen, transportieren in sich bereits ein auf starke Asymmetrie angelegtes Führungsverständnis, bei dem Kommunikation primär in eine Richtung verläuft. Ein solches mittransportiertes Führungsverständnis birgt die Gefahr in sich, die organisationale Realität in Wirtschaftsorganisationen und insbesondere in Heterarchien nicht angemessen erfassen zu können. Die oben genannte Definition lässt das ihr zugrunde liegende Führungsverständnis deshalb offen und soll in diesem Punkt an späterer Stelle präzisiert werden. Zuletzt beschränkt sich die beschriebene Definition von Führungslegitimität nicht auf die Frage, ob Führung von den Geführten Legitimität zugeschrieben wird. Führungslegitimität wird ausschließlich von Seiten ihrer organisationalen „Wirksamkeit“ betrachtet. Damit wird eine entscheidende Basis für die spätere empirische Untersuchung gelegt. Hierbei wird der Argumentation von Knopp 31 und Müller (1980) gefolgt, wonach eine reine Befragung von Geführten „Legitimität ausschließlich auf den vorfindbaren Legitimitätsglauben [reduziert]“ (S. 5). Wie später ausgeführt wird, wird Führung als eine organisationale Spezialfunktion verstanden, die nicht notwendigerweise dann legitim ist, wenn sie von Geführten so beschrieben wird; und zum Teil ist es sogar möglich, Führungsaufgaben auszuüben, ohne dass eine aktive Legitimitätszuschreibung der Geführten vorhanden ist. Eine Definition von Führungslegitimität, die sich nicht auf den vorfindbaren Legitimitätsglauben von Geführten kapriziert, eröffnet deshalb die Möglichkeit, Führungslegitimität aus einer primär organisationalen Perspektive zu beobachten und zu beschreiben. Im Kern bietet die beschriebene Definition die Möglichkeit Führungslegitimität empirisch zu beobachten auf der Basis der Frage, wie es Führung gelingen kann, ihre organisationalen Aufgaben wiederholt wahrzunehmen. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass diese Prozessdefinition von Legitimität untrennbar mit dem zugrundeliegenden Verständnis von Führung verbunden ist. Um sich der Frage nach der ständigen Wiederherstellung von Führungslegitimität empirisch annähern zu können, ist deshalb die aufgestellte Definition von Führungslegitimität zuerst weiter zu konkretisieren, indem das ihr zugrunde liegende Verständnis von Führung und den organisationalen Kernaufgaben von Führung erläutert wird. Dieses Verständnis soll im nachfolgenden Kapitel herausgearbeitet werden. Dabei ist es entscheidend, Führung so zu beschreiben, dass sie mit dem aufgestellten Prozess-Verständnis von Legitimität harmonieren kann. Somit ermöglicht erst eine detaillierte und aufeinander abgestimmte Beschreibung des der Arbeit zugrunde liegenden Verständnisses beider Begriffe, der Führung und der Führungslegitimität, eine nachvollziehbare empirische Betrachtung der Frage, wie Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext kontinuierlich neu erschaffen werden kann. 32 3 Ein systemisches Verständnis von Führung und Führungsaufgaben I perceived in this moment that when the white man turns tyrant, it is his own freedom that he destroys. He becomes a sort of hollow, posing dummy, the conventionalized figure of a sahib. For it is the condition of his rule that he shall spend his life in trying to impress the "natives", and so in every crisis he has got to do what the "natives" expect of him. He wears a mask, and his face grows to fit it. - George Orwell, Shooting an Elephant Im vorangegangen Kapitel wurde ein prozesstheoretisches Verständnis von Führungslegitimität herausgearbeitet. Es wurde aufgezeigt, dass Führungslegitimität nicht zwangsläufig als eine Entität, als ein Besitz von Führung zu betrachten ist, sondern als ein kontinuierlich neu zu verfertigender Prozess verstanden werden kann. Um ein derartiges Legitimitätsverständnis zu komplettieren, ist es jedoch auch erforderlich, ein Führungsverständnis zu beschreiben, das mit einem solchen Begriff von Führungslegitimität in Einklang gebracht werden kann. Für den Zweck ein solches Führungsverständnis herauszuarbeiten, ist es vorderhand hilfreich, die Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Führungsliteratur zu reflektieren. 20 Diese Entwicklung hängt auch mit sich verändernden Organisationsverständnissen zusammen. Kieser und Ebers (2006) beschreiben einen engen Zusammenhang zwischen Vorstellungen von Führung und den ihnen zugrunde liegenden und von ihnen beeinflussten Organisationsverständnissen. Wie im Kapitel 3.1 argumentiert werden soll, werden vor allem klassische, personenorientierte Führungsverständnisse durch Bilder strikt hierarchischer Organisationen geprägt, deren Ursprung in der frühen Zeit der Industrialisierung oder im Militärwesen liegt. Solche Führungsverständnisse sind kompatibel mit einem Begriff von Führungslegitimität, der Legitimität auf der Basis der Akzeptanz von Herrschaft konzipiert und ihr eine simple Dualität der Annahme/Ablehnung von Befehlen zugrunde legt. Gleichzeitig lässt sich jedoch darstellen, dass dieses 20 Es geht hierbei nicht um eine Abhandlung aller bestehenden Führungstheorien, sondern lediglich um die Darstellung gewisser Trends in der Betrachtung von Führung, die für die Entwicklung eines prozesstheoretischen Verständnisses von Führung hilfreich scheinen. 33 klassische Verständnis von Führung bereits seit mehreren Jahrzehnten von verschiedenen Seiten zunehmender Kritik ausgesetzt ist. Basierend auf dieser Kritik entwickelten sich insbesondere in den 70er und 80er Jahren neue Führungstheorien unter Schlagwörtern wie „Situational Leadership“, „Transactional Leadership“ und „Transformational Leadership“. Wie im Kapitel 3.2 näher aufgezeigt wird, liegt der Beitrag dieser Theorieansätze in erster Linie darin, dass sie die Betrachtung von Führung erweitert haben. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr nur die Führungskraft und ihre persönlichen Eigenschaften. Dennoch bleibt bei all diesen Betrachtungsweisen die Führungskraft als handelnde Person im Fokus der Aufmerksamkeit. Ohne den Beitrag der soeben beschriebenen theoretischen Überlegungen schmälern zu wollen, soll im Kapitel 3.3 ein Führungsverständnis entworfen werden, das sich stärker auf die Systemtheorie stützt. Ein solches Führungsverständnis sieht Führung nicht in erster Linie als die individuelle Leistung einzelner Führungspersönlichkeiten, sondern als eine organisationale Funktion. Führung und Organisation werden nicht isoliert betrachtet, sondern als „zwei Seiten ein und derselben Medaille“ (Wimmer, 2008; Publikationstitel). Damit wird Organisation und Führung im Sinne der Systemtheorie als ständig ablaufender und aneinander anschließender Prozess von Entscheidungskommunikation betrachtet. Die Zielsetzung dieses Kapitels ist somit die schrittweise Herleitung eines systemtheoretischen Prozessverständnisses von Führung. Dieses soll genutzt werden, um die zuvor aufgestellte Definition von Führungslegitimität zu präzisieren, damit auf ihrer Basis eine konkrete empirische Betrachtung von Führungslegitimität innerhalb eines heterarchischen Organisationskontexts möglich wird. 3.1 Personen- und eigenschaftsorientierte Führungstheorien Die Mehrheit früher Führungstheorien lassen sich zu den personen- und eigenschaftsorientierten Führungstheorien zählen. Etwas pointiert dargestellt gehen sie davon aus, dass Führung eine Aufgabe ist, die von Einzelpersonen zu erbringen ist. Dabei wird angenommen, dass insbesondere die Persönlichkeitseigenschaften (traits) dieser Personen für ihre Fähigkeit zu führen verantwortlich sind. In den folgenden Abschnitten wird näher auf die Entstehung dieses Führungsverständnisses eingegangen, das bis heute einen immensen Einfluss auf das Alltagsverständnis von Führung ausübt. Anschließend wird beschrieben, welche Limitationen es mit sich bringt und inwiefern es für die Betrachtung rezenter Organisationsformen geeignet ist. 34 3.1.1 Die Führungskraft im Zentrum der Führungsliteratur Es lässt sich relativ deutlich herleiten, dass der Ursprung der Führungsliteratur – sowohl in der Psychologie als auch in der Betriebswirtschaft – in personen- sowie eigenschaftsorientierten Führungstheorien zu verorten ist. Die zentralen Annahmen solcher Führungstheorien sind nach Vaupel (2008, S. 124), dass die Führungskraft „Kraft ihrer Persönlichkeit oder bestimmter Eigenschaften den Lauf der Dinge [prägt]“ und dass diese Eigenschaften angeboren oder erlernbar sind. In ersterem Fall spricht man vom Great Man Ansatz (z. B. Carlyle, 1849), der bis zu den 1930er Jahren vorherrschend war. Die Annahme, dass Eigenschaften auch erlernbar sind, wird seit den 1920er Jahren durch den Trait-Approach verstärkt aufgegriffen (siehe insbesondere Cowley, 1931). In einem Überblick über die bestehende Führungsliteratur Anfang des 20. Jahrhunderts von Smith und Krueger (1933) zeigt sich ebenfalls, dass der nahezu ausschließliche Fokus der verfassten Schriften den Persönlichkeitseigenschaften von Führungskräften gilt. Dass der Trait-Ansatz und weitere eigenschaftsorientierte Theorien in der Psychologie große Verbreitung gefunden haben, lässt sich laut Hollander (1964) insbesondere damit erklären, dass sich die Psychologie in ihrem Selbstverständnis sehr stark auf individuelle persönliche Eigenschaften konzentriert und diese unter verschiedenen Bedingungen zu erforschen sucht. Insofern scheint es durchaus angemessen, wenn bei der psychologischen Betrachtung von Führung die Person des Führenden und seine Psyche in vielen Fällen im Zentrum der Beobachtungen stehen. Erklärungsbedürftiger ist ein ähnlicher Personen-Fokus jedoch in der Betriebswirtschaftslehre, die sich nicht in erster Linie mit Einzelpersonen beschäftigt, sondern tendenziell eher den Erfolg und die Funktionsweise von Organisationen im Blick hat. Es muss jedoch berücksichtigt werden, zu welcher Zeit und unter welchen Bedingungen die personenzentrierten Führungstheorien in der Betriebswirtschaft entstanden. Das Fin de Siècle war eine Hochphase der fortscheitenden Industrialisierung. In dieser Zeit entstanden Organisationen auf der Basis eines generellen Maschinenverständnisses und auch ihre theoretische Rezeption erfolgte auf diese Weise (Herbst, 1967). So diskutierte zum Beispiel Max Weber verschiedentlich Prallelen zwischen Mechanisierungs- und Organisationsprozessen (Weber, 1922). Ausdruck dieser Denkweise im betriebswirtschaftlichen Metier 21 sind 21 Die Betriebswirtschaftslehre an sich befand sich zu dieser Zeit gerade in ihrer Entstehung, indem sie sich von der traditionellen Volkswirtschaftslehre abkoppelte, aus der sie hervorgegangen war. Sie folgte jedoch nach wie vor ähnlichen Regeln wie ihre Ursprungswissenschaft. Und obwohl auch einigen Theoretikern dieser Zeit bewusst gewesen sein dürfte, dass es sich bei Wirtschaftsorganisationen nicht um einfache Maschinen handelt, wurden solche Überlegungen – zum Teil sogar bewusst – ausgeklammert. So argumentierte unter anderem Gutenberg (1929): „Die Fülle und Unübersichtlichkeit der betriebswirtschaftlichen Phänomene scheint die Aufstellung allgemeiner theoretischer Sätze unmöglich zu machen“ und folgerte daraus, dass die Annahme getroffen werden muss, „dass die Organisation der Unternehmung vollkommen funktioniert“ um 35 zuvorderst Frederick Taylors Principles of Scientific Management (1911). Der Grundüberlegung, die Wertschöpfung in möglichst viele Einzelprozesse zu unterteilen, diese zu optimieren und anschließend zu einem Ganzen aneinanderzureihen, liegt eine unverkennbare Maschinenlogik zugrunde: einzelne Teile können isoliert betrachtet werden und anschließend zu einem funktionierenden Ganzen zusammengesetzt werden. Vor diesem Hintergrund kann auch die Entstehung der frühen Führungstheorien betrachtet werden. Thompsons (1967) spricht hierbei von rationalistischen Organisationsvorstellungen und weist darauf hin, dass diese sich gut mit der Vorstellung von omnipotenten Individuen an der Spitze von Organisationen vereinbaren lässt, deren Handeln für den Erfolg oder Misserfolg einer Organisation verantwortlich ist. Eine Konzentration der Forschung auf die Führungskraft als Individuum ist der folgerichtige Schluss basierend auf den meist impliziten Annahmen über Organisation und Führung jener Zeit. Wenn eine Organisation dem Prinzip nach durch eine Person überschaubar und kontrollierbar ist, kommt dieser Person eine sehr große Bedeutung zu. Fragen, welche Eigenschaften diese Person besitzen sollte und basierend auf welche Grundlagen sie sich entscheiden sollte, sind von zentraler Bedeutung. 3.1.2 Kritik an personen- und eigenschaftsorientierten Führungstheorien Eine Reflexion der zentralen Annahmen, die der früheren Führungsforschung zugrunde liegen, macht deutlich, dass durch diese Betrachtungsweise einige bedeutende Fragestellungen der organisationalen Wirklichkeit unberücksichtigt bleiben. Dennoch halten sich die Vorstellungen von beinahe allmächtigen Führungspersönlichkeiten bis heute hartnäckig in Teilen der Wirtschaftstheorie sowie insbesondere in der Wirtschaftspresse 22. Bereits Hollander (1978) weist auf das Festhalten an den ursprünglichen personenorientierten Führungstheorien hin und erklärt deren anhaltende Stabilität wie folgt: dadurch zu einer „Neutralisierung der Probleme der Organisation zu gelangen“ (S. 24 resp. S. 26). Erst die Ausblendung all dessen, was Organisationen kompliziert macht, ermöglicht nach diesem Verständnis deren wissenschaftliche Behandlung. Hierfür wird jedoch ein hoher Preis bezahlt, da sehr stark von dem abstrahiert werden muss, was Organisationen in ihrem Kern sind. 22 Vgl. Mintzberg (2004). Unter anderem weist er auf Artikel aus den Forbes Ausgaben 04/1997 und 03/1997 hin: „In four years Gerstner has added more than $40 billion to IBM’s share value.“ […] „When Merck’s directors tapped Gilmartin, 56, as CEO four years ago, they gave him a crucial mission: create a new generation of blockbuster drugs to replace important products whose patents were soon to expire. Gilmartin has delivered.” (Mintzberg, 2004; S. 106) 36 “Although it is probably the oldest theory of leadership, the idea of the “great man” is still current.” (S. 19) “Many traditional conceptions about leadership are unexamined beliefs which rarely are challenged. Most people operate with implicit ideas about leadership, just as they do about human behavior in general.” (S. 159) Aus diesem Grund scheint es angebracht, die in der Führungsliteratur ebenfalls existierende und sehr vielseitige Kritik an vornehmlich personenorientierten Führungsverständnissen im Einzelnen darzustellen, um die Einschränkungen solcher Theorien deutlich zu machen. Dabei sollen insbesondere einige der oftmals unhinterfragten Grundannahmen solcher Führungsbilder offengelegt werden. Hiermit soll die Basis für das später beschriebene systemtheoretische Verständnis von Führung geschaffen werden, das ohne diese Vorüberlegungen zum Teil etwas kontra-intuitiv anmuten mag, gerade weil die klassischen personenorientierten Führungsvorstellungen vielfach als selbstverständlich angesehen werden. Gängige Metaphern stabilisieren personenorientierte Führungsvorstellungen Wie tief das personenorientierte Führungsverständnis im heutigen Alltag verwurzelt ist entlarvt bereits der Blick auf heute gängige Führungsmetaphern. 23 Ein regelmäßig genutzter Typ von Metaphern zur Beschreibung von Führung ist der Typus der Militärmetapher. Solche Metaphern werden im Zusammenhang mit Führung besonders häufig gebraucht (z.B. Stahl und Rissbacher, 2007; Hoßfeld, 2011). Die Führungskraft wird wechselweise als General oder Feldherr auf einem Hügel, der die „Marschrichtung“ vorgibt, „rallies the troops“, oder eine „Übernahmeschlacht“ für sich entscheidet. Dass solche Bilder von Führung nicht nur die Managementtheorie, sondern auch die Managementpraxis beeinflussen, zeigt sich unter anderem, wenn ein ehemaliger Chef der Deutschen Bahn darauf hinweist, dass Napoleon „ein hervorragender Bahnchef“ gewesen wäre. 24 Es bleibt dabei zum einen oft unreflektiert, inwieweit Analogien zwischen militärischen und zivilen Organisationen zulässig sind. Weit problematischer ist jedoch, dass Militäranalogien oft Führungsbilder vermitteln, die nicht einmal für das Militär selbst zutreffen sind. So spricht Janowitz (1959) von einem Führungsbild der „domination“, deren Ziel es ist eine „mechanical compliance“ (S. 482) zu erzeugen. Dieses Führungsverständnis ist jedoch aus seiner Sicht auch in militärischen 23 Dieser Punkt ist von hoher Bedeutung, da davon auszugehen ist, dass jede Form von Sprache (vgl. Wittgenstein 1922), insbesondere jedoch bildliche Sprache in Metaphern (v.a. Lakoff und Johnson, 2008; Lakoff und Wehling, 2009) einen prägenden Einfluss auf das menschliche Denken ausübt. 24 So Hartmut Mehdorn in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2008: http://www.spiegel.de/wirtschaft/deutsche-bahn-mehdorn-nennt-napoleon-als-vorbild-a-559727.html 37 Kontexten nicht angemessen, da aufgrund der gestiegenen Komplexität und Technisierung von Armeen militärische Führung deutlich weniger direkt, autoritär und willkürlich ist als vielfach angenommen. Experten innerhalb des Militärs verfügen über einzigartiges Fachwissen und sind aus diesem Grund nicht mehr beliebig kontrollierbar. 25 Somit wird durch Verweise auf militärische Kontexte ein Führungsverständnis transportiert, das plausibel erscheint, einer intensiveren Reflexion jedoch nicht standhalten kann. Ähnliches lässt sich am Beispiel von Pyramidenmetaphern beobachten. Sie verkörpern die Idee einer klar geordneten Hierarchie, die an der Unternehmensspitze in einem Punkt zusammenläuft. Innerhalb von Unternehmen findet sich diese Metapher insbesondere in der Darstellung unterschiedlichster Organigramme wieder. 26 Neuberger (1994) argumentiert, dass die Pyramiden-Darstellung von Organisationen eine „monokratische Auffassung von Führung“ mittransportiert: „Wenn in herkömmlicher Weise über Führung geredet wird, dann steht im Hintergrund das unausgesprochene Bild der pyramidalen Hierarchie: Es geht um die Regulierung der vertikalen Beziehungen im Rahmen definierter (abgegrenzter) Befehlsstränge“ (S. 261). Es kann angenommen werden, dass hier der Fall eines unbewussten Rückgriffs auf eine generelle Vorstellung eines geschichtlich tradierten Bildes von Hierarchie vorliegt. In Neubergers Ausdruck der „monokratischen Auffassung von Führung“ findet sich ein Verständnis von Hierarchie im Wortsinn als „heilige Ordnung“ wieder und die – auch religiös geprägte – Annahme, dass es seit jeher eine Person an der Spitze gibt, die eine letzte Entscheidungsgewalt innehat. Es muss jedoch hinterfragt werden, ob heutige Organisationen bezüglich ihrer Struktur problemlos mit Organisationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder gar mit monarchischen Führungsstrukturen des Mittelalters verglichen werden können. Außerdem darf wie bereits zuvor angezweifelt werden, ob das in der PyramidenMetapher mitgeführte Verständnis von Hierarchie und Führung jemals so existierte. 27 Wie diese Beispiele verdeutlichen, besteht die Gefahr, dass gängige Führungsmetaphern 28 zu stark vereinfachenden oder zum Teil unrealistischen Vorstellungen von Führung verleiten. In den nachfolgenden Abschnitten sollen diese 25 Dieser Umstand lässt sich z.B. im Schweizer Militär in der Funktion des Fachoffiziers beobachten. Er ist als eine Behelfslösung in einer Organisation zu verstehen, die realisiert hat, dass eine strikte hierarchische Ordnung auf der Basis von Dienstgraden nicht mehr ohne Einschränkungen durchhaltbar ist. 26 Ergänzt wird die Pyramiden Metapher zum Teil durch die Metapher der Unterteilung in Körper/ausführende Arme und Gehirn – „oben“ in der Organisation sitzt das Gehirn, das entscheidet, während der Rest der Organisation diese Entscheidungen implementiert (vgl. Beer, 1972). 27 So hatten zum Beispiel die „absolutistischen“ Monarchen Frankreichs, die heute sinnbildlich für vollkommene Macht und zentralistische Führung stehen, nicht einmal die Hoheit über die Steuergesetzgebung im Land. Diese konnten sie nur ändern, indem sie die Generalstände einberiefen – und welche Folgen das nach sich ziehen konnte, ist geschichtlich gut überliefert. 28 Weitere Beispiele für Metaphern, deren Anwendung auf Organisations- und Führungskontexte bereits an anderer Stelle kritisch hinterfragt wurde, ist das Bild des Schachspielers (vgl. Mintzberg et al. 2005) oder des Dirigenten (vgl. Weick, 1969). 38 Limitationen personenorientierte Führungsbilder weiter ausgeführt werden, um aufzuzeigen, warum ein solches Führungsverständnis für die vorliegende Arbeit unzureichend wäre. Konzentration auf Einzelpersonen an der Spitze von Organisationen Wie bereits im Namen angelegt, stehen bei personenorientierten Führungsverständnissen Einzelpersonen im Fokus der Aufmerksamkeit. Solch eine Zuspitzung des Führungsbegriffs schließt jedoch Vieles aus, das für das Verständnis von Führung von Bedeutung sein kann. Diese Konzentration auf Einzelpersonen wurde bereits in einer frühen Phase der Führungsliteratur kritisiert. 29 Eine mögliche Erklärung für die anhaltende Konzentration auf Einzelpersonen lässt sich im Zusammenhang von Weicks Beschreibung von Sensemaking-Prozessen finden (1979; 1995). Weick beschreibt, dass Menschen in der Regel das Bedürfnis haben, Gründe und Ursachen für beobachtete Phänomene zu finden und sich deshalb – oft unbewusst – für sie logisch erscheinende Sinnzusammenhänge konstruieren. Dies geschieht, indem verschiedenen Ereignissen eine bestimmte Bedeutung zuschreiben wird, die sinnvoll erscheint. Was sinnvoll ist, ist dabei höchst subjektiv. Und gerade dort, wo Sinnzusammenhänge durch kognitive Dissonanzen (vgl. Festinger, 1957) gestört werden, neigen Menschen besonders stark dazu, diese Dissonanzen durch unbewusste Zuschreibungsprozesse zu reduzieren. Dies lässt sich auch auf Organisationskontexte übertragen, wo ebenfalls ständig Sensemaking-Prozesse ablaufen. Es erscheint Organisationsmitgliedern in der Regel als wichtig, sich Gründe für gewisse organisationale Ereignisse zurechtzulegen und diese dadurch dem Schein nach erklärbar zu machen. Vor allem Pfeffer, aber auch Calder, weisen in diesem Zusammenhang in mehreren Publikationen darauf hin, dass Organisationsmitglieder ein hohes Bedürfnis nach logisch erscheinenden Ursachen für organisationale Erfolge oder Misserfolge haben. Dieses Bedürfnis wird aus Sicht der Autoren vornehmlich dadurch befriedigt, dass Führungskräften in organisationalen Kontexten ein hohes Maß an Kontrolle und Steuerungsmöglichkeiten zugeschrieben wird (Pfeffer, 1977a; Salancik und Pfeffer, 1978; Pfeffer und Salancic, 1978; Calder, 1977). 30, 31 29 Schon 1951 meinten Freedman et al., dass „the influence which any single individual may have upon the development of groups (and especially the larger and more important groups which men have formed) is not so great as we frequently imagine” (S. 83). Ebenso argumentiert eine Studie von Lieberson und O’Connor (1972), dass der Bedeutung von Führungskräften eine aus ihrer Sicht zu große Rolle beigemessen wird. 30 Liebersons und O’Conners (1972) erwähnen diesbezüglich, dass derartige Zuschreibungen auf Führung auch ein Gefühl von Kontrolle erzeugen können: “Malinowski argues that belief in supernatural forces provides the Trobriand Islanders with a feeling of control over important events which they are impotent to affect through natural means. Such are the rain, sun, and insects 39 Unterstützt werden Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer solchen Personenorientierung insbesondere von einer Reihe von Studien, die erfolglos versucht haben, einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen einzelnen Führungskräften oder Führungseigenschaften und allgemeiner Unternehmensperformance nachzuweisen. Aufmerksamkeit hat insbesondere die bereits zuvor zitierte Studie von Lieberson und O’Conner (1972) im American Sociological Review erregt. Die beiden Autoren kamen in einer Studie mit 167 Großunternehmen zu dem Schluss, dass gerade bei Umsatz und Gewinn kein direkter Zusammenhang zur obersten Führungsspitze des jeweiligen Unternehmens hergestellt werden kann. In ähnlicher Weise sehen Pettigrew und Whipp (1991) und Dachler (1992) keine solide empirische Grundlage für die starke Orientierung von Führungstheorien an einzelnen Individuen. Ebenso ernüchternd fallen quantitative Studien zur Bedeutung einzelner Führungseigenschaften (traits) aus. Bereits in den 40er Jahren kam Stogdill (1948) zu dem Ergebnis, dass in vorangegangen Studien keine Korrelation zwischen Persönlichkeitseigenschaften und Führungserfolg festgestellt werden konnte. 32 Diese schwache Erkenntnislage über den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften von Führungskräften und ihrem Erfolg lässt sich aus Sicht der vorliegenden Arbeit auch damit begründen, dass die Ausgangsfrage falsch gestellt ist. Wie Dachler (1992) argumentiert sollte Führung nicht als individuelle Aufgabe, sondern als ein relationaler Prozess betrachtet werden: “Within a relational approach to leadership and management, it might also become more apparent that the personal attributes of individual actors in relationships are not something objective that they bring with them to their relationships as they do their physical characteristics. Instead, we might begin to understand psychological characteristics of individual actors as a consequence of their relatedness.” (S. 175) Aufgrund dieser Erkenntnislage und der neueren Überlegungen im Bereich der Führungstheorie hat sich eine zum Teil sehr beißende Kritik am konventionellen personen- und eigenschaftsorientierten Führungsverständnis entwickelt. Sehr pointiert meinen zum Beispiel von Meindl et al. (1985): affecting crops, and the tides, gales, and unknown reefs affecting safety in an outrigger (1948: 2830). Similarly, belief in a political leader's ability to align affairs may generate a feeling of indirect control.” (S. 118) 31 Theorien, dass die Möglichkeiten von Führungspersonen systematisch überschätzt werden, lassen sich auch im Feld der Psychologie finden. Hier wird argumentiert, dass der Einfluss von Einzelpersonen oftmals überschätzt wird (Ross, 1977; Staw, 1975) und Erfolge bzw. Misserfolge aufgrund von Perfomance Cue Effekten tendenziell zu stark Einzelpersonen zugeschrieben werden (Binning et al., 1986). 32 Vgl. ebenso Mann (1959), sowie aktuelle Arbeiten von Neuberger (2002) oder Sadler (2003), der zu dem Schluss kommt, dass „empirical studies have failed to establish a link between effective leadership and any single trait or group of traits” (S. 11). 40 “It appears that as observers of and as participants in organizations, we may have developed highly romanticized, heroic views of leadership — what leaders do, what they are able to accomplish, and the general effects they have on our lives. One of the principal elements in this romanticized conception is the view that leadership is a central organizational process and the premier force in the scheme of organizational events and activities.” (S. 79) Wichtig als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion ist somit die Erkenntnis, dass Führungsbilder oft unbewusst wie bewusst von Vorstellungen einzelner Führungspersonen geprägt werden, die am Ruder von komplexen Organisationen sitzen und deren Geschicke lenken. Um Führung mit dem in Kapitel 2 skizzierten prozessualen Verständnis von Führungslegitimität vereinbar zu machen, ist es wichtig, diese Konzentration auf Individuen kritisch zu reflektieren und zu verstehen, dass eine solche Personenorientierung weder konzeptionell noch empirisch unumstößlich ist. Die Prämisse der Steuerbarkeit Eng verbunden mit Fokus auf Einzelpersonen ist der Glaube an die Steuerbarkeit von Organisationen verbunden. Diesem Glauben liegt oft das klassische, von Max Weber (1922) ausformulierte Organisationsverständnis zugrunde, nach dem Zuverlässigkeit und Effizienz durch die Ausformulierung detaillierter Regeln und deren hierarchische Überwachung sichergestellt werden können. Im Umkehrschluss wird dies dann so interpretiert, dass die entscheidende Tätigkeit einer Führungskraft darin besteht, geeignete Regeln aufzustellen und deren Einhaltung sicherzustellen. Auf diese Weise kann selbst der Erfolg großer multinationaler Konzerne einzelnen Führungspersönlichkeiten zugeschrieben werden, die die richtigen Entscheidungen getroffen und damit die gesamte Organisation auf gute Bahnen gelenkt haben. Das Problem an dieser Sichtweise ist jedoch, dass sie bei näherer Betrachtung die Komplexität organisationaler Realitäten nicht angemessen berücksichtigt. So weisen Meindl und Ehrlich (1987) darauf hin, dass Führung vor allem deshalb als zentrale Einflussgröße in Organisationen verstanden wird, weil damit die überwältigende Komplexität von Organisationen auf ein einfaches, verständliches Schema heruntergebrochen werden kann, das zur Erklärung organisationaler Phänomene genutzt werden kann. Ein ähnliches Argument vertritt Thompson (1967). Das klassische Führungsbild einer zentral steuernden Einzelperson ist jedoch aus seiner Sicht nicht haltbar, sobald eine der folgenden drei Bedingungen eintritt: 1. “When complexity of the technology or technologies exceeds the comprehension of the individual. […] 41 2. When resources required exceed the capacity of the individual to acquire. […] 3. When the organization faces contingencies on more fronts than the individual is able to keep under surveillance.” (S. 133) Insbesondere für größere und komplexere Organisationen muss davon ausgegangen werden, dass alle drei Bedingungen in einem solchen Ausmaß zusammentreffen, dass die Annahme der Kontrolle durch eine Person oder eine kleine Gruppe von Führungskräften verworfen werden muss. Auch operieren Manager in komplexen Organisationen selten unter Bedingungen, die sie vollständig verstehen und durchschauen (Wildavsky, 1979). Als Folge davon, muss auch das traditionelle Verständnis von Führung in Organisationen weiterentwickelt werden. „In komplexen Organisationen muss sich unweigerlich das Schwergewicht von der Fremd- zur Eigenkontrolle verlagern“ (Wimmer, 1989; S. 150). Die zentrale Steuerung durch eine Führungskraft ist keine praktikable Alternative mehr. 33 Die Erkenntnis der Nicht-Steuerbarkeit von Organisationen ist vereinbar mit den zuvor ausgeführten Überlegungen, dass Führungslegitimität in komplexen organisationalen Kontexten nicht als der statische Besitz von Führungspersonen betrachtet werden sollte, sondern als unablässig ablaufender Prozess zwischen Führung und Organisation. Führung besitzt weder Legitimität noch kann sie damit die Organisation frei nach ihren Wünschen gestalten, sondern Legitimität selbst ist ein Ausdruck der sich wechselseitig beeinflussenden Interaktionen zwischen Führung und Organisation. Dies ist ein ständiger Prozess, der nicht zuletzt dadurch von hoher Komplexität ist, weil Führung selbst ein Teil von Organisation ist. Ausblendung des prozesshaften Charakters von Führung Eine solche Prozessbetrachtung von Führungslegitimität wird durch personen- und eigenschaftsorientierte Führungstheorien erschwert, weil diese den prozesshaften Charakter von Führung oft weitgehend ausblenden. Der beschriebene Fokus auf die Steuerbarkeit von Organisationen und die Eigenschaften von Führungspersonen 33 Anzumerken ist, dass Organisationen sich oftmals selbst zu helfen wissen, wenn ihre Führung die eigenen Steuerungsmöglichkeiten überschätzt. So zeigen Aiken et al. (1980), dass die von Führungskräften ausgegebenen Unternehmensstrategien sich deutlich häufiger verändern, als die tatsächliche Arbeitsweise der Mitarbeiter. Dermer und Lucas (1986) interpretieren auf dieser Basis die Bedeutung von Kontrollsystemen in Unternehmen als Schutzmechanismen. Indem sie die faktisch sehr eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten des gehobenen Managements verschleiern und die Illusion von Kontrolle aufrecht erhalten, schützen Kontrollsysteme tiefere Hierarchieschichten davor, alle Vorstellungen des gehobenen Managements tatsächlich umsetzen zu müssen und können damit beträchtlichen Schaden von Organisationen abwenden. Dabei lernen Mitarbeiter in der Regel relativ schnell, wie sie sich verhalten müssen, dass die Kontrollsysteme einen gewünschten Eindruck an die Unternehmensleitung weitervermitteln (Peters und Waterman, 1982). 42 evoziert ein klar entitatives Verständnis von Führung. Dabei wird die Bedeutung kontinuierlich ablaufender Prozesse sozialer Interaktionen oft vernachlässig. Dieses entitative Verständnis von Führung mag auch erklären, warum die zuvor beschriebenen Studien dieses Feldes kaum gesicherte Erkenntnisse produzieren konnten. Wenn man davon ausgeht, dass „leadership and management are not individual issues but fundamentally relational processes in the construction of organizational realities” (Dachler, S. 176), wird es völlig unmöglich, Führung losgelöst vom sozialen Kontext zu erschließen, in den sie eingebettet ist. Dabei ist die Parallele zu den Ausführungen des vorangegangenen Kapitels offensichtlich: Ähnlich wie bei der beschriebenen Entwicklung des Legitimitätsbegriffs, bewirkt die Einführung sozialer Relationen in die Führungsdiskussion eine Dynamisierung des Verständnisses von Führung und legt ihm zumindest eine schwache Prozessperspektive zu Grunde. 34 Diese von den Beobachtungen organisationaler Praxis abgeleitete Erweiterung des Verständnisses von Führung ist jedoch auf der Basis der personen- und eigenschaftsorientierten Führungsverständnisse nicht möglich. Wenn Führung allein als eine Funktion des Führenden konzipiert ist, bleibt der Blick dafür verstellt, dass Führung ein ständiger sozialer Aushandlungsprozess ist. Folgerichtig beschreibt Calder (1977) den entscheidenden Mangel eigenschaftsorientierter Führungstheorien wie folgt: „Most important, the trait approach failed to distinguish between leadership as a process and the leader as a person.” (S. 179) Ähnlich argumentiert Hollander (1964), dass Führung nicht als eine Akkumulation von Persönlichkeitseigenschaften betrachtet werden sollte, sondern dynamische Prozesse, in dem Attributionen durch diverse Organisationsmitglieder eine große Rolle spielen. 35 Das Ausblenden solcher Prozessdynamiken führt dazu, dass Führungstheorien oft vergessen zu berücksichtigen, dass auch Einflussbeziehungen von Untergebenen zu Führungskräften bestehen (Porters et al., 1981). Es ist jedoch davon auszugehen, dass „jede Position in Organisationen (auch jede Führungsposition) Quelle wie Ziel einer großen Zahl von Einflusslinien [ist]“ (Neuberger, 1994; S. 261). 36 Schumacher (2010) verdeutlicht dies, indem er ausführt, dass Führung nicht nur aus einem asymmetrischen Hierarchieverhältnis, sondern auch aus einem symmetrischen 34 Vgl. Kapitel 2.1.2 Hollander verweist auf Jones und deChamrs (1957) und Dittes und Kelly (1957). Sie argumentieren, dass interpersonelle Wahrnehmungen komplexen Zuschreibungsprozessen entspringen. 36 Dieser Einfluss geht dabei nicht nur von Einzelpersonen, sondern auch von generalisierten Rollenvorstellungen aus. So führt Laurent (1978) unter Hinweis auf die Experimente von Zimbardo (1971) aus: „All participants in the experiment, be they staff, guards or prisoners, became equally subordinated to their assigned roles and to the rapidly developing organizational norms“ (S. 226f.; italics added). 35 43 Beobachtungsverhältnis besteht. Jede Führungskraft ist der ständigen Beobachtung durch ihre Mitarbeiter ausgesetzt und steht somit unter dem ständigen Zwang, sich aufs Neue rechtfertigen zu müssen. All diese Überlegungen zeigen, dass Führung eine unverkennbar prozessuale Komponente beinhaltet. Eine statische Betrachtungsweise von Führung, die aus eigenschafts- und personenorientierten Führungstheorien hervorgeht, kann derartige Dynamiken nicht erfassen und daher nur ein partielles Bild von Führung zeichnen. Deshalb ist es auf dieser Basis auch nicht möglich, ein Prozessverständnis von Führungslegitimität zu etablieren. 3.1.3 Zusammenfassende Würdigung Personen- und eigenschaftsorientierte Führungsverständnisse gehören nicht nur zu den ältesten, sondern auch nach wie vor zu den einflussreichsten Führungsvorstellungen. Es lassen sich jedoch auch Schwächen dieser Betrachtungsweise ausmachen. In diesem Kapitel wurde argumentiert, dass das Denken über Führung oftmals unbewusst Metaphern beeinflusst wird, die sich bei genauerer Betrachtung nur eingeschränkt zur Beschreibung von Führung in komplexen Organisationen eignen. Es folgt, dass die Bedeutung von Einzelpersonen und ihre Steuerungsmöglichkeiten systematisch überschätzt werden und der prozesshafte, dynamische Charakter von Führung weitgehend ausgeblendet wird. Diese Darstellung des klassischen personen- und eigenschaftsorientierten Verständnisses von Führung zeigte, dass eine derartige Konzeption von Führung nur schwer vereinbar ist mit dem zuvor aufgestellten Prozessverständnis von Führungslegitimität. Der Fokus eines solchen Führungsverständnisses liegt auf Einzelpersonen und blendet prozesshafte Elemente von Führung weitgehend aus. Im nachfolgenden Kapitel (3.2) wird gezeigt, dass auf der Basis der Einschränkungen dieser traditionellen Führungsvorstellungen neue Führungstheorien entstanden sind. Dabei wird ersichtlich, dass die klassischen Führungsvorstellungen dynamisiert werden und ihnen zum Teil ein schwaches Prozessverständnis 37 zugrunde gelegt wird. In gewisser Weise lässt sich damit eine ähnliche Entwicklung nachvollziehen, wie dies bei der Diskussion zu unterschiedlichen Legitimitätsverständnissen der Fall war. Hierbei wird sich jedoch auch zeigen, dass die vorgestellten Führungstheorien für die Zwecke dieser Arbeit ebenfalls ernstzunehmenden Einschränkungen unterworfen sind. Deshalb wird im abschließenden Teilkapitel (3.3) ein auf der Systemtheorie basierendes Prozessverständnis von Führung entworfen, das mit der zuvor aufgestellten Prozessdefinition von Führungslegitimität harmoniert und als Basis für die sich anschließenden empirischen Beobachtungen dienen kann. 37 Vgl. Kapitel 2.1.2 44 3.2 Führungstheorien jenseits der klassischen Personen- und Eigenschaftsorientierung Die im vorangegangenen Teilkapitel vorgestellte Kritik an personenorientierten Führungstheorien hat zu der Entwicklung einer unübersichtlichen Zahl an neuen Vorschlägen geführt, wie Führung in der Theorie und der Praxis zu betrachten ist. Auf den folgenden Seiten soll illustriert werden, in welchen Aspekten dabei der klassische „Trait Approach“ erweitert wurde. Diese Weiterentwicklung der Führungsliteratur soll anhand dreier bedeutender Führungstheorien dargestellt werden. Diese drei Ansätze – Situational Leadership; Transactional Leadership; Transformational Leadership – sind keineswegs die einzigen Führungstheorien, die für diese Betrachtung herangezogen werden hätten können, aber es handelt sich um drei der bedeutendsten Anschauungen in der Führungsliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit deren Hilfe es möglich ist, eine grobe Entwicklung dieser Literatur zu skizzieren. Es soll jedoch zugleich argumentiert werden, dass einige zentrale Fragestellungen auch in diesen Theorien unbeantwortet bleiben. Dabei spielt es – wie im Folgenden näher auszuführen sein wird – eine große Rolle, dass die Steuerungsmöglichkeiten von Führungskräften nach wie vor tendenziell überschätzt werden und damit der organisationale Kontext, in dem Führung operiert, von untergeordneter Rolle bleibt. Dies begrenzt das Ausmaß, in dem Führung auf der Basis der beschriebenen Theorien als Prozess konzipiert werden kann. Ebenso ist es schwierig, Führungsvorstellungen mit einem nach wie vor recht ausgeprägten Glauben an die Steuerbarkeit von Organisationen durch Einzelpersonen, mit dem zuvor vorgestellten Konzept von Führungslegitimität zu vereinbaren. Deshalb ist auch dieses Teilkapitel nur ein weiterer Schritt hin zu einer Prozessdefinition von Führung, die anschließend (Kapitel 3.3) entwickelt wird – jedoch ein wichtiger Teilschritt, da er Tendenzen zu einem prozessualen Führungsverständnis in der Literatur aufzeigt und damit als Fundament für die sich anschließenden Überlegungen zu einem Prozessverständnis von Führung dient. 3.2.1 Situational Leadership Ein Ausgangspunkt für die Entstehung neuer Führungstheorien war die Erkenntnis, dass ein Großteil der eigenschaftsorientierten Untersuchungen ausschließlich auf die Führungskraft selbst geachtet hatte und dabei deren Mitarbeiter völlig ausgeblendet hatte (z. B. Burns, 2010). Ein früher Theorieansatz, der diesen Umstand gezielt aufgriff, ist die Situational Leadership Theory, dessen Anfänge auf Hersey und Blanchard (1969) zurückgehen. 45 Die Theorie von situativer Führung grenzt sich von vorhergehenden Führungsansätzen stark ab, indem sie nicht länger die Eigenschaften von Führungskräften, sondern ihren durch die jeweilige Situation geprägten Umgang mit Mitarbeitern ins Blickfeld rückt. Retrospektiv betont Hollander (1978), dass der situative Führungsansatz ein „needed antidote to the emphasis on leader traits which long dominated the study of leadership” war (S. 152). Hollander nennt die Erweiterung der Betrachtungs-Perspektive auf die zu führenden Personen sowie die allgemeine Situation, von der das Handeln einer Führungskraft umfasst ist, als eine wichtige Weiterentwicklung gegenüber den bislang dominierenden Führungsbetrachtungen. Grundsätzlich geht der situative Führungsansatz davon aus, dass das Verhalten von Führungskräften situativ angepasst werden sollte. Dabei spielen insbesondere die Mitarbeiter eine zentrale Rolle. Je nachdem, welchen Mitarbeiter eine Führungskraft anspricht und mit welcher Aufgabe sie ihn betrauen möchte, so die Argumentation, muss die Führungskraft das für die Situation geeignete Handeln wählen. Hersey (1984) spricht hierbei vom „Readiness Level“ der Mitarbeiter. 38 Wird der „Readiness Level“ eines Mitarbeiters richtig eingeschätzt und das Führungsverhalten hierauf angepasst, ist von einer gesteigerten Leistungsbereitschaft des Mitarbeiters auszugehen. Es ist somit in der Theorie mit angelegt, dass eine Führungskraft das Verhalten ihrer Mitarbeiter nicht nach Belieben steuern kann, sondern in einem ersten Schritt das eigene Verhalten von dem der Mitarbeiter abhängig machen muss. Bei genauerer Betrachtung des situativen Führungsansatzes fällt auf, dass er nicht nur insofern eine Weiterentwicklung früherer Theorien ist, als er die Geführten wieder in die Theorie der Führung einführt. In Folge dieser Überlegungen ergibt es sich auch, dass das Verständnis von Führung stark dynamisiert wird. Wenn Führung von der situativen Bereitschaft der Geführten und der allgemeinen sie umgebenden Situation abhängt, kann man sie nicht länger als ein statisches Konzept betrachten. Vielmehr rückt das Prozesshafte der Interaktionen zwischen Führungskraft, Geführten und Situation zumindest implizit ins Blickfeld. Aussagen von Hersey (1984) wie „power is something you earn on a day to day basis“ zeigen hierbei, dass die stärkere Prozessbetonung dieses Führungsverständnisses bereits eher mit der in Kapitel 2 aufgestellten Prozessdefinition von Führungslegitimität vereinbar ist. Diese Beiträge zu vorangegangenen Führungstheorien verleihen der situativen Führungstheorie ihre Bedeutung. Dennoch blieb das Interesse an diesem Führungsansatz insbesondere von Seiten der Theorie nur von vorübergehender Natur. Das mag zum einen daran liegen, dass in verschiedenen quantitativen Studien die aufgestellten „Readiness Level“ und die darauf abgestimmten 38 Der “Readiness Level” von Mitarbeitern ist gemäß der Theorie nicht statisch, sonder hängt von den Aufgaben ab, die ein Mitarbeiter erledigen soll. Je nachdem, wie bereit ein Mitarbeiter für eine bestimmte Aufgabe ist, wird situativ das Führungsverhalten „Telling“, „Selling“, „Participating“ oder „Delegating“ empfohlen. 46 Führungspraktiken angezweifelt wurden (z. B. Blank et al., 1990). Von höherer Bedeutung ist jedoch, dass verschiedene Fragen zum situativen Führungsstil offenblieben. Es wurde zum Beispiel wenig darüber geschrieben, wie verschiedene „Readiness Level“ zuverlässig erkannt werden können. Außerdem ist es fraglich, ob es eine realistische Annahme ist, dass eine Führungskraft für die sich stark voneinander unterscheidenden Situationen jeweils das passende Verhalten an den Tag legen kann. Darüber hinaus kritisiert Hollander (1978), dass der Einfluss, den die Geführten auf die Führungskräfte ausüben können, weitgehend unbeachtet bleibt. Wie Weick pragmatisch festhält, verhält es sich in letzter Konsequenz so, dass „subordinates ultimately determine the amount of influence exerted by those who lead“ (1979, S. 39). So weit geht die Berücksichtigung von Geführten bei den Publikationen zum situativen Führungsverständnis jedoch nicht. Auch wird die Führungskraft quasi als eine außenstehende Person betrachtet, die eine Situation und Mitarbeiter vorfindet. Dass die Führungskraft selbst Teil der Situation ist und durch ihr Verhalten diese prägt, aber gleichzeitig auch von ihr geprägt wird, bleibt in der Regel unreflektiert. 3.2.2 Transactional Leadership Aufbauend auf dem situativen Führungsansatz und der Wiedereinführung der Geführten in die Führungstheorie, wurde unter anderem der transaktionale Führungsansatz entwickelt, der die Interaktionsbeziehungen zwischen verschiedenen Personen innerhalb von Organisationen in den Mittelpunkt rückt, statt Führungskräfte als isolierte Individuen zu betrachten. Dieser Führungsansatz geht in erster Linie auf Hollander und Jullian (1969; 1970) zurück. Sie stellen das Verhältnis zwischen Führungskräften und Geführten als eine Austauschbeziehung dar, die insbesondere dann erfolgreich verläuft, wenn es gelingt, die Interessen der verschiedenen beteiligten Akteure angemessen zu berücksichtigen. Ähnlich wie bereits zuvor beim situativen Führungsverständnis wird somit nicht mehr ausschließlich die Führungskraft selbst betrachtet. 39 Das transaktionale Führungsverständnis kann als die Basis für diverse relationale Führungstheorien betrachtet werden. 40 Deshalb sehen Bass und Stogdill (1990) den zentralen Beitrag des transaktionalen Führungskonzeptes darin, dass die Betrachtung von Führung weiter dynamisiert wurde und soziale Beziehungen stärkere Aufmerksamkeit erhielten: “Leadership was now seen to be contingent on a 39 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Gibbs‘ (1969) interaktionale Betrachtung von Führung. Vgl. z.B. Dachlers (1992) Konzept von Führung als relationalem Phänomen: „Leadership and management are not individual issues but fundamentally relational processes“ (S. 176); ähnlich beschreiben Smircich und Morgan (1982) Führung auf der Basis von Interaktionsprozessen. Sie argumentieren, dass Führung eine „distinctive kind of social practice“ ist, „socially constructed through interaction“ (S.258). 40 47 condition of traits and situations involving a transaction or exchange between the leader and the led” (S. 52). Infolge solcher Betrachtungen wird auch die Asymmetrie im Verhältnis zwischen Führenden und Geführten eingeschränkt. Die klassischen personen- und eigenschaftsorientierten Führungstheorien vermitteln ein Bild von Führung und insbesondere von Geführten, das Sievers (1994) als die “perpetuation of immaturity” (S. 157) bezeichnete. Mit der Konzipierung von Führung als einer Austauschbeziehung wird dieses Bild allmählich aufgebrochen. Der Führende kann nicht länger davon ausgehen, dass er aufgrund seiner Stellung oder seiner persönlichen Eigenschaften jedwede Position durchsetzen kann. Vielmehr gilt es sicherzustellen, dass alle Akteure, die innerhalb der Organisation in einem gegenseitigen Transaktionsverhältnis zueinander stehen, einen Nutzen aus dieser Transaktionsbeziehung ziehen. Dabei kommt den Geführten eine deutlich aktivere Rolle innerhalb von Organisationen zu, als bei eigenschaftsorientierten oder situativen Führungsbetrachtungen: „The social exchange view of leadership sees followers in an active role. Each follower is potentially a source of influence, and to some extent can exert counter-influence” (Hollander, 1978; S. 74). 41 Dabei ist jedoch festzuhalten, dass die Beziehung zwischen Führenden und Geführten oftmals auf eine sehr ökonomische Transaktionsbeziehung reduziert wird. Es geht in der Regel um ein „trading of benefits“ (Bass und Stogdill, 1990; S. 356). Auch wenn eine solche Betrachtung von Nutzen ist, um die Geführten überhaupt erst in das Blickfeld der Führungsforschung zu rücken und ihnen eine aktive Rolle in Führungsprozessen zuzugestehen, bleibt sie notwendigerweise oberflächlich. Im Hintergrund steht die insbesondere in der Volkswirtschaft häufig genutzte Abstrahierung von Personen auf rationale, nutzenmaximierende Akteure innerhalb von Transaktionsbeziehungen. Derartige Betrachtungsweisen lassen zwar gewisse Erkenntnisse und Folgerungen zu, sind aber nur mit Einschränkungen auf den Alltag in real existierenden Organisationen anwendbar (vgl. z.B. Simon, 1956). Aus diesem Grund führt auch der transaktionale Führungsansatz in vielen Fällen zu einem stark vereinfachenden Bild der Führungspraxis, und die aus ihm resultierenden Managementimplikationen wurden von unterschiedlichen Seiten kritisiert. Bass (1985a) beschreibt, dass transaktionale Führung in der Regel auf die Methode der bedingten Anerkennung setzt: Die Führungskraft handelt mit den Geführten bestimmte Zielsetzungen aus und verteilt je nach Zielerreichung Anerkennung in Form von finanziellen Anreizen, Status oder Ähnlichem. Dass der Versuch solch ökonmisierte Beziehungen durchzusetzen nicht automatisch erfolgreich verlaufen muss, legen eine Reihe von gemischten Studienergebnissen 41 Wurzeln solcher Überlegungen lassen sich in der Organisationstheorie zwar bereits früher feststellen. So betonte unter anderem Bernard (1938), dass es die Geführten sind, die darüber entscheiden, ob eine Anweisung umgesetzt wird, nicht die Führenden. Es kann dennoch als eine Leistung des transaktionalen Führungsverständnisses gewertet werden, solche Überlegungen sichtbar in die Führungsliteratur eingeführt zu haben. 48 nahe. So beschreiben Klimoski und Hayes (1980) und Podsakoff et al. (1982) die Methode der bedingten Anerkennung tendenziell als positiv, wohingegen Yammarino und Bass (1990) sowie Howell und Avolio (1993) zu einem eher negativen Fazit gelangen. Ebenfalls eng mit dem transactional Management in Verbindung gebracht wird das „management by exception“ (z.B. Bass und Avolio, 1989), bei dem die Führungskraft sich primär auf negative Abweichungen gegenüber Plänen, Budgets oder den eigenen Erwartungen konzentriert. Es wird versucht, diese Abweichungen durch Transaktionen mit den verantwortlichen Personen in Form von Anreizen oder Sanktionen zu beheben. Diese Art von Managementverhalten wurde von diversen Studien äußerst kritisch beschrieben. Insbesondere Sims und Szilagyi (1975) sowie Hater und Bass (1988) kamen zu dem Schluss, dass management by exception in der Regel negative Auswirkungen auf die erbrachte Leistung von Mitarbeitern hervorruft. Aus diesem Grund scheint Vorsicht geboten bei dem Versuch, die überaus komplexen organisationalen Kommunikationsbeziehungen zwischen Führenden und Geführten in einfache Transaktionsverhältnisse zu übersetzen. Gegen eine solch zugespitzte Darstellung gegenüber dem transaktionalen Management, die in der überwiegenden Zahl aus der Feder von Befürwortern eines transformationalen Führungsansatzes stammt, lässt sich zwar einwenden, dass führende Autoren im Feld der transaktionalen Führung (v.a. Hollander) kein derart simplistisches Bild von Führung skizzieren wollten. Dennoch muss es sich der transaktionale Führungsansatz als Kritik vorhalten lassen, dass eine Übersetzung von zwischenmenschlichen Interaktionen in Transaktionsbeziehungen die Gefahr von zu vereinfachenden Darstellungen zwangsläufig mit sich bringt. Auch besteht die Gefahr, dass die Fähigkeiten von Führungskräften erneut stark überschätzt werden. Ihre Aufgabe ist es, durch gezielte Transaktionen das Verhalten ihrer Mitarbeiter so zu beeinflussen, dass die Resultate deren Handelns den Zielen der Organisation zuträglich sind (siehe auch Bass und Riggio, 2006). Zugespitzt wird also angenommen, dass die Führungskraft die richtigen Ziele für eine Organisation kennen kann und zudem in der Lage ist, von diesen Zielen auf gewünschte Verhaltensweisen ihrer Mitarbeiter zu abstrahieren, die zum Erreichen der Ziele nötig sind. Durch das Setzen geeigneterer Anreize werden dann „Transaktionen“ zwischen der Führungskraft und ihren Mitarbeitern eingeleitet, die das Mitarbeiterverhalten auf die gewünschte Weise steuern. Kritisch betrachtet lässt sich somit festhalten, dass das transaktionale Führungsverständnis trotz seiner Bereicherung der Führungsliteratur durch die Einführung dynamischer Interaktionsbeziehungen zwischen führenden und geführten Personen immer noch auf einem Verständnis von Steuerbarkeit aufbaut. Zum Teil zeichnet die starke Konzentration auf ökonomisierte Transaktionsbeziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern von letzteren erneut ein recht 49 marionettenhaftes Bild. Der Unterschied zu früheren Führungsansätzen ist zwar, dass den Marionetten ein gewisses Eigenleben zugestanden wird. Es wird darauf hingewiesen, dass es Dynamiken zwischen Führenden und Geführten gibt. Aber es bleibt die Aufgabe der Führungskraft, durch gezielte Transaktionen ein gewünschtes Verhalten der Untergebenen hervorzurufen. Nun soll an dieser Stelle keineswegs behauptet werden, dass die Vertreter des transaktionalen Führungsansatzes tatsächlich ein derartiges Menschenbild vertreten wollten. Vielmehr wurde bereits dargebracht, dass das transaktionale Führungsverständnis und insbesondere die Publikationen von Hollander (1964, 1978, 1986) in vielen Fällen darauf angelegt waren, die Geführten und ihre Interessen stärker in die Führungstheorie einzuführen. Jedoch kann dies mit einer theoretischen Konzeption von Führung, deren Kern nüchterne, ökonomische Transaktionsbeziehungen zwischen Führenden und Geführten sind, nur in begrenztem Maße erreicht werden. Aus diesem Grund entstand in der Folge mit der Entwicklung des transformationalen Führungsstils eine Art Gegenbewegung gegen die beschriebene Transaktionslogik. Da das transformationale Führungsverständnis sich bis heute als äußerst einflussreich erweist, sollen dessen Eigenheiten im nächsten Teilkapitel näher vorgestellt werden. 3.2.3 Transformational Leadership Der Begriff des Transformational Leadership kann erstmals bei Downton (1973) gefunden werden. Entscheidend für die Entwicklung dieses Konzepts und seine Gegenüberstellung mit dem transaktionalen Führungsstil war jedoch die vielbeachtete Publikation Leadership von Burns im Jahre 1978, wobei er jedoch meist den Term „Transforming Leadership“ nutzte, der sich in der weiteren Theoriegeschichte nicht durchsetzen sollte. Wie beschrieben, ist der transformationale Führungsansatz zumindest im Bereich der betriebswirtschaftlichen Führungsforschung als eine Gegenreaktion auf das ökonomische Kalkül transaktionaler Führungstheorien zu verstehen, auch wenn sich frühe Wurzeln dieser Gegenüberstellung bereits in Hooks (1943) Unterscheidung zwischen „eventful“ men und „event-making“ men finden lassen. Avolio und Bass (2002) beschreiben das transformationale Führungskonzept zwar als eine Weiterentwicklung des transaktionalen, wie jedoch im Folgenden dargestellt ist, dient letzteres in einem überwiegenden Teil der Führungsliteratur ersterem lediglich als Projektionsfläche, um eine wiederholt aufgestellte Überlegenheitsbehauptung der transformationalen Sichtweise abzusichern. Der auf diese Weise in den späten 70er und frühen 80er Jahren entstandenen transformationalen Führungstheorie gelang es, in den Wirtschaftswissenschaften nachhaltig an Beliebtheit zu gewinnen und einen bis heute sehr produktiven Strom neuer Publikationen hervorzubringen. 50 Bruns (2010 [1978]) selbst, der bei seinen Analysen insbesondere die politische Sphäre im Blick hatte, sah transaktionales und transformierendes Führen als gleichberechtigte Alternativen an, die je nach Ausmaß geplanter oder nötiger Veränderungen einzusetzen sind. 42 Im Angesicht größerer Veränderungen weist Burns darauf hin, dass reine Transaktionsbeziehungen ungenügend sein können, um hinreichendes Engagement und Veränderungsbereitschaft hervorzurufen und aufrecht zu erhalten: „Pragmatic, transactional leadership requires a shrewd eye for opportunity, a good hand at bargaining, persuading, reciprocating. Reform may need these qualities, but it demands much more” (S. 169). Besondere Bedeutung kommt transformationaler Führung nach Burns in Fällen von Reform- oder Revolutionsbewegungen zu. Jedoch finden sich bei Burns auch Hinweise darauf, dass transformationale Führungskräfte keine omnipotenten Gestalter sind. So beschreibt er mit Verweis auf Harrison (1965), dass es auch bei dieser Art der Führung darauf ankommt, eine mächtige und zugleich unzufriedene Gruppe für seine Zwecke zu gewinnen. Somit setzt diese Art von Führung zumindest das Vorhandensein einer solchen Gruppe voraus. Außerdem darf nicht ohne weiteres angenommen werden, dass derartige Gruppen sich von beliebigen Ideen gewinnen lassen, wenn sie nur überzeugend genug vorgetragen werden. Ganz im Gegenteil weist Burns darauf hin, dass vorhandene Ansichten innerhalb einer Gruppe eine bestimmte Form von Führung hervorbringen, die diesen entspricht. 43 Anders formuliert galvanisiert die transformationale Führungsfigur somit die Veränderungsbereitschaft der Menschen um sie herum und stellt sich damit gleichsam an die Spitze einer latent bereits bestehenden Bewegung. 44 Aus der politischen Sphäre in die Managementtheorie übertragen wurde das Konzept der transformationalen Führung in erster Linie durch Bass (1985a). Bei dieser Übernahme von Burns „transforming leadership“ in den Bereich der Betriebswirtschaftslehre verschob sich dessen Bedeutung jedoch ein Stück weit. So wurde die komplementäre Konzeption Burns von transformationaler und transaktionaler Führung weitgehen aufgegeben und beide Führungstheorien wurden durch die Betonung ihrer Unterschiede als Gegensätze positioniert. Der Nüchternheit 42 So bezeichnet er zum Beispiel die stabile Legislative eines Landes als „the classic seat of transactional leadership“ (S. 344). Auch in politischen Parteien, oder allgemeiner, in Situationen, in denen es wichtig ist, Personen mit unterschiedlichen Meinungen regelmäßig für gemeinsames Handeln zu gewinnen, zeigt nach Burns das transaktionale Führungskonzept seine Stärken. Er erwähnt zum Beispiel mögliche Differenzen zwischen Management und Angestellten in Firmen, die so gehandhabt werden müssen, dass gemeinsames Handeln möglich ist und kommt zu dem Schluss: „Leadership, especially in its transactional form, has a central role in all this“ (S. 260). 43 Dies wird unter anderem anhand folgenden Beispiels illustriert: „A proletariat holding strongly nationalistic and religious doctrines in opposition to external elements – Irish Catholics in Ulster, for example, or the French in Quebec – inevitably will nourish leadership in almost total opposition to the ruling forces” (Burns, 2010; S. 261). Auch die transformationale Führung reflektiert somit bei Bruns immer auch die Ansichten der Geführten und kann diese nicht beliebig transformieren. 44 Ähnlich kann mit der Systemtheorie argumentiert werden, dass ein Tabubruch eine Persönlichkeit erzeugt. Es wird jedoch meist eine ins Gegenteil verkehrte Kausalattribution verwendet, die einer Persönlichkeit die entscheidende Rolle in einer transformierenden Entwicklung zuschreibt (vgl. Luhmann, 2006; S. 247f.). 51 des transaktionalen Führungsverständnisses wurde das emotional aufgeladene transformationale Führungsverständnis entgegengestellt. 45 stärker Grundsätzlich wird die transformationale Führung in vielen Publikationen durch eine pointierte Abgrenzung vom transaktionalen Führungskonzept definiert. Hilfreich hierbei ist Zalezniks (1977) viel beachteter Artikel im Harvad Business Review über die Unterschiede von Managern und „Leadern“. Diese Dichotomie wird vielfach genutzt, um die Unterschiede der beiden Führungsstile darzustellen. Der transaktionale Führer ist ein Manager, ein Verwalter, der mithilfe einer Transaktionslogik und der Konzentration auf Probleme und Budgetabweichungen versucht, seine gesteckten Ziele zu erreichen. Der transformationale Führer hingegen wird als eine inspirierende Führungsfigur beschrieben, die ihre Untergebenen durch Visionen und Charisma motiviert und auf diese Weise Höchstleistungen in ihnen hervorbringt. Avolio und Bass (2002) nennen zum Beispiel folgende 4 Eigenschaften, die eine transformationale Führungskraft im Kern ausmachen: “Idealized leader: leader as a role model; inspirational motivation intellectual stimulation; individual consideration” (S.2). Sie beschreiben somit eine Führungskraft, die durch ihr Vorbild inspiriert und gleichzeitig individuell auf einzelne Mitarbeiter eingeht, um sie zu motivieren. Aufgrund dieser Beschreibungen wird offensichtlich, dass insbesondere die Vorstellungen von charismatischer Führung in diesem Konzept mitschwingen. Bereits Downton (1973) spricht von „charisma in the revolutionary process“, und Posner und Kouzes (1988) unterstreichen die Bedeutung von Charisma für transformationale Führungskräfte. Auch Congers and Kanungos (1988) Beschreibung charismatischer Führung als vorbildhaft und visionär fügt sich nahtlos an die gängigen Darstellungen von transformationaler Führung. Im Unterschied zum ursprünglichen Trait-Approach wird jedoch vermehrt darauf hingewiesen, dass Charisma zwar entscheidend ist, dass es aber im Zusammenhang mit transformationaler Führung dennoch um ein erlernbares Führungsverhalten geht (siehe insb. Tichy und Devanna, 1986). Bei einer kritischen Würdigung des transformationalen Managements und seiner Vorgeschichte lässt sich somit eine gewisse Rückkehr zur Mystifizierung von Führung erkennen. Nachdem die Trait-Ansätze empirisch weitgehend deskreditiert waren, haben Führungskonzepte wie der transaktionale Führungsansatz nicht nur die Geführten stärker in den Blickpunkt der Führungstheorie gerückt, sondern gleichzeitig auch die Vorstellungen von Führung entromantisiert. In dem Maß, in dem Geführten selbst Einfluss zugesprochen wurde und die Optionen der Führenden auf Transaktionsbeziehungen limitiert wurden, die für Führende wie Geführte akzeptabel 45 Dies lässt sich bereits an einem Vergleich der Publikationstitel der jeweils maßgeblichen Autoren aus beiden Feldern erkennen: Während Hollander (1978) zum Thema „Leadership Dynamics. A practical guide to effective relationships“ referiert, setzt Bass (1985a) auf den markigen Titel „Leadership and performance beyond expectations”. 52 sind, wurden zugleich die uneingeschränkten Führungs- und Steuerungsmöglichkeiten von Führungskräften in Organisationen in Frage gestellt. Diese Entwicklung wurde mit dem Aufkommen des transformationalen Führungskonzepts in der Managementlehre umgekehrt. Das Thema Führung wird erneut mystifiziert. Dies spiegelt sich in der Konzentration auf Charisma ebenso wider, wie in Aussagen über den Vorbildcharakter und das Wertesystem transformationaler Führungskräfte: „The truly transformational leader is socialized in orientation and values as well as morally uplifting … Truly transformational leaders transcend their own self-interests.” (Avolio und Bass, 2002; S. 8). Mit den ursprünglichen Überlegungen von Burns ist ein solches Führungsverständnis nur zum Teil vereinbar. Auch Burns redet zwar von „heroic leadership“, versteht darunter aber explizit nicht die herausragenden charismatischen Fähigkeiten von Einzelpersonen: “Heroic leadership is not simply a quality or entity possessed by someone; it is a type of relationship between leader and led” (Burns, 2010; S. 244). Wohl aus diesem Grund differenziert Burns auch zwischen der transformationalen Führung in Reform- und Revolutionsszenarien und der transaktionalen Führung in einem stabileren Umfeld. Damit ist nicht gesagt, dass ein Manager, der die Profitabilität eines Unternehmens steigern will, notwendigerweise auf ein Umfeld stößt, in dem die von Burns beschriebene „heoric leadership“-Dynamik realisierbar ist. Solchen kritischen Überlegungen begegnet die Literatur zum transformationalen Führungskonzept jedoch durch umfassende quantitative Untersuchungen, die sich in vielen unterschiedlichen Varianten zwei zentrale Fragestellungen befassen: Ist transformationale Führung a) wirksam und b) der transaktionalen Führung überlegen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind auf beeindruckende Weise konsistent und attestieren dem transformationalen Führungsansatz eine statistisch signifikante Überlegenheit. 46 So ähnlich die Ergebnisse diverser Untersuchungen in diesem Feld sind, so ähnlich stellt sich bei genauerer Betrachtung jedoch oftmals die angewandte Untersuchungsmethodik heraus. Besonders entscheidend ist, darauf zu achten, wie abgegrenzt wird, welcher Führungsstil einer Führungskraft zuzuschreiben wird. Hierzu nutzt eine große Zahl der durchgeführten Studien den Multifactor Leadership Questionnaire (MLQ). Dieser wurde von Bass und Avolio entworfen und in mehreren 46 So zeigen etliche Studien, dass transformationale Führung von Geführten besser bewertet wird als transaktionale Führung (z.B. Yammarino und Bass, 1989; Judge und Bono, 2000; Rubin et al., 2005). Andere Studien stellen direkte Zusammenhänge zwischen Leistungsindikatoren und transformationaler Führung her. Unter anderem kommen Colbert et al. (2008) zu dem Schluss, dass die Performance von Unternehmen unter transaktionaler Führung überdurchschnittlich ist. Dasselbe Ergebnis lässt sich auch bei Howell und Avolio (1993) finden, die zusätzlich unterstreichen, dass transaktionale Führung sich negativ auf die gemessenen Unternehmenskennzahlen auswirkt. Keller (1992) zeigt einen positiven Einfluss transformationaler Führung auf die Ergebnisse von Forschung & Entwicklungs-Tätigkeiten. Und Bono und Judge (2003) folgern aus ihren Untersuchungen positive Auswirkungen auf die Mitarbeiter-Motivation. 53 Publikationen weiterentwickelt. Eine beliebte Variante ist der MLQ 5x (Bass und Avolio, 1995). Judge und Bono (2000) nutzen den MLQ 5x zum Beispiel, um mithilfe der Einstufung von Führungskräften durch ihre Mitarbeiter auf deren Führungsstil zu schließen. Je Frage können zwischen 0 und 4 Punkte vergeben werden. Eine hohe Punktzahl bei der Einschätzung einer Führungskraft durch ihre Mitarbeiter in folgenden Punkten, wird dahingehend interpretiert, dass eine Führungskraft einen transformationalen Führungsstil pflegt: Displays a sense of power and confidence Talks to us about his/her most important values and beliefs Articulates a compelling vision of the future Re-examines critical assumptions to question whether they are appropriate Um eine transaktionale Führungskraft handelt es sich hingegen, wenn folgende Aussagen mit hohen Punktzahlen bewertet werden: Makes clear what I can expect to receive, if my performance meets designated standards Spends his/her time trying to 'put out fires' Fails to intervene until problems become serious Fails to follow-up requests for assistance Es ist keine tiefergehende Methodendiskussion nötig, um einige ernsthafte Probleme in dieser Vorgehensweise offenzulegen. Zum einen ist es offensichtlich, dass die bereits existierenden Führungsvorstellungen von Mitarbeitern einen Einfluss auf die Beantwortung von Fragebögen haben. Dies wird insbesondere durch Lord et al. (1984) hervorgehoben. So kann in einer wissenschaftlichen Erhebung nicht verhindert werden, dass Fragebögen zu Führungseigenschaften durch einen von den Befragten hergestellten Zusammenhang zwischen Leistung und Führungsvorstellungen beeinflusst werden. Wenn ein Chef sich zum Beispiel als erfolgreich herausgestellt hat, könnten Mitarbeiter deutlich stärker dazu tendieren, ihm überzeugende Visionen für die Zukunft zuzuschreiben, selbst wenn er diese nicht äußert. Auch Binning et al. (1980) weisen darauf hin, dass Führungskräften im Fall von positiver Unternehmensperformance von ihren Mitarbeitern oftmals Eigenschaften zugeschrieben werden, die sich für Außenstehende nur schwer erklären lassen. Da die durchgeführten Studien zu den Effekten von Führungsverhalten in ihrer überwiegenden Mehrzahl quantitativer Natur sind, lassen sich selbst offensichtliche Verzerrungen aufgrund solcher Performance Cues nicht identifizieren. So weisen zum Beispiel Howell und Avolio (1993) völlig zu Recht darauf hin, dass eine entscheidende Schwäche ihrer Untersuchung darin liegt, dass sie „were unable to actually observe managers interacting with followers“ (S. 900). Sie pflichten Hunt 54 (1991) in seiner Forderung bei, dass Umfragen zu transformationaler Führung durch qualitative Feldbeobachtungen angereichert werden sollten. Jedoch selbst wenn eine neutrale Beurteilung durch Forscher und Mitarbeiter möglich wäre, würden die oben dargestellten Fragestellungen höchst wahrscheinlich immer noch zu einseitigen Ergebnissen führen. So ist es zum Beispiel vorstellbar, dass Führungskräften mit starker Zuversicht und großen Visionen tendenziell entweder große Erfolge oder große Niederlagen beschieden sind. Ob eine Vision genial oder verrückt war, definiert sich meist lediglich aus dem resultierenden Erfolg. In einer Befragung zu Führungskräften hat man dann jedoch mit dem Problem zu kämpfen, dass die gescheiterten Visionäre kein Teil der Studie mehr sind, weil ihre Unternehmen nicht überlebten oder sich der visionären Führungskraft entledigt haben. Auf diese Weise werden Ergebnisse zwangsläufig verzerrt. Noch deutlicher wird die Problematik, wenn man die Fragestellungen zum transaktionalen Führungsstil näher betrachtet. Unternehmen in Krisensituationen haben tendenziell mit mehr akuten und dringlichen Problemen zu kämpfen, als Unternehmen, die sich in erfolgreichen Bahnen bewegen. Somit dürfte jede Führungskraft, unabhängig von ihrem Führungsstil, in einem solchen KrisenUnternehmen dazu gezwungen sein, etliche „Brände zu löschen“. Ebenso wird eine derart in operative Sorgen eingespannte Führungskraft unterschiedlichen Bitten nach Unterstützung weniger oft nachkommen können, und kleinere Probleme aufgrund ihrer geringeren Intensität so lange ignorieren, bis sie sich zu größeren Problemen entwickelt haben. Zwar könnte argumentiert werden, dass die Fähigkeit der transformationalen Führungskraft darin liegt, sich nicht auf eine solche Weise von operativen Problemen fesseln zu lassen – eine solche Argumentation würde jedoch die Realität in etlichen Organisationen verkennen. So werden unzufriedene Kunden und Investoren darauf bestehen, direkt mit den obersten Führungskräften zu interagieren und hierdurch einen Gutteil ihrer Zeit in Anspruch nehmen. Dem kann sich eine Führungskraft nur schwer mit dem Hinweis auf ihre transformationalen Ambitionen entziehen. Vor diesem Hintergrund sollte trotz der zahlreichen existierenden Studien, von denen in den vorangegangen Abschnitten nur einige beschrieben werden konnten, nicht davon ausgegangen werden, dass mit dem transformationalen Führungsansatz eine den anderen Ansätzen überlegene Theorie entwickelt wurde. Insbesondere die zunehmende Konzentration auf charismatische Einzelpersonen im Rahmen des transformationalen Führungsansatzes findet sich wiederkehrender Kritik im Rahmen der Führungsliteratur ausgesetzt (z.B. Neuberger, 2002; Meindl, 1993). Letzerer führt an, dass etliche Untersuchungen die Omnipotenz von Führungskräften in Frage 55 gestellt haben, solche Bedenken jedoch „were swept away by the burgeoning interest in transformational, charismatic leadership“ (S. 96). 47 Jedoch zeigen solche Diskussionen, dass es weder der Theorie um das transaktionale Management noch den Publikationen zum transformationalen Management gelungen ist, eine umfassende Führungstheorie zu entwickeln. Beide bleiben stets nur partielle Betrachtungen, die gewisse Aspekte von Führung in den Vordergrund stellen. Überlegungen im Zusammenhang mit dem transaktionalen Führungsansatz können als Antwort auf Eigenschaftstheorien der Führung gesehen werden, denen daran gelegen war, die Geführten stärker ins Blickfeld zu rücken und darum den transaktionalen Aspekt von Führung stark hervorheben. Ebenso erscheint plausibel, warum sich der transformationale Ansatz stark auf tiefgreifende Veränderungen und charismatische Führungspersonen konzentriert. Durch diese Betrachtungsweise werden die Schwächen des oft nüchtern-ökonomischen transaktionalen Ansatzes sichtbar und können um eine alternative Betrachtungsweise ergänzt werden. 3.2.4 Zusammenfassung und kritische Würdigung Nachdem personen- und eigenschaftsorientierte Führungstheorien über lange Zeit nahezu die einzigen systematischen Betrachtungen von Führung bildeten, entstanden spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Führungstheorien, die eine rein eigenschaftsorientierte Betrachtungsweise hinter sich ließen. Sie stellten eine Antwort auf verschiedene Kritikpunkte am bis anhin vorherrschenden Trait-Approach und der exklusiven Konzentration auf die Person der Führungskraft dar. Der situative Führungsansatz betonte, dass Führung keine feststehende Konstante ist, sondern in Relation zu Geführten und Aufgaben zu betrachten ist (Hersey, 1984). Damit wurde der Fokus von der reinen Eigenschaftsorientierung erweitert und das Verständnis von Führung dynamisiert. Der transaktionale Führungsansatz griff diese Denkweise auf (Hollander, 1978), betonte die Dynamik zwischen Führenden und Geführten noch stärker, wurde in seiner Rezeption jedoch zum Teil auf ökonomische Transaktionsbeziehungen reduziert. Die transformationale Führungsforschung hebt hervor, dass Führung sich nicht ausschließlich auf das Aushandeln von Leistungserwartungen und 47 Es kann sogar argumentiert werden, dass die Literatur zur transformationalen Führung selbst die Grenzen des eigenen Ansatzes spürt, auch wenn sie explizit in der Regel nicht darauf aufmerksam macht. Ein Hinweis darauf ist zum Beispiel der wiederholte Versuch, die beiden oft als Gegensätze dargestellten Ansätze der transaktionalen und transformationalen Führung wieder zu vereinen (siehe z.B. Bass, 1985b). Eine solche Vereinigung wurde jedoch erst nötig, nachdem die Literatur zum transformationale leadership eine strikte Dichotomie zwischen beiden Ansätzen aufgebaut hatte, um die neueren Führungsbetrachtungen als selbständig und in zahlreichen Studien auch als deutlich überlegen darzustellen. Ob Burns (2010), der beide Konzepte idealtypisch als getrennt beschreibt, sie als vereinbar ansah, ist nur schwer feststellbar. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass es für Burns außer Frage stand, dass beide Führungsansätze eine Berechtigung haben. 56 Belohnungen beschränkt werden kann, sondern dass eine Führungskraft durch die Einnahme einer Position als Vorbild und Visionär die Fähigkeit haben kann, Mitarbeiter zu inspirieren (sieh v.a. Burns, 2010; Bass, 1985a). Es soll jedoch an dieser Stelle argumentiert werden, dass all den vorgestellten Führungstheorien, sowie einer Reihe weiterer Führungsansätze, die in derselben Zeit entstanden, gewisse Schwächen gemein sind. Zuvorderst steht dabei die ungebrochene Grundannahme, dass die Führungskraft durch richtiges Handeln in letzter Konsequenz die Kontrolle über „ihre“ Organisation behält. Diese Kritik wird besonders anschaulich von Meindl (1993) dargestellt: “The current convention in leadership studies paints a portrait of leadership in terms of a process that the leader ultimately controls. Although mutual influence processes between leaders and followers are recognized, leadership is mostly conceptualized as something seized on, and exerted, by the leader.” (S. 99) Der von Meindl angesprochene „mutual influence“, der von den in Kapitel 3.2 dargestellten Führungskonzepten anerkannt wird, stellt in diesen somit nur eine zu kontrollierende Störgröße dar, und nimmt nicht die Bedeutung von „zirkulären, rückbezüglichen Formen von Wirkungsbeziehungen“ ein, mit denen Führung operiert (Wimmer, 2008; S. 25). Würden solche Wirkungsbeziehungen in letzter Konsequenz ernst genommen, folgten daraus zwei klare Schlussfolgerungen. Zum einen würde offensichtlich, dass derartige Prozesse einer unüberblickbaren Eigendynamik unterliegen, die in keinem Fall vollständig kontrolliert werden kann. Und zum anderen würde offensichtlich, dass selbst in übersichtlichen Situationen, die Steuerbarkeit eingeschränkt wäre, weil es keinen Grund für die Annahme gibt, dass Führung ihre Mitarbeiter in beliebiger Weise beeinflussen kann – egal ob durch situatives, transaktionales oder transformationales Verhalten. Entsprechend unterschätzt, dass geführte Personen selbst ihr Verhältnis zu ihren Führungskräften mitgestalten und darin nicht nur eine passive oder eine durch entsprechende Insentivierung kontrollierbare Rolle spielen. Laurent (1978) sieht in diesem Umstand die unhinterfragte Gemeinsamkeit heutiger Führungsverständnisse: „Our contention is that students of organizations may have endorsed implicitly the same basic assumption of the mostly superordinate manager, stressing the leadership aspects of the role and neglecting the followership aspects.” (S. 223) Es besteht also eine Gemeinsamkeit der bisher vorgestellten Betrachtungsweisen von Führung, dass sie sich stark auf Führungskräfte konzentrieren und deren Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten tendenziell überschätzen, während dynamische Wirkungsbeziehungen innerhalb von Organisationen unterschätzt 57 werden. 48 Für die Betrachtung von Führungslegitimität zieht ein solches Verständnis von Führung entscheidende Konsequenzen nach sich. Eine Konzentration der Betrachtung auf Führungskräfte und „traits“ (Kapitel 3.1) passt zu einem Bild von Führungslegitimität als Besitz von Einzelpersonen. Die im Kapitel 3.2 vorgestellten Führungsverständnisse schränken diese Sichtweise zwar etwas ein; durch die Einführung von Mitarbeitern und Relationen in die Führungsbetrachtung, wird die dieser zugrunde liegende Prozessdynamik erstmals betont. Dennoch bleibt die Führungskraft idealerweise in einer kontrollierenden Position. Durch ihr Verhalten kann sie ihre Mitarbeiter weitgehend steuern. Dies lässt sich mit dem zuvor beschriebenen Verständnis von Führungslegitimität vereinbaren, nach dem Legitimität durch gewisse Prozeduren sichergestellt werden kann. Eine radikale Prozessperspektive von Führungslegitimität bleibt jedoch mit den beschriebenen Führungstheorien schwer vereinbar. Zum einen suggeriert die starke Personenorientierung dieser Führungsverständnisse einen eher entitativen Legitimitätsbegriff, weil Führung nicht als ständiger Prozess konzipiert ist. Und zum anderen legt der ihnen zugrundeliegende Steuerungsglaube nahe, dass Führungslegitimität etwas ist, mit dessen Besitz eine weitgehende Handlungs- und Entscheidungsautonomie einhergeht. Im nachfolgenden Teilkapitel (3.3) soll deshalb aus einer systemtheoretischen Perspektive ein Führungsverständnis herausgearbeitet werden, das Führung als organisationale Funktion versteht und aus einer Prozessperspektive heraus betrachtet, die Personen weniger stark in den Mittelpunkt rückt. Hierzu eignet sich die Systemtheorie in besonderem Maße, weil sie stark von Individuen abstrahiert und die Kommunikationsbeziehungen zwischen organisationalen Akteuren ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die vorangegangene Definition von Führungslegitimität wird durch dieses Führungsverständnis ergänzt. Es wird zudem beschrieben, wie auf dieser Basis Führungslegitimität insbesondere in einem heterarchischen Organisationskontext beobachtbar wird, der sich den Steuerungsvorstellungen klassischer Führungstheorien spürbar entzieht und keine Legitimitätschancen im Weberschen Sinne ermöglicht. 48 Es sei darauf hingewiesen, dass es einige Ausnahmen gibt. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist erneut Burns (2010), der mit seiner Publikation „Leadership“ bis heute einen der zentrale Referenzpunkte für transaktionale sowie transformationale Führung bildet: „Most of the world’s decision makers, however powerful they may appear in journalistic accounts, must cope with the effects of decisions already made by events, circumstances, and other persons. […] Decisionmaking opportunities typically come to them in the form of a few limited options.” (S. 413) 58 3.3 Beschreibung einer systemischen Führungstheorie Auf den bisherigen Seiten dieses Kapitels wurden unterschiedliche Führungstheorien vorgestellt und kritisch reflektiert. Es zeichneten sich dabei gewisse Unzulänglichkeiten der traditionellen personen- und eigenschaftsorientierten Führungsverständnisse ab, aus denen Theorien mit einer dynamischeren Konzeption von Führung hervorgingen. In diesen wurde zudem auch die Rolle von Geführten stärker berücksichtigt als zuvor. Dennoch wurde aufgezeigt, dass alle beschriebenen Führungstheorien in ihrem Ansatz auf die Person eines Führenden zentriert sind und sich deshalb nur schwer mit einer starken Prozessdefinition von Führungslegitimität vereinbaren lassen. Es ist deshalb nach wie vor erforderlich, ein Führungsverständnis zu beschreiben, das der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt werden kann. Die Auseinandersetzung mit den Schwächen der bisher beschriebenen Führungsansätze schafft dabei die Basis für eine weitergehende Reflexion und für die Konzeption eines prozesstheoretischen Verständnisses von Führung. Das auf diese Weise erarbeitete Führungsverständnis soll in die zuvor aufgestellte Definition von Führungslegitimität dieser Arbeit integriert werden. Anschließend soll dargestellt werden, wie diese erweiterte Definition unter Abstützung auf einem Prozessverständnis von Führung dazu genutzt werden kann, Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext empirisch zu untersuchen. Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich dabei in erster Linie auf die Systemtheorie. Hierbei handelt es sich um die insbesondere von Niklas Luhmann (v.a. 1984) geprägte neuere Systemtheorie, die sich durch eine radikal prozesshafte Betrachtungsweise von Organisationen auszeichnet. 49 Etwas pointiert dargestellt lässt sich sagen, dass „der systemische Blick […] sich weniger auf einzelne Größen [konzentriert], als vielmehr darauf, was zwischen den einzelnen Größen bzw. Akteuren geschieht“ (Pinnow, 2011; S. 160). Damit stehen nicht länger die Akteure, wie zum Beispiel die Führenden, im Blickpunt, sondern die ständig ablaufenden Kommunikationsprozesse innerhalb sozialer Systeme. Ein auf der Systemtheorie aufbauendes Führungsverständnis kann somit die konzeptionelle Problematik umgehen, sich primär auf die Person der Führungskraft zu kaprizieren. Aus diesem Grund eignet sich die Systemtheorie für die Herausarbeitung eines Führungsbegriffs, der mit einem Prozessverständnis von Führungslegitimität vereinbar ist. 50 49 vgl. Schumacher und Rüegg-Stürm (2012): Die neuere Systemtheorie in der Managementwissenschaft. 50 Niklas Luhmann selbst hat keine ausführliche Konzeption von organisationaler Führung vorgelegt. Dies mag unter anderem daran liegen, dass Organisationen als ein Spezialfall sozialer Systeme meist nicht im Fokus seiner Aufmerksamkeit standen. Seine entscheidende Publikation zu Organisationen (Luhmann, 2006) erschien erst post mortem. Es ist jedoch möglich, auf der Basis Luhmanns Schriften zur Systemtheorie ein Verständnis von Führung innerhalb von Organisationen herauszuarbeiten. 59 Trotz der zentralen Rolle, den die Systemtheorie in diesem Kapitel einnehmen soll, wird auf eine umfassende Vorstellung der neueren Systemtheorie verzichtet. Ein solcher Versuch würde den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen. Darüber hinaus liegt bereits eine umfassende Auswahl derartiger Einführungen vor, auf die der interessierte Leser an dieser Stelle verwiesen sei. 51 Die allgemeine Systemtheorie wird somit als bekannt vorausgesetzt. Es wird jedoch im Rahmen dieses Kapitels versucht, die Anwendung der Systemtheorie auf Führung – insbesondere basierend auf Luhmann (2006) – so auszuformulieren, dass sie auch ohne tiefere Kenntnisse der neueren Systemtheorie weitgehend erschließbar sind. Durch die gezielte Darstellung einiger systemischer Gedankengänge im Verlaufe des Textes wird versucht, dass Implikationen, die sich auf dieser Basis für das Thema Führung ergeben, in der Lage sind, für sich selbst zu stehen, auch wenn ihre Herleitung aus einem weitläufigeren systemischen Organisationsverständnis erfolgt. Und auch die Gedanken der folgenden Kapitel werden weitgehend so ausgearbeitet, dass sie nicht unmittelbar von einem umfassenden Verständnis der Systemtheorie abhängen. Ein zentraler und oftmals überraschend anmutender Unterschied zwischen konventionellen und systemischen Organisationsbetrachtungen soll jedoch gleich zu Beginn dieses Kapitels hervorgehoben werden: Im Rahmen der Systemtheorie tritt der Mensch als Individuum nicht auf; er kann lediglich als biologisches und als psychisches System betrachtet werden. Diese beiden Typen von Systemen sind jedoch nicht Bestandteil von Organisationen. Organisationen werden als „soziale Systeme“ betrachtet – es handelt sich also um einen eigenen Systemtypus, der isoliert von anderen Systemtypen zu betrachten ist. Systemtheoretisch gesehen sind Menschen somit nicht Bestandteil von Organisationen, sondern lediglich ihrer Umwelt. Während dies auf den ersten Blick überraschend klingt, zeigt sich bereits in dieser Grundannahme der entscheidende Mehrwert einer systemischen Betrachtung von Organisationen für die Konzeption eines Führungsverständnisses. Der Erkenntnisgewinn dieser Betrachtungsweise liegt nämlich zuvorderst darin, dass die Integrität von psychischen Systemen – wie von allen anderen Systemtypen – bestehen bleibt. 52 Umgangssprachlich kann man dies wie folgt interpretieren: Wenn man den „Mensch“ nicht als Teil einer Organisation betrachtet, wird offensichtlich, dass die Organisation ihn nicht direkt steuern oder seine Handlungen determinieren kann. Der Mensch ist an sich unabhängig und kann ausschließlich selbst 51 Einführungen in die Systemtheorie liegen unter anderem vor von: Luhmann (2009); Kneer und Nassehi (1993); Fuchs (2004); Berghaus (2004); Simon (2009); Reese-Schäfer (2011). 52 Luhmann (1984) spricht an dieser Stelle von Autopoiese. Er bezieht sich dabei auf Maturana (1980; 1982), Maturana und Varela (z.B. 1984) sowie Zeleny (1981). Der Grundgedanke autopoietischer Systeme ist, dass diese selbstreferenziell sind und somit in ihrem Reproduktionsprozess ausschließlich an eigene Operationen anschließen können. Wie ein System auf seine Umwelt reagiert, hängt deshalb von ihm selbst ab – mit der Ausnahme von Destruktion gibt es keine deterministischen Einflussmöglichkeiten der Umwelt auf ein autopoietisches System. 60 entscheiden, wie er sich verhalten möchte. Systemtheoretisch würde man sagen, dass ein psychisches System – die Gedanken eines Menschen – von einer Organisation lediglich irritiert werden kann, es aber immer ausschließlich von den Operationen des psychischen Systems selbst abhängt, wie es auf diese Irritationen reagiert. Es gibt somit keinen direkten „Durchgriff“ von einem System in ein anderes hinein. In diesem Punkt ergibt sich eine enge Übereinstimmung zu der bereits zuvor zitierten Feststellung von Weick (1979): „Subordinates ultimately determine the amount of influence exerted by those who lead“ (S. 39). Infolgedessen lässt sich die Systemtheorie etwas überspitzt auch als eine „NichtSteuerungstheorie“ bezeichnen, weil direkte intentionale Steuerung, insbesondere über Systemgrenzen hinweg, von vornherein ausgeschlossen wird. Mit dieser Betrachtungsweise kann die Gefahr umgangen werden, dass Führung zu simplistisch als die deterministische Steuerung von Menschen oder komplexen Organisationen durch Einzelpersonen verstanden wird. Folgerichtig ergibt sich auf dieser Basis auch kein Führungsbegriff, der nur dann von Führungslegitimität ausgeht, wenn es Führung möglich ist, Herrschaft auszuüben, wie dies von Weber nahegelegt wurde. 53 Es stellt sich jedoch umgehend die Frage, was Führung dann sein kann und wie Führung aus systemtheoretischer Sicht aussehen könnte. Diese Frage soll auf den folgenden Seiten näher erörtert werden. 3.3.1 Führung und Entscheidung Ähnlich wie bei der Diskussion zu Führungslegitimität gilt es auch an dieser Stelle festzuhalten, dass es nicht möglich ist, eine allumfassende Definition von Führung aufzustellen. Es soll jedoch der Versuch unternommen werden, ein Führungsverständnis zu beschreiben, das konzeptionell konsistent mit den vorangegangen Überlegungen zu Führungslegitimität ist. Ein erster Anhaltspunkt hierfür kann der nachfolgenden Führungs-Definition von Wimmer (2012) entnommen werden, die versucht zu beschreiben, wie Führung aus einer systemtheoretischen Perspektive verstanden werden kann. Wimmer führt aus, dass es bei Führung darum geht, „die eigene Antwortfähigkeit als Organisation angesichts unbeherrschbarer Komplexität immer wieder aufs Neue herzustellen“ (S. 49). Organisationen sehen sich mit einer unüberschaubaren externen und zunehmend auch internen Komplexität konfrontiert. Führung ist vor diesem Kontext eine Funktion, die sicherstellt, dass die Organisation als Ganzes antwortfähig bleibt, also ihre Operationen fortsetzen kann. Damit wird bereits ein Merkmal der systemischen Führungsbetrachtung vorweggenommen, auf das später noch näher einzugehen sein wird: Führung wird nicht als individuelle Aufgabe verstanden, sondern als eine organisationale Funktion (Ogawa und Bossert, 1995; O’Tool, 2001). 53 Vgl. Kapitel 2.1.1 61 Entscheidend an der beschriebenen Definition ist, dass sie eine grundlegende Paradoxie von Führung offenbart: Führung musst eine Antwortfähigkeit sicherstellen können in einer Situation, die so unüberschaubar ist, dass das Finden abschließender Antworten von vornherein ausgeschlossen werden kann. Somit steht fest, dass mit den Begriff Antwortfähigkeit nicht das Finden der „richtigen Antwort“ durch eine hervorragende Führungskraft gemeint sein kann. Eine Organisation ist aus systemischer Sicht keine zu steuernde Maschine. Klassische Vorstellungen, dass der Manager in die Umwelt schaut, richtiges Handeln identifiziert, eine Strategie formuliert und diese im Unternehmen implementiert, werden der Alltagskomplexität nicht gerecht. Und dennoch muss eine gewisse Antwortfähigkeit der Organisation gewährleistet bleiben. Das Herstellen von Antwortfähigkeit im systemischen Sinne bedeutet deshalb nicht, dass Führungskräfte die richtigen Antworten auf komplexe Probleme finden können, wo dies anderen Mitarbeitern nicht gelingt. Sondern es wird vielmehr postuliert, dass durch die organisationale Funktion der Führung die fortlaufenden Operationen eines sozialen Systems sichergestellt werden müssen, da es sonst aufhört zu existieren. Antwortfähigkeit ist die Fähigkeit, neue Kommunikationen an aktuelle Kommunikationen anzuschließen. Dem liegt die systemtheoretische Überzeugung zugrunde, dass ein soziales System aus Kommunikationen besteht – nicht jedoch aus irgendwelchen Kommunikationen, sondern aus aneinander anschließenden Kommunikationen, die erst aufgrund ihrer rekursiven Vernetzung das System im Unterschied zu seiner Umwelt ausdifferenzieren. „Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen.“ (Luhmann, 1986; S. 269) Das aufgeführte Zitat fasst somit die wichtigsten Punkte einer systemtheoretischen Betrachtung von sozialen Systemen zusammen. So wird klar formuliert, dass soziale Systeme nicht aus Menschen oder Handlungen, sondern aus Kommunikationen bestehen. 54 Dies gilt jedoch nur, wenn die Kommunikationen einen autopoietischen 54 Damit soll nicht gesagt werden, dass Menschen für soziale Systeme unwichtig sind. Ganz im Gegenteil, sie bilden aus Sicht von sozialen Systemen lebenswichtige Bestandteile der Umwelt. In der Systemtheorie wird dies durch den Begriff der strukturellen Kopplung ausgedrückt, der nach Luhmann (2009) totale Abhängigkeit bei gleichzeitiger totaler Unabhängigkeit ausdrückt. Der offensichtliche Umstand, dass soziale Systeme auf Menschen angewiesen sind, soll also nicht bestritten werden – die Grenze zwischen sozialen und psychischen Systemen soll jedoch in der theoretischen Betrachtung erhalten bleiben, um deutlich aufzuzeigen, dass eine deterministische Steuerung über Systemgrenzen hinweg ausgeschlossen ist. Dies gilt stets in beide Richtungen: So kann weder eine Organisation die Prozesse innerhalb eines psychischen Systems determinieren, noch kann ein psychisches System die Operationen innerhalb einer Organisation determinieren. Jegliche Art von autopoietischen Systemen ist durch eine derart hohe Eigendynamik geprägt, dass es äußerst hilfreich ist, wenn eine Theorie über Systeme deren Determinierung von außen ausschließt. 62 Kommunikationszusammenhang ausbilden, an den sich weitere Kommunikationen anschließen können. Der entscheidende Punkt des Zitats ist nun, dass ebenfalls darauf hingewiesen wird, wie ein solcher Kommunikationszusammenhang entstehen kann: durch die Einschränkung der geeigneten Kommunikationen. Eine Organisation kann sich nur gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen, wenn mögliche Kommunikationen so eingeschränkt werden, dass ein Kommunikationszusammenhang entsteht. So lange uneingeschränkt jede Kommunikation möglich und gleich wahrscheinlich ist, kann sich kein Zusammenhang von Kommunikation in Abgrenzung zur Umwelt ergeben. Der zentrale Schritt zur Beantwortung der Frage, welche Aufgabe Führung innerhalb von Organisationen 55 innehat, hängt nun von der Art und Weise ab, wie Kommunikationen eingeschränkt werden kann, um einen Kommunikationszusammenhang zu bilden. Dazu ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die basale Einheit von Organisationen nicht beliebige Kommunikationen, sondern Entscheidungskommunikationen sind: „Organisationen entstehen und [reproduzieren sich], wenn es zur Kommunikation von Entscheidungen kommt und das System auf dieser Operationsbasis operativ geschlossen wird“ (Luhmann, 2006; S. 63). Die Kommunikation von Entscheidungen übernimmt also die Funktion, geeignete weitere Entscheidungskommunikationen einzuschränken und führt somit zur Ausdifferenzierung von Organisationen. Es liegt auf der Hand, dass Führung in engem Zusammenhang mit diesen Entscheidungen und den ihnen zugrundeliegenden Entscheidungsprozessen stehen muss. Die Frage nach der Rolle von Führung hängt somit untrennbar mit dem Konstrukt der Entscheidung zusammen, das es nun näher zu betrachten gilt. Der Entscheidungsbegriff Bei einer genaueren Reflexion des Entscheidungsbegriffs fällt auf, dass es keineswegs trivial ist, das Konzept von Entscheidung zu definieren. Die Probleme, die sich mit dem Begriff Entscheidung verbinden, werden jedoch in der Alltagskommunikation weitgehend invisibilisiert, so dass es selbsterklärend scheint, was eine Entscheidung ist. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht vor allem von Foerster (1991) mit seiner bekannten paradoxen Feststellung zu Entscheidungen: “Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.” (S. 5) 55 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Organisationen (z.B. Unternehmen, Krankenhäuser, Schulen, Behörden, Gerichte, etc.) aus systemtheoretischer Sicht ein spezieller Typus von sozialen Systemen sind. Die Überlegungen der hier vorliegenden Arbeit konzentrieren sich auf Organisationen, da Führung im hier verstandenen Sinne immer innerhalb dieses Typs sozialer Systeme stattfindet. 63 Diese auf den ersten Blick erstaunliche Feststellung, lässt sich bei zweiter Betrachtung recht einfach verstehen: Wenn es eine klar offensichtliche, richtige Antwort auf eine Frage gäbe, die Frage also „entscheidbar“ wäre, dann müsste keine Entscheidung mehr getroffen werden. Das zu wählende Vorgehen stünde in solch einer Situation bereits fest. Tatsächliche Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass solche Festlegungen nicht als gesetzt betrachtet werden können, sondern eben entschieden werden müssen. Anders ausgedrückt kann man sagen, dass Entscheidungen der Existenz von Alternativen bedürfen: „Nur die Alternative macht die Entscheidung zur Entscheidung“ (Luhmann, 2006; S. 135). Es bleibt jedoch damit ungeklärt, was eine Entscheidung ist. Luhmann verweist darauf, dass auch der Begriff der Auswahl (choice), der in diesem Zusammenhang oft angeführt wird, nicht erklären kann, was in Entscheidungsprozessen tatsächlich abläuft. Wenn eine Auswahl stattfindet, weiß man noch nicht, wie sie stattgefunden hat. Dieses Wie bleibt jedoch in der Komplexität sozialer Systeme in letzter Konsequenz unergründbar. Denn Entscheidungen innerhalb von Organisationen sind kollektive Errungenschaften sozialer Interaktion, die nicht isoliert im Kopf eines Individuums stattfinden. Dies wird insbesondere dann ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass zumindest die Informationen, die zu scheinbar isolierten Entscheidungen geführt haben, ihren Ursprung innerhalb des Systems haben müssen. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass das Entscheidungsverhalten von Personen innerhalb einer Organisation sich stets an gewissen organisationalen Routinen, Unternehmenskulturen und Erwartungen anderer Organisationsmitglieder orientiert. Somit sind organisationale Entscheidungsprozesse – und das in zunehmendem Maße – komplex, kollektiv und undurchsichtig und ihr Ergebnis ist zwangsläufig kontingent. Diese Erklärung ist jedoch für den Organisationsalltag nicht zufriedenstellend, da sie auf unangenehme Art und Weise Unsicherheit produziert. „Das hat zur Folge, dass es bei der Darstellung von Entscheidungen typisch zu Mystifikationen kommt – nicht nur innerhalb von Organisationen, sondern auch in der Theorie. Man kann doch nicht zugeben, dass die Entscheidung sich nicht entscheiden kann“ (Luhmann, 2006; S. 135 f.). Die Formulierung „Entscheidung kann sich nicht entscheiden“ ist dabei folgendermaßen zu interpretieren: Wenn eine Entscheidung nur nötig ist, wenn es mehrere sinnvolle Alternativen gibt, dann wird mit einer Entscheidung immer auch mitkommuniziert, dass man anders hätte entscheiden können. Die Existenz abgelehnter Alternativen wird quasi in der Entscheidung mitgeführt. Der Umstand, dass eine Entscheidung immer auch Alternativen gehabt haben muss, versorgt die Kommunikation jedoch nicht mit der zuvor beschriebenen, notwendigen 64 Einschränkung, die zur Herausbildung eines Kommunikationszusammenhangs notwendig ist. Somit steht die Entscheidung laut Luhmann (2006) vor dem Paradox, „dass die Alternative eine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung) und zugleich keine ist (denn sonst wäre die Entscheidung keine Entscheidung).“ (S. 142) Im Organisationskontext ist es nun von zentraler Bedeutung, dass die Kontingenz aller Entscheidungen weitgehend ausgeblendet wird, um einen hinreichenden Grad an Sicherheit und Anschlussfähigkeit für folgende Entscheidungen zu schaffen. Oder anders ausgedrückt: Organisationen sind darauf angewiesen, dass ein Großteil der getroffenen Entscheidungen – und vor allem der Entscheidungsprämissen – in der Regel außer Frage stehen; nur so können Anschlussentscheidungen basierend auf diesen Vorfestlegungen getroffen werden und die organisationalen Operationen am Leben erhalten werden. Aus diesem Grund scheint es im Organisationskontext unverzichtbar, dass das Entscheidungsparadox durch Mystifizierung unsichtbar gemacht wird, damit Entscheidungen eine höhere Chance auf Akzeptanz haben. Diese Invisibilisierung geschieht in erster Linie durch die Zurechnung von Entscheidungen auf die Person des Entscheiders: „Hier hilft man sich dadurch, dass man das Problem auf den Entscheider umlegt. Er ist es, der entscheidet. An die Stelle der Paradoxie tritt somit zunächst eine Tautologie: der Entscheider entscheidet. […] Die Annahme, dass es der Entscheider sei, der entscheidet, führt zu Mythen.“ (Luhmann, 2006; S. 136) Die beiden zentralen Mythen sind dabei, dass der Entscheider – z.B. aufgrund seiner organisationalen Stellung – die Fähigkeit hat, richtig zu entscheiden, und dass seine Entscheidungen rational sind. Insbesondere der Rationalitätsbegriff wird in Organisationen häufig verwendet, um nahezulegen, dass es eine einzige gültige Rationalität gäbe, auf deren Grundlage Probleme soweit analysiert werden können, bis die „richtige“ Entscheidung getroffen werden kann. Durch die Bemühung des Begriffs der Rationalität wird versucht, Entscheidungen außer Frage zu stellen. Die Rolle von Führung bei der Entstehung von Entscheidungen Um nun auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, welche Rolle Führung im Zusammenhang mit Entscheidung einnehmen kann, muss zunächst noch einmal betont werden, dass nicht eine Führungskraft alleine entscheidet. Dies wird schon dadurch ausgeschlossen, dass in der theoretischen Anlage der Systemtheorie das psychische System (eines Entscheiders) vom sozialen System (der Organisation) getrennt betrachtet wird. Somit ist „Entscheidung ein kommunikatives Ereignis und 65 nicht etwas, was im Kopf eines Individuums stattfindet“ (Luhmann, 2006; S. 141 f.). Doch bereits zuvor kann der „Entscheider“ nicht isoliert betrachtet werden: „Nicht nur nach der Mitteilung der Entscheidung ist der Entscheider der Eigenlogik von Kommunikation ausgeliefert, sondern auch schon vorher“ (Simon, 2007; S. 109). Um Vereinfachungen zu umgehen, die auf die von Luhmann offengelegte Tautologie hinauslaufen, dass der Entscheider entscheidet, muss also der Zusammenhang zwischen Führung und Entscheidung etwas weitläufiger gedacht werden. Es ist nicht hinreichend zu behaupten, dass Führung entscheidet. Wie kann Führung dann jedoch die von Wimmer (2012) geforderte „Antwortfähigkeit der Organisation“ aufrechterhalten? Aus der vorangegangenen Diskussion lassen sich hierfür zwei Kernaufgaben von Führung als organisationaler Funktion ableiten, die in den nächsten beiden Teilkapiteln eingehender vorgestellt werden sollen. Wie beschrieben wurde, kann durch die Generierung von Mythen die Kontingenz von Entscheidungen weitgehend ausgeblendet werden. Etwas weiter gefasst lässt sich sagen, dass durch das Schaffen von Sicherheiten, beziehungsweise durch die Absorption Unsicherheit dazu beigetragen werden kann, dass sich ein von der Umwelt distinguierbarer Kommunikationszusammenhang ausbilden kann. Hierin besteht die erste Kernaufgabe von Führung. Zum anderen kann die Rahmensetzung für Entscheidungsprozesse als zentrale Voraussetzung für die „Antwortfähigkeit“ von Organisationen angesehen werden. Denn auch wenn im Voraus nicht bestimmt werden kann, was in einzelnen Entscheidungssituationen entschieden wird – es kann ja immer erst dann entschieden werden, wenn entschieden wird – kann das Ziel verfolgt werden, Einfluss auf die ablaufenden Entscheidungsprozesse zu nehmen und Voraussetzungen zu schaffen, an denen zukünftige Entscheidungen anschließen können. Bei diesen abstrakten Vorfestlegungen, auf denen zukünftige Entscheidungen aufbauen, handelt es sich nach systemtheoretischer Lesart um Entscheidungsprämissen. Dieser Zusammenhang zwischen Führung und Unsicherheitsabsorption auf der einen Seite, und zwischen Führung und Entscheidungsprämissen auf der anderen Seite, wird in den folgenden beiden Teilkapiteln näher beleuchtet, um damit aufzuzeigen, wie Führung aus systemtheoretischer Sicht verstanden werden kann. 3.3.2 Unsicherheitsabsorption durch Führung Wie beschrieben ist es für das Fortbestehen von Organisationen von großer Bedeutung, dass die in allen Entscheidungen mittransportierte Aussage der Existenz von Alternativen weitgehend unsichtbar gemacht wird. Ein Großteil der vergangenen 66 Entscheidungskommunikationen in Organisationen muss als uneingeschränkt gültig wahrgenommen werden und als Referenzpunkt für Anschlusskommunikationen dienen, da ansonsten kein Kommunikationszusammenhang entsteht, der wiederum die Voraussetzung für die Ausdifferenzierung sozialer Systeme ist. Hierbei spielt Führung eine zentrale Rolle, wie insbesondere Baecker (2003) illustriert: „Führung heißt, der Organisation ein Bild der von ihr in Entscheidungen umgesetzten Ungewissheiten zur Verfügung zu stellen, damit Anschlussentscheidungen getroffen werden können, die die Organisation reproduzieren.“ (S. 285) Damit Ungewissheiten in Entscheidungen umgesetzt werden können, deren Gültigkeit nicht ständig in Zweifel gezogen wird, muss die vorhandene Unsicherheit absorbiert werden. Der Begriff der Unsicherheitsabsorption geht dabei auf March und Simon (1958) zurück, die ihn wie folgt beschreiben: “Uncertainty absorption takes place when inferences are drawn from a body of evidence and the inferences, instead of the evidence itself, are then communicated. […] Through the process of uncertainty absorption, the recipient of a communication is severely limited in his ability to judge its correctness.” (S. 165) Sobald Entscheidungskommunikation nicht mehr auf ihre Korrektheit überprüft wird – und werden kann – folgt automatisch, dass weitere Kommunikation sich weitgehend unhinterfragt daran anschließt. Dies ist eine zentrale Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von Organisationen, deren Funktionieren ganz und gar unmöglich wäre, wenn jedes Organisationsmitglied alle Vorfestlegungen ständig erneut in Frage stellen würde. Diese zentrale Bedeutung des Konzepts von Unsicherheitsabsorption erkannte Luhmann und räumte ihm folgerichtig einen hohen Stellenwert innerhalb seiner Organisationstheorie ein. Er definiert Unsicherheitsabsorption dabei als die „Transformation von Unsicherheit in selbstgarantierte, konstruierte Sicherheit“ (2006; S. 317). Basierend auf dieser konstruierten Sicherheit kann sich zum Beispiel eine spezialisierte Aufgabenteilung innerhalb von Organisationen ausdifferenzieren. Einzelne Organisationsmitglieder können sich auf ihre Fachaufgaben und operative Entscheidungen der täglichen Arbeit konzentrieren, weil sie die übergreifenden Themen als gesetzt voraussetzen können – sie wurden ja bereits von jemand anderem entschieden. Und dieses anonyme Andere ist die organisationale Funktion der Führung. Unter ihr lässt sich die Setzung außer Frage gestellter Gewissheiten subsumieren. Und „auf der Grundlage dieser selbstfabrizierten Sicherheiten“ reproduziert sich die organisationale Kommunikation (Baecker, 1999; S. 212). Auch Wimmer (2010) betont, dass genau diese Schaffung von Sicherheit trotz der ständig vorhandenen Unsicherheiten, mit denen Organisationen zu kämpfen haben, 67 im Kern die Aufgabe von Führung ist: „Führung sorgt laufend dafür, bestehenden Unsicherheiten über adäquate Entscheidungen in gemeinsame Handlungssicherheit zu verwandeln und dabei für die Übernahme von Verantwortung für die eingebauten Risiken zu sorgen“ (S. 32 f.). Vereinfacht könnte man zusammenfassen, dass Organisationen mit dem ständigen Problem kämpfen, zu viel Unsicherheit und zu wenig Sicherheit zu haben (z.B. Thompson, 1976), und dass Führung den Überschuss an Unsicherheit absorbiert und in situative, selbst erzeugte Sicherheiten verwandelt. Dass dieser Prozess der Schaffung ständiger Sicherheiten reibungslos abläuft, darf jedoch nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Auch Führung kann die Zukunft nicht kennen und deshalb keine absolute Sicherheit garantieren. Weil Entscheidungen also immer kontingent sind, weist Luhmann (2006) darauf hin, dass Organisationen die notwendigen Voraussetzungen schaffen müssen, um die laufende Dekonstruktion ihrer Entscheidungen zu verhindern, indem sie sie außer Frage stellen. „Nach der Entscheidung verhalten die Mitglieder der Organisation sich so, als ob die Zukunft sicher wäre“ (Simon, 2007; S. 67). Da die Zukunft jedoch niemals sicher sein kann, basiert dieses Verhalten auf einer Illusion, oder systemtheoretisch ausgedrückt auf einer operativen Fiktion. 56 Es wird angenommen, dass Entscheidungen richtig sind und sie auch in Zukunft Bestand haben werden. „Das System lebt von Selbstüberschätzung“ (Luhmann, 2006; S. 189). Führung unterstützt diesen Prozess maßgeblich durch die allgemeine Mystifizierung von Führungspersonen. Durch diese Mystifizierung kann Führung den Beobachter – zum Beispiel Mitarbeiter –, aber auch sich selbst davon überzeugen, dass Entscheidungen begründet sind und der eingeschlagene Weg der „richtige“ ist. Die Alternativen werden außer Frage gestellt und somit kann man sich auf andere Dinge konzentrieren, also neue Entscheidungen treffen. Luhmann (2006) spricht davon, dass das Entscheidungsparadox durch die Bezeichnung des Entscheiders aufgelöst wird. Unter der Annahme, dass Führungspersonen über besonderes Wissen und besondere Fähigkeiten verfügen, wird der Schein gestärkt, dass ihre Entscheidungen außer Frage stehen. Diese entscheidende Funktion von Führung spiegelt sich in einer Reihe von Studien wider, die aufzeigen, wie stark die Fähigkeiten und der Einfluss von Führung in der Regel überschätzt werden (z.B. Ross, 1977). Für das Verständnis von Führung bedeutet dies, dass der Inhalt von Entscheidungen oft weniger entscheidend ist als deren Akzeptanz, die zur Reproduktion des 56 Als operative Fiktion versteht man kollektive die Unterstellung einer gemeinsamen Realität, „die dann als operative Fiktion sich aufzwingt und zur Realität wird“ (Luhmann, 1981; S. 320). Insbesondere in Situationen, in denen operative Fiktionen eine starke Entlastungsfunktion ausüben, können sie sich als unermesslich resistent erweisen. Ein Beispiel ist die operative Fiktion der Werthaltigkeit von Papiergeld oder elektronischem Geld – weil der Alltag ohne diese Fiktion (fast) nicht zu bewältigen wäre, gibt es kaum eine andere Möglichkeit, als diese Fiktion selbst in Krisenzeiten dem eigenen Handeln zugrunde zu legen und unhinterfragt zu lassen. 68 bestehenden Kommunikationszusammenhangs beiträgt. Entscheidern kommt somit eine wichtige Symbolfunktion innerhalb von Organisationen zu. Sie beruhigen die Organisation, indem durch ihre Anwesenheit verschiedene Ungewissheiten von anderen Organisationsmitgliedern ausgeblendet werden können, da sich die Entscheider bereits um diese gekümmert haben. Unterstützt wird der Prozess der Mystifizierung von Entscheidern gerade durch die Notwendigkeit von Organisationen, Unsicherheit zu reduzieren. Wie Cyert und March (1963) feststellten, sind Organisationen aktiv darum bemüht, Unsicherheit zu vermeiden. Und gerade den organisationalen Positionen, die sich dazu eignen, Unsicherheit zu absorbieren, verleiht diese Fähigkeit in der Regel großen Einfluss. Untermauert wird dies durch die wegweisenden Untersuchungen von Corzier (1964). In seinen Studien stellte Crozier fest, dass Organisationseinheiten, die mit zentralen Unsicherheitsquellen für ihre Organisation zu tun haben, meist über einen sehr hohen Einfluss verfügen. Ob diese Organisationseinheiten die Unsicherheit, mit der sie betraut sind, tatsächlich kontrollieren könnten, muss dabei stark in Zweifel gezogen werden. Aber basierend auf dem Verlangen nach Sicherheit, wird ihnen diese Fähigkeit generell zugeschrieben. Das aktive Streben von Organisationen und ihren Mitgliedern nach der Reduktion von Unsicherheit sorgt somit dafür, dass „Entscheider“ konstruiert werden, denen besondere Fähigkeiten im Umgang mit dieser Unsicherheit zugeschrieben werden können. Dieser Prozess wird jedoch nicht aktiv reflektiert, so dass im Endeffekt nur noch eine Mystifikation rund um Führungskräfte und Entscheider beobachtet werden kann, die einer kritischen Hinterfragung oft nicht standhalten kann. Da der Begriff der „Mystifikation“ insbesondere im betriebswirtschaftlichen und im wissenschaftlichen Umfeld sehr negativ konnotiert ist, soll an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen werden, dass die Invisibilisierung von Unsicherheit basierend auf der Mystifikation von Entscheidern nicht notwendigerweise problematisch ist. Ganz im Gegenteil kann man sogar davon ausgehen, dass es sich dabei um überlebenswichtige Prozesse für den Fortbestand sozialer Systeme handelt. In einer Umwelt voller Unsicherheit, kann die für die Reproduktion sozialer Systeme erforderliche Sicherheit durch wiederholte Unsicherheitsabsorption wahrscheinlich nur auf diese Weise sichergestellt werden. Dermer und Lucas (1986) weisen sogar explizit auf die Gefahren hin, die entstehen können, wenn diese Illusion zerstört wird: “It does not necessarily follow that, because an illusion of control exists, it should be exposed. There are significant consequences in doing so, consequences which could be dysfunctional to individuals, groups and the organization as a whole.” (S. 479) Sie sind vor allem darüber besorgt, dass eine derartige Offenlegung die Legitimität von Führung untergraben könnte. Unter Verweis auf Weber (1947) führen sie aus, dass die Stabilität von Organisationen auf die Akzeptanz von Führung angewiesen 69 ist. Zwar kann man Webers Organisationsverständnis nicht mit einer systemtheoretischen Betrachtungsweise gleichsetzen, aber dennoch ist Argumentation auf das hier dargestellte Gedankengerüst anwendbar. Wenn eine zentrale Aufgabe von Führung – als organisationaler Funktion, nicht als individueller Tätigkeit oder gar Eigenschaft – in der Absorption von Unsicherheit besteht, ist die Akzeptanz von zumindest einem Teil ihrer Entscheidungen für das organisationale Fortbestehen unabdingbar. Diese Akzeptanz und damit das Vertrauen in die Fähigkeit von Führung mit Unsicherheit umgehen zu können, basiert jedoch zu weiten Teilen auf Illusionen; dazu zählt insbesondere die Illusion, dass Führung die Fähigkeit habe, „richtig“ zu entscheiden. Unsicherheitsabsorption und Sinn Die Aufrechterhaltung dieser operativen Fiktion der angenommenen Richtigkeit von Entscheidungen und die daraus entstehende Fähigkeit zur Unsicherheitsabsorption sind somit für die ständige Reproduktion des bestehenden organisationalen Kommunikationszusammenhangs entscheidend. Laut Luhmann (2006) kann Führung sich dabei jedoch nicht immer alleine auf Hierarchie verlassen. Sie kann aufgrund der rückläufigen gesellschaftlichen Subventionierung von Autorität die „Unsicherheit absorbierende Entscheidungsverknüpfung“ (S. 322) nicht mehr alleine sicherstellen. Deshalb ist es an dieser Stelle hilfreich, das Konzept von Sinn in die vorgestellten Überlegungen einzuführen. Aus systemtheoretischer Perspektive lässt sich Sinn wie folgt beschreiben: „Sinn ist das Medium, das mit der Differenz von Aktualität und Potenzialität arbeitet“ (Luhmann, 2009; S. 233). Diese Differenz ist allgegenwärtig. Es gibt an allen Stellen in Organisationen einen Möglichkeitenüberschuss, also deutlich mehr Möglichkeiten als aktualisiert werden können. Deshalb ist man ständig zur Selektion gezwungen; und jede Selektion bedarf einer – oftmals unausgesprochenen – Rechtfertigung, um auf Akzeptanz zu stoßen. Außerdem muss diese Rechtfertigung zumindest teilweise kollektiver Natur sein, damit die Selektionen innerhalb von Organisationen aneinander anschlussfähig bleiben. Dies kann mithilfe von Sinn erreicht werden. „Sinn ist eine Potente Form der Reduktion von Komplexität, der Auflösung eines erzwungenen Selektionsproblems“ (Luhmann, 2009; S. 237). Durch Sinn kann die zwangsläufig notwendige Ausschließung einer immensen Zahl von Möglichkeiten außer Frage gestellt werden. Damit ist Sinn entscheidend, um die Unsicherheit vor dem Hintergrund des ständigen Möglichkeitenüberschusses in Organisationen zu reduzieren und damit Unsicherheit zu absorbieren. Sinn ist dabei jedoch nicht als eine objektiv feststellbare Größe zu verstehen, sondern als eine soziale Konstruktion. Kein Begriff drückt dies treffender aus, als 70 Weicks Bezeichnung des „Sensemaking“. Weick (1979) beschreibt die Konstruktion von Sinn dabei als einen genuin sozialen Prozess, der in der Regel kollektiv und expost stattfindet. Innerhalb von Organisationen wird also auf die Vergangenheit zurückgeblickt und in sozialen Diskursen der Sinn vergangener Handlungen ausgehandelt. Dieser Prozess läuft jedoch überwiegend nicht bewusst ab – vielmehr wird der im Nachhinein konstruierte Sinn als Grund für Handeln angegeben, das zu einem Zeitpunkt stattfand, zu dem dieser Sinn noch gar nicht erzeugt worden war. Auf der anderen Seite hat Sinn jedoch auch Auswirkungen auf zukünftige Ereignisse, weil Kommunikationen dazu neigen, den erschaffenen Sinn als Anknüpfungspunkt zu nutzen, um ihre Anschlussfähigkeit sicherzustellen. Im Zusammenhang mit Führung ist nun darauf hinzuweisen, dass Führung Sinn nicht allein und nicht arbiträr bestimmen kann. Sensemaking ist ein sozialer und nicht kontrollierbarer Prozess. Dennoch besitzt Führung die Möglichkeit, Einfluss auf diesen Prozess nehmen, wie unter anderem Wimmmer (2012) betont: „Führung, die an nachhaltigen Wirkungen in der Gestaltung der Zukunftsfähigkeit von Organisationen interessiert ist, ist unabdingbar darauf angewiesen, jede ihrer Interventionen im Organisationsalltag mit Sinn aufzuladen.“ (S. 48) Durch das gezielte Aufladen der eigenen Interventionen mit Sinn, sowie durch die Bereitstellung von Beschreibungs- und Interpretationsangeboten für organisationale Entwicklungen, verfügt Führung aufgrund ihrer erhöhten Sichtbarkeit in Organisationen über die Fähigkeit, die ständig ablaufenden kollektiven Sensemaking-Prozesse zu beeinflussen und mitzugestalten. Auch Pfeffer (1981) sieht hierin eine zentrale Aufgabe von Führung. Er argumentiert, dass „Realität“ sozial konstruiert ist 57 und es deshalb für eine Organisation von entscheidender Bedeutung ist, dass sie eine gemeinsame Realität erzeugt, auf die sie sich beziehen kann. Führung hat aus Pfeffers Sicht deshalb weniger einen direkten Einfluss auf „substantive outcomes“ als vielmehr auf „symbolic outcomes“, die jedoch entscheidend sind, um kohärente Abläufe in Organisationen sicherzustellen. Insbesondere durch die Reflexion der Symbolik des eigenen Handelns ist es Führung somit möglich, Sensemaking Prozesse zu unterstützen: „Management provides rationalizations or reasons that make sense of and thereby explain the organization’s activities” (Pfeffer, 1981; S. 5). Führung hat somit die Möglichkeit durch die Unterstützung und Beeinflussung von Sinngenerierungsprozessen die Anzahl der innerhalb der Organisation als sinnvoll betrachteten Möglichkeiten und Alternativen dramatisch zu reduzieren und damit Unsicherheit zu absorbieren. Eine Vielzahl von Möglichkeiten kann auf diese Weise 57 Insbesondere unter Verweis auf Berger und Luckmann (1967) 71 von vornherein außer Frage gestellt werden, wodurch die verbleibenden Möglichkeiten mit gesteigerter Aufmerksamkeit bearbeitbar gemacht werden. Dass dabei die Rolle von Führung zum Teil auf „Mystifikationen“ und „Illusionen“ angewiesen ist, und sich verstärkt mit der Nutzung und Wirkung von „Symbolen“ auseinandersetzen muss, zeigt, wieweit sich die heutige Realität von Führung von den klassisch-mechanistischen Führungsvorstellungen des eingehenden 20. Jahrhunderts entfernt hat. Dies mag – in Theorie wie Praxis – ein gewisses Unbehagen erzeugen, da diese Punkte schwer greifbar und nicht in wenigen einfachen Schritten operationalisierbar sind. Dennoch gilt es, sich dem Umstand zu stellen, dass diese wenig greifbaren Themen den Kern der Führungstätigkeit ausmachen. 58 Unsicherheitsabsorption und Entscheidungsprozesse Wie beschrieben wurde, ist Unsicherheitsabsorption eine entscheidende Aufgabe von Führung, die jedoch nicht allein von einzelnen Personen, sondern im Rahmen sozialer Interaktion erbracht werden muss und damit einen prozessualen Charakter hat. Für Führung ergibt sich aus dieser Betrachtung der Unsicherheitsabsorption eine wichtige Schlussfolgerung: Wenn man der hier angeführten Argumentation folgt, verschiebt sich insbesondere der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit von Führung von Entscheidungen als einzelnen Ereignissen, hin zu Entscheidungsprozessen. Die zentrale Bedeutung der Ausgestaltung von Entscheidungsprozessen lässt sich anhand von folgenden Überlegungen aufzeigen. Sie offenbart sich zum Beispiel, wenn man die von Brunsson (1986) aufgestellte Unterscheidung zwischen Entscheidungsrationalität und Handlungsrationalität vor dem Hintergrund der Funktion der Unsicherheitsabsorption von Führung interpretiert. Brunsson argumentiert dabei, dass sich die klassischen Vorstellungen rationaler Entscheidungsprozesse nicht mit der gelebten Praxis innerhalb von Organisationen decken. 59 Er beschreibt, dass rationale Entscheidungsfindungsprozesse die spätere Umsetzung behindern können und deshalb in der Praxis gezielt vermieden werden. Dabei erweist sich für Brunsson gerade das Abwägen zwischen ähnlich sinnvollen Handlungsalternativen als gefährlich. Denn wenn sich im Entscheidungsprozess herausstellt, dass verschiedene mögliche Vorgehensweisen existieren und keine klar zu bevorzugen ist, werden sich Organisationsmitglieder weniger stark auf die Umsetzung der letztendlich gewählten Option verpflichten lassen. Und vor allem wenn anfängliche Schwierigkeiten auftreten, besteht die Gefahr, dass die Unterstützung für das beschlossene Vorgehen schnell schwindet. Außerdem ist es 58 Vgl. z.B. Peters (1987), S. 10: „Symbols are the very stuff of management behavior. Executives, after all, do not synthesize chemicals or operate lift trucks; they deal in symbols.” 59 Dabei geht er über Simons (1955; 1982) klassische Einschränkung der „bounded rationality“ hinaus, die lediglich die kognitiven Einschränkungen als Hemmnis für optimale rationale Entscheidungsprozesse betont. 72 deutlich leichter, Widerstand gegen Entscheidungen zu mobilisieren, zu denen valide Alternativen existieren, die allgemein bekannt sind. Aus der Perspektive der Unsicherheitsabsorption wäre die Schlussfolgerung, dass Führung unter Umständen aktiv verhindern sollte, dass in Entscheidungsprozessen zu viele gleichwertige Alternativen intensiv geprüft werden, weil damit zusätzliche Unsicherheit – auch über den Zeitpunkt der Entscheidung hinaus – geschaffen werden kann. Brunnson beschreibt Beispiele, in denen eine als sinnvoll eingeschätzte Option gezielt mit einer Alternative verglichen wird, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten kann. Ähnlich zeigt Nutt (1984) in seinen Untersuchungen, dass in Entscheidungsprozessen bevorzugt Alternativen betrachtet werden, die entweder schnell ausgeschlossen oder problemlos angenommen werden können. Da Entscheidungen aufgrund der latent mitgeführten Kommunikation, dass es auch Alternativen gegeben hätte, immer auch Unsicherheit mitführen, kann die Existenz klar bevorzugter Alternativen dabei helfen, diese Unsicherheit zu absorbieren. Für Führung bedeutet dies, dass nicht nur die Qualität von Entscheidungen zu betrachten ist, sondern auch die mögliche Unsicherheit, die Organisationen in Entscheidungsprozessen zugemutet wird. Ebenso spielt die Ausgestaltung von Entscheidungsprozessen eine wichtig Rolle, weil der Unsicherheitsabsorption keine Maximierungsfunktion zugrunde gelegt werden kann. Es geht also nicht darum, dass Führung alle organisationalen Fragen – in individualistischen Entscheidungen – endgültig entscheidet und der Rest der Organisation diesen Vorgaben völlig ohne Unsicherheit folgen kann. Vielmehr gibt es ein zentrales Paradox im Bereich Management: “The paradox of administration, the dual searches for certainty and flexibility“ (Thompson, 1967; S. 150). Führung muss somit auf der einen Seite Unsicherheit absorbieren und auf der anderen Seite dazu beitragen, dass die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der eigenen Organisation aufrechterhalten bleibt. Auch hierbei hilft die Verschiebung des Führungsfokuses von Einzelentscheidungen auf Entscheidungsprozesse. Denn es ist besonders in komplexen Organisationen völlig undenkbar, dass die nötige Balance zwischen Unsicherheitsabsorption und Flexibilität durch eine komplette Zentralisierung von Entscheidungen erreicht wird. Vor allem anderen würden die nötige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Organisationen somit zielsicher unterbunden. Organisationen leben davon, dass viele Entscheidungen im täglichen Geschäft an den unterschiedlichsten Orten getroffen werden. Verteilte, operative Entscheidungen können zur Emergenz von grundlegenden Veränderungen führen (Mintzberg 1978; Mintzberg et al. 2005) und „the most important decisions are often the least apparent“ (Weick, 1979; S. 243). Dennoch hat Führung eine Möglichkeit auf die beschriebene Balance zwischen Sicherheit und Flexibilität einzuwirken, ohne alle Einzelentscheidungen selbst kontrollieren zu müssen. Dies kann bewerkstelligt werden, indem gewisse Themen 73 außer Frage gestellt, während andere gezielt offen gelassen werden. Ersteres ist ein Prozess des Schließens. Es wird als gesetzt betrachtet, dass sich die Organisation in bestimmten Aspekten nicht zu hinterfragen braucht. Die Irritabilität durch die Umwelt wird auf diese Weise reduziert. „Es kommt zu nicht weiter reflektierten Kausalunterstellungen, mit denen das System arbeiten kann“ (Luhmann, 2006; S. 139). Einzelne Entscheidungen bleiben zwar offen, aber man kann weitgehend davon ausgehen, dass die ausgeschlossenen Themen nicht Kernbestandteil der überwiegenden Mehrheit der verteilt stattfindenden Entscheidungen darstellt und somit an dieser Stelle wenig zusätzliche Unsicherheit produziert wird. Darin erschöpft sich die Aufgabe der Unsicherheitsabsorption jedoch nicht, denn es ist nicht ihr Ziel, Unsicherheit zu beseitigen. „Führung […] greift über das Management einer Organisation hinaus, indem es die Organisation nicht nur zu ihrer Routine der Bewältigung von Ungewissheiten aller Art befähigt, sondern darüber hinaus diese Ungewissheit, um deren Bewältigung es geht, in die Organisation wieder einführt und dann dort zum Gegenstand personell und strukturell adressierbarer Entscheidungen macht“ (Baecker, 2003; S. 258). Indem also Unsicherheit zuvor eingeschränkt wurde, ermöglicht Führung, dass andere Fragen, die offen gelassen wurden oder sogar gezielt als offen markiert werden, und von der Organisation bearbeitet werden, also zum Gegenstand von Entscheidungen werden. Unsicherheitsabsorption ermöglicht somit durch die Reduktion von Unsicherheit und durch den Ausschluss gewisser Fragestellungen gleichzeitig eine Öffnung für andere Fragen. Wenn der Freiraum von Akteuren eingeschränkt wird, eröffnet sich dadurch innerhalb der Einschränkungen neuer Freiraum (Simon, 2007). Somit wird eine Schließung immer gleichzeitig auch zur Öffnung – bestimmte Optionen können genauer angeschaut werden, weil andere nicht mehr betrachtet werden müssen – und anders herum eine Öffnung zur Schließung, weil man sich mit bestimmten Optionen nicht so intensiv beschäftigen kann, wie es möglich gewesen wäre, wenn andere Optionen ausgeschlossen worden wären. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Führung über Unsicherheitsabsorption – insbesondere mittels der Einflussnahme auf Sensemaking-Prozesse – die Möglichkeit hat, auf die ständigen organisationalen Entscheidungsprozesse einzuwirken, die verteilt innerhalb einer Organisation ablaufen. Auf diese Weise reicht der Einfluss von Führung über Einzelfragen hinaus und ermöglicht es, Organisation dazu zu befähigen, in den unterschiedlichsten Situationen antwortfähig zu bleiben. Hierin liegt ein zentraler Beitrag von Führung: “The greater significance of leadership lies not in the direct impact on substantive matters but in the ability to exert control 60 over the meanings 60 Der Begriff „control“ sollte dabei mit Vorsticht betrachtet werden, da die Autoren nicht von Kontrollmöglichkeiten, sondern lediglich von der Fähigkeit zur Einflussnahme ausgehen. Auch unter Verweis auf Pondy (1978) sowie Daft und Weick (1984) argumentieren Meindl et al. (ibid.), dass die Kontrolle oder Steuerung einer Organisation durch Führung gerade nicht möglich ist. 74 and interpretations important constituencies give to whatever events and occurrences are considered relevant for the organization's functioning.” (Meindl et al., 1985; S. 99) Die Bedeutung von Führung liegt aus dieser Perspektive darin, dass sie organisationale Einflussmöglichkeiten hat, indem sie Sensmaking-Prozesse unterstützt, Interpretationen des beobachteten Verhaltens beeinflusst und gewisse Themen versprachlicht und damit kommunizierbar macht. Auf diese Weise wird Unsicherheit absorbiert und zugleich der Fokus zukünftiger Entscheidungen beeinflusst. Letzteres ist auch ein erster Schritt in die Richtung des Managements von Entscheidungsprämissen, der im nächsten Teilkapitel eingehender betrachtet wird. Dieser Zusammenhang zwischen Unsicherheitsabsorption und Entscheidungsprämissen wird in Kapitel 3.3.4 erneut aufgegriffen. 3.3.3 Management von Entscheidungsprämissen Wie bereits mehrfach beschrieben wurde, soll Führung in diesem Kapitel nicht als eine Form von maschineller Steuerung von Organisationen verstanden werden. Damit geht einher, dass Führung nicht die Fähigkeit besitzen kann, alle Einzelentscheidungen innerhalb einer Organisation direkt zu kontrollieren. Für eine Führungstheorie bedeutet das, dass man sich von einer Vorstellung verabschieden sollte, bei der die Führungskraft „oben“ in einer Organisation sitzt und entscheidet, woraufhin die Mitarbeiter „unten“ diese Entscheidung umsetzen. Genauso wenig ist es möglich, sämtliche Entscheidungsprozesse zu überwachen. Es gilt anzuerkennen, dass in einer Organisation permanent komplexe und unüberschaubare Entscheidungsprozesse ablaufen, die nicht zentral steuerbar sind. Dies gilt aus logischen Gründen schon deshalb, weil viele Entscheidungsprozesse simultan ablaufen (Luhmann, 2006; S. 237). Führung kann auf dieser Basis als die Aufgabe verstanden werden, „in einem grundsätzlich nicht beherrschbaren Feld kalkulierbare Wirkungen zu erzeugen“ (Willke, 1987; S. 351). Eine Beschreibung von Führung sollte deshalb aufzeigen, dass Führung über die Möglichkeit verfügt, Wirkungen zu erzeugen, aber dennoch keine vollständigen Kontrollmöglichkeiten besitzt. Der Ausgangspunkt hierfür ist die Beschreibung komplexer sozialer Systeme der heutigen Gesellschaft als grundsätzlich unbeherrschbar und damit weder kontrollierbar noch steuerbar. Darauf aufbauend ist die Frage zu stellen, in welcher Form es Führung vor diesem Hintergrund möglich ist, dennoch kalkulierbare Wirkungen innerhalb von Organisationen zu erzeugen. Dabei ist ein entscheidender Punkt, dass nicht länger isoliert von Führungskräften gesprochen wird. Führung soll als organisationale Funktion verstanden werden 75 (Ogawa und Bossert, 1995; O’Tool, 2001), die innerhalb von Organisationen eine bestimmte Aufgabe wahrnimmt. Somit ist auch Führung selbst eine ausdifferenzierte Spezialfunktion, die einen wichtigen Beitrag für Organisationen leistet, indem sie einen Einfluss auf ein Gesamtsystem ausübt, der von den anderen ausdifferenzierten Teilsystemen nicht erbracht werden könnte. „Das Gelingen dieser Ausdifferenzierung entlastet die Funktionsinhaber im operativen Geschäft. Sie können sich auf inhaltliche Fachaufgaben konzentrieren, weil sie das Sich-Kümmern um die Funktionstüchtigkeit des jeweiligen Ganzen bei ihren Führungskräften gut versorgt wissen“ (Wimmer, 2012; S. 43). Obgleich Führung aus systemtheoretischer Sicht als eine organisationale Funktion betrachtet wird, die mehr als einzelne Personen umfasst, spricht Wimmer im genannten Zitat von Führungskräften. Dies kann unter anderem damit begründet werden, dass die Einflussmöglichkeiten von Führung auch bei der vorgeschlagenen funktionalen Konzeption weiterhin zum Teil darauf basieren, dass Entscheidungen Entscheidern zugeschrieben werden. Diese Zuschreibung hilft Führungskräften dabei, ihre Führungsfunktion innerhalb von Organisationen wahrnehmen zu können: „Die Führungsfigur, die weiß, dass ihr die Verantwortung für Entscheidungen zugeschrieben wird, die Ergebnis eines Kommunikationsprozesses sind, kann versuchen, zielgerichtet in das Kommunikationssystem zu intervenieren.“ (Simon, 2007; S. 109) Führung wird somit nicht in erster Linie als die Kontrolle von Einzelentscheidungen verstanden, sondern als die zielgerichtete Intervention in Kommunikationssysteme mit der Absicht kalkulierbare Wirkungen auf Entscheidungsprozesse zu erzeugen – und zwar gerade auch auf solche Entscheidungsprozesse, an denen keine Führungsperson aktiv beteiligt ist. Deshalb ist ein wichtiger Teil von „Führung […] die Beförderung der Selbststeuerung eines autopoietischen Systems“ (Wimmer, 1989; S. 149). Weil Einzelpersonen oder einzelne Funktionen – darunter auch Führung – mit der Aufgabe ein komplexes System zu steuern überfordert wären, muss das System über die Fähigkeit verfügen, sich selbst zu steuern. 61 Es muss in der Lage sein, an den unterschiedlichsten Stellen Entscheidungskommunikationen zu generieren und damit seine Operationen aufrecht zu erhalten. Die Aufgabe von Führung ist es, diese Selbststeuerungsfähigkeit zu unterstützen. Wenn es also bei Führung nicht um die Regelung aller Einzelentscheidungen, sondern vielmehr um die Unterstützung und Beeinflussung von oftmals autonom 61 Hierbei handelt es sich um eine grundlegende Annahme der Systemtheorie. So eröffnet Luhmann (1997) sein Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft mit folgendem Zitat von Spinoza: „Id quod per aliud non potest concipi, per se concipi debet.“ Wenn also ein System zu komplex ist, um von irgendjemandem konzipiert, verstanden oder gesteuert zu werden, es aber dennoch existiert, dann kommt man zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass es diese Aufgaben selbst übernommen haben muss. 76 ablaufenden Entscheidungsprozessen geht, stellt sich die zentrale Frage, wie Führung einen sinnvollen Einfluss auf diese Entscheidungsprozesse ausüben kann, selbst wenn sie an diesen selbst oftmals nicht beteiligt ist. Hierzu bedient sich die Systemtheorie des Konzeptes der Entscheidungsprämissen. Entscheidungsprämissen Es wurde bereits von Simon (1957) darauf hingewiesen, dass die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ebenen organisationaler Hierarchie darauf beruht, dass auf höheren Ebenen Prämissen gesetzt werden, auf die sich die Entscheidungen tieferer Ebenen beziehen. Luhmann griff diese Idee der Entscheidungsprämissen auf, formte sie jedoch zu einem allgemeineren Konzept, das innerhalb aller Organisationen von existenzieller Bedeutung ist. Vereinfacht ausgedrückt lässt sich feststellen, dass zwar alle Mitglieder von Organisationen an den unterschiedlichsten Entscheidungen beteiligt sein können und die Reichweite solcher Entscheidungen in der Regel nicht ohne weiteres absehbar ist; das heißt jedoch nicht, dass eine völlige Entscheidungs-Willkür herrscht. Ganz im Gegenteil, es ist sogar zu beobachten, dass „mehr und mehr Entscheidungen auf Entscheidungen zurückgerechnet werden“ (Luhmann, 2006; S. 324), also sich an organisationalen Festlegungen der Vergangenheit orientieren. Diese vorangegangen Festlegungen, die neuen Entscheidungen als Referenzpunkte dienen, werden als Entscheidungsprämissen bezeichnet. Entscheidungsprämissen sind dabei eine zwingende Voraussetzung für die Existenz von Organisationen. Wenn es keine Entscheidungsprämissen gäbe, also jede Entscheidung ohne Bezugspunkte aus der Vergangenheit getroffen werden müsste, könnte von vornherein nicht von Organisationen gesprochen werden. Der zuvor als für soziale Systeme konstituierend beschriebene „Kommunikationszusammenhang“ könnte nicht zustande kommen, weil es keinen Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Entscheidungskommunikationen gäbe. Oder, um es in den Worten Luhmanns (2006) auszudrücken: „Hätte eine Organisation nicht die Möglichkeit, Entscheidungsprämissen zu entscheiden, bliebe sie Fortsetzung ihrer Umwelt.“ (S. 229) auch über eine bloße Wenn sich Entscheidungen also nicht auf zuvor getroffene Festlegungen beziehen würden, könnten sich eine Organisationen nicht gegenüber ihrer Umwelt abgrenzen, sich nicht von ihr unterscheiden. Das, was charakteristisch für eine spezifische Organisation ist, hängt mit Entscheidungsprämissen zusammen, die dafür sorgen, dass diese speziellen Eigenschaften einer Organisation in den täglich ablaufenden 77 Entscheidungen einen Niederschlag finden. 62 Damit ist die Existenz von Entscheidungsprämissen eine zwingende Voraussetzung für die Existenz von Organisationen. Entscheidungsprämissen sind folglich als Setzungen zu sehen, die in der Regel bei einzelnen Entscheidungen nicht erneut hinterfragt werden, sondern von den Organisationsmitgliedern als gegeben vorausgesetzt werden. Entscheidungsprämissen müssen lediglich auf ihre Relevanz für gegebene Problemstellungen hinterfragt werden – also zum Beispiel: gilt eine bestimmte Regel für den vorliegenden Fall – sie müssen aber nicht ständig erneut auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden. Es gibt dabei sehr unterschiedliche Formen von Entscheidungsprämissen. Luhmann (2006) nennt insbesondere die Festlegung von Entscheidungsprogrammen, die Definition von Kommunikationswegen, sowie die Regelung des Personaleinsatzes. Etwas allgemeiner ausgedrückt lässt sich festhalten, dass alle organisationalen Festlegungen, die als Referenzpunkte für Folgeentscheidungen dienen, Entscheidungsprämissen sind. Dies reicht von einfachen Regeln (wenn „A“ dann ist „B“ zu tun) über komplizierte Prozessbeschreibungen bis hin zur Kultur 63 einer Organisation, die maßgeblichen Einfluss darauf hat, wie innerhalb einer Organisation gearbeitet wird. Entscheidungsprämissen und Führung Für das Verständnis von Führung aus einer systemtheoretischen Perspektive ist die Unterscheidung zwischen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen essenziell. Diese Unterscheidung bleibt in den meisten der zuvor beschriebenen Führungstheorien unreflektiert. Damit soll deren Verfassern nicht die Kenntnis hinsichtlich der unterschiedlichen Reichweite verschiedener Führungsentscheidungen abgesprochen werden. Jedoch erst die idealtypische Gegenüberstellung von Entscheidungen und Entscheidungsprämissen lässt eine präzise Beschreibung von Führung aus prozesstheoretischer Perspektive zu. 62 Entscheidungsprämissen sind deshalb auch ein zentraler Unterschied zwischen Organisationen und gesellschaftlichen Funktionssystemen. Letztere verfügen über eine eindeutige binäre Codierung, an der sie sich orientieren. Dies ist bei Organisationen nicht der Fall. „Entscheidungsprämissen sind […] auf der Ebene der Organisationssysteme das funktionale Äquivalent für die Codierung der Funktionssysteme“ (Luhmann, 2006; S. 232). Somit können Organisationen ihre „Codierung“ selbst wählen und anders als Funktionssysteme auch unterschiedliche und in sich widersprüchliche „Codierungen“ zulassen. Auf diese Weise können in einer Organisation auch verschiedene Rationalitäten koexistieren. Dieser Umstand schafft Raum für die Ausbildung einer individuellen Konstellation von Entscheidungsprämissen innerhalb jeder Organisation. 63 Luhmann (z.B. 2006) nennt das, was üblicherweise als Unternehmenskultur bezeichnet wird, „unentscheidbare Entscheidungsprämissen“, wodurch er zwei entscheidende Eigenschaften von Kulturen hervorhebt: Zum einen, dass über sie nicht aktiv entschieden werden kann; zum anderen, dass sie in der Regel keine harmonische Einheit darstellen, sondern vielmehr aus einer Vielzahl von Prämissen bestehen, die sich sogar zum Teil widersprechen können. 78 Außerdem lässt sich durch diese Unterscheidung eine grundlegende Veränderung in der Aufgabe von Führung über die letzten Jahrzehnte offenlegen. Bereits zuvor wurde die Bemerkung von Luhmann zitiert, dass immer mehr Entscheidungen auf andere Entscheidungen zurückgerechnet werden. Auf diesen Umstand soll nun nochmals näher eingegangen werden. Vereinfacht gesagt, lässt sich diese Veränderung im organisationalen Alltag wie folgt darstellen: Organisationen sind mit schnell ansteigender Komplexität konfrontiert, aber die Fähigkeit einzelner Organisationsmitglieder zur Bearbeitung von Komplexität können nicht grenzenlos gesteigert werden. Insofern besteht der einzige Ausweg darin, dass die steigende Komplexität durch immer mehr organisationale Vorfestlegungen abgefangen wird, an denen sich die Organisationsmitglieder ohne weitere Hinterfragung orientieren können. Auf diese Weise können sie die verbleibende Komplexität sinnvoll bearbeiten. Komplexität wird reduziert, um Komplexität steigern zu können. Somit müsste man noch genauer davon sprechen, dass nicht nur immer mehr Entscheidungen auf Entscheidungen zurückgerechnet werden, sondern dass jede Entscheidung zudem auf eine unübersichtlich ansteigende Vielzahl von vorherigen Entscheidungen zurückgerechnet wird. Luhmann (2006) leitet hieraus ab, dass sich die Anforderungen an Führungsfunktionen verändern: „Diese Anforderungen scheinen sich in Richtung auf eine allgemeine Kompetenz für Situationsmanagement zu verschieben, wobei „Situationen“ nicht zuletzt aus den ständigen Widersprüchen zwischen sinnvollen Desideraten und aus den entsprechenden „mikropolitischen“ Konflikten der Spezialisten entstehen.“ (S. 324) In diesem Zitat wird noch eine weitere Ursache sichtbar, warum die Bedeutung von Entscheidungsprämissen – und deren Management – ständig zunimmt. Organisationen reagieren auf die Herausforderungen der komplexeren Umwelt durch die Beschäftigung von immer mehr Spezialisten. Deren Arbeit kann von Generalisten per Definition nur in begrenztem Maß kontrolliert werden, da letzteren das nötige Fachwissen und die nötige Zeit für eine enge Steuerung von Spezialisten fehlt. Man muss mithin akzeptieren, dass Spezialisten zu einem hohen Grad selbstorganisiert arbeiten. Dennoch muss dafür gesorgt werden, dass die Arbeit dieser Spezialisten und die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Mentalitäten und Rationalitäten ergebenden Konflikte innerhalb des Organisationskontexts integriert werden können. Wenn diese Integration nicht mehr über die direkte Kontrolle der Arbeit aller Organisationsmitglieder geleistet werden kann, verändert sich Führung dahingehend, dass sie die notwendige Integration durch das gezielte Bearbeiten von Entscheidungsprämissen fördert. Luhmann nennt dies im zuvor aufgeführten Zitat „Situationsmanagement“. Dies kann so interpretiert werden, dass Führung die Situation, in der Organisationsmitglieder ihre Arbeit verrichten, durch 79 Entscheidungsprämissen dahingehend mitgestaltet, dass die Anschlussfähigkeit der jeweils erbrachten Tätigkeiten sichergestellt werden kann. Führung muss sicherstellen, dass die Organisation über Prozesse verfügt, die die verteilt stattfindende Wertschöpfung sinnvoll zusammenführen können. Es ist diese Kernaufgabe von Führung, die zu Beginn des Kapitels als „Management von Entscheidungsprämissen“ beschrieben wurde. Durch die Einflussnahme mithilfe von Entscheidungsprämissen, kann Führung zwei zentrale Herausforderungen in heutigen Organisationen bewältigen. Zum einen wird es möglich, das Problem der Gleichzeitigkeit von Entscheidungen zu behandeln. In komplexen Organisationen ist es notwendig, dass ständig verschiedene Entscheidungen simultan getroffen werden. Diesen „fehlt aber die Möglichkeit, einander wechselseitig zu kontrollieren“ (Luhmann, 2006; S. 237). Durch die Setzung von Entscheidungsprämissen, wird eine Koordination simultan ablaufender Entscheidungen ermöglicht. Die zweite Herausforderung ist die Einflussnahme auf Entscheidungen, die im Kern so spezialisiert sind, dass Führung sie nicht hinreichend verstehen kann. Je mehr Organisationen auf Spezialisten und spezialisierte Funktionsbereiche setzen, desto mehr kommt diese Herausforderung zum Tragen. Die Einflussnahme auf solche Entscheidungen mithilfe von Entscheidungsprämissen hat einen zentralen Vorteil, denn Entscheidungsprämissen „legen künftige Entscheidungen noch nicht fest […]. Aber sie fokussieren die Kommunikation auf die in den Prämissen festgelegten Unterscheidungen“ (Luhmann, 2006; S. 224). Somit kann Führung ihre koordinierende Aufgabe wahrnehmen, indem sie Kommunikationsprozesse rahmt, dabei aber Entscheidungen nicht im Detail selbst treffen muss, und hierdurch denjenigen Organisationsmitgliedern hinreichend Handlungsspielraum lässt, die tatsächlich etwas von den jeweiligen, zu bearbeitenden Themen verstehen. Die bisherigen Überlegungen zu Führung und Entscheidungsprämissen haben somit gezeigt, warum die Kontrolle von Einzelentscheidungen innerhalb von komplexen Organisationen zunehmend auszuschließen ist und dass die Beeinflussung von Entscheidungsprämissen ein entscheidendes Substitut für die Ausübung von Führung darstellt. Bisher noch nicht erörtert, beziehungsweise stillschweigend vorausgesetzt wurde die Annahme, dass Führung einen besonderen Einfluss auf Entscheidungsprämissen zeitigen kann. Bei der Betrachtung dieser Fragestellung ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Herausforderungen zunehmender Komplexität von Organisationen nicht nur deren Führung erschwert. Alle Organisationsmitglieder sind zunehmend mit der Gefahr von Überforderung konfrontiert, weil die Alltagskomplexität theoretisch uferlos ist. Aus diesem Grund sind sie darauf angewiesen, sich an Entscheidungsprämissen orientieren zu können. Diese wirken „als Redundanzen, die die Informationslast auf ein leistbares Format reduzieren“ (Luhmann, 2006; S. 227). Nun soll an dieser Stelle 80 keineswegs argumentiert werden, dass alle Entscheidungsprämissen direkt auf Führungsentscheidungen zurückzuführen sind – insbesondere bei den nicht entscheidbaren Entscheidungsprämissen wäre eine solche Aussage wenig überzeugend. Aber wie bereits im Abschnitt zur Unsicherheitsabsorption beschrieben wurde, streben Organisationen nach der Vermeidung von Unsicherheit und sind bereit, Organisationseinheiten und Funktionen, die Unsicherheit absorbieren können, einen erhöhten Einfluss zu gewähren. Führung hat somit die Chance gestaltend tätig zu werden, indem sie sich ihrer gesteigerten Sichtbarkeit innerhalb der Organisation bewusst ist, und sie nutzt, um zu bearbeitende Problemfelder ins Bewusstsein der Organisation zu rufen. Den hierdurch ausgelösten organisationalen Bearbeitungsprozessen kann durch Entscheidungsprämissen Orientierung gegeben werden. Luhmann (2006) beschreibt dies wie folgt: „Eine der wichtigsten Aufgaben des Managements dürfte es deshalb sein, ein jeweils persönliches Gedächtnis in ein Organisationsgedächtnis umzuformen, vor allem also: in die Akten zu geben. So entstehen Entscheidungsprämissen, die dann in den weiteren Operationen des Systems verwendet werden und ihnen Richtung geben können.“ (S. 86) An dieser Stelle wird einmal mehr sichtbar, wie wertvoll die strikte Differenzierung der Betrachtung von psychischen und sozialen Systemen ist. Das persönliche Gedächtnis eines psychischen Systems ist für eine Organisation irrelevant. Durch aktive Kommunikation kann Führung eine Organisation hingegen mit Angeboten für Entscheidungsprämissen versorgen, die diese als Orientierung und zur Reduktion von Komplexität aufgreifen können. Darüber hinaus ist Führung als eine übergreifende Funktion innerhalb einer Organisation als einzige in der Lage, immer wieder die Kohärenz verschiedener Entscheidungsprämissen zu hinterfragen. Dies gilt für entscheidbare wie unentscheidbare Entscheidungsprämissen. Im Fall mangelnder Kohärenz kann Führung unter Umständen durch Anweisungen, Maßnahmen, etc. versuchen, koordinierend einzugreifen. Wo solche direkten Interventionen nicht möglich sind, besteht die Aufgabe von Führung darin, durch eine kollektive Reflexion 64 auf die vermutete Inkohärenz aufmerksam zu machen und sie der Organisation selbst zur Bearbeitung zu überlassen. In diesem Fall ist das Ergebnis zwar ungewiss, aber es kann ein Bearbeitungsprozess angestoßen und akzentuiert werden. Diese ständige Neukoordinierung von Entscheidungsprämissen bleibt für Organisationen laut 64 Diese Formen der von Führung angestoßenen kollektiven Reflexion gewinnen auch deshalb an Bedeutung, weil Führung zunehmend eingestehen muss, dass sie aufgrund komplexer Bedingungen selbst nicht mehr alle Antworten kennen kann. Dort, wo keine mechanistischen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, sondern komplexe Wechselbeziehungen vorliegen, muss Vorausberechnung und logische Deduktion aufgrund unbeherrschbarer Komplexität aufgegeben und durch ständige Reflexion ersetzt werden. 81 Luhmann (2006) eine „Superaufgabe“ (S. 239), mit der sie sich unablässig auseinanderzusetzen haben. Basierend auf dieser Beobachtungsperspektive von Führung lässt sich somit auch verstehen, warum O’Toole (2001) zu dem Schluss kommt, dass „in many successful companies, leadership is treated as an institutional capacity and not solely as an individual trait“ (S. 162). Wenn es Organisationen durch Entscheidungsprämissen überhaupt erst möglich wird, einen Kommunikationszusammenhang zu generieren und sich von der Umwelt abzugrenzen, dann muss die Generierung von Entscheidungsprämissen und deren ständige Überprüfung auf Kohärenz eine grundlegende organisationale Funktion sein. Diese organisationale Funktion ist das, was in diesem Abschnitt Führung genannt wird – ganz unabhängig davon, von wem und an welcher Stelle der Organisation sie wahrgenommen wird. Geltung von Entscheidungsprämissen Wie dargestellt, besitzen Entscheidungsprämissen für die Führungsfunktion von Organisationen eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Es ist jedoch in den meisten Fällen nicht möglich, dass Entscheidungsprämissen beliebig von der Spitze einer Organisation her gesetzt werden. Die zentrale Einschränkung ist, dass eine Entscheidungsprämisse nur dann als eine Prämisse wirkt, „wenn sie im Entscheidungsprozess tatsächlich als solche benutzt wird“ (Luhmann, 2006; S. 228). Die Geltung von Führungsentscheidungen als Entscheidungsprämissen innerhalb einer Organisation darf deshalb in keinem Fall als Selbstverständlichkeit angesehen werden. Außerdem gilt es zu beachten, dass Entscheidungsprämissen unbeabsichtigt verändert werden können. Dies bringt Dörner (1989) zum Ausdruck, indem er feststellt: „Wir müssen es lernen, dass man in komplexen Systemen, nicht nur eine Sache machen kann, sondern, ob man will oder nicht, immer mehrere macht […], dass die Nebeneffekte unserer Entscheidungen und Entschlüsse an Orten zum Vorschein kommen, an denen wir überhaupt nicht mit ihnen rechnen“ (S. 307). Hinter dieser Aussage steht das Verständnis, dass es sich bei Organisationen nicht um triviale Maschinen handelt (von Foerster, 1985), in denen es stabile und erkennbare Kausalzusammenhänge zwischen einem Input und einem gewünschten Output gibt. Es ist vielmehr so, dass jeder Input mehrere unerwartete Outputs generieren kann und gleichzeitig die Maschine an sich verändert, so dass Input-Output Beziehungen, selbst wenn sie trotz ihrer Komplexität erkennbar wären, immer nur für den Moment gelten können. Für Führungskräfte ist es deshalb entscheidend zu erkennen, dass sie es mit der Herausforderung „organisierter sozialer Komplexität“ (LaPorte, 1975) zu tun haben. Führung muss deshalb ständig reflektieren, welche Entscheidungsprämissen innerhalb einer Organisation gelten und welchen Einfluss Führungsverhalten auf 82 diese Entscheidungsprämissen haben kann. Dies hat jedoch eine entscheidende Implikation für Führung. Hierbei sei nochmals auf ein Zitat von Luhmann verwiesen, das bereits in der Einleitung dieser Arbeit präsentiert wurde: „Die alte Asymmetrie der Logik von Herr und Knecht gilt nicht mehr. Nicht nur der Knecht muss beobachten, wie der Herr ihn beobachtet. Auch der Herr muss beobachten, wie er vom Knecht beobachtet wird. Die Beziehung ist voll auf ein Beobachten zweiter Ordnung umgestellt. Und sie ist auf dieser Ebene symmetrisch angelegt.“ (Luhmann, 2006; S. 323) Anders ausgedrückt lässt sich deshalb sagen, dass „der Führungsprozess im Kern also ein zirkulärer [ist], d. h. auf einer wechselseitigen Angewiesenheit und Einflussnahme fußend. […] In diesem Sinne stehen Führende und Geführte in einem höchst störungsanfälligen Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit“ (Wimmer, 2010; S. 30f.). Deshalb ist die Prägung oder Beeinflussung von Entscheidungsprämissen durch Führung als ein Prozess der Ko-Kreation zu verstehen. Die Art und Weise wie von Führung kommuniziert wird und wie diese Kommunikation von Organisationsmitgliedern aufgenommen wird, sind gemeinsam dafür verantwortlich, welche Entscheidungsprämissen sich innerhalb einer Organisation ausbilden. 65 Zusammenfassend lässt sich somit Folgendes festhalten: Es wurde gezeigt, dass aus systemtheoretischer Perspektive Entscheidungsprämissen der zentrale Mechanismus zur Ausdifferenzierung von Organisationen gegenüber ihrer Umwelt sind. Ferner wurde dargestellt, dass Führung einen entscheidenden Einfluss auf Entscheidungsprämissen ausüben kann und dass darin der Kern der Führungstätigkeit zu verorten ist. Dennoch gilt es zu beachten, dass die Geltung von Entscheidungsprämissen sich lediglich aus ihrer Anwendung in der organisationalen Praxis definiert. Deshalb kann die Geltung von Entscheidungsprämissen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden. Führung muss in einem ständig ablaufenden Beobachtungs- und Reflexionsprozess immer wieder ein neues Verständnis davon aufbauen, welche Entscheidungsprämissen für die eigene Organisation relevant sind und durch welches Führungsverhalten diese in einem Prozess der Ko-Kreation gemeinsam mit anderen Organisationsmitgliedern beeinflusst werden können. Wie im Folgenden näher beschrieben wird, liegt an dieser Stelle die entscheidende Verbindung zur Führungslegitimität und damit eine zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit. 65 Auf dieses kompliziertere Verhältnis zwischen Führung und Geführten verwies das transaktionale Führungsverständnis. So beschrieb Hollander (1978), dass “a leader’s high office does not necessarily ensure follower responsiveness” (S. 45) und betonte den prozesshaften Charakter von Führung. Leider endeten diese erhellenden Überlegungen bei einer Mehrheit der Publikationen im Versuch, diese komplizierten Prozesse mit einfachen Transaktionsbeziehungen zu beschreiben. 83 3.3.4 Beobachtung von Führungslegitimität auf der Basis eines systemischen Führungsverständnisses Aufbauend auf der Beschreibung diverser traditioneller Führungstheorien und deren Einschränkungen wurde im Verlaufe dieses Teilkapitels ein systemisches Bild von Führung skizziert. Führung wurde nicht mehr als individuelle Tätigkeit beschrieben, sondern als eine organisationale Funktion, die verteilt innerhalb einer Organisation erbracht wird. Außerdem wurde Führung als ein kontinuierlich ablaufender Prozess, nicht als eine Position konzipiert. Daraus abgeleitet wurden zwei entscheidende Aufgabenfelder von Führung dargestellt. Mithilfe von Unsicherheitsabsorption und der Beeinflussung von Entscheidungsprämissen ist es Führung möglich, innerhalb von Organisationen Einschränkungen zu schaffen und gleichzeig neue Optionen zu eröffnen. In dieser Mitgestaltung eines kontinuierlichen Prozesses des selektiven Öffnens und Schließens von Möglichkeiten-Räumen (vgl. Rüegg-Stürm und Grand, 2014) liegt der zentrale Beitrag von Führung in Organisationen. Die Konzepte von Unsicherheitsabsorption und Entscheidungsprämissen wurde dabei separat vorgestellt, da sie einen unterschiedlichen Beobachtungsfokus ermöglichen. Der Schwerpunkt des ersteren Konzepts liegt auf dem Umgang mit organisationaler Unsicherheit und zeigt dabei deutlich, dass diese Unsicherheit aus Führungsperspektive eine Ressource darstellen kann, auf deren Basis Führungstätigkeit überhaupt erst möglich und nötig wird. Entscheidungsprämissen betonen eine Unterscheidung zwischen Entscheidung und Prämisse und rücken damit die rekursive Vernetzung von organisationalen Entscheidungen ins Zentrum der Betrachtung. Sie verweisen darauf, dass Entscheidungen in Bezug auf ihre Geltung und organisationale Reichweite sehr unterschiedlich sein können und es für Führung entscheidend ist, diese Unterschiede zu reflektieren. Beide dieser Betrachtungsweisen werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine große Rolle spielen, wenn es darum geht, Führungslegitimität innerhalb einer heterarchischen Organisation zu beschreiben. Dennoch handelt es sich bei Unsicherheitsabsorption und Entscheidungsprämissen im Grund um die zwei Seiten einer Medaille. Da durch Unsicherheitsabsorption wie beschrieben Entscheidungsprozesse beeinflusst werden, hat die Absorption von Unsicherheit immer auch einen Prämissen-Charakter für organisationale Entscheidungen. Wenn auf der anderen Seite durch Entscheidungsprämissen Vorfestlegungen für sich anschließende Entscheidungen getroffen werden und damit organisationale Komplexität reduziert wird, handelt es sich zugleich immer auch um eine Reduktion und Absorption von Unsicherheit. Dieser enge Zusammenhang beider Konzepte lässt sich bereits bei March und Simon (1958) erkennen: 84 “Through the process of uncertainty absorption, the recipient of a communication is severely limited in his ability to judge its correctness. […] The person who summarizes and assesses his own direct perceptions and transmits them to the rest of the organization becomes an important source of informational premises for organizational action” (S. 165). Während sich March und Simon auf “informational premises” einschränken, gilt der geschilderte Zusammenhang auch in umfassenderem Sinne für eine systemische Organisationsbetrachtung nach Luhmann (2006). Jede Entscheidungsprämisse ist in gewissem Umfang eine Unsicherheitsabsorption, weil sie Alternativen ausschließt und damit die Unsicherheit reduziert. Und jede Unsicherheitsabsorption kann nur dann Unsicherheit absorbieren, wenn sie bei folgenden Entscheidungen (meist implizit) als Prämisse genutzt wird. Andernfalls wäre keine Unsicherheit reduziert worden. Auf dieser Basis und in Anlehnung an die eingangs zitierte Führungsdefinition von Wimmer (2012) lässt sich für eine systemische Perspektive von Führung folgende Definition aufstellen: Führung ist eine kontinuierlich stattfindende organisationale Funktion, die durch die Ko-Kreation organisationaler Entscheidungsprämissen – insbesondere auch auf der Basis von Unsicherheitsabsorption – organisationale Möglichkeiten-Räume gleichzeitig einschränkt und erweitert, um damit die Antwortfähigkeit einer Organisation angesichts unbeherrschbarer Komplexität immer wieder aufs Neue zu fördern. Auch bei dieser Definition gilt, dass sie keine allumfassende Definition für Führung sein kann. Wie bei jeder Definition werden gewisse Aspekte des definierten Gegenstands hervorgehoben und andere unberücksichtigt gelassen. Der Kern der vorgeschlagenen Definition liegt darin, dass sie ein prozessuales Verständnis von Führung als organisationaler Funktion präsentiert und dabei aufzeigt, dass die entscheidende Aufgabe von Führung aus organisationaler Sicht in der Mitgestaltung und Prägung von Entscheidungsprämissen liegt. Nur über den Einfluss auf Entscheidungsprämissen kann es Führung gelingen, maßgebliche Wirkung innerhalb einer Organisation zu entfalten. Dabei wird – wie bereits zuvor – auf den Begriff der Ko-Kreation gesetzt, um zu verdeutlichen, dass Entscheidungsprämissen zwar durch Führung mitgestaltet werden können, ihre finale Form jedoch stets auch von ihrer Rezeption durch die Mitglieder einer Organisation mitbestimmt wird. Die Möglichkeit, dass Führung durch ihr Wirken einen Einfluss ausüben kann, der zu einer direkten und unveränderten Übernahme von Entscheidungsprämissen führt, ist aus systemtheoretischer Perspektive strikt abzulehnen. Der mögliche Einfluss von Führung lässt sich somit als die Beteiligung an einem Ko-Kreationsprozess verstehen, in dessen Rahmen organisationale Entscheidungsprämissen geschaffen oder verändert werden. 85 Für die in Kapitel 2 aufgestellte Prozessdefinition von Führungslegitimität bedeutet dies, dass die Kernaufgabe von Führung darin liegt, Entscheidungsprämissen in einem Prozess der Ko-Kreation mit anderen Organisationsmitgliedern mitzugestalten. Damit ergibt sich folgende Definition von Führungslegitimität auf der Basis des skizzierten systemischen Führungsverständnisses: Führungslegitimität ist ein ständiger Prozess, in dem Führung innerhalb eines organisationalen Kontexts kontinuierlich die eigene Fähigkeit zur Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen neu erschafft. Das Verständnis von Führungslegitimität wurde auf diese Weise um einen entscheidenden Schritt erweitert. Die nun aufgestellte Definition baut zum einen auf dem vorgestellten systemischen Prozessverständnis von Führung auf und führt dieses in der nachfolgenden Debatte mit. Ebenso entscheidend ist, dass auf der Basis dieser Definition Führungslegitimität empirisch beobachtbar bzw. erschließbar wird. 66 Wie im vorangegangen Kapitel bereits beschrieben, liegt ein Schwachpunkt der empirischen Legitimitätsforschung darin, dass „Legitimität ausschließlich auf den vorfindbaren Legitimitätsglauben [reduziert wird]“ (Knopp und Müller, 1980; S. 5). Geführte werden befragt, ob sie Führung für legitim halten, die erhaltenen Antworten bleiben jedoch unhinterfragt. Durch die Stützung der Definition von Führungslegitimität auf den Begriff der Entscheidungsprämissen wird Führungslegitimität gleichsam operationalisiert. Führungslegitimität kann nun immer dann angenommen werden, wenn es gelingt zu zeigen, dass Führung einen maßgeblichen Einfluss auf diverse Entscheidungsprämissen innerhalb einer Organisation ausüben kann. Ob die Führung in einer Organisation einen derartigen Einfluss ausübt, lässt sich aus der Beobachtung organisationaler Kommunikation erschließen. Basierend auf Luhmann (2006) bestehen Organisationen aus Entscheidungskommunikationen. Wenn nun erschlossen werden kann, dass sich ein Teil der ablaufenden Entscheidungskommunikationen auf Prämissen stützen, zu deren Entstehung Führung einen Beitrag geleistet hat, kann somit auf die Legitimität von Führung zurückgeschlossen werden. Es wird wiederum deutlich, dass die hier gewählte Perspektive von Legitimität organisational ist. Führungslegitimität wird nicht dann angenommen, wenn Geführte sie postulieren, oder wenn eine Organisation bestimmten externen Erfolgsmaßstäben genügt. Führungslegitimität ist immer dann vorhanden, wenn es Führung gelingt, über die Mitwirkung an der Entstehung von Entscheidungsprämissen die organisationale Kommunikation zu beeinflussen und damit eine Führungsrolle innerhalb der betrachteten Organisation wahrzunehmen. 66 Eine detaillierte Beschreibung, warum Kommunikation aus systemischer Perspektive nicht beobachtbar, sondern lediglich erschließbar ist, folgt in Kapitel 4.2.1. 86 Folglich ist nunmehr die theoretische Basis für die weitere Arbeit gelegt. Aus der Perspektive des dargelegten Prozessverständnisses von Führung und Führungslegitimität soll in einem heterarchischen Organisationskontext untersucht werden, welches Führungsverhalten die Legitimität von Führung immer wieder aufs Neue sicherstellen kann. Hieraus ergibt sich die bereits in der Einleitung dieser Arbeit vorgestellte Forschungsfrage: Durch welche Interventionspraktiken kann Führungslegitimität in einer Wirtschaftsorganisation unter Abwesenheit hierarchischer Strukturen in einem ständigen Prozess wiederhergestellt werden? Der Interventionsbegriff beschreibt dabei im Rahmen der Systemtheorie ein Verhalten, das auf der Seite des Intervenierenden mit der Intention gewählt wird, eine bestimmte Wirkung zu erzielen, während auf der anderen Seite lediglich eine Irritation vorliegt. „Jeweils gilt, dass das intervenierte System eigenselektiv auf die Irritation durch Interventionsabsichten reagiert“ (Krause, 2005; S. 169). Konkretisiert auf den hier vorliegenden Kontext bedeutet dies, dass eine Intervention von Seiten der Führung darauf abzielt, Entscheidungsprämissen zu beeinflussen und damit eine bestimmte Wirkung auf organisationale Entscheidungen auszuüben. Es ist jedoch gleichzeitig im Interventionsbegriff angelegt, dass die Auswirkung einer Intervention nicht vom Intervenierenden kontrolliert werden kann, es Führung also in letzter Konsequenz nicht in selbst der Hand hat, ob die gewünschten Entscheidungsprämissen in organisationalen Entscheidungen berücksichtigt werden und damit tatsächlich ihren Prämissencharakter entfalten. Es liegt deshalb im Interesse dieser Arbeit, eingehender zu untersuchen, mit welchen Interventionspraktiken es Führung gelingen kann, eine mitgestaltende Rolle bei der Entwicklung organisationaler Entscheidungsprämissen einzunehmen, oder verkürzt ausgedrückt, durch welche Interventionspraktiken Führungslegitimität wiederholt neu erschafft werden kann. Im nachfolgenden Kapitel wird näher beschrieben, welches Forschungsverständnis und welche Forschungsmethodik genutzt werden, um dieser Forschungsfrage nachzugehen. Anschließend wird in Kapitel 5 der empirische Kontext der Arbeit vorgestellt: die Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken. Es wird beschrieben, warum es sich bei dieser Organisation um ein heterarchisches Gebilde handelt und warum diese heterarchische Organisationskonfiguration prädestiniert dafür ist, die Frage nach der ständigen Wiederherstellung einer prozesshaft konzeptualisierten Führungslegitimität eingehend zu untersuchen. 87 4 Forschungsverständnis und Methodologie Geh am Tag durch Stadt und Gassen, Schau in Wolken, in Gesichter, Und du wirst verwundert fassen: Sie sind dein, du bist ihr Dichter! Alles, was vor deinen Sinnen Hundertfältig lebt und gaukelt, Ist ja dein, ist in dir innen, Traum, den deine Seele schaukelt. - Hermann Hesse Das Kernanliegen der vorliegenden Arbeit ist es zu untersuchen, wie Führungslegitimität in heterarchischen Organisationen ständig neu erschaffen werden kann. Zu diesem Zweck wurde in den vorausgegangenen zwei Kapiteln ein prozesstheoretisches Verständnis von Führungslegitimität herausgearbeitet. Ferner wurde Führung aus systemtheoretischer Perspektive als organisationale Spezialfunktion definiert und damit eine Führungstheorie beschrieben, die mit der aufgestellten Definition von Führungslegitimität vereinbar ist. In diesem Kapitel sollen nun das der Arbeit zugrundeliegende Forschungsverständnis sowie die gewählte Methodik und Vorgehensweise eingehend dargelegt werden. Im ersten Teilkapitel werden die Grundzüge eines systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschungsverständnisses skizziert. Hierbei geht es neben einer allgemeinen Darstellung insbesondere auch darum aufzuzeigen, dass ein solches Forschungsverständnis sich kongruent zu den theoretischen Überlegungen der vergangenen beiden Kapiteln verhält. Im zweiten Teilkapitel wird auf die Wahl der Forschungsmethodik eingegangen. Hierbei wird die gewählte Methodik der longitudinalen Fallstudie vorgestellt. Es wird darüber hinaus begründet, warum auf diese Methode zurückgegriffen wurde und welche Vorteile diese Methodik in Bezug auf die Beantwortung der gestellten Forschungsfrage bereithält. Abschließend wird dann in den letzten beiden Teilkapiteln auf den Prozess der Datenerhebung sowie der Auswertung von Daten eingegangen und die iterative Natur des Forschungsprozess selbst näher beschrieben. 88 4.1 Beschreibung eines systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschungsverständnisses Die theoretischen Darstellungen der vorangegangenen zwei Kapitel gründen sehr stark auf einem systemtheoretischen Organisationsverständnis. Da die Systemtheorie ein in sich äußerst kohärentes Gedankengebilde ist, besteht die Gefahr, dass ein nicht auf sie abgestimmtes Forschungsverständnis zu starken Widersprüchen führt. Deshalb soll an dieser Stelle skizziert werden, wodurch sich ein systemtheoretisch-konstruktivistisches Forschungsverständnis auszeichnet und welche empirischen Forschungsmöglichkeiten es eröffnet. 4.1.1 Systemtheorie und Konstruktivismus Um das Forschungsverständnis der Systemtheorie zu präzisieren setzt Luhmann (1990b; 2004) auf den Begriff des operativen Konstruktivismus. Dieser zeichnet sich auf der einen Seite dadurch aus, dass eine reale Außenwelt recht pragmatisch als unbestreitbar und gegeben angesehen wird. „Tatsächlich steht der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen“ (Luhmann, 1990a; S. 9). Diese Realität spielt jedoch an sich in der Systemtheorie keine große Rolle, denn „die primäre Realität liegt […] nicht in „der Welt draußen“, sondern in den kognitiven Operationen selbst“ (Luhmann, 2004; S. 18 f.). Die grundlegende Überlegung besteht darin, dass es für psychische Systeme keinen direkten Zugriff auf eine extern gegebene Realität gibt. Es muss sich stets der Operation der Beobachtung bedient werden. Hierbei stützt sich Luhmann auf die Überlegungen von Spencer-Brown (1969), wonach Beobachten sich stets aus zwei Operationen zusammensetzt: Dem Unterscheiden und dem Bezeichnen. Das Beobachten der „Welt draußen“ ist somit per Definition selektiv. Es gibt keine Möglichkeit die Welt als Ganzes zu erfassen, sondern es müssen stets selektive Unterscheidungen darüber getroffen werden, was im Fokus von Beobachtungen stehen soll. Es wird eine Unterscheidung getroffen, die abgrenzt, was beobachtet wird. Dieses Abgegrenzte wird anschließend bezeichnet. Alles Ausgeschlossene bildet damit die nicht bezeichnete Außenseite der Beobachtung. Da die Wahl, was bei Beobachtungen eingeschlossen und was ausgeschlossen werden soll, dem Beobachter freisteht, handelt es sich beim Beobachten um einen kreativen Prozess, in dem ein subjektives Bild von Realität konstruiert wird. Luhmann fasst dies wie folgt zusammen: „Die These des operativen Konstruktivismus führt also nicht zu einem „Weltverlust“, sie bestreitet nicht, dass es Realität gibt. Aber sie setzt Welt nicht als Gegenstand, sondern im Sinne der Phänomenologie als Horizont 89 voraus. Also als unerreichbar. Und deshalb bleibt keine andere Möglichkeit als Realität zu konstruieren“ (Luhmann, 2004; S. 18) Die Grundannahme eines systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschungsverständnisses ist somit, dass Realität sozial konstruiert ist (siehe auch Berger und Luckmann, 1967) oder noch präziser ausgedrückt, dass es zwar eine Realität geben mag, aber Beobachter immer nur selbst konstruierte Beobachtungen bzw. Beschreibungen dieser Realität handhaben können. „Alle Orientierung ist Konstruktion, ist von Moment zu Moment reaktualisierte Unterscheidung“ (Luhmann, 1997; S. 45). Dieses Verständnis für die Beziehung zwischen Realität und Beobachtung ergibt schwerwiegende Folgen für die Rolle von Wissenschaft. Es kann nun nicht mehr der Anspruch von Wissenschaft sein – vor allem nicht in den Sozialwissenschaften – eine objektive, eineindeutige Darstellung der Realität zu produzieren. Die Realität kann nicht exakt rekonstruiert werden, sondern es können lediglich „wissenschaftliche Konstruktionen von Wirklichkeit“ erstellt werden, die dieser „bestimmte Eigenschaften unterstellen“ (Lueger, 2000; S. 17). 4.1.2 Rekonstruktion von Praxis durch Beobachten 2. Ordnung Dieses konstruktivistische Verständnis prägt entscheidend die Rolle, die Wissenschaft spielen kann, insbesondere die Sozialwissenschaften. Auch für die Naturwissenschaften ist die konstruktivistische Annahme durchhaltbar, dass man die Realität lediglich beobachtend erschließen kann und jede Beschreibung eine bloße Konstruktion ist. Dennoch ermöglichen wiederholbar aufgebaute Versuchsanordnungen eine Art von Erkenntnis, die mögliche Zweifel bezüglich deren Richtigkeit oder Universalität auf ein Mindestmaß reduzieren. Wie jedoch von Hayek (1967) ausführt, lassen sich auf diese Weise vornehmlich einfache Systeme beobachten und verstehen. Unser teilweise sehr fortgeschrittenes Verständnis solcher einfachen Systeme, so von Hayek, darf uns jedoch nicht blind dafür machen, dass wir komplexe Systeme nur sehr begrenzt verstehen können. Sozialwissenschaften beschäftigen sich vornehmlich mit komplexen Systemen. Von Foerster (1985) beschreibt dies treffend mit seinem Begriff der non-trivialen Maschine. Ob Kommunikationssysteme oder psychische Systeme, es handelt sich dabei stets um Systeme, die sich nicht nur durch ihre Unübersichtlichkeit und Vielzahl nicht nachvollziehbarer Relationen auszeichnen, sondern in besonderem Maße auch durch ihre Historizität. Letztere fehlt einfachen Systemen: Inputs führen bei ihnen zu Outputs, ohne dabei das System an sich zu verändern; der Apfel fällt immer nach den gleichen Regeln auf die Erde, und der Fall wird nicht dadurch verändert, dass bereits in der Vergangenheit Äpfel auf die Erde gefallen sind. 90 Bei non-trivialen Systemen verhält sich dies anders. Sie sind als historisch zu bezeichnen, weil Inputs das System selbst verändern und somit identische Inputs nicht mehr zum identischen Ergebnis führen müssen. Simon (2007) beschreibt dies etwas plakativ mit folgendem Beispiel: Wenn man einer Person einen Witz erzählt (Input) ist es möglich, dass sie amüsiert darüber lacht (Output). Erzählt man den gleichen Witz ein zweites Mal, darf man sich hingegen nicht darüber wundern, wenn das Output bei diesem zweiten Versuch nicht identisch mit dem ersten ist. Was intuitiv durchaus einleuchtend ist, führt auf der Ebene der Sozialwissenschaften jedoch zu einem ernstzunehmenden Problem. Denn wenn die Relationen zwischen den Elementen von sozialen Systemen und damit auch Input-Output-Beziehungen einem ständigen Wandel unterworfen sind, ist es nicht möglich, feststehende Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Erschwerend kommt hinzu, dass in den Sozialwissenschaften auch die Beziehung zwischen Forscher und Forschungsobjekt nicht derart neutral gestaltet werden kann, wie dies in den Naturwissenschaften der Fall ist. Piaget (1976) illustriert den Prozess der Beobachtung als ein aktives Geschehen, nicht als ein passives Zuschauen. Ähnlich sieht dies Rüegg-Stürm (2003): „Ganz besonders gelten diese Ausführungen für die angewandten Sozialwissenschaften, bei denen Bobachtung, Forschung und Erkennen immer das Einbezogensein in einen Kommunikations- und Beziehungsprozess impliziert“ 67 (S. 22). Dieser Beziehungskontext zwischen Forscher und Forschungsobjekt ist für nachfolgende Forschung nicht mehr replizierbar. Alle Erkenntnisse entstehen somit aus einem einzigartigen und immer nur begrenzt verallgemeinerbaren Kontext heraus. Wenn also das Konzept von „Wissenschaftlichkeit“ gleichgesetzt wird mit der Aufstellbarkeit allgemeiner und zeitlos gültiger Gesetze, muss diese Wissenschaftlichkeit den Sozialwissenschaften in der Regel abgesprochen werden. Es existiert jedoch bereits seit längerem eine zunehmende Kritik daran, die positivistischen Wissenschaftsannahmen aus den Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften zu übertragen (vgl. Quine, 1960; Kuhn, 1996). Von Hayek geht sogar so weit zu sagen, dass “the prejudice that in order to be scientific one must produce laws may yet prove to be one of the most harmful of methodological conceptions” (von Hayek, 1967; S. 42). 67 Die Unumgänglichkeit dieses Einbezogenseins stützt Rüegg-Stürm gerade auf den Umstand, dass es sich beim Beobachtungsgegenstand nicht um unabhängige und unveränderliche Entitäten handelt. In Anlehnung an Varela und Thompson (1992) spricht er von „Wissenswelten, d. h. Wirklichkeiten, die in sozialen Prozessen inszeniert werden (Rüegg-Stürm, 2003; S. 21). Diese sozialen Inszenierungen können nicht von außen beobachtet werden, sondern lediglich durch Immersion in konkrete Kommunikationskontexte erschlossen werden. Auch Gergen (1985) weist darauf hin, dass solche wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht eine “application of rigorous and decontextualized method, but the responsibility of persons in active, communal interchange“ (S. 13) sind. 91 Um wertvolle und erkenntnisbringende Forschung in den Sozialwissenschaften betreiben zu können, ist es entscheidend, dass keine unrealistischen Anforderungen an ihre Wissenschaftlichkeit gestellt werden. Das vorhandene Wissen über komplexe Systeme muss genutzt werden, um auch im Bereich der Sozialwissenschaften einen realistischen Begriff von Wissenschaftlichkeit zu definieren. Von Hayek verweist hierbei auf Poppers (1960) Argumentation, dass Erkenntnisse sehr stark auch dazu dienen, das Bewusstsein über die eigene Ignoranz zu schärfen. Zusammenfassend kommt er auf dieser Basis zu folgendem Schluss: „We have indeed in many fields learnt enough to know that we cannot know all that we would have to know for a full explanation of the phenomena. […] What we must get rid of is the naive superstition that the world must be so organized that it is possible by direct observation to discover simple regularities between all phenomena and that this is a necessary presupposition for the application of the scientific method. What we have by now discovered about the organization of many complex structures should be sufficient to teach us that there is no reason to expect this and that if we want to get ahead in these fields our aims will have to be somewhat different from what they are in the fields of simple phenomena.” (von Hayek, 1967; S. 40) Wissenschaft kann und darf somit nicht nur dort betrieben werden, wo Phänomene gestützt auf eindeutige Regeln vollständig erklärt werden können. Und gerade hier setzt ein systemtheoretisch-konstruktivistisches Forschungsverständnis an. Simon (2009) verweist darauf, dass die Ablehnung einfacher Wirkmechanismen und Gesetze den Kern systemtheoretischen Denkens ausmacht: „An die Stelle geradlinig-kausaler treten zirkuläre Erklärungen, und statt isolierter Objekte werden die Relationen zwischen ihnen betrachtet“ (S. 13). Wenn jedoch der Forschungsfokus auf zirkulären Erklärungen und Relationen liegt, die nicht eindeutig beschrieben werden können und deren Beschreibung stets als Konstruktionen angesehen werden müssen, gilt es, die Frage genauer zu beantworten, welche Rolle Wissenschaft spielen kann. Es muss beschrieben werden, welchen Beitrag Wissenschaft leisten kann, wo keine eindeutigen und objektiv nachvollziehbaren Gesetzte und Zusammenhänge aufgestellt werden können. Aus Sicht der Systemtheorie liegt die Rolle der Wissenschaft in der Beobachtung und der Beschreibung von Praxis. Dies allein sagt jedoch noch nicht viel aus, da die Beobachtung nach der Systemtheorie die grundlegende Operation jeden Systems ist (Luhmann, 1984; von Foerster, 1993). Jedes System ist auf Beobachtung im Sinne der zuvor dargelegten Zweiteilung von Spencer-Brown (1969) angewiesen. Denn erst durch Unterscheidung und Bezeichnung wird die Umwelt an sich „bearbeitbar“. Die Umwelt als Ganzes ist komplex, formlos und kann nicht erfasst werden. Somit ist das Beobachten an sich keine spezifisch wissenschaftliche Operation. 92 Durch den Ausschluss von Vielem rückt die Operation des Beobachtens Weniges in den Blickpunkt. Erst so können aus einer formlosen Einheit der Umwelt nutzbare Informationen gewonnen werden. Auf der anderen Seite entstehen durch das beobachtende Unterscheiden immer auch blinde Flecken. Das, was auf der unbezeichneten Seite der Unterscheidung liegt, wird nicht gesehen und es herrscht in der Regel kein Bewusstsein darüber, dass es nicht gesehen wird. Und auch der Beobachter selbst ist ausgeschlossen. „Nicht nur das Beobachten, auch der Beobachter bleibt unbeobachtbar“ (Luhmann, 2006; S. 128). Die Operation des Beobachtens ist damit die Grundlage für jegliche Organisationen und alle psychischen Systeme, aber sie führt zwangsläufig zu binden Flecken. Die Rolle von Wissenschaft ist somit genau genommen, die Praxis beim Beobachten zu beobachten und dabei möglicherweise auch Dinge in den Blickpunkt zu rücken, die im blinden Fleck der Beobachtung 1. Ordnung lagen. Bei Wissenschaft handelt es sich deshalb um ein Beobachten 2. Ordnung, mit dem eine Rekonstruktion von Praxis angestrebt wird (Seidl und Becker, 2006). Die Erstellung solcher Rekonstruktionen der beobachteten Praxis können als zentraler Wertbeitrag der Sozialwissenschaften angesehen werden (vgl. Mingers, 1995; Argyris und Schön, 1999). 4.1.3 Erwartungen an systemtheoretische Forschung Zusammenfassend lässt sich aus den vorangegangenen Überlegungen festhalten, dass systemtheoretische Forschung nicht den gleichen Erwartungen genügen kann, die gegenüber den Naturwissenschaften gehegt werden. Vor allem ist es nicht möglich, eindeutige Gesetzmäßigkeiten für die beobachteten sozialen Systeme aufzustellen, die den Naturgesetzen der Naturwissenschaften entsprächen. Es kann jedoch erwartet werden, dass systemtheoretische Forschung aus der Perspektive der Beobachtung 2. Ordnung soziale Realitäten rekonstruiert. Eine solche Rekonstruktion ist möglich, obwohl die basale Operation sozialer Systeme, die Kommunikation, nicht beobachtet werden kann. Sie kann jedoch aus beobachteten Handlungen erschlossen werden (Willke, 1994; Simon, 2007). Dieser Rückschluss von Beobachtungen auf Kommunikation ist jedoch nur möglich, wenn Beobachtungen in ihrem Kontext interpretiert und verstanden werden (Mayntz, Holm und Küber, 1974). Aus diesem Grund muss von empirischer systemtheoretischer Forschung erwartet werden, dass Forschende aktiv in die von ihnen beobachteten sozialen Systeme einbezogen sind, um somit das nötige Kontextverständnis für die Erschließung von Kommunikation aufbauen zu können. Gelingt dies, ist es möglich, dass im Sinne von Lee (2007) aus dem empirischen Forschungskontext Muster rekonstruiert werden können. Solche Muster, obwohl 93 auch sie ebenfalls nur Konstruktionen und keine Abbildungen der Realität sind, unterscheiden sich von Einzelbeobachtungen. Sie stellen Erklärungsangebote für wiederholt auftretendes Verhalten dar. Durch das Element der Wiederholung wird die Willkür der Beschreibung reduziert – es wird nicht einfach irgendetwas beschrieben, sondern ein Verhalten, das mehrfach beobachtet werden konnte und aus dem ein schlüssiges Muster abgeleitet werden konnte. Und obgleich diese Muster keine fixen Gesetzmäßigkeiten beschreiben, stellen sie der Praxis die Möglichkeit zur Reflexion des eigenen Beobachtens zur Verfügung und können damit ein besseres Verständnis für oftmals unbewusst ablaufende Prozesse und Routinen schaffen (Stake, 2000). Kubicek (1977) spricht davon, dass Wissenschaft der Praxis „verständnisfördernde Perspektiven“ (S. 29) zur Verfügung stellen kann. Mit diesem Begriff wird verdeutlich, dass es nicht darum geht, durch die Aufstellung allgemeingültiger und feststehender Regeln die Probleme der Praxis zu lösen. Der Beitrag sozialwissenschaftlicher Forschung liegt deshalb insbesondere darin, dass die Praxis die widergespiegelten Perspektiven als Anhaltspunkte für Reflexionen nutzen kann und damit ein besseres Verständnis für das eigene Tun gewinnen kann. Damit wird die Praxis jedoch nicht von der Pflicht entbunden, selbst situativ zu entscheiden, wofür die aufgezeigten Perspektiven nützlich sein könnten und wie diese im praktischen Tun zur Anwendung kommen können. Dies wird unter anderem von Rüegg-Stürm (2000) äußerst deutlich festgestellt: „Aus Sicht einer systemisch-relational-konstruktivistischen Epistemologie verkörpern Theorien nicht in dem Sinne Deutungsmuster, als ob die Deutungen untrennbare Attribute des Textes darstellen würden. Der Text verkörpert lediglich ein Potenzial zur Stimulation aufschlussreicher Reflexions- und Denkprozesse, während die Deutungen in einem Beziehungsprozess zwischen Text und Interpret entstehen.“ (S. 200) Die unternehmerische Praxis kann somit von den Sozialwissenschaften erwarten, dass sie ihr Anregungen zur Selbstreflexion zur Verfügung stellt, nicht jedoch, dass sie exakte Rezepte und Handlungsweisen formulieren, nach denen sich die Praxis richten kann. Dies lässt sich auch anhand von Weicks Beschreibung sozialer Theorien verdeutlichen: Weick erklärt in Anlehnung an Thorngate (1976), „that it is impossible for a theory of social behavior to be simultaneously general, accurate, and simple“ (Weick, 1979; S. 35). Allgemeingültige Aussagen über soziales Verhalten können somit nicht gleichzeitig einfach anwendbare Empfehlungen für konkrete Organisationskontexte liefern, sondern lediglich heuristisch wertvolle Instrumente zur Reflexion von unternehmerischer Praxis sein. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass von sozialwissenschaftlicher Forschung nicht naturwissenschaftliche Genauigkeit und die Ermittlung allgemeiner sowie konkret anwendbarer Regeln und Gesetze erwartet werden sollte. Erwartet 94 werden kann hingegen, die Beschreibung und Interpretation von beobachteten Mustern, die für die Unternehmen heuristisch wertvolle Anhaltspunkte für eine Selbstreflexion darstellen können. Oder in anderen Worten: “The criterion for good research is no longer one of correspondence with some objective reality that is known independently of our process of inquiry. Instead, such criteria refer to the extent, to which certain conceptual frameworks and the kind of results that are generated in that context are understandable, meaningful and heuristically useful within the context of socially constructed problem situations that organizations within their complex interdependencies have created for themselves” (Dachler, 1992; S. 172; zit. in: Rüegg-Stürm, 2003) 4.1.4 Gütekriterien systemtheoretischer Forschung Nachdem die Grundsätze systemtheoretischer Forschung erläutert wurden und dargestellt wurde, welche Erwartungen realistischerweise an sozialwissenschaftliche Forschung gestellt werden können, gilt es nun darzustellen, welchen Gütekriterien diese Forschung genügen muss. Wie beschrieben, ist die Validierung von Ergebnissen durch wiederholte Experimente in non-trivialen Systemen nicht möglich und ein Abgleich sozialer Konstruktionen mit „der Realität“ ist aufgrund des beschriebenen konstruktivistischen Fundaments systemtheoretischer Forschung ausgeschlossen. Die klassischen Gütekriterien der Naturwissenschaften sind somit nicht direkt auf sozialwissenschaftliche Arbeiten übertragbar. Die vorliegende Arbeit orientiert sich deshalb an Gütekriterien, die mit den bisher dargestellten Überlegungen des Konstruktivismus und der Systemtheorie vereinbar sind. Grundsätzlich gilt, der Konstruktivismus „offers no foundational rules of warrant, and in this sense is relativistic. However, this does not mean that ‘anything goes.’ Because of the inherent dependency of knowledge systems on communities of shared intelligibility, scientific activity will always be governed in large measure by normative rules” (Gergen, 1985; S. 14). Diese Regeln sind für Gergen jedoch keine strikten Wahrheitskriterien, sondern liegen vielmehr in “the analyst’s capacity to invite, compel, stimulate or delight the audience. […] In this sense it would seem that virtually any methodology can be employed so long as it enables the analyst to develop a more compelling case” (ibid.). Alle Versuche der Objektivierung bleiben vor einem systemtheoretischkonstruktivistischen Theorieverständnis genau dies: Versuche. Das Gütekriterium systemtheoretischer Forschung ist nicht Objektivität, denn auf die Realität selbst kann nur mittels subjektiver Konstruktion zugegriffen werden, was dem Konstruktivismus regelmäßig den Vorwurf der Beliebigkeit einhandelt. Dies ist jedoch 95 nicht gerechtfertigt. Die entscheidende Aussage des operativen Konstruktivismus ist lediglich, dass kein direkter Zugriff auf die Realität möglich ist und jede Beobachtung, auch unterstützt durch quantitative wissenschaftliche Methoden, bleibt zwangsläufig eine Konstruktion. Es ist nicht möglich herauszufinden, ob die gewählte Konstruktion „richtig“ ist. Es gibt dennoch Kriterien anhand derer solche Konstruktionen beurteilt werden können und die somit einer völligen Beliebigkeit Einhalt gebieten können. Denn auch wenn Konstruktionen nicht direkt mit der Realität abgeglichen werden können, ist es Betrachtern möglich, deren Konsistenz und heuristisches Potenzial zu beurteilen und damit auf die Qualität der Konstruktion zu schließen. Luhmann führt dies wie folgt aus: „Bei sprachlicher und bildlicher Realitätserzeugung wird die Realität letztlich durch Widerstand der Operationen gegen die Operationen desselben Systems getestet – und nicht durch eine Repräsentation der Welt, wie sie ist.“ (Luhmann, 2004; S. 79) Die Qualität der Forschung ergibt sich letztendlich also daraus, ob die angebotenen Erklärungen sich bewähren. Erklärungen und Erkenntnisse können zwar nicht als richtig oder falsch beurteilt werden, aber als hilfreich oder weniger hilfreich. Basierend auf dieser Betrachtungsweise lassen sich Gütekriterien ableiten, an denen sich die vorliegende Arbeit messen lassen möchte: Ihre Nachvollziehbarkeit, ihre Konsistenz und die Frage, ob die vorgebrachten Darstellungen für Leser von Interesse sind. Auf diese drei Punkte soll im Folgenden näher eingegangen werden. Nachvollziehbarkeit Nachvollziehbarkeit ist von entscheidender Bedeutung, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen und Leser von der Sinnhaftigkeit gezogener Schlussfolgerungen zu überzeugen. Die Nachvollziehbarkeit einer wissenschaftlichen Arbeit muss in dreierlei Hinsicht gegeben sein. Die ersten beiden Formen von Nachvollziehbarkeit beziehen sich auf den Forschungsprozess selbst. Hier müssen sich zwei Fragen beantworten lassen: „Erstens, ob sich nachvollziehen lässt, wie der Forschende ausgehend von den empirischen Beobachtungen zu seinen Re-Konstruktionen gelangt ist. Und zweitens, ob nachvollziehbar wird, welche Rolle der Forschende als Beobachter in diesem Prozess gespielt hat“ (Bucher, 2011; S. 103). Die dritte Frage richtet sich auf die Nachvollziehbarkeit der dargestellten Erkenntnisse selbst. Es ist entscheidend für eine wissenschaftliche Abhandlung, Forschungserkenntnisse in einer Form darzustellen, die für den Leser einleuchtend ist. Die so erzeugte Plausibilität des Beschriebenen dient als ein „substitute for validity“ (Weick, 1989; S. 525). 96 Der Schritt von empirischen Beobachtungen zu der in einer Forschungsarbeit dargestellten Re-Konstruktion von Praxis besteht immer in einem schöpferischen Prozess des Forschenden. Es gibt keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Beobachtung und Interpretation. Dieser Prozess läuft über Interpunktionen (Bateson, 1982) ab, die der Forschende setzt. Der Forschende entscheidet, welche Beobachtungen er für wichtig hält und das Ziehen welcher Schlüsse für ihn angebracht scheint. Es ist jedoch möglich, diesen Prozess der Re-Konstruktion von Praxis möglichst transparent darzustellen, um ihn so für den Leser nachvollziehbar zu gestalten. Dies geschieht in der vorliegenden Arbeit zum einen über die Darstellung der empirischen Beobachtungen in dichten Beschreibungen (RüeggStürm, 2003), die es dem Leser ermöglichen, die Basis für gezogene Schlussfolgerungen zu sehen und sich aus ihr auch eine eigene – gegebenenfalls vom Autor abweichende – Meinung zu bilden. Zum anderen wird im weiteren Verlauf der Arbeit versucht, den sich über die Zeit des Forschens weiterentwickelnden Erkenntnisprozess immer wieder zu beschreiben. Auf diese Weise wird ersichtlich, wie sich gesammelte Beobachtungen Stück für Stück zu bestimmten Schlussfolgerungen verdichtet haben. Bei empirischen Studien ist insbesondere auch eine Reflexion der Rolle des Forschenden der untersuchten Organisation von entscheidender Bedeutung (Patton, 2002). Es ist zu eruieren, ob die Organisationsmitglieder, mit denen der Forschende in Kontakt war, vor möglichen Interessenskonflikten standen, so dass sie sich unter Beobachtung nicht frei verhalten oder offen äußern konnten. Während die Rolle des Forschenden in der vorliegenden Arbeit später im Detail dargestellt wird, soll bereits an dieser Stelle erwähnt sein, dass die Unabhängigkeit der Forschung und die Anonymität aller Interviews und Beobachtungen zu jeder Zeit gewährleistet werden konnten. Die vom Bundesverband der Volksbanken in Auftrag gegebene wissenschaftliche Begleitforschung eines strategischen Beratungsprojektes basierte im Kern darauf, dass eine unabhängige Institution eingeschaltet wurde, die bei allen Teilnehmern des Projektes auf eine möglichst große Offenheit stoßen würde. Der dritte Aspekt der Nachvollziehbarkeit bezieht sich auf die Plausibilität der Erkenntnisse, unabhängig vom zuvor durchlaufenen und weiter oben bereits angesprochenen Erkenntnisprozess. Hier gilt es, die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit in einer Weise darzustellen, die sich verständlich macht und greifbar werden lässt. Dies wird durch die detaillierte theoretische Abhandlung zu Beginn der Arbeit unterstützt. Die genaue Beschreibung dessen, was unter Führung und Führungslegitimität verstanden wird und auf welchen theoretischen Ansätzen dieses Verständnis ruht, erhöht die Nachvollziehbarkeit der im Folgenden beschriebenen Erkenntnisse. Des Weiteren wird versucht, die Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisse durch deren Beleuchtung von unterschiedlichen Perspektiven in Kapitel 7.2 zu steigern. 97 Konsistenz Bei der Frage der Konsistenz kommt das konstruktivistische Forschungsverständnis dem positivistischen recht nahe. Gerade wenn mit der Annahme operiert wird, dass alle Beschreibungen von Realität lediglich kontingente Konstruktionen sind, ist es unerlässlich, dass diese Konstruktionen konsistent errichtet sind, da sie ansonsten völlig willkürlich wären. Hierzu ist es in einem ersten Schritt nötig, dass von einer einheitlichen theoretischen Basis ausgegangen wird. Feyerabend (1976) beschreibt das Problem der Nutzung unvereinbarer Theorien mit dem Begriff der Inkommensurabilität. Jede Theorie gründet auf einem umfangreichen Set von Annahmen, die sich zum Teil nicht oder nur sehr schwer mit anderen Theorien vereinbaren lassen. Aus diesem Grund besteht bei der Nutzung unterschiedlicher Theorien die Gefahr von Inkonsistenzen, da die den jeweiligen Theorien zugrunde liegenden Annahmen einander widersprechen können. Um diese Problematik zu vermeiden, stützt sich die vorliegende Arbeit deutlich erkennbar auf die neuere Systemtheorie nach Niklas Luhmann. Führung und Führungslegitimität wurden aus einer Prozessperspektive heraus definiert, die mit der Systemtheorie vereinbar ist. Auch aus diesem Grund war es wichtig, eine gewisse Distanz zu traditionellen Führungsverständnissen aufzubauen, die mit einer Prozessperspektive von Führungslegitimität nicht konsistent gewesen wären. Des Weiteren wurde auf die Konsistenz zwischen der Theorie und der verwendeten Forschungsmethodik geachtet. Das empirische Forschungsvorgehen der Arbeit, sowie die folgenden Darstellungen der Datenerhebung und -analyse bauen durchgängig auf einem systemtheoretisch-konstruktivistischen Theorieverständnis auf. Auf diese Weise ist sowohl eine Konsistenz in den theoretischen Überlegungen, als auch zwischen diesen und den sich anschließenden empirischen Untersuchungen an jeder Stelle gewährleistet. Forschungsergebnisse sind von Interesse Aufgrund der Konzentration auf Methoden und Verfahren spielt es bei der Beurteilung der Qualität von Forschung oft keine Rolle, ob diese als interessant wahrgenommen wird. Gerade im Vergleich zu statistischen Qualitätskriterien wie Validität und Signifikanzniveaus mag es sogar überraschend erscheinen, ein solch schwer greifbares und definierbares Gütekriterium zu formulieren. Es gibt jedoch eine Reihe von Autoren, die diese Position vertreten, allen voran Davis (1971) in seinem Artikel: „That’s Interesting“. In eine ähnliche Richtung argumentiert Daft (1983). Weick (1989) greift diesen Punkt ebenfalls auf und kommt zu folgendem Schluss: “Whenever one reacts with the feeling that's interesting, that reaction is a clue that 98 current experience has been tested against past experience, and the past understanding has been found inadequate” (S. 525). Es geht in der Wissenschaft also nicht lediglich darum, etwas Neues darzustellen, sondern das Dargestellte muss einem Leser dabei helfen, ein erweitertes oder angepasstes Verständnis für das behandelte Thema aufbauen zu können. Erst dann sind die Forschungsergebnisse für ihn von Interesse und somit wertvoll. Diese Unterscheidung zwischen Neuem und Interessantem lässt sich auch systemtheoretisch nachvollziehen. Die Systemtheorie argumentiert stets vom Beobachter ausgehend. So gibt es in der Welt eine unzählige Quantität an Daten. Diese sind jedoch für einen Beobachter nicht alle interessant. Deshalb ist auch die Schaffung neuer Daten nicht zwangsläufig wertvoll. Entscheidend für einen Beobachter sind die Daten, denen er einen Informationswert zumisst, weil sie für ihn einen Unterschied machen (Bates, 1982). Alle übrigen Daten besitzen keinen Informationswert, weil sie vom Beobachter nicht in einen Sinnzusammenhang integriert werden können. „Erst wenn den produzierten Daten Sinn zugeschreiben wird, werden sie zu Informationen. […] Aber ob das so ist, hängt nicht von den Daten an sich ab, sondern von ihrem Interpreten“ (Simon, 2007; S. 61). Mit Willke kann man nun noch einen Schritt weitergehen und argumentieren, dass „Wissen entsteht, wenn Informationen in einen Praxiszusammenhang eingebunden werden“ (2004; S. 33; zit. In Simon 2007). Damit Wissenschaft also tatsächlich Wissen schafft, ist es nicht ausreichend methodisch einwandfrei neue Daten zu generieren. Daten müssen von einem Beobachter in einen Sinn- und Praxiszusammenhang eingebettet werden können. Es ist somit ein entscheidendes Gütekriterium in den angewandten Sozialwissenschaften, dass durchgeführte Untersuchungen und die aus ihnen resultierenden Ergebnisse nicht lediglich Daten produzieren, sondern beim Leser als interessant wahrgenommen werden und wie von Weick (1989) dargestellt, ein neues oder verändertes Verständnis von betrachteten Sachverhalten schaffen. Dieser Beitrag zu einem aufgeklärteren Verständnis von Praxis entspricht dem, was Kubicek (1977) „verständnisfördernde Perspektiven“ (S. 29) nennt, und als den entscheidenden Wertbeitrag von Wissenschaft begreift. Solche verständnisfördernden Perspektiven erlauben eine Reflexion der Praxis und können dadurch neues Wissen im Sinne von Willke entstehen lassen – dies jedoch immer nur aus der Perspektive des Beobachters bzw. des Lesers, da Information und Wissen nur beim „Empfänger“ von Kommunikation entstehen kann. In der vorliegenden Arbeit konnte dieses Qualitätsmerkmal der durchgeführten Forschung in erster Linie durch die regelmäßige Interaktion mit dem Forschungspartner sichergestellt werden. Während die Forschungskonstellation an späterer Stelle noch ausführlicher beschrieben wird, sei an dieser Stelle bereits angemerkt, dass mehrere Iterationen der Erwartungsklärung mit dem BVR als 99 Auftraggeber einer wissenschaftlichen Begleitforschung stattfanden. In diesen konnte immer wieder besprochen werden, inwieweit die gemachten Beobachtungen und deren Darstellung für einen konkreten Praxiskontext von Interesse sind. Beobachtungen und Einschätzung aus Sicht der Forschenden wurden dem BVR zudem in zwei Zwischenberichten 68 und einem Abschlussbericht 69 zur Verfügung gestellt und anschließend mehrfach diskutiert. Auch wurde regelmäßig mit unterschiedlichen Mitarbeitern lokaler Volksbanken, die den Forschenden einen Feldzugang ermöglichten oder als Interviewpartner zur Verfügung standen, wiederholt über die verschiedenartigen Beobachtungen gesprochen. Diese regelmäßigen Interaktionen ermöglichten nicht nur eine stetige Plausibilisierung und Verfeinerung der gemachten Beobachtungen, sondern zeigten den Forschenden auch, inwieweit ihre Schlussfolgerungen für einen Praxiskontext anschlussfähig waren und als interessant erschienen. Der konkrete Nutzen für die Praxis konnte des Weiteren aus der Übernahme sprachlicher Konstrukte des Forscherteams 70 durch den BVR abgeleitet werden. Ebenso wurden aufgezeigte Interaktionsmuster aus den angefertigten Zwischenberichten in mehreren beobachteten Fällen von Mitgliedern des BVR genutzt, um ihre Interaktionen mit den Banken zu reflektieren. Um die Erfüllung des zur Diskussion stehenden Gütekriteriums zudem sicherzustellen, wurde auch wiederholt darauf geachtet, inwiefern die angestellten Beobachtungen und deren Darstellung sich auch in einem Wissenschaftskontext als interessant erweisen können. In der gemeinsamen Erstellung eines wissenschaftlichen Papiers durch das Forscherteam wurden das gesammelte Material und dessen Darstellung mehrfach intensiv diskutiert und überarbeitet. Die hierbei gewonnen Erkenntnisse sind umfassend in die vorliegende Arbeit eingeflossen und trugen entscheidend dazu bei, die Anschlussfähigkeit an einen wissenschaftlichen Kontext sicherzustellen. 4.2 Beschreibung der Forschungsmethode Nachdem auf den vorangegangenen Seiten die Grundzüge eines systemischkonstruktivistischen Forschungsverständnisses dargestellt wurden, gilt es nun, die angewandte Forschungsmethode näher zu beschreiben. Hierzu wird in einem ersten Schritt – auf der Basis der Forschungsfrage – das adäquate Forschungsvorgehen ausgelotet. Anschließend wird die Forschungsmethode näher beschrieben, mit der die aufgestellte Forschungsfrage auf der Basis der zuvor dargelegten theoretischen Überlegungen untersucht werden soll. 68 Dok-085, Dok-086 Dok-087 70 Vgl. Kapitel 4.3.1 69 100 4.2.1 Exploratives Forschungsvorgehen Das Forschungsvorgehen einer wissenschaftlichen Untersuchung ist notwendigerweise mit der einer Arbeit zugrundeliegenden Forschungsfrage abzustimmen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit lautet diese: Durch welche Interventionspraktiken kann Führungslegitimität in einer Wirtschaftsorganisation unter Abwesenheit hierarchischer Strukturen in einem ständigen Prozess wiederhergestellt werden? Wie zuvor beschrieben, besteht zum Feld der organisationalen Führungslegitimität bisher nur ein begrenztes Volumen an Forschungsarbeiten und diesen liegt in der Regel kein Prozessverständnis von Führungslegitimität zugrunde. Dieser Umstand an sich legt bereits nahe, zur Untersuchung der Forschungsfrage ein exploratives Forschungsvorgehen zu wählen. Ein exploratives Vorgehen zeichnet sich durch seine Offenheit aus. Der Forschende hat die Möglichkeit eine Vielzahl von Eindrücken und Wahrnehmungen bezüglich eines untersuchten Phänomens zu gewinnen, da er nicht durch ein enges Spektrum standardisierter Forschungsmethoden eingeschränkt wird. Die konstruktivistische Grundannahme, die die Aufgabe von Forschung in der Rekonstruktion von Praxis sieht, ist in besonderem Maße mit offen gestalteten explorativen Forschungsmethoden vereinbar (Dyer und Wilkins, 1991). Darüber hinaus wurde die Forschungsfrage im 3. Kapitel weiter operationalisiert: Es wurde argumentiert, dass es unzureichend ist, Führungslegitimität lediglich aus den Aussagen und Meinungen von Geführten abzuleiten (Knopp und Müller; 1980). Vielmehr erfüllt Führung überall dort ihre Führungsaufgabe – und besitzt somit aus organisationaler Sicht Führungslegitimität – wo ihre Entscheidungen wiederholt von Organisationsmitgliedern als Bestandteile von Entscheidungsprämissen aufgegriffen werden. Inwieweit dies jedoch innerhalb einer Organisation geschieht, kann ein Forschender nur erschließen, wenn es ihm möglich ist, umfassende und vielseitige Beobachtungen in einer Organisation durchzuführen. Ein exploratives Forschungsvorgehen scheint somit geboten, weil es Forschenden ermöglicht, ein Prozessverständnis sozialer Phänomene zu erlangen, Kommunikationsprozesse zu erschließen und die nötige Kontextsensitivität aufzubringen. Diese drei Aspekte sollen im Folgenden näher beschrieben werden. Nachvollziehbarkeit von Prozessen Im zweiten Kapitel wurde bereits dargestellt, dass ein entscheidender Mehrwert dieser Arbeit in der Betrachtung von Führungslegitimität aus einem prozesstheoretischen Blickwinkel liegt. Legitimität wird nicht als etwas verstanden, 101 das eine einzelne Führungskraft besitzt, sondern als ein kontinuierlicher Prozess zwischen Führung und Organisation. Im Gegensatz dazu werden Führung und damit zusammenhängende soziale Phänomene im Alltag oft ausschließlich Individuen zugeschrieben (Rüegg-Stürm, 2000; Willke, 2005). Vor allem standardisierte, quantitative Forschungsmethoden, die zumeist auf positivistischen Forschungsverständnissen beruhen, sind kaum in der Lage, ein solches Alltagsverständnis kritisch zu reflektieren. Sie ermöglichen es Forschenden nicht, ein tiefgreifendes Prozessverständnis von Vorgängen in der Praxis zu erlangen, weil sie sich meist ausschließlich auf Datenerhebungsverfahren wie standardisierte Fragebögen oder Befragungen fokussieren und auf offene, explorative Beobachtungen verzichten. Organisationsmitgliedern sind die in ihren Organisationen ablaufenden Prozesse selbst nur zum Teil bewusst. In vielen Fällen resultiert dieses unvollständige Wissen der Organisationsmitglieder bei standardisierten Interview- oder Umfragemethoden in falschen Einschätzungen und unzutreffenden Aussagen (van Maanen, 1983). Um ein prozessuales Verständnis von Führungslegitimität in der Praxis zu untersuchen, ist es somit unerlässlich, ein offenes, exploratives Forschungsdesign zu wählen, in dem organisationale Praxis direkt beobachtet werden kann. Insbesondere eine Beobachtung organisationaler Praxis über einen längeren Zeitraum verschafft einem Forschenden die Chance, sich entfaltende Prozesse zu rekonstruieren. Erschließung von Kommunikation Die zentralen Konstrukte dieser Arbeit lehnen sich an der Systemtheorie an. Dies ist für das Prozessverständnis von Führungslegitimität, für die Betrachtung von Führung als organisationale Funktion, sowie im Besonderen für die Unterscheidung zwischen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen der Fall. Aufgrund dieser starken Anlehnung an die Systemtheorie ist die zentrale Rolle des Kommunikationsbegriffs ständig zu berücksichtigen. Die Kernannahme der Systemtheorie – neben der Behauptung der Existenz von Systemen – besteht darin, dass soziale Systeme aus Kommunikation bestehen, resp. dass Organisationen aus Entscheidungskommunikationen bestehen (Luhmann, 1984; 2006). Für das in dieser Arbeit zu betrachtende Verhältnis von legitimer Führung und organisationalen Entscheidungsprämissen ist es somit essenziell, einen Fokus auf die Entscheidungskommunikationen der beobachteten Organisation zu legen. Kommunikation kann jedoch selbst nicht beobachtet, sondern lediglich erschlossen werden. 71 Der Forschende selbst muss in einen Kommunikationskontext integriert sein, um durch seine Beobachtungen Kommunikation zu erschließen. Dies ist ausschließlich bei einem explorativen Forschungsvorgehen möglich, das dem 71 Vergl. Kapitel 4.1.2 und 4.1.3 102 Forschenden die Möglichkeit bietet, unterschiedliche Beobachtungen aufzunehmen und aus ihnen ein Bild von Kommunikationsprozessen zu rekonstruieren. Quantitative Forschungsverfahren sind hingegen oft ungeeignet, um ein Verständnis für soziales Handeln innerhalb von Organisationen aufzubauen (Morgan und Smircich, 1980). Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass der Forschungsfokus bei einem Prozessverständnis von Führungslegitimität auf den ununterbrochen ablaufenden Kommunikationsprozessen einer Organisation liegt. Diese lassen sich jedoch nicht erfragen oder quantitativ erfassen, sondern lediglich mittels eines offenen, explorativen Forschungsvorgehens erschließen. Kontextsensitivität Ein exploratives Forschungsvorgehen unterscheidet sich von standardisierten, quantitativen Forschungsansätzen durch seinen breiteren Fokus. Es ermöglicht Forschenden nicht nur ein Phänomen an sich zu untersuchen, sondern darüber hinaus ein Verständnis für dessen Kontext aufzubauen. Ein solches Kontextverständnis ist für die Rekonstruktion von Prozessen unabdingbar. Pettigrew (1997) beschreibt Prozesse als eine Abfolge von Ereignissen, die sich über eine gewisse Zeit und in einem gewissen Kontext entfalten. In Anlehnung an Giddens‘ Dualität der Struktur (1979, 1984) argumentiert Pettigrew, dass organisationale Prozesse gleichzeitig ihren Kontext beeinflussen und von ihm beeinflusst werden. Deshalb ist ein Forschungsvorgehen, das Kommunikationsprozesse innerhalb einer Organisation untersuchen will, so auszuwählen, dass es dem Forschenden die nötige Sensitivität für den Kontext erlaubt. Explorative Forschungsansätze wie qualitative Feldforschung ermöglichen es unter Berücksichtigung des Kontexts organisationaler Prozesse, reichhaltige und umfassende Daten zu gewinnen, aus denen die sozialen Prozesse der Praxis erschlossen und rekonstruiert werden können (Rüegg-Stürm, 2003). Die Bedeutung des Kontexts beim Verständnis organisationaler Abläufe wird auch von Meredith (1998) betont. Und Baitsch (1993) weist darauf hin, dass die Verhaltensweisen unterschiedlicher Organisationsmitglieder lediglich unter Berücksichtigung ihres Umfelds interpretiert werden können. Tuckermann (2007) betont, dass „Kommunikationsdynamik in einen spezifischen Kontext eingebettet [ist]“ (S. 107). Ein Verständnis dieses Kontexts kann deshalb dazu genutzt werden, die in ihm ablaufenden Kommunikationsdynamiken zu erschließen, während dies ohne Kenntnis des Kontextes nicht möglich wäre. Darüber hinaus ist der Kontext entscheidend, um Beobachtungen sinnvoll interpretieren zu können (Pentland, 1999). Auch Lueger (2000) betont, dass der Kontext in dem Forschung stattfindet, den gesammelten Daten erst eine Bedeutung 103 verleihen kann. Dies gilt zum einen für den Forschenden, der Daten, losgelöst von ihrem Kontext, nur sehr schwer eine angemessene Bedeutung zuschreiben kann. Zum anderen gilt es aber auch für den Leser, der sich ohne Kontextinformationen kein eigenes Bild beschriebener organisationaler Vorgänge machen kann und deshalb die angestellte Interpretation der Forschenden nicht kritisch hinterfragen kann. Der Einbezug von Kontextbeobachtungen in das Forschungsdesign ermöglicht dem Forschenden die Anfertigung dichter Beschreibungen (Rüegg-Stürm, 2003), die dem Leser die Betrachtung eines reich ausgestalteten Bildes der beobachteten unternehmerischen Praxis ermöglichen. Auf dieser Basis kann der Leser die Schlussfolgerungen des Autors besser nachvollziehen und sie gleichzeitig kritisch reflektieren und sich ein eigenes Bild der Zusammenhänge konstruieren. 4.2.2 Die Methode der longitudinalen Fallstudie Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Vorzüge eines explorativen Forschungsvorgehens im Zusammenhang mit der gestellten Forschungsfrage dargestellt wurden, rückt an dieser Stelle die Wahl der Forschungsmethode ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch hierfür ist noch einmal zu betonen, dass Führungslegitimität als relationaler Prozess konzipiert wurde, der sich über die Zeit entfaltet und wiederholt erneuert werden muss. 72 Dies führt zu dem Schluss, dass die Erforschung von Führungslegitimität eine enge Beobachtung organisationaler Kommunikation erfordert, die die Komplexität, die zeitliche Entfaltung und den Kontext von Kommunikation berücksichtigen kann. Rüegg-Stürm (2003) empfiehlt „vor allem bei hoher Komplexität und Kontextabhängigkeit der untersuchten Probleme die Anwendung feldnaher, kontextsensitiver Forschungsmethoden“ (S. 67). Auch Langley (2009) demonstriert, wie mithilfe begleitender Forschung Prozesse und deren Entfaltung über den Zeitverlauf nachvollzogen werden können. Eine solche begleitende, feldnahe Forschung ist vornehmlich im Rahmen von Fallstudien (z.B. Eisenhardt, 1989) möglich, bei denen ein oder mehrere Fälle organisationaler Praxis intensiv beobachtet werden. Yin (1994) betont, dass ein Fallstudienvorgehen besonders gut dazu geeignet ist, Phänomene in einem Praxiskontext zu beobachten, bei denen die Grenzen zwischen Kontext und Phänomen selbst nicht klar ersichtlich sind. Im Rahmen einer Fallstudie ist es durch einen breiten Beobachtungsfokus möglich, den Fokus bei der Datenerhebung weniger stark einzuschränken als bei anderen Forschungsmethoden. Somit besteht eine geringere Gefahr, dass wertvolle Daten von vornherein aufgrund 72 Vergl. Kapitel 2.2 104 des Forschungsdesigns ignoriert werden. Die resultierende breite Datenbasis ermöglicht es, das Kommunikationsgeschehen in Organisationen zu rekonstruieren und unter Berücksichtigung der Kontextbeobachtungen zu interpretieren. Auch der zeitliche Aspekt, der bei der Rekonstruktion von Prozessen von entscheidender Bedeutung ist, wird im Rahmen eines feldnahen Fallstudienvorgehens hinreichend gewürdigt. Es wird den Überlegungen Mintzbergs (1979) zu „direct research“ gefolgt. Beobachtungen zu Prozessen werden nicht durch Befragungen oder ähnliche Methoden ex-post gewonnen. Teilnehmende Beobachtungen und regelmäßige Interaktionen mit Organisationsmitgliedern ermöglichen eine Beobachtung von Prozessen, während diese sich innerhalb einer Organisation entfalten. Dieses direkte Forschungsvorgehen vermeidet die Problematik anderer Vorgehensweisen, bei denen der Forschende sich auf das retrospektive Sensemaking von Personen verlassen muss, die an den Prozessen teilgenommen haben, oder die Prozesse lediglich aus textlichen Artefakten rekonstruieren kann. Auch Pettigrew (1992) und van de Ven (1992) weisen darauf hin, dass Fallstudien die geeignete Methode sind, um Prozesse über die Zeit zu beobachten. Sie betonen die Vorteile, die sich für den Forschenden ergeben, weil es ihm das Fallstudienvorgehen ermöglicht, die Entfaltung organisationaler Prozesse in deren praktischen Umfeld mitzuerleben. Darüber hinaus kann der Forschende durch regelmäßige Kontakte mit den beobachteten Praktikern seine Beobachtungen reflektieren und plausibilisieren. So kommt es in diesem Sinn zu einer Ko-Produktion von Wissen durch Praktiker und Forschende (Argyris und Schön, 1999). Da davon auszugehen ist, dass sich Prozesse im Zusammenhang mit Führungslegitimität in der Regel über einen längeren Zeitraum entfalten, wurde in der vorliegenden Arbeit die Methode einer longitudinalen Fallstudie (Pettigrew, 1990; van de Ven und Poole, 1990) gewählt. Insgesamt erstreckte sich die Untersuchung von der ersten Kick-Off Veranstaltung am 15. Februar 2010 bis zum letzten Abschlussinterview am 16. Juni 2012 über 28 Monate. 73 Das beobachtete ESPrit Projekt selbst begann mit dem ersten Workshop im Februar 2010 und endete offiziell mit einer Abschlussveranstaltung im Juni 2011. Die letzte offizielle Veranstaltung zu ESPrit war ein Beraterpool-Workshop im April 2012. Somit konnte mit dem gewählten Beobachtungszeitraum die Anforderung erfüllt werden, einen in sich geschlossenen Projektzyklus durchgehend begleitend zu beobachten (Wolcott, 1995). Diese Zeitspanne der beobachtenden Begleitung von über zwei Jahren ermöglichte es, fortlaufende Interaktionsdynamiken zwischen Führung und Organisation im betrachteten Fall längerfristig zu beobachten und daraus weitreichendere Schlüsse 73 Art und Intensität der Beobachtungen veränderten sich über die Zeit, wie im weiteren Verlauf des Kapitels näher beschrieben wird. 105 zu ziehen, als dies bei einer bloßen Momentaufnahme möglich gewesen wäre. Zusammenfassend ergibt sich hieraus, dass ein exploratives Forschungsvorgehen im Rahmen einer longitudinalen Fallstudie aus methodologischer Sicht als geeignet erschien, um die zu Beginn der Arbeit formulierte Forschungsfrage zu adressieren und deshalb als Forschungsmethode ausgewählt wurde. 4.2.3 Auswahl der Fallstudie und Beobachtungsfokus Eine folgenreiche Entscheidung für ein Fallstudienvorgehen besteht in der Auswahl eines oder mehrerer passender Praxispartner. Dabei fiel die Wahl in der vorliegenden Arbeit auf eine Einzelfallstudie mit der Gruppe der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken. Es handelt sich hierbei um einen Extremkontext (Pettigrew, 1990) zur Beobachtung von Führungslegitimität, da die VR Gruppe von einer weitgehend heterarchischen Struktur geprägt ist. Während die Details dieser Struktur im nachfolgenden Kapitel ausgeführt werden, soll bereits an dieser Stelle kurz auf diese organisatorische Besonderheit der VR Gruppe eingegangen werden. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass alle Organisationen dieser Unternehmensgruppe, von den einzelnen Banken über Regionalverbände, Beratungs- und Prüfgesellschaften bis hin zu Produktanbietern und dem Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbaken (BVR), rechtlich selbständige Einheiten sind. Dabei stehen alle Einheiten in sehr lose gekoppelten Besitzstrukturen zueinander und genießen weitgehende Autonomie und unternehmerische Selbständigkeit. Die Beobachtung eines Extremkontextes ermöglicht es, Phänomene zu beobachten, die auch in weniger extremen Kontexten vorhanden sind, dort jedoch weniger offensichtlich zutage treten. Der Kerngedanke der vorliegenden Arbeit, dass es wertvoll ist, Führungslegitimität nicht als einen Besitzstand von Führung, sondern als einen sich dynamisch entfaltenden und unablässig ablaufenden Interaktionsprozess zwischen Führung und Geführten zu betrachten, soll an dem dargestellten Extremkontext empirisch getestet werden. Dabei liegt der Beobachtungsfokus auf den Interaktionen bzw. Kommunikationsdynamiken zwischen einzelnen Banken der VR-Gruppe und dem BVR als zentraler Führungseinheit, wobei diese Führungseinheit über keinerlei hierarchische Machtressourcen im Verhältnis zu den einzelnen Banken verfügt. 74 Tuckermann (2007) führt an, dass sich „an der Kommunikationsdynamik beobachten [lässt], ob und in welcher Weise [ein] Veränderungsprozess Wirkung in der Alltagsorganisation erzeugen konnte“ (S. 107). In ähnlicher Weise soll in dieser 74 Eine detaillierte Beschreibung der Struktur des empirischen Forschungspartners erfolgt in Kapitel 5.2. 106 Arbeit aus den beobachteten Kommunikationsdynamiken erschlossen werden, wie es dem BVR im beobachteten Extremkontext gelingt, dass eigene Entscheidungen in der Alltagsorganisation von den Volksbanken als Entscheidungsprämissen genutzt werden. Die zugrunde liegende Annahme ist dabei, dass Führungslegitimität sich in der wiederholten Fähigkeit von Führung ausdrückt, mit den eigenen Entscheidungen einen relevanten Beitrag zu den genutzten Entscheidungsprämissen der Organisation zu leisten. Weiterhin ist zu erwähnen, dass es sich bei der durchgeführten Forschung um eine Einzelfallstudie handelt. Autoren wie Eisenhardt (1989, 1991) befürworten die Durchführung mehrerer paralleler Fallstudien, da diese ein vergleichendes Nebeneinanderstellen der gewonnenen Daten ermöglichen. In der Regel wird argumentiert, dass auf diese Weise die Verallgemeinerbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse besser gewährleistet ist. Demgegenüber bietet die Konzentration auf eine einzelne Fallstudie den eindeutigen Vorteil, dass der Forschende sich intensiver mit der beobachteten Organisation auseinandersetzen kann. Es kann ein umfangreicheres Spektrum relevanter Dimensionen in die Forschungsbeobachtungen einbezogen werden, als dies bei anderen Vorgehensweisen der Fall ist (Lamnek, 1995a). Insbesondere in Bezug auf die Beobachtung komplexer Kommunikationsdynamiken ist es erforderlich, dass der Forschende eng in den beobachteten organisationalen Kontext einbezogen ist, um diese hinreichend erschließen zu können (Rüegg-Stürm, 2003). 75 Verstehen wird hiermit zu einer Gemeinschaftsaufgabe von Forschendem und Beobachteten. 76 Diese Anforderung ist bei der parallelen Beobachtung mehrerer Fallstudien nicht im gleichen Ausmaß realisierbar, wie bei der intensiven Auseinandersetzung mit einem einzigen Organisationskontext. Somit bieten Einzelfallstudien eine besonders vertiefte Möglichkeit zur Beobachtung, Interpretation und Rekonstruktion organisationaler Abläufe (Witzel, 1982). Dennoch besteht gerade bei der Betrachtung von Führungsbeziehungen die Gefahr, dass ein betrachteter Einzelfall sich durch eine einzigartige und ungewöhnliche Beziehungskonstellation zwischen Führung und Geführten auszeichnet. In einem solchen Fall wären abgeleitete Erkenntnisse kaum verallgemeinerbar. Dieser Herausforderung wurde in der vorliegenden Arbeit durch die vergleichende Nebeneinanderstellung mehrerer Interaktionsdynamiken und Führungsbeziehungen zwischen verschiedenen Organisationseinheiten begegnet. Diese Nebeneinanderstellung fand zum einen auf der Seite des BVR statt, wo die Arbeitsweise unterschiedlicher Fachabteilungen miteinander verglichen werden 75 Vgl. Kapitel 4.1.2; Siehe insbesondere Dachler (1992): “What is hardly recognized as a crucial problem of knowing and understanding is the joint production of data by the researcher together with the investigated individual or social actors” (S. 170). 76 107 konnte. Auf der anderen Seite wurde die Beziehung unterschiedlicher Banken zum BVR beobachtetet und miteinander verglichen. Die Fachrat-Struktur des BVR wird an späterer Stelle noch im Detail darzustellen sein. Für das hier zu erläuternde Argument ist es ausreichend, darauf hinzuweisen, dass der BVR im mehrere relativ unabhängig voneinander operierende und fachlich voneinander separierte Fachräte unterteilt ist. Diese nehmen jeweils Führungsaufgaben in ihrem fachlich definierten Rahmen wahr: Der Fachrat Personal adressiert zum Beispiel strategische Personalthemen, während der Fachrat Markt sich auf Themen der Marktbearbeitung konzentriert. In der vorliegenden Arbeit wurde mit ESPrit vornehmlich eine Initiative des Fachrates Markt beobachtet. Es konnten jedoch darüber hinaus Interventionen von weiteren Fachräten beobachtet werden. Insbesondere innerhalb der beobachteten Banken ergab sich die Möglichkeit nachzuvollziehen, welche unterschiedlichen Initiativen verschiedener Fachräte von diesen aufgegriffen worden waren. Auf der Seite der Banken bestand die Chance für die Forschung, mit 21 Banken in Kontakt zu treten, die an einer strategischen Initiative des BVR teilnahmen. Darüber hinaus konnten intensive Vor-Ort-Beobachtungen und Interviews bei sieben dieser Volksbanken durchgeführt werden. Dabei unterschieden sich die beobachteten Banken in Größe, Region, wirtschaftlicher Situation etc. oft sehr stark voneinander. Dies erlaubte insbesondere auch Rückschlüsse darauf, welchen Einfluss der jeweilige organisationale Kontext auf die Interaktionsdynamik zwischen BVR und Volksbanken haben konnte. Das beschriebene Forschungsvorgehen ermöglichte es somit, innerhalb der durchgeführten Einzelfallstudie Vergleiche zwischen den gemachten Beobachtungen anzustellen. Es wurde damit nicht nur die Kommunikationsdynamik in einer singulären Führungsbeziehung betrachtet. Die später ausgeführten Erkenntnisse beruhen deshalb auf der vergleichenden Beobachtung der Interaktionen zwischen verschiedenen Organisationseinheiten innerhalb eines einzelnen Extremkontextes. Dennoch bleiben die Ergebnisse von Einzelfallstudien zwangsläufig limitiert hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit. Eine solche Verallgemeinerbarkeit ist jedoch auch nicht das primäre Ziel von Fallstudien. Pettigrew (1985a) weist darauf hin, dass Fallstudien statt statistischer Verallgemeinerbarkeit systematische Beschreibungen sozialer Prozesse erbringen können, die ebenfalls als eine wertvolle Form theoretischen und praktischen Wissens zu betrachten sind. Eine solche Art von Prozessverständnis stellt nämlich genau die Form von Wissen dar, die reinen Korrelations-Zusammenhängen statistischer Auswertungen fehlen (Mintzberg, 1979). Die Qualität einer Fallstudie liegt deshalb nicht in ihrer Universalität, sondern in ihrer Spezifität, die es ermöglicht, ein Prozessverständnis für den Einzelfall aufzubauen, das sich bei der Reflexion anderer Fälle – in der Theorie wie in der Praxis – als wertvoll herausstellen kann. 108 4.3 Datenerhebung und Datenauswertung Die Nachvollziehbarkeit qualitativer Sozialforschung wurde als eines ihrer zentralen Gütekriterien beschrieben. Aus diesem Grund ist es wichtig, eine möglichst hohe Transparenz in Bezug auf Datenerhebung und Datenauswertung zu schaffen. Dazu ist es zum einen notwendig, Rechenschaft darüber abzulegen, wie Daten im Rahmen des beschriebenen Forschungsvorgehens gesammelt wurden. Zum anderen muss daran anschließend dargestellt werden, auf welche Weise aus den erhobenen Daten ein Bild der beobachteten Praxis rekonstruiert wurde. Hierzu wird im ersten Teil dieses Kapitels beschrieben, wie es den Forschenden möglich wurde, einen Feldzugang zur VR-Organisation aufzubauen und zu vertiefen. Dabei wird auch die Rolle der Forschenden im Detail reflektiert. Anschließend werden die unterschiedlichen Vorgehensweisen zur Datenerhebung beschrieben, die im Laufe der Fallstudie zur Anwendung kamen. Hierbei handelt es sich vornehmlich um teilnehmende Beobachtungen, die jedoch kontinuierlich durch halbstrukturierte Interviews, informelle Gespräche und Dokumentenanalysen ergänzt wurden. Am Ende des Kapitels wird der Prozess der Datenauswertung und der Rekonstruktion von Praxis durch qualitative Prozessdaten beschrieben. 4.3.1 Feldzugang und Rolle der Forschenden Die Qualität des Feldzugangs ist für jede Form von Fallstudienforschung prägend. Sie entscheidet zum einen darüber, welche Daten zugänglich sind, respektive welche Beobachtungen möglich sind. Zum anderen hat die Art und Weise des Feldzugangs und sein Zustandekommen entscheidende Auswirkungen auf die Erwartungen, die von einer Organisation und ihren Mitgliedern an Forschende gestellt werden, oder Befürchtungen, die ihnen entgegengebracht werden. Je nachdem in welcher Rolle Forschende wahrgenommen werden, kann dies substanzielle Auswirkungen auf die Forschung selbst haben. Da es das Ziel einer Feldstudienforschung ist, Prozesse in einem unverfälschten Praxiskontext zu beobachten (vgl. Yin, 1994), ist es deshalb entscheidend, den Feldzugang so zu wählen, dass die beobachteten Organisationsmitglieder ihr Veralten im Beisein des Forschenden nicht verändern und in Befragungssituationen ihre tatsächliche Meinung nicht zurückhalten. Ganz ausschließen lässt sich eine derartige Beeinflussung zwar nicht, da der Forschende durch seine Immersion in den praktischen Kommunikationskontext einer Organisation, die für die Beobachtung sozialer Prozesse erforderlich ist (RüeggStürm, 2003), kein völlig Außenstehender bleiben kann. Es lässt sich jedoch darauf achten, dass der Einfluss von Forschenden auf sich entfaltende soziale Prozesse möglichst gering ausfällt. 109 Partnerschaft mit dem BVR Die Anbahnung des Feldzugangs basiert im vorliegenden Fall auf einer Anfrage des BVR. Dieser kontaktierte Ende des Jahres 2009 das Institut für Systemisches Management und Public Governance (IMP) der Universität St. Gallen. Im Folgenden wurde am 15.02.2010 in Zürich eine Forschungspartnerschaft vereinbart. Forschungspartner waren auf der einen Seite Prof. Dr. Rüegg-Stürm, Direktor des IMP und Leiter des Forschungszentrums Organization Studies, sowie der Verfasser dieser Arbeit 77 und auf der anderen Seite der BVR. Für den BVR lag der Anlass zur Gründung besagter Forschungspartnerschaft in der anlaufenden strategischen Initiative ESPrit. 78 In der Konzeption dieser Initiative war die wissenschaftliche Begleitung durch eine neutrale Partei von vornherein mit angelegt. 79 Hierfür wurde ein Partner gesucht, der von außerhalb der VROrganisation kam und eine unabhängige Position gegenüber den Banken, dem BVR und der beteiligten externen Beratungsgesellschaft (osb) einnehmen konnte. Es herrschte die Meinung innerhalb des BVR, es „bedarf einfach einer neutralen Draufsicht. […] Da war dann unser Ansatz, die Uni St. Gallen anzusprechen.“80 Da das Forscherteam weder an der Konzeption und Durchführung von ESPrit beteiligt war, noch durch enge Verbindungen mit der deutschen VR-Organisation verbunden war, sollte es ihm möglich sein, aus einer weitgehend neutralen Position heraus, die Interaktion zwischen BVR und Banken aus einem unabhängigen Blickwinkel zu beobachten und durch möglichst ungefilterte Beobachtungen einen „Lernprozess für uns im BVR und die gesamte Organisation“ 81 zu unterstützen. Des Weiteren herrschte die Überzeugung, dass eine universitäre Begleitung das Vorgehen des BVR „wissenschaftlich untermauert“. 82 Aus diesem Grund arbeitet der BVR regelmäßig mit unterschiedlichen Vertretern von Hochschulen zusammen. Der Nutzen hieraus kann in zweierlei Form gesehen werden. Zum einen liegt er in der Lernchance, die universitäre Erfahrung und Wissen mit sich bringen und die sich aus 77 Als Forscherteam an der Forschung beteiligt waren anfänglich insbesondere Prof. Rüegg-Stürm sowie der Verfasser dieser Arbeit. Insbesondere Kontakten zum BVR sowie Interviews mit verantwortlichen Personen des BVR wurden in der Regel zu zweit wahrgenommen. Die begleitenden Beobachtungen, sowie die Interviews in den diversen Volksbanken wurden in erster Linie vom Verfasser dieser Arbeit durchgeführt. Später wurde die Interpretation und Auswertung der empirischen Daten mit der Unterstützung weiterer Kollegen des IMP durchgeführt. Es bestand über den gesamten Projektzeitraum ein enger Austausch innerhalb des Forscherteams. 78 Eine detaillierte Vorstellung des Projekts erfolgt in Kapitel 6. 79 Dok-001; bereits die ersten konzeptionellen Darstellungen von ESPrit, die an interessierte Banken verteilt wurden, erwähnten die wissenschaftliche Begleitung des Projektes als integralen Projektbestandteil. 80 Int-02; Anmerkung: Zum Schutz der Anonymität wird in allen Verweisen auf Zitate immer die maskuline Form genutzt. Unter den 35 Interviewpartnern gab es insgesamt 6 weibliche Interviewpartner. Dies entspricht der eher männlich geprägten Personalsituation in der VROrganisation, insbesondere in Führungsaufgaben. Die explizite Hervorhebung weiblicher Interviewpartner würde zum Teil eine Zurechnung einzelner Aussagen auf konkrete Interviewpartner erlauben. 81 Int-01 82 Int-03 110 unabhängigen Beobachtungen und Rückmeldungen ergeben können. Zum anderen sprachen unterschiedliche Interviewpartner auch davon, dass ein Zusatznutzen für den BVR in der Image-Wirkung einer universitären Untersuchung liegen könnte. So meinte ein Interviewpartner, dass das „wissenschaftliche Siegel“ 83, das die ESPritInitiative durch wissenschaftliche Begleitung bekomme, für den BVR nicht uninteressant sei, während ein anderer Interviewpartner davon ausging, dass die wissenschaftliche Begleitforschung dazu beitragen könnte, der Initiative ESPrit zusätzliche „Seriosität zu vermitteln“. 84 Aus Sicht der Forschenden lag das erste Interesse bei der Einigung bezüglich der Forschungspartnerschaft mit dem BVR in der Sicherstellung maximaler Freiheit und Unabhängigkeit über den gesamten Forschungsprozess hinweg. Aus diesem Grund ist es entscheidend, die Motivlagen des Forschungspartners aktiv zu reflektieren und frühzeitig zu eruieren, welche Gefahren für Interessenskonflikte unter Umständen bestehen könnten. Bei einer Auftragsforschung besteht das größte Risiko für die Forschung in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Auftraggeber, das den freien Forschungsprozess beinträchtigen kann. Im hier vorliegenden Fall konnten solche Risiken auf verschiedene Arten vermieden werden. In einem ersten Schritt wurde ausdrücklich vereinbart, dass es sich bei der Forschung nicht um eine klassische Evaluation des ESPrit Projekts handeln würde. Vielmehr nahm die Forschung im Verhältnis zum BVR die Rolle eines Reflexionspartners ein, der der Praxis im Sinne von Kubicek (1977, S. 29) „verständnisfördernde Perspektiven“ zur Verfügung stellt. Zudem ist zu betonen, dass ein konkretes Interesse des Forschungspartners an den Forschungsergebnissen von Vorteil sein kann. Lamnek (1995b) betont, dass es für Beobachtungsprozesse hilfreich ist, wenn der Forschende von sich selbst und von der beobachteten Organisation vorübergehend als zur Organisation zugehörig bzw. als „einer von ihnen“ (S. 292) angesehen wird. Dies erhöht die Chancen auf einen natürlichen Umgang und natürliche Verhaltensweisen im Beisein der Forschung. Eine solche Akzeptanz ist aber vor allem dann wahrscheinlich, wenn der Forschungspartner regelmäßig einen Nutzen durch die enge Einbindung des Forscherteams in organisationale Prozesse wahrnimmt. Aus diesem Grund ist auch die oben erwähnte Motivlage des BVR, das ESPrit-Projekt möglicherweise durch den Forschungsprozess wissenschaftlich zu untermauern, aus Sicht des Forscherteams als vorteilhaft zu werten. Außerdem war zu jeder Zeit der Forschung sichergestellt, dass vollkommene Vertraulichkeit in Bezug auf alle Forschungsbeobachtungen und Interviews herrschte. Beobachtungen wurden vom Forscherteam lediglich auf eine Art und Weise an den BVR zurückgespiegelt, die keine Zurechnung auf einzelne Individuen 83 84 Int-99 Int-99 111 oder Banken zuließen. Diese Vorgehensweise war insbesondere auch allen Bankenvertretern bekannt, die an ESPrit beteiligt waren. Begünstigt wurde die Stellung des Forscherteams auch durch die speziellen Organisationseigenschaften der VR-Gruppe. Wie im Bereich der Ergebnisse dieser Studie beschrieben wird, gründet die Führungslegitimität des BVR unter anderem darauf, dass er den Banken immer wieder beweist, in welch hohem Maß deren Unabhängigkeit respektiert wird. 85 Deshalb betonten auch BVR Vertreter selbst immer wieder, dass es bei der wissenschaftlichen Begleitforschung um die Schaffung von Lernchancen für den BVR und die Organisation geht und nicht darum intime Einblicke in Einzelbanken zu gewinnen. Die Banken selbst hingegen erwiesen sich ohnehin nicht als besonders argwöhnisch. Ganz im Gegenteil wurde dem Verfasser gegenüber mehrfach betont, dass Beobachtungen gerne auch unter Nennung der Bank und der Beteiligten an den BVR gespiegelt werden können, worauf jedoch in aller Regel verzichtet wurde. Diese Haltung lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass die Struktur der VROrganisation dem BVR so gut wie keine hierarchischen oder machtpolitischen Einflussmöglichkeiten auf die Banken gestattet. 86 Somit besteht für Banken kaum ein Anreiz, Kritik am BVR oder abweichende Verhaltensweisen gegenüber BVRRichtlinien zu verbergen. Abschließend wird die Unabhängigkeit der Forschung auf eine weitere Weise sichergestellt. Die im Rahmen dieser Arbeit beschriebenen Überlegungen und Erkenntnisse gehen weit über die Einzelinitiative ESPrit hinaus und werden erst ca. 3 Jahre nach deren Abschluss veröffentlicht. Es lastet also kein impliziter oder expliziter Druck auf der Forschung, bei der Darstellung der Ergebnisse politische Interessen des Auftraggebers zu berücksichtigen. Die breiter aufgestellte Forschungsfrage nach der Möglichkeit zur ständigen Schaffung von Führungslegitimität in einer heterarchischen Organisation transzendiert Überlegungen zu den konkreten Folgen und Erfolgen von ESPrit. ESPrit ist, wie im Folgenden dargestellt werden soll, für die vorliegende Forschung lediglich ein Ausgangspunkt gewesen, der es ermöglichte einen deutlich umfassenderen Feldzugang innerhalb der Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken zu realisieren und damit ein Verständnis für die allgemeine Arbeitsweise dieser Organisation aufzubauen. Forschungszugang zu ESPrit Der Vorteil der beschriebenen Forschungskonstellation zeigt sich vor allem im äußerst umfangreichen Feldzugang, der während des Forschungsprojektes möglich 85 Vgl. Kapitel 7.1.1 Vgl. Kapitel 5.2 86 112 war. Da die Forschung nicht nur geduldet, sondern aktiv gewünscht war, konnte ein sehr umfassender Feldzugang realisiert werden. Dies beginnt zuerst beim ESPrit Projekt selbst. Das ESPrit Projekt umfasste 6 Beratungs-Module, an denen insgesamt 21 Banken in jeweils 3 unterschiedlichen Gruppen teilnahmen. 87 Das erste Modul konnte durch die wissenschaftliche Begleitforschung nicht beobachtend begleitet werden. Hier standen insbesondere Gruppenfindungsprozesse im Vordergrund, die nach Absprache mit BVR und osb in Abwesenheit der Forschung stattfinden sollten. Der Forschung wurden jedoch ausführliche Fotoprotokolle 88 zur Verfügung gestellt und es war möglich, das Vorgehen durch umfassende Gespräche mit Teilnehmern sowie Mitgliedern von BVR und osb zu rekonstruieren. An allen anderen Modulen konnte die Begleitforschung beobachtend teilnehmen. Dies geschah für die Module II und III jeweils exemplarisch bei einer Gruppe, sowie beim Abschluss-Modul IV für alle drei Gruppen. Außerdem wurden bei den optionalen Modulen V & VI umfassende teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Somit konnte die Forschung insgesamt an acht mehrtägigen Veranstaltungen des Beratungsprojektes teilnehmen. Darüber hinaus wurde der Forschung vollständiger Zutritt zu allen Projektsitzungen zwischen BVR und osb gewährt und es konnte an Workshops mit genossenschaftlichen Verbundorganisationen und zwei weiteren Workshops mit den an ESPrit beteiligten Volksbanken teilgenommen werden. Zu allen Veranstaltungen wurden zudem umfassende Dokumentationen bereitgestellt. Forschungszugang zu sieben Volksbanken Neben den Beobachtungen im Rahmen von ESPrit gelang es der Forschung zudem, mit Unterstützung des BVR einen umfassenden Feldzugang zu sieben Volksbanken zu erhalten, die an ESPrit teilnahmen. Bereits zu Beginn des Forschungsprojektes wurden 4 Volksbanken definiert, die der Forschung über die ESPrit-Workshops hinausgehende Einblicke ermöglichten. Dabei handelte es sich um die Volksbank Großgerau, die Volksbank Sulingen, die Volksbank Ruhr Mitte, sowie die Volksbank Neustadt. Im Laufe des Projektes kamen mit der Volksbank Tübingen, der Volksbank Klettgau-Wutöschingen und der RaiffeisenVolksbank eG Gewerbebank (Ansbach) drei weitere Banken hinzu. Mit diesen sieben Banken wurde vereinbart, dass der Begleitforschung die beobachtende Begleitung strategischer Projekte ermöglicht wird, die im Zusammenhang mit ESPrit von ihnen bearbeitet wurden. Manche dieser Projekte waren direkte Ausflüsse aus ESPrit, während es sich bei der Mehrzahl um Projekte handelte, die bereits vorher in den Banken intendiert oder angestoßen worden 87 88 Für eine ausführliche Beschreibung von ESPrit, siehe Kapitel 6. vergl. Dok-005; Dok-006; Dok-007 113 waren, die jedoch im Rahmen von ESPrit immer wieder reflektiert wurden. Der Beobachtungszeitraum erstreckte sich je nach Bank auf zwischen ein und zwei Jahre. Auf diese Weise konnte, wie zuvor bereits angedeutet, eine umfassende Datenerhebung zur Arbeitsweise innerhalb verschiedener Banken durchgeführt werden, so dass die Datenbasis der Forschung weit über die strategische Initiative ESPrit hinausgeht. 4.3.2 Datenerhebung Die Durchführung einer Einzelfallstudie legt die Verfahren zur Datenerhebung nicht von vornherein fest und lässt Forschenden eine gewisse Wahlfreiheit (Denzin und Lincoln, 2003). Es empfiehlt sich jedoch, unterschiedliche Instrumente zur Datenerhebung zu kombinieren. Insbesondere Beobachtungen und Interviews eignen sich, um ein tieferes Verständnis für eine Fallstudie aufzubauen. Empfohlen wird zur Ergänzung in der Regel auch die Analyse diverser Dokumente. 89 Die Erhebung von Daten aus derart unterschiedlichen Quellen, erlaubt es, ein umfassenderes Bild beobachteter organisationaler Prozesse zu erhalten (Pinfield, 1986). Gleichzeitig wird die Abhängigkeit von einzelnen Datenquellen reduziert. Unter Herannahme verschiedener Daten sinkt die Gefahr, dass der Forschende schwerwiegenden Fehlinterpretationen zum Opfer fällt, da er die Daten unterschiedlicher Quellen miteinander abgleichen kann. So ist es insbesondere möglich, direkte Beobachtungen durch Interviews oder informelle Gespräche gemeinsam mit Praxispartnern zu plausibilisieren. Auf der anderen Seite kann jedoch auch das Risiko bewusster Täuschungen oder unbewusster Falschaussagen von Interviewpartnern reduziert werden, wenn deren Angaben vor den Eindrücken umfassender feldnaher Beobachtungen interpretiert werden können und Dokumente zur Verifizierung von Aussagen zur Verfügung stehen. In der vorliegenden Arbeit wurde auf vier verschiedene Datenquellen gesetzt: Teilnehmende Beobachtungen, informelle Gespräche, halbstrukturierte Interviews und eine Dokumentenanalyse. Die Interviews wurden dabei vorwiegend gegen Ende des Forschungsprojektes geführt, während alle anderen Methoden zur Datenerhebung über den gesamten Forschungszeitraum parallel zueinander verliefen. Im Folgenden soll jede Methode der Datenerhebungen eingehender dargestellt werden. 89 Für eine ausführliche Diskussion der Nutzung verschiedener Methoden zur Datenerhebung vgl. z.B. Pettigrew, 1990; van de Ven, 1992; Yin, 1994. 114 Teilnehmende Beobachtungen Unter teilnehmenden Beobachtungen wird im Folgenden der direkte Zugang des Forscherteams zu Workshops, Arbeitssitzungen, Projektsitzungen oder sonstigen Terminen des Forschungspartners verstanden. Das entscheidende Merkmal dabei ist, dass die Termine nicht für die Forschenden organisiert wurden, sondern Termine der beobachteten Organisation waren, die ohnehin stattgefunden hätten, zu denen ein oder mehrere Forschende 90 jedoch eingeladen wurden, um beobachtend daran teilzunehmen. Ein solches Vorgehen ermöglichte die enge Beobachtung organisationaler Prozesse, die sich in der Praxis entfalten. Für das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von explorativer Forschung stellen die teilnehmenden Beobachtungen die zentrale Datenquelle innerhalb der durchgeführten Einzelfallstudie dar. Wie beschrieben sieht Yin (1999) den zentralen Mehrwert von Fallstudien in der Möglichkeit organisationale Abläufe in der Praxis zu beobachten. Teilnehmende Beobachtungen erlauben es einem Forschenden ein vielschichtiges Bild der beobachteten Praxis zu erhalten (Weick, 1999). Es können reichhaltige und umfangreiche Daten erhoben werden (Langley, 2009), die weit über die Möglichkeiten der Datenerhebung von Interviews, Fragebögen oder sonstiger Erhebungsformen hinausgehen. Der Vorteil teilnehmender Beobachtungen liegt insbesondere in der Möglichkeit, soziales Handeln in seinem Kontext zu beobachten (Flick, 2007). Unter Berücksichtigung dieses Kontexts lässt sich ein breiteres Verständnis für organisationale Abläufe gewinnen (Meredith, 1998). Ein Ausschließen von Kontext und eine Konzentration auf einen oder wenige Handelnde sind hingegen gefährlich, weil die Ergebnisse komplexer sozialer Prozesse dann oft einzelnen Individuen oder Handlungen zugeschrieben werden: “Within the logic of methodological individualism, it appears to make little sense and seems rather impractical to ask whether we would gain new insights if we thought of leadership and management as social processes, as phenomena embedded in social relationships defined by socially derived or constructed knowledge” (Dachler, 1992; S. 172). Es geht somit bei der Datenerhebung durch teilnehmende Beobachtungen im Rahmen dieser Arbeit nicht darum, einzelne Führungskräfte isoliert zu beobachten, um dadurch Rückschlüsse auf die Thematik der Führungslegitimität zu gewinnen. Vielmehr sollen eine breite Datenmenge und umfangreiche Eindrücke gewonnen werden, die es erlauben, Daten in ihrem sozialen Entstehungskontext einordnen zu können und somit sinnvoll interpretieren zu können: 90 Es sei nochmals auf Kapitel 4.3.1 verwiesen: Die überwiegende Zahl der teilnehmenden Beobachtungen wurden durch den Verfasser durchgeführt; Kontakte mit dem BVR sowie die Begleitung größerer Workshop-Veranstaltungen wurden in der Regel zu zweit durchgeführt. 115 „Kein Forschungsmaterial lässt sich von seinem Entstehungskontext abtrennen und man kann auch nicht so tun, als würde ein Material für sich bestehen. Gerade die Tragweite von Sinneinbettung und Kontextualisierung machen es nötig, die Produktion des Materials, den jeweiligen Verwendungszusammenhang und die Funktion für Forschungsaktivitäten in die Analyse einzubeziehen.“ (Lueger, 2000; S.90) Um ein hinreichend breites Kontextverständnis zu erwerben, ist es jedoch notwendig, dass der Forschende seine Beobachtungen in der „natürlichen Lebenswelt“ der Praktiker durchführt (Lamnek, 1995b; S. 240). Nur so besteht die Möglichkeit, dass dem Forscher Dinge auffallen, nach denen er eigentlich nicht gesucht hat, die jedoch als Kontext für das zu erforschende Phänomen von essenzieller Bedeutung sind. In der vorliegenden Arbeit gab es drei solcher natürlicher Beobachtungskontexte. Wie beschrieben, wurde eine Forschungspartnerschaft mit dem BVR in Begleitung zu der von ihm entworfenen strategischen Initiative ESPrit vereinbart. Hierbei bestand der erste Beobachtungskontext in der Begleitung des Projektteams ESPrit bestehend aus den verantwortlichen Personen des BVR und der unterstützenden Beratungsgesellschaft. Der zweite Beobachtungskontext war das ESPrit Projekt selbst, an dessen Modulen, wie zuvor geschildert, teilgenommen wurde. Der dritte Beobachtungskontext waren die begleitenden Beobachtungen innerhalb der ausgewählten sieben Banken. Alle drei Kontexte ermöglichten es, über eine ausgedehnte Zeitperiode Einblicke in die praktische Arbeitsweise von BVR und Banken zu erhalten und ihnen bei ihrer täglichen Arbeit „über die Schulter zu blicken“. Zwar gilt es als Forschender stets auch zu reflektieren, inwieweit teilnehmende Beobachtungen durch die Anwesenheit des Forschers einen Einfluss auf das Verhalten der beobachteten organisationalen Abläufe haben (vgl. Miles und Hubermann, 2005). Hierzu lässt sich jedoch zweierlei sagen. Zum einen wurde bereits mehrfach erwähnt, dass die Erschließung von Kommunikationsprozessen ein Einbezogensein des Forschers in diese erfordert. 91 Eine enge Beziehung zwischen Beobachter und beobachteten Organisationsmitgliedern wird somit eher zur Voraussetzung für Forschung als zu ihrem Hindernis. Van de Ven (2007) spricht hierbei von engaged scholarship. Auch Mohrman et al. (2001) heben insbesondere die Vorteile einer engen Zusammenarbeit zwischen Forschung und Beforschten hervor. Und Girtler (1988) kommt zu dem Schluss, dass es erst durch die hinreichende Nähe zum Untersuchungsobjekt gelingen könne, „die Alltagswirklichkeiten der betreffenden Menschen in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. Man nähert sich demnach der sog. Objektivität so viel eher, als wenn man distanziert beobachtet und Aufzeichnungen macht.“ (S. 64) 91 Vgl. Kapitel 4.1.2; insb. Rüegg-Stürm (2003) 116 Trotz möglicher Beeinflussungen ist somit die Nähe begleitender Beobachtungen die einzige Möglichkeit, sich sozialen Phänomenen wie Kommunikationsprozessen in ihrer reichhaltigen Komplexität anzunähern. Zum anderen wurde bereits betont, dass in den dieser Arbeit zugrunde liegenden Beobachtungskontexten die große organisationale Unabhängigkeit der beobachteten Organisationen die Gefahr deutlich milderte, dass diese ihr Verhalten aufgrund der Anwesenheit eines Forschenden dramatisch veränderten. Die Vertreter des BVR waren die alleinigen Empfänger der unmittelbaren aber anonymisierten Forschungsbeobachtungen zu ESPrit und als Auftraggeber der Studie interessiert an unverfälschten Ergebnissen. Den Banken konnte eine vollständige Vertraulichkeit aller Beobachtungen garantiert werden. Außerdem erlaubt ihnen ihre unabhängige Stellung gegenüber dem BVR eine relativ hohe Sorglosigkeit in Bezug auf Einblicke, die der BVR in ihre Prozesse erhalten könnte. Dies zeigte sich unter anderem auch im Rahmen von ESPrit, wo zum Teil lokale Probleme von Banken sehr offen thematisiert wurden 92 und auch jede Form von Feedback gegenüber dem BVR in der Regel äußerst offen ausfiel. Alle teilnehmenden Beobachtungen wurden unmittelbar schriftlich festgehalten und innerhalb weniger Tage in Feldtagebüchern elektronisch niedergeschrieben. Dabei gilt, dass „die Beobachtung flüchtiger Materialien irgendwann verschriftet oder aufgezeichnet werden [muss]. Die Protokollierung erzeugt kein Abbild der Realität, sondern generiert Sekundärmaterial, welches weitere Analysen ermöglicht“ (Lueger, 2000; S. 115). Bei den Feldtagebüchern handelt es sich somit um selektiv aus den Beobachtungen generiertes Sekundärmaterial, das als Gedächtnisstütze und für den Zweck weiterer Auswertungen eingesetzt werden kann. Im Verlauf der Forschungsarbeit entstanden hierbei über 100 Dokumente mit Eindrücken, Wahrnehmungen und Beschreibungen. Jedes Dokument umfasst dabei eine Beobachtungseinheit – eine Sitzung, ein Workshop-Tag, ein Termin, eine Mitarbeitermesse etc., zu der dem Forschenden Zugang gewährt wurde. Informelle Gespräche Als Datenquelle und als Instrument zur Pflege des Feldzugangs werden informelle Gespräche, die der Feldforscher während oder zwischen seinen Beobachtungen führt, zum Teil nicht sehr stark hervorgehoben. Hier sollen unter dieser Kategorie alle Kontakte mit Mitgliedern der VR-Organisation zusammengefasst werden, die nicht als teilnehmende Beobachtung oder formales Interview klassifiziert werden können. Diese Kontakte hatten für die vorliegende Forschung aus mehreren Gründen eine entscheidende Bedeutung. 92 z.B. FTB-002 117 Zuvorderst sind sie eine Möglichkeit, um Vertrauen zwischen dem Forschenden und den beobachteten Personen aufzubauen. Dies erwies sich auf verschiedenen Ebenen als sehr gewinnbringend für den Forschungsprozess. Nachdem die Forschungspartnerschaft mit dem BVR angeschlossen war, wurden die verschiedenen Teilnehmer des ESPrit-Projektes zwar darüber informiert, es blieben jedoch verschiedentlich offene Fragen. In Gesprächen zwischen den aktiven Workshop-Elementen beschrieb der Forschende den Teilnehmern mehrfach sein Forschungsvorgehen, den Hintergrund und die Verwertung von Beobachtungen, um so eventuell vorhandene Unsicherheiten in Bezug auf die wissenschaftliche Begleitforschung auszuräumen. In ähnlicher Weise geschah dies auch bei Beobachtungen innerhalb der einzelnen Banken, wo Mitarbeitern der Hintergrund der Beobachtungen, die Regeln der Vertraulichkeit etc. immer wieder in informellen Gesprächen dargelegt wurden. Auf diese Weise wurde der Forschende schneller als vertrautes Element in der Gruppe angesehen, was möglichen Beeinflussungen der beobachteten Prozesse entgegenwirkte. Darüber hinaus eignen sich informelle Kontakte auch ideal dazu, Beobachtungen zu plausibilisieren oder Unklarheiten auszuräumen. So konnte gerade zu Beginn der Forschung den komplizierten Beschreibungen der innerorganisatorischen Beziehungsnetzwerke in der VR-Organisation nur gefolgt werden, weil die Einzelheiten zeitnah mit verschiedenen anwesenden Personen besprochen werden konnten. Auch gezielte Nachfragen zu beobachteten Situationen halfen oftmals, diese besser zu verstehen oder sicherzustellen, dass gewonnene Eindrücke von verschiedenen Prozessbeteiligten geteilt wurden. Ebenfalls zentral für die vorliegende Forschung waren regelmäßige Telefongespräche mit Ansprechpartnern aus den begleiteten sieben Banken. Diese ermöglichten es auf effiziente Weise einen Kurzüberblick über aktuelle Entwicklungen zu erhalten, die sich zwischen verschiedenen Beobachtungsterminen ereigneten. Es wäre aus terminlichen und logistischen Gründen nicht möglich gewesen mit den Ansprechpartnern aller sieben Banken regelmäßig formale Interviews durchzuführen. Die kurzen informellen Kontakte halfen somit dabei, dass die Forschung sich nicht allein auf retrospektive Erzählungen im Rahmen später stattfindender Abschlussinterviews verlassen musste. Zentrale Aussagen aus Telefonaten wurden schriftlich festgehalten. Dokumentenanalyse Der Vorteil an Dokumenten ist ihre relativ einfache und komfortable Zugänglichkeit. Dafür können die aus Dokumenten gewonnenen Daten an Reichhaltigkeit in keiner Weise mit den zuvor beschriebenen Datenquellen konkurrieren. Darum kommt der Dokumentenanalyse in der vorliegenden Arbeit lediglich eine unterstützende Rolle 118 zu. Sie können sich jedoch in unterschiedlicher Hinsicht als sehr wertvoll herausstellen. Zum einen sind Dokumente eine ideale Quelle für Informationen, die leicht kodierbar sind. Dazu zählen zum Beispiel Informationen zu Unternehmensgröße, Teilorganisationen einer komplexen Unternehmensstruktur, Mitarbeiterzahlen etc. Die Aneignung solcher Informationen ist insbesondere zur Einarbeitung in einen Forschungskontext wertvoll, da somit bereits ein erstes Grundverständnis über den Kontext geschaffen werden kann, in dem nachfolgend Beobachtungen oder Interviews durchgeführt werden. Typische Informationsquellen dieser Art waren Geschäftsberichte, Leitbilder, Satzungen der Genossenschaftsbanken sowie weitere Veröffentlichungen, die zentrale Organisationseinheiten der VR-Gruppe regelmäßig publizieren, wie zum Beispiel Handbücher, Leitfäden etc. Hinzu kommen Förderbilanzen von Volksbanken, in denen ein Eindruck über die regionalen Tätigkeiten der jeweiligen Bank gewonnen werden kann. Des Weiteren eignen sich Dokumentenanalysen dort, wo durch Beobachtungen und Interviews bereits ein Verständnis für ein bestimmtes Thema und seinen Kontext aufgebaut werden konnte, diesen zu ergänzen und zu vervollständigen. Typische Dokumente dieser Art sind Präsentationen, Teilnehmerlisten, Emails, interne Veröffentlichungen zu konkreten Projekten oder Initiativen usw. All diese Dokumente sind ohne das entsprechende Kontextverständnis als äußerst problematisch einzuordnen, da eine hohe Gefahr bestehen würde, sie fehlzuinterpretieren. Liegt ein solches Kontextverständnis jedoch vor, können diese Dokumente sich als hilfreich erweisen, um ein bestehendes Verständnis zu erweitern. So werden zum Beispiel Zeiträume vor oder nach einer Beobachtungsphase zugänglich. Anhand von Teilnehmerlisten lässt sich erschließen, wer in ein Projekt zu welchem Zeitpunkt involviert war; und Präsentationen können auf Inhalte hinweisen, die später bei Beobachtungen erneut aufgetaucht sind. Besonders interessant wird die Analyse von Dokumenten insbesondere dort, wo klare Abweichungen zwischen Beschreibungen und Darstellungen in Dokumenten und den durch die Forschung angestellten Beobachtungen auffallen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn veröffentlichte Projektkonzepte von der Projektdurchführung abweichen, oder wenn formale Unternehmensstrukturen nicht mit beobachteten Strukturen übereinstimmen. Da Dokumente immer in einem gewissen Kontext und zu einem gewissen Zweck entstehen, lassen sich aus solchen Abweichungen zum Teil wertvolle Interpretationen oder Fragen ableiten. So können hier zum Beispiel Hinweise auf mögliche Erwartungsdifferenzen zwischen verschiedenen Akteuren innerhalb einer Organisation ausfindig gemacht werden, oder es können Hinweise auf politische Konstellationen oder Absichten ins Blickfeld rücken. 119 Halbstrukturierte Interviews Die letzte Datenquelle, die der durchgeführten Forschung diente, waren Interviews mit Mitgliedern von BVR, osb und Banken. Interviews eignen sich insbesondere, um die bereits beschriebenen Datenerhebungsmethoden zu ergänzen. Sie profitieren sehr stark von den Eindrücken und Kontextkenntnissen, die durch teilnehmende Beobachtungen aufgebaut werden konnten. Diese schaffen beim Forschenden die notwendigen Vorkenntnisse, um gute Fragen stellen zu können. Außerdem ist das durch Beobachtungen erarbeitete Kontextverständnis essenziell, um Antworten angemessen beurteilen und interpretieren zu können. Basierend auf diesen Vorkenntnissen, eignen sich Interviews hervorragend, um das Verständnis eines Forschenden für seine durchgeführten Beobachtungen zu verbessern und eine neue Perspektive auf bereits durchgeführte Beobachtungen zu erhalten (Lueger, 2000). So können vergangene Beobachtungen aus einem neuen Blickwinkel reflektiert werden. Beobachtungen und daraus abgeleitete Hypothesen können in Interviews durch gezielte Fragestellungen anhand der Antworten verschiedener Interviewpartner plausibilisiert werden. Außerdem können Eindrücke in Feldern erweitert werden, die bei Beobachtungen bereits als interessant eingestuft wurden, für die aber noch kein umfassendes Verständnis aufgebaut werden konnte. Zuletzt eigenen sich Interviews, um persönliche Meinungen und Einschätzungen von verschiedenen Organisationsmitgliedern in einem geschützten Raum zu gewinnen. Über den Lauf eines längeren Gesprächs können so Punkte zur Sprache kommen, die in Beobachtungssituationen oder kürzeren informellen Kontakten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu Tage getreten wären. Für eine theoriegeleitete Forschung eignen sich in erster Linie problemzentrierte Interviews (Witzel; 1982; Mayring, 2002). Die dieser Arbeit zugrundeliegende explorative Forschungsfrage legt zudem die Durchführung halbstrukturierter Interviews nahe (Bock, 1992; Lamnek, 1995b). Diese Interviews orientieren sich an einem Interview-Leitfaden, der sicherstellt, dass alle Interviews mit dem gleichen Themenschwerpunkt geführt werden. Hierdurch kann angestrebt werden, dass die Antworten der Befragten in einem gewissen Rahmen vergleichbar sind. Es wird zum Beispiel möglich, über mehrere Interviews hinweg festzustellen, welche Punkte von verschiedenen Interviewpartnern erwähnt oder für wichtig gehalten wurden. Auf der anderen Seite zeichnen sich habstrukturierte Interviews durch eine große Offenheit aus. Sie erlauben es dem Fragenden, auf die Befragten einzugehen, gewisse Themen spontan zu vertiefen und sich streckenweise von den Antworten der Befragten leiten zu lassen. Anders als bei der Abfrage standardisierter Fragebögen, gestattet die lose Orientierung an Leitfäden eine Anpassung an die unterschiedlichen Interviewpartner. Der Interviewte kann längere, natürliche Antworten geben. So meinte ein Interviewpartner am Ende des Gespräches auf die Frage, ob es für ihn noch offene Punkte gäbe: „Ich denke, ich habe so ausführlich 120 erzählt…“ 93, während ein anderer auf die gleiche Abschlussfrage meinte: „Ich bin ja ein sehr redseliger Mensch und habe auf Ihre offenen Fragen ja sehr offen auch schon geantwortet. Deshalb nein“94. Der Interviewte kann also selbst ins Erzählen kommen und damit eine authentische und unverfälschte Darstellung seiner Sicht der Dinge wiedergeben. Diese natürlichen und zum Teil spontan entstehenden Aussagen können später als Zitate zur Erstellung dichter Beschreibungen von Beobachtungen beitragen. Solche Zitate vermitteln dem Leser einen deutlich authentischeren Eindruck, als bloße Beschreibungen in der Sprache des Verfassers oder kurze, prägnante Antworten, die in das enge Korsett eines standardisierten Fragebogens gezwängt werden mussten. Insgesamt wurden 35 verschiedene Interviews durchgeführt. Alle Interviews fanden im natürlichen Arbeitsumfeld der Befragten statt. Dieser gewohnte Kontext kann dazu beitragen, dass sich Befragte sicherer fühlen und offenere Antworten geben. Interviewt wurden alle Personen des BVR, die am begleiteten ESPrit Projekt beteiligt waren, sowie die zwei verantwortlichen Berater der hinzugezogenen Beratungsgesellschaft. Ferner wurden die zwei ESPrit-Teilnehmer aller sieben näher begleiteten Banken interviewt sowie zusätzlich ausgewählte Mitarbeiter dieser Banken. Dies waren jeweils Mitarbeiter, die an strategischen Initiativen mitwirkten, die vom Forschenden beobachtend begleitet wurden. Alle Interviews dauerten ca. 40-80 Minuten und wurden vom Verfasser durchgeführt. In Ausnahmen wurden die Interviews vom Forscherteam durchgeführt und dauerten bis zu zwei Stunden 95. Die Struktur des Interviewleitfadens war stets gleichbleibend. Außerdem fanden die Interviews zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt. Die Interviews mit Mitarbeitern des BVR und der osb fanden in einem fortgeschrittenen Stadium des ESPrit-Projektes statt. Die Interviews mit den Bankangehörigen wurden später gehalten. Hier war das Ziel, die Interviewpartner zu befragen, nachdem das ESPrit Projekt bereits seit längerer Zeit abgeschlossen war. Ziel der Interviews war es nämlich nicht, die unmittelbaren Eindrücke von ESPrit zu sammeln, sondern einen Eindruck über die längerfristigen Einflüsse der Interaktionen zwischen BVR und den beobachteten Teilnehmerbanken zu gewinnen. Zu Beginn aller Gespräche wurde den Befragten der Kontext und der Hintergrund der Befragung dargestellt, auch wenn etliche bereits mit diesem vertraut waren. Außerdem wurden Ablauf und Struktur des Interviews kurz angesprochen. Ebenso wurde den Interviewpartnern die völlige Vertraulichkeit aller Informationen zugesichert. Anschließend folgte die Einführungsfrage, die es den Interviewpartnern erlaubte, ihren biografischen Werdegang zu schildern. Dies erwies sich zum einen als hilfreich, um den Befragten die Chance zu geben, mit der Interviewsituation vertraut zu werden. Zum anderen ermöglicht eine – wenn auch zwangsläufig nur 93 Int-25 Int-27 95 Int-3, Int-4, Int-5 94 121 oberflächliche – Kenntnis des Werdegangs eines Interviewpartners dem Forschenden eine bessere Basis, um dessen Antworten interpretieren zu können. Im konkreten Kontext der VR-Organisation war es speziell von Nutzen zu erfahren, ob der Befragte bereits Erfahrungen in mehreren Unternehmen der VR-Gruppe gesammelt hatte. Diese vernetzten Biografien zwischen VR-Banken, Beratungsgesellschaften und Verbänden traten mehrfach auf und erwiesen sich als besonders wertvoll, um ein tieferes Verständnis für die Führungsbeziehungen innerhalb der VR-Gruppe aufzubauen. Der Hauptteil des Interviews war unterteilt in zwei Abschnitte. Während des ersten Abschnitts wurden die Interviewpartner zu ESPrit und den daraus resultierenden Projekten in ihren Banken befragt. Der zweite Abschnitt konzentrierte sich etwas allgemeiner auf die grundsätzliche Zusammenarbeit zwischen Banken und dem BVR sowie das Verhältnis zu anderen Organisationseinheiten der VR-Gruppe. Dieser Aufbau wurde auch deshalb gewählt, um konkrete Fragen an den Anfang des Interviews stellen zu können, während abstraktere Themen erst gegen Ende des Gesprächs zur Sprache kamen. Zu diesem späteren Zeitpunkt waren Interviewer und Interviewter bereits besser miteinander vertraut und die Gesprächssituation hatte weitgehend an Normalität gewonnen. Abschließend wurde jedem Interviewpartner noch eine sehr offene Frage gestellt. Somit konnten sie nach eigenem Ermessen jegliches Thema aufgreifen, das für sie noch wichtig schien, oder das aus ihrer Sicht während des Interviews nur unzureichend behandelt worden war. Alle Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet und weitgehend vollständig und wörtliche transkribiert. Nach jedem Interview wurden zudem alle Eindrücke des Interviewers schriftlich festgehalten. Hierzu zählten Eindrücke nonverbalen Verhaltens von Interviewpartnern während des Gespräches, sowie interessante Aussagen, die nach dem Interview getroffen wurden. So stellten etliche Interviewpartner, nachdem das Tonband abgeschaltet war, noch Fragen zur Forschung, woraus sich zum Teil wertvolle Gespräche und zusätzliche Eindrücke entwickelten. 4.3.3 Auswertung der Daten und Rekonstruktion von Praxis „Im Fall flüchtiger Materialien resultiert die Verlässlichkeit des Beobachteten nicht einfach aus der Beobachtung oder der Präzision der Protokollierung, sondern lässt sich nur konstruktiv und argumentativ herstellen“ (Lueger, 2000; S. 137). Während die Methoden der Datenerhebung und die Stützung auf die beschriebene Methodenvielfalt zwar die Qualität des Forschungsprozesses steigern können, ist der entscheidende Part bei qualitativer Sozialforschung die nachvollziehbare und argumentativ gestützte Rekonstruktion von Praxis aus den erhobenen Daten. 122 Diese Rekonstruktion von Praxis wird von der Forschungsfrage geleitet, da sie den Fokus der Datenerhebung und Datenauswertung prägt. Es gilt, aus der Komplexität sich entfaltender Organisationsprozesse die Aspekte darzustellen, die für die Forschungsfrage von Interesse sind und diese anschließend angemessen zu interpretieren. Damit müsste man also richtigerweise von einer partiellen Rekonstruktion von Praxis sprechen, da eine 1:1-Rekonstruktion von Praxis ausgeschlossen ist. Der Forschungsschwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt in der Frage, welche Interventionspraktiken im vorliegenden organisationalen Kontext die ständige Neuerschaffung von Führungslegitimität ermöglichen. Operationalisiert wurde diese Frage durch die Unterscheidung zwischen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen. Es gilt deshalb zu rekonstruieren, welche Interventionspraktiken der BVR nutzt, um zu bewirken, dass er bei der Gestaltung von Entscheidungsprämissen lokaler VR-Banken über Mitwirkungsmöglichkeiten verfügt. In einem ersten Schritt soll hierzu eine dichte Beschreibung (Langley, 1999; RüeggStürm, 2003) der beobachteten Interaktionsdynamik im Rahmen von ESPrit erarbeitet werden. Basis hierfür sind die Feldbeobachtungen im Rahmen von ESPrit, die mit ESPrit in Verbindung stehenden Dokumente sowie die auf ESPrit bezogenen Teile der durchgeführten Interviews. Aus dieser dichten Beschreibung werden anschließend unter Hinzunahme der weiteren gesammelten Daten die charakteristischen, Legitimität stiftenden Interventionspraktiken des BVR abgeleitet und beschrieben. Erstellung einer dichten Beschreibung Der Begriff der dichten Beschreibung (thick description) entstammt ursprünglich der Ethnologie, wurde jedoch – unter anderem von den zuvor erwähnten Autoren – auf das Feld der Wirtschaftswissenschaften übertragen. Der Kern solcher Beschreibungen ist es, beobachtetes Verhalten sozialer Interaktion gemeinsam mit dem Kontext zu beschreiben, in dem dieses Verhalten stattfand. Erstmals benutzt wurde der Begriff der dichten Beschreibung von Ryle (1968; 2009), der die Notwendigkeiten zur Wiedergabe des Kontexts mit einem relativ simplen Beispiel beschreibt: Er stellt sich zwei Jungen vor, von denen einer unbeabsichtigt mit dem Augenlid zuckt, während der andere durch ein gewolltes Zwinkern jemandem ein Zeichen gibt. Beide Jungen machen somit das gleiche, sie zucken mit dem Augenlid. Erst der Kontext, in dem dieses Zucken erfolgt, ermöglicht eine Unterscheidung und ein adäquates Verständnis für das, was tatsächlich geschieht. 96 96 Zur Bedeutung von Kontext zur Rekonstruktion sozialer Prozesse siehe Kapitel 4.2.1 123 Aus diesem Grund sollte sich die ethnographische Forschung bei der Beschreibung sozialen Verhaltens laut Ryle auf dichte Beschreibungen stützen. Dieses Konzept der dichten Beschreibung wurde von Geertz (1973; 1983) weiter ausgearbeitet. Er beschreibt sie als den Kern ethnologischer Forschungsarbeit: „Die Ethnographie ist dichte Beschreibung. Das, womit es der Ethnograph tatsächlich zu tun hat […] ist eine Vielfalt komplexer, oft übereinandergelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind und die er zunächst einmal irgendwie fassen muss.“ (Geertz, 1983; S. 15) Dichte Beschreibungen sind eine Möglichkeit, dem Leser einen Eindruck des beobachteten Verhaltens zu vermitteln. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine objektive und neutrale Vermittlung von Realität, denn „ethnologische Schriften sind selbst Interpretationen und obendrein solche zweiter und dritter Ordnung. […] Sie sind Fiktionen, und zwar in dem Sinne, dass sie etwas Gemachtes sind, etwas Hergestelltes“ (Geertz, 1983; S. 22 f.). In der Begrifflichkeit dieser Arbeit ist von wissenschaftlichen Konstruktionen zu sprechen, bzw. Rekonstruktionen sozialer Kommunikationsprozesse. Die Arbeit mit dichten Beschreibungen hat in Bezug auf die Erforschung komplexer sozialer Prozesse zwei wesentliche Stärken. Zum einen ermöglichen solche Beschreibungen dem Leser, die späteren Interpretationen und Schlussfolgerungen des Verfassers nachzuvollziehen und geben ihm auch die Freiheit, eigene, davon abweichende, Schlussfolgerungen zu ziehen. Da die Beobachtung organisationaler Praxis keine messbaren und wiederholbaren Experimente erlaubt, wird mittels dichter Beschreibungen die notwendige Nachvollziehbarkeit der beschriebenen Forschungsergebnisse sichergestellt. Mindestens genauso wichtig sind die dichten Beschreibungen jedoch für den Forschenden. Durch die Erstellung solcher Beschreibungen wird es dem Forschenden selbst möglich, ein besseres Verständnis für die seinen Daten zugrundeliegenden Prozesse zu erarbeiten. Es bildet sich im Prozess ihrer Erstellung ein beschreibendes Verständnis (Pettigrew, 1985b). Der Prozess, in dem das reichhaltige Material zu dichten Beschreibungen gefügt wird, ist für den Autor ein Sensemaking Prozess. Die Strukturierung der Vielzahl von Daten unter Berücksichtigung des erlebten Kontextes sorgt für eine Systematisierung des Datenmaterials, auf dessen Basis nachfolgend Interpretationen angestellt werden können 97 . Das Verdichten der Daten zu einer dichten Beschreibung ist dabei ein 97 Unterstützt werden kann ein solcher Prozess typischerweise auch durch eine formale Kodierung (z.B. Lueger, 2000). Die Kodierung selbst erlaubt jedoch keine Hinweise auf mögliche angemessene Interpretationen. „Forschungsgegenstände erlangen nur in ihrem Kontext Bedeutung“ (Lueger, 2000; S. 36). Dies liegt vor allem daran, dass es sich bei Aufzeichnungen von Feldtagebüchern und selbst 124 mehrstufiger Prozess, der die wiederholte Betrachtung aller zusammengetragenen Materialien wie Feldtagebücher, Transkriptionen, Dokumente etc. umfasst. In der vorliegenden Arbeit wurde dieser Prozess zudem durch die regelmäßige Diskussion der Daten im Forscherteam unterstützt, die im Zusammenhang mit der Erstellung eines wissenschaftlichen Artikels stattfanden. Bei der Erstellung der dichten Beschreibung der Forschungsbeobachtungen soll dabei Geertz‘ (1983) vier zentralen Merkmalen einer solchen Beschreibung gefolgt werden: „Sie ist deutend Das, was sie deutet, ist der Ablauf des sozialen Diskurses Das Deuten besteht darin, das „Gesagte“ eines solchen Diskurses dem vergänglichen Augenblick zu entreißen Sie [ist] mikroskopisch“ (S. 30) Im Kern der Dichten Beschreibung stehen somit jene Elemente eines sozialen Diskurses, die über den vergänglichen Augenblick hinaus von Bedeutung scheinen. Trotz dieses Interesses an allgemeiner Bedeutung bleibt die dichte Beschreibung mikroskopisch, weil die intensive Beobachtung und Beschreibung einzelner sozialer Interaktionen die Basis für die umfassenderen Interpretationen darstellen. Dass eine dichte Beschreibung unumgänglich auch deutend sein muss und keine „objektive“ Darstellung sein kann, lässt sich bereits damit begründen, dass jede Verdichtung von Daten stets zur Selektion zwingt. 98 Der Vorteil dichter Beschreibungen liegt darin, dass sie die Daten weniger umfassend ihrer Reichhaltigkeit beraubt als dies bei Verdichtungen im Rahmen quantitativer Forschungsmethoden der Fall ist. Dichte Beschreibungen stellen Beobachtungen äußerst umfassend dar und betten sie in ihre jeweiligen Praxiskontexte ein. Dennoch bei Interview-Transkriptionen, wie zuvor beschrieben, um Sekundärmaterial handelt. Es ist nicht möglich, die gesamten Beobachtungen einer Beobachtungssituation niederzuschreiben und auch eine Transkription kann nicht die vollständige Situation eines Interviews wiedergeben. Deshalb sind Analysen dieses Sekundärmaterials ohne Einbezug des breiteren Kontextverständnisses, das der Forschende während seiner Feldarbeit aufgebaut hat, notwendigerweise limitiert. Auch werden Erkenntnisse basierend auf einer formalen Kodierung und softwaregestützten Auswertung nicht zwangsläufig „objektiver“. Dies liegt zum einen an der hohen Gestaltungsmöglichkeit bei der Vergabe von Codes. Zum anderen gilt insbesondere für Interviews zu beachten, dass standardisierte Datenauswertungsverfahren nur objektivierend wirken, wenn man von übereinstimmenden Symbolsystemen zwischen Interviewern und Interviewten ausgeht (Osterloh, 1993). Darüber hinaus kann Verfahren der formalen Kodierung vorgeworfen werden, dass sie reichhaltige Daten durch einen quasi-quantitativen Ansatz eines Teils ihres Wertes berauben und dekontextualisieren. Damit werden entscheidende Vorteile eines Fallstudienvorgehens und teilnehmender Beobachtungen untergraben (siehe z.B. Dyer und Wilkins, 1991). Aus diesen Gründen wurde in der vorliegenden Arbeit auf eine formale Kodierung verzichtet. 98 Dies ist im Übrigen gerade bei den als objektiv geltenden quantitativen Forschungsansätzen innerhalb der Sozialwissenschaften der Fall, bei denen die Abstraktion komplexer sozialer Prozesse auf wenige Kennzahlen erfolgt. Eine derartig selektive Verdichtung ist stets deutend, auch wenn dies nicht beabsichtigt ist. 125 findet auch hier unweigerlich ein Verlust aufgrund von Selektion statt. 99 Diese zwangsläufigen Selektionen werden dabei von der Forschungsfrage geleitet. Somit werden insbesondere die Gegebenheiten dargestellt, die aus Sicht des Forschenden für ein Verständnis der Interventionspraktiken des BVR und des Kontexts, in dem diese stattfinden, relevant sind. Dabei soll jedoch versucht werden, einseitige Verzerrungen in der Darstellung der Beobachtungen zu vermeiden. Hierfür ist, wie zuvor beschrieben, die Stützung auf unterschiedliche Datenquellen hilfreich, die eine Triangulation erlaubt (Pettigrew, 1990). Die Stützung auf Beobachtungen in verschiedenen Teilorganisationen der VR-Gruppe, sowie insbesondere Nutzung unterschiedlicher Methoden der Datenerhebung führen zu einer „systematischen Variation des Forschungsprozesses, um immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen“ (Lueger, 2000; S. 81f.). Durch die Betrachtung der Praxis aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Methoden wird es möglich, eine umfassendere Beschreibung von Prozessen zu schaffen, die nicht nur auf isolierten Eindrücken basiert. Dennoch ist abschließend nochmals festzuhalten, dass auch eine umfangreiche Triangulation nicht zur Schaffung von Objektivität führen kann. Wie bereits zu Beginn des Kapitels dargestellt, behandelt die systemtheoretisch-konstruktivistische Forschung stets Konstruktionen, die keine objektive Realität abbilden. Ein Forschender trifft zwangsläufig und unablässig Selektionsentscheidungen darüber, was eingeschlossen und was ausgeschlossen werden soll. Diese Entscheidungen werden vom Aufmerksamkeitsfokus des Beobachters und seinem Vorverständnis der beobachteten Situation ebenso geprägt, wie von seinem Forschungsinteresse. Dieses bereits bestehende Verständnis und Interesse lassen gewisse Aspekte als irrelevant erscheinen, während andere Aspekte durch Einbettung in und Anschlussfähigkeit an einen bestehenden Sinnzusammenhang beachtet werden und die Aufmerksamkeit des Beobachters erhalten. „Deshalb gehört zum Beobachten notwendigerweise das Verständnis oder die zutreffende Interpretation des subjektiven Sinns und der sozialen Bedeutung einer bestimmten Handlung oder Verhaltenssequenz“ (Mayntz et al., 1974; S.87). Auch wenn Beobachtung ohne Interpretation unmöglich ist 100 und damit vollständige Objektivität ausgeschlossen ist, kann die beschriebene Triangulation dabei helfen, dass aus der zwangsläufigen Subjektivität dichter Beschreibungen keine Willkür wird. 99 Aus systemtheoretischer Perspektive setzt sich Kommunikation zwangsläufig aus 3 Selektionen zusammen. Die dritte Selektion ist das Verstehen, das beim Empfänger von Kommunikation stattfindet. Für die hier aufgeführte Argumentation sind die ersten beiden Selektionen entscheidend: Die Selektion von Information und die Selektion von Mitteilung: Es muss unweigerlich selektiert werden, welchen Daten ein Informationswert beigemessen wird und was davon mitteilenswert erscheint. Darum ist jede Beschreibung bereits im Prozess des Beschreibens in doppelter Weise selektiv (Luhmann, 1987). 100 Vgl. auch Geertz (1983, S. 14): „Das, was wir als unsere Daten bezeichnen, [ist] in Wirklichkeit unsere Auslegung davon […], wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen. 126 Die wird ermöglicht, weil der Forschende seine Eindrücke aus bestimmten Daten stets erneut gegen die aus weiteren Quellen und durch andere Methoden gewonnenen Daten spiegelt. Im Wissen, dass Konstruktionsprozesse keine objektiven Wiedergabeprozesse sind, ist es entscheidend, dass der Forschende auf diese Weise den sich vollziehenden Konstruktionsprozess ständig reflektiert (Kubicek, 1977). Praktisch gesprochen bedeutet dies, dass die Beobachtungen zu einem konkreten Zeitpunkt mit weiteren Beobachtungen sowie anhand der Daten aus Interviews und Dokumenten immer wieder plausibilisiert werden. Ein so angelegter, mehrstufiger Konstruktionsprozess erlaubt die Erstellung von dichten Beschreibungen auf der Basis ständiger Reflexion und Plausibilisierung. In der vorliegenden Arbeit wurde dieser Prozess dadurch unterstützt, dass für den BVR drei Berichte von Seiten der Forschung zu ESPrit angefertigt wurden. 101 Diese wurden anschließend mehrfach zwischen dem Forscherteam und dem BVR diskutiert. Auf diese Weise konnten die angefertigten Beschreibungen anhand schriftlicher Artefakte in gemeinsamen Diskursen plausibilisiert werden. Außerdem konnten die in einem fortgeschrittenen Stadium des Forschungsprozesses durchgeführten Interviews mit den Mitgliedern der unterschiedlichen Banken ebenfalls als eine weitere Quelle für eine kritische Reflexion der bis anhin erstellten Rekonstruktionen der beobachteten Organisationsprozesse genutzt werden. Und abschließend stellte die gemeinsame Erarbeitung eines wissenschaftlichen Artikels durch das Forscherteam die Möglichkeit bereit, Daten und deren Interpretationsmöglichkeiten in mehreren Iterationsschlaufen zu diskutieren und zu reflektieren. Ableitung von Erkenntnissen aus der dichten Beschreibung Bei der Erarbeitung dichter Beschreibungen gilt es trotz der Selektivität jedes Beschreibens darauf zu achten, die beobachteten organisationalen Abläufe möglichst frei von tiefgehenden Interpretationen und Wertungen zu beschreiben. Deshalb lassen sich dichte Beschreibungen auch als Konzepte erster Ordnung begreifen (vgl. Bucher, 2011). Die Schlüsse und Interpretationen, die ein Forschender aus den gesammelten Daten gewinnt, können als Konzepte zweiter Ordnung bezeichnet werden. Es gilt hier nun darzustellen, wie der Schritt von Konzepten erster Ordnung zu Konzepten zweiter Ordnung vollzogen wurde. Wie bereits zuvor beschrieben, lässt sich Kommunikation nach einem systemtheoretischen Verständnis nicht direkt beobachten, sondern muss erschlossen werden. Dies lässt sich an Tuckermanns (2007) Vorgehen zur Rekonstruktion von Veränderungsprozessen illustrieren: 101 Dok-087, Dok-088, Dok-089 127 „Von systemtheoretischer Seite aus [wird] bei der Rekonstruktion des Veränderungsprozesses [ausgelotet], welche Bedeutung bestimmte Kommunikationen für die jeweiligen Beteiligten haben. Dann lässt sich rekonstruieren, auf welche Art und Weise die unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven aufeinander Bezug nehmen und welche Kommunikationsdynamik sich daraus entwickelt.“ (S. 112 f.) In ähnlicher Weise soll hier verfahren werden. Um zu verstehen, wie es dem BVR gelingt, im heterarchischen Organisationskontext der VR-Gruppe seine Führungslegitimität ständig neu zu erschaffen, sollen die für ihn charakteristischen Interventionspraktiken identifiziert werden. Dazu ist es nötig, die Kommunikationsdynamiken zwischen BVR und Banken zu rekonstruieren. Hierbei dient die Erstellung einer dichten Beschreibung in Kapitel 6 dazu, Kommunikationsund Interaktionsprozesse zu erschließen, während aus dieser Beschreibung in Kapitel 7 die diversen Interventionspraktiken des BVR abgeleitet werden. Dabei soll die Darstellung in Kapitel 7 jedoch über eine reine Nennung von Interventionspraktiken hinausgehen. Der Schwerpunkt liegt auf der Feststellung welche Interventionspraktiken für den BVR charakteristisch sind und in einer Beschreibung welche Kommunikationsdynamiken zwischen BVR und Banken diese nach sich ziehen. Somit wird das gesammelte empirische Material in Bezug auf folgende drei forschungsleitenden Fragen analysiert: 1) Welche Interventionspraktiken des BVR lassen sich im Rahmen des über zwei Jahre ablaufenden ESPrit-Projektes identifizieren? 2) Welche Beobachtungen und Interviewaussagen weisen darauf hin, dass die beobachteten Interventionspraktiken charakteristisch für die generelle Arbeitsweise des BVR sind und keine Besonderheiten von ESPrit darstellen? 3) Welche Art von Zusammenspiel ergibt sich zwischen den identifizierten Interventionspraktiken und welche Kommunikationsdynamiken ergeben sich hierdurch zwischen Entscheidungen des BVR und Entscheidungsprämissen der Banken? Die erste genannte Frage verweist nochmals auf den Forschungsfokus im Zusammenhang mit Führungslegitimität. Dieser liegt auf identifizierten und rekonstruierten Interventionspraktiken des BVR. Andere Einflüsse auf die Führungslegitimität des BVR – zum Beispiel Beziehungskonstellationen zwischen Personen; strukturelle Relationen; Unternehmenskultur und Werte, etc. – werden ausdrücklich ausgeklammert und nur so weit wieder in die Forschungsbetrachtung eingeführt, wie diese für das Verständnis unterschiedlicher Interventionspraktiken 128 unentbehrlich sind. Dies ist für das Forschungsvorgehen entscheidend, da der Begriff der Führungslegitimität, wie zuvor beschrieben, nur recht schwer greifbar ist und trotz der Operationalisierung mithilfe der Unterscheidung zwischen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen eine klare Einschränkung des Beobachtungsfokus erforderlich ist, da ansonsten die Breite der Betrachtung einer detaillierten Analyse im Weg stehen würde. Die Abgrenzung und Benennung verschiedener Interventionspraktiken ist dabei eine durch das Forscherteam getroffene Unterscheidung. Es wird hierbei Spencer-Browns (1969) Verständnis von Unterscheidung und Bezeichnung gefolgt. Demnach ist es die Aufgabe der Forschenden aus dem Strom der beobachteten organisatorischen Prozesse, Unterscheidungen zu treffen, wie gewisse Interventionspraktiken abgegrenzt werden können und diese jeweils zu bezeichnen. Wenn im Rahmen dieser Arbeit somit von Interventionspraktiken gesprochen wird, handelt es sich dabei nicht um feststehende Entitäten, sondern ebenfalls um Konstruktionen. Diese ermöglichen es, der uniform ablaufenden Praxis Sinn abzugewinnen und können als Ausganspunkte für anschließende Beobachtungen und Interpretationen genutzt werden. Die Definition der unterschiedlichen Interventionspraktiken erfolge dabei im Laufe der Zeit und wurde iterativ weiterentwickelt. Dieser Prozess wurde unter anderem auch durch die regelmäßigen Interaktionen zwischen Forschung und BVR bereichert. Die finale Beschreibung der unterschiedlichen Interventionspraktiken erfolgte auf der Basis des in der dichten Beschreibung 102 strukturierten Datenmaterials und wurde innerhalb des Forscherteams in einem iterativen Prozess mehrfach reflektiert und angepasst. Alle Interventionspraktiken wurden mit diversen beobachteten Beispielen hinterlegt, damit ihre empirische Herleitung hinreichend nachvollzogen werden kann. Die zweite forschungsleitende Frage grenzt das Spektrum der intensiver zu betrachtenden Interventionspraktiken ein. Da in der vorliegenden Arbeit der Frage nachgegangen werden soll, welche dieser Praktiken typischerweise zur kontinuierlichen Rekonstruktion der Führungslegitimität des BVRs dienen, ist es notwendig, den Interventionspraktiken ein geringeres Gewicht zu geben, die ESPritspezifisch zu sein scheinen. Hinweise hierauf ergaben sich aus diversen Datenquellen. Zum einen nutzte der BVR das ESPrit Projekt als Plattform, um weitere BVR-Initiativen 103 vorzustellen und zu beschreiben. Zum anderen boten die regelmäßigen Kontakte mit dem BVR bei den ESPrit-Projektsitzungen sowie die Interviews mit BVR-Mitarbeitern eine Chance, die Arbeitsweise des BVR besser kennen zu lernen. Außerdem konnte der Verlauf unterschiedlicher BVR-Projekte auch mithilfe von Dokumenten rekonstruiert werden. 102 Siehe Kapitel 6. z.B. PROFI, VR-Finanzplan, Marke 2000; vgl. Kapitel 7 103 129 Eine weitere wichtige Datenquelle waren die Beobachtungen in den Banken selbst. Hier konnten neben ESPrit unterschiedliche Beispiele angetroffen werden, wie BVRInitiativen diverser Fachräte ausgestaltet waren und wie sie von den Banken aufgenommen wurden. Ferner wurde während der Interviews mit Mitarbeitern aus den Banken stets die Arbeitsweise des BVR explizit adressiert. Basierend auf diesen Daten wurde ein Selektionsverfahren in Anlehnung an Denis et al. (2000) angewendet: „Only observations that are explicitly supported by at least three data sources are reported in this paper” (S. 1070). In der Vorliegenden Arbeit werden deshalb lediglich Interventionspraktiken näher beleuchtet, die neben ihrer Präsenz im Rahmen des ESPrit Projektes auch in mindestens zwei weiteren BVR-Interaktionen mit Banken beobachtet oder durch Interviews erschlossen werden konnten. Basierend auf dieser Eingrenzung auf charakteristische Interventionspraktiken des BVR soll mithilfe der dritten forschungsleitenden Frage die Kommunikationsdynamik näher beleuchtet werden, die die geschilderten Interventionspraktiken in ihrem Zusammenspiel ermöglichen. Zwar kann die Führungsposition, die der BVR innerhalb der VR-Gruppe seit Jahren aufrecht erhält, bereits als Hinweis darauf gedeutet werden, dass die von ihm genutzten Interventionspraktiken dazu geeignet sind, seine Führungslegitimität kontinuierlich neu zu erschaffen. Es soll jedoch im Rahmen dieser Arbeit genauer beschrieben werden, wie die verschiedenen Interventionspraktiken dies in einem heterarchischen Organisationskontext ermöglichen. Der Schlüssel für diese Betrachtung ist die in Kapitel 3 beschriebene Unterscheidung zwischen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen. Führung auszuüben bedeutet für den BVR, dass zumindest ein Teil seiner Entscheidungen von Banken in Form von Entscheidungsprämissen genutzt werden. Die dritte forschungsleitende Frage zielt darauf ab zu untersuchen, welche durch die Interventionspraktiken des BVR geförderten Kommunikationsdynamiken dies ermöglichen. Es wird insbesondere zwischen direkter und indirekter Kommunikation sowie zwischen inhaltsbezogener und beziehungsorientierter Kommunikation unterschieden. Auch zur Beantwortung dieser Frage soll die dichte Beschreibung des Verhaltens von BVR und Banken während des ESPrit-Projektes dienen. Stärker als zuvor kommen hierbei jedoch auch die Beobachtungen innerhalb der sieben Banken ins Spiel, die als Forschungspartner gewonnen werden konnten. Hier lässt sich aus der beobachteten Arbeit von Projektgruppen ein detailliertes Bild davon gewinnen, in welcher Form der BVR bei lokalen Entscheidungsprozessen von Banken eine Rolle spielen kann und in welcher Form er hier in einen Ko-Kreationsprozess mit den Banken eintreten kann. Unterstützt wird diese Beurteilung von den verschiedenen Interviews mit Mitarbeitern und Vorständen von Volksbanken. 130 Zusammenfassung Das entscheidende Qualitätskriterium bei der Auswertung qualitativer Prozessdaten ist die Nachvollziehbarkeit dieser Auswertung für den Leser. Jede Interpretation und jede Beschreibung sich entfaltender Prozesse in komplexen Systemen ist eine kontingente Konstruktion des Autors, die unter Ausschluss von Vielem nur Weniges beschreibt. Diese Konstruktion ist deshalb kontingent, weil sie auch anders ausfallen hätte können. Und kein zweiter Beobachter würde sie auf identische Weise konstruieren. Aus diesem Grund geht es bei der Auswertung von Prozessdaten nicht darum, einen Wahrheitsanspruch aufzustellen, sondern darum, dem Leser eine plausible Begründung für die erarbeitete Konstruktion zu bieten. Eine solche Plausibilität ergibt sich in erster Linie aus der Nachvollziehbarkeit des Auswertungsprozesses, da sie es dem Leser ermöglicht, den erstellten Beschreibungen und den daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zustimmen oder widersprechen zu können. Dies gelingt hingegen nur, wenn der Leser in die Lage versetzt wird, sich selbst durch die Beschreibung des empirischen Materials in die Rolle des Beobachtenden zu versetzen und somit selbst gleichsam mit der beschriebenen Fallstudie in Berührung kommt: „Wir haben die Triftigkeit unserer Erklärung nicht nach der Anzahl uninterpretierter Daten und radikal verdünnter Beschreibungen zu beurteilen, sondern danach, inwieweit ihre wissenschaftliche Imagination uns mit dem Leben von Fremden in Berührung zu bringen vermag“ (Geertz, 1983; S. 24). Diese Nachempfindbarkeit und damit auch Nachvollziehbarkeit für den Leser wird in der vorliegenden Arbeit unter anderem durch die Differenzierung zwischen Konzepten erster Ordnung und Konzepten zweiter Ordnung erzielt. In einem ersten Schritt werden in Kapitel 6 die umfangreichen Prozessdaten zum ESPrit Projekt des BVR systematisiert und zu einer dichten Beschreibung kondensiert, die die gesammelten Prozessdaten eingebettet in ihrem organisationalen Kontext wiedergibt. Die dichte Beschreibung stützt sich zum einen auf eine breite Datenbasis aus diversen Datenquellen. 104 Zum anderen wurde die Beschreibung der Beobachtungen durch die Erstellung schriftlicher Artefakte plausibilisiert. Diese Artefakte in Form eines Zwischen- und eines Abschlussberichts wurden in einem ersten Schritt vom Forscherteam miteinander abgestimmt und in einem zweiten Schritt mit Projektverantwortlichen von BVR und osb debattiert. Beide Berichte flossen in die Erstellung der nachfolgenden dichten Beschreibung ein. Der Anspruch bei der Erstellung einer dichten Beschreibung ist es, Beobachtungen in ihrem Kontext wiederzugeben. Dies kann zum Beispiel unterstützt werden, indem Zitate aus Interviews aufgeführt werden, oder von den Beobachteten benutzte Begriffe verwendet werden. Zu beachten ist dabei jedoch, dass der dargestellte Kontext immer selektiv und stark eingeschränkt ist. Es findet zwangsläufig eine 104 vgl. Kap. 4.3.2 131 doppelte Selektion von Information und Mitteilung statt. Der Ersteller einer dichten Beschreibung muss demnach deuten, welche Kontextinformationen für das Verständnis des von ihm beobachteten Verhaltens für den Leser relevant sind. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde versucht, diese Selektionen so zu treffen, dass der Leser sich ein umfassendes Bild der ablaufenden Interaktionen zwischen BVR und Banken erschließen kann. Aus der dichten Beschreibung werden anschließend unterschiedliche Interventionspraktiken des BVR abgeleitet. Diese werden in Kapitel 7 dargestellt und ihr Einfluss auf die Kommunikationsdynamik zwischen Entscheidungen des BVR und Entscheidungsprämissen innerhalb von Volksbanken wird herausgearbeitet. Dabei kommt neben dem in der dichten Beschreibung verarbeiteten Material auch die umfangreiche Datenmenge an Prozessdaten aus den Beobachtungen innerhalb der sieben zuvor genannten Banken zum Einsatz. Auf diese Weise wird dargestellt, wie es dem BVR mithilfe seiner charakteristischen Interventionspraktiken gelingt, seine Führungslegitimität kontinuierlich neu zu erschaffen. 4.4 Der Forschungsprozess als iterativer Entwicklungsprozess Die logisch aufeinanderfolgende Darstellung von Beobachtungen und Schlussfolgerungen im Rahmen von wissenschaftlichen Publikationen lässt Forschungsprozesse oftmals erscheinen, als seien sie gut strukturiert, sorgfältig im Voraus geplant und entsprechend dieser Planungen umgesetzt worden. Derartige Forschungsprozesse sind zwar möglich, beschränken sich aber in der Regel auf quantitative Forschungsansätze, bei denen a priori definierte Hypothesen mit entsprechend designten Experimenten überprüft werden. Für die qualitative Sozialforschung ist ein solch planmäßiges und im Voraus strukturiertes Vorgehen unrealistisch (Diekmann, 1995). Oftmals stehen Forschungsfrage, Datenerhebungsmethoden und theoretische Fundamente zu Beginn eines Forschungsprozesses noch nicht fest oder werden über den Verlauf der Zeit nachjustiert. Das explorative Forschungsvorgehen im Rahmen dieser Arbeit folgte einer reflexiven Methodologie (Alvesson und Sköldberg, 2001). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass Datenerhebung und Datenauswertung nicht strikt voneinander getrennt sind. „Data collection, data analysis and conceptual development [proceed] iteratively“ (Denis, Langley und Pineault, 2000). Der Vorteil eines solchen Vorgehens ist, dass basierend auf den kontinuierlichen Phasen der Datenauswertung forschungsleitende Fragestellungen präzisiert werden können und der Fokus nachfolgender Beobachtungen nachjustiert werden kann. Ebenso können genutzte theoretische Grundlagen und abgeleitete Konzepte über die Zeit verändert werden, um so dem gesteigerten Erkenntnisstand der Forschenden Rechnung zu tragen. Aus diesem 132 Grund empfiehlt es sich, bei einem qualitativen Forschungsvorgehen bereits zu einem frühen Stadium des Forschungsprozess die gesammelten Daten immer wieder zu analysieren (Strauss, 1998). Wie für den gesamten Forschungsprozess gilt jedoch, dass die Nachvollziehbarkeit ein zentrales Gütekriterium qualitativer Sozialforschung bleibt. Deshalb wird an dieser Stelle Breuer (2009) gefolgt, der die Reflexion und offene Darlegung des Forschungsprozesses selbst für einen wichtigen Bestandteil qualitativer Sozialforschung hält. Dieser Reflexionsprozess, aus dem ersichtlich wird, wie Forschungsfokus und theoretische Konzepte über die Zeit des Forschungsprozesses zum Teil stabil blieben, zum Teil aber auch angepasst und nachjustiert wurden, soll im Folgenden nachvollziehbar dargestellt werden. Dabei wird im Einzelnen darauf eingegangen, wie das empirische Vorgehen, Forschungsfrage und Forschungsfokus der Arbeit, sowie der zugrunde liegende Anschluss an verschiedene Wissenschaftsdebatten sich über die Zeit entwickelt haben. Bevor diese drei Felder im Detail analysiert werden, sei jedoch auf die durchgängige Konstante der vorliegenden Forschungsarbeit hingewiesen: Von Anfang bis Ende des Forschungsprozesses unverändert blieb die systemtheoretische Verortung der Forschung, wobei darunter eine Stützung auf die neuere Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1984) verstanden wird. Die Systemtheorie kann somit als Fundament des Forschungsdesigns sowie als Basis der Rezeption weiterer, in der Arbeit integrierter Theorien verstanden werden. Außerdem prägte das systemtheoretische Verständnis des Autors dessen empirische Beobachtungen und deren Interpretation. Entwicklung des empirischen Feldzugangs über die Zeit Der empirische Feldzugang wurde wie beschrieben von Seiten des BVR initiiert. Für den Verfasser dieser Arbeit bot sich somit die Möglichkeit zur Erhebung reichhaltiger empirischer Daten in einem außergewöhnlichen Organisationskontext. Das Forschungsdesign war aus diesem Grund offen und explorativ angelegt. Zu Beginn bestand die Möglichkeit, empirische Beobachtungen bei Workshop-Modulen des ESPrit-Projektes sowie bei Projektsitzungen von BVR und osb durchzuführen. Dieser empirische Fokus konnte nach kurzer Zeit erweitert werden. Um die Arbeitsweise von verschiedenen Banken im Zusammenhang mit strategischen Initiativen besser verstehen zu können, wurden mithilfe des BVR vier Banken als zusätzliche Forschungspartner gewonnen, bei denen vor Ort empirische Beobachtungen durchgeführt werden konnten. Nachdem im Verlauf der Forschung der Forschungsfokus und die Forschungsfrage sich weiter konkretisiert hatten, wurden zur empirischen Untersuchung weitere drei Banken hinzugefügt, die ebenfalls am ESPrit-Projekt teilnahmen. So konnte die empirische Untersuchung über den Forschungsverlauf ausgeweitet werden und in Organisationseinheiten stattfinden, zu 133 denen bereits über mehrere Monate ein Kontakt im Rahmen des ESPrit Projektes bestand. Variiert wurde über den Verlauf der Zeit auch die Intensität der empirischen Beobachtungen vor Ort. So gab es Beispiele, in denen eine einzelne Bank im Laufe weniger Wochen mehrmals besucht wurde, wohingegen eine andere Bank über einen längeren Zeitraum nicht aufgesucht wurde. Die Intensität und Frequenz der jeweiligen teilnehmenden Beobachtungen ergab sich in Absprache mit den jeweiligen Ansprechpartnern der Banken und orientierte sich primär am Forschungsinteresse. So gab es Fälle, in denen strategische Projekte aufgrund aktueller Anlässe ausgesetzt oder aufgegeben wurden, während zu einem späteren Zeitpunkt etliche Projektsitzungen in kurzer Abfolge aufeinander folgten. Diesen unvorhergesehenen Entwicklungen begegnete der Forscher mit eine möglichst großen Flexibilität. Dies bedeutet jedoch auch, dass die empirischen Beobachtungen nicht weit im Voraus terminiert werden konnten, sondern zum Teil recht spontan stattfanden. Auch die Abschlussinterviews mit unterschiedlichen Mitarbeitern der Banken wurden erst im fortgeschrittenen Verlauf der Forschung vereinbart. Zwar war von Anfang an die Abstützung der Forschung auf eine breite empirische Basis beabsichtigt, wozu auch die Durchführung von Interviews zählte. Interviewpartner, Interviewzeitpunkte sowie der Interviewleitfaden wurden jedoch erst festgelegt, nachdem der Forschende bereits ein umfassendes Verständnis der VR-Organisation aufgebaut hatte und die Forschungsfrage sich bereits konkretisiert hatte. Forschungsfrage und Forschungsfokus im Zeitverlauf Forschungsfrage und Forschungsfokus selbst waren zu Beginn der Forschungsarbeit noch sehr offen. Ein gewisser Beobachtungsfokus war jedoch durch das Interesse des BVR an der wissenschaftlichen Betrachtung von ESPrit gegeben. Somit standen die Interaktionen zwischen BVR und Banken und die sich daraus ergebenden Kommunikationsdynamiken bereits zu Beginn der Forschung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Diese wurden jedoch anfangs insbesondere im Hinblick auf ihre Auswirkungen innerhalb des ESPrit-Kontexts beobachtet, was sich unter anderem auch in dem erstellen Zwischenbericht der Forschung für den BVR widerspiegelt. 105 Die implizite Forschungsfrage zu diesem Zeitpunkt kann somit beschrieben werden als: Wie nehmen die Banken die verschiedenen Impulse im Rahmen des vom BVR aufgesetzten ESPrit-Projektes auf und wie werden diese im lokalen Kontext der einzelnen Banken sichtbar? 105 Dok-087 134 Es war jedoch von Beginn an nicht das ausschließliche Ziel der Forschung, lediglich die Vorgehensweisen innerhalb des ESPri-Projektes im Blick zu behalten. Mit zunehmendem Kenntnisgewinn bezüglich des Zusammenspiels unterschiedlicher Teilorganisationen der VR-Gruppe rückte deshalb allmählich die allgemeinere Kommunikationsdynamik zwischen zentralen Organisationseinheiten mit 106 und den dezentralen, lokalen Banken in den Gruppenführungsaufgaben Blickpunkt. Dieser breite Fokus war hilfreich für den Verfasser, um die Kommunikationsdynamiken zwischen BVR und Banken vor diesem erweiterten Kontext besser nachvollziehen zu können. Eine implizite Forschungsfrage wäre zu diesem Zeitpunkt jedoch kaum greifbar gewesen und könnte allenfalls mit folgender Fragestellung wiedergegeben werden: Welche organisationalen Dynamiken integrieren die diversen unabhängigen Organisationseinheiten der VR-Gruppe zu einem einheitlichen Organisationsverbund? Es erwies sich somit im weiteren Verlauf des Forschungsprozesses als notwendig, den Forschungsfokus wieder etwas einzuschränken, da die Komplexität der VROrganisation die Möglichkeiten einer einzelnen Forschungsarbeit bei Weitem übersteigt. Deshalb wurde der Fokus abschließend wieder auf das Verhältnis zwischen BVR und Banken eingeschränkt, wobei nun die konkrete Frage im Mittelpunkt stand, wie es dem BVR gelingt, Führungslegitimität innerhalb der VROrganisation zu bewahren bzw. kontinuierlich neu zu erschaffen, obwohl die heterarchische Organisationsstruktur dafür nahezu keine Unterstützung anbieten kann. Dieser Forschungsfokus wurde in der bereits dargestellten Forschungsfrage festgehalten, die der vorliegenden Arbeit nunmehr zugrunde liegt: Durch welche Interventionspraktiken kann Führungslegitimität in einer Wirtschaftsorganisation unter Abwesenheit hierarchischer Strukturen in einem ständigen Prozess wiederhergestellt werden? Anknüpfungspunkte an bestehende betriebswirtschaftliche Literatur Die Entwicklung der Forschungsfrage über die Zeit spiegelt sich auch in der schwerpunktmäßig betrachteten Literatur wider, die ebenfalls mehrfachen Veränderungen unterlag. Zu Beginn des Forschungsprozesses wurde versucht, die VR-Organisation konzeptionell als dezentral und invers zu erfassen. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Forschung war ersichtlich, dass Entscheidungsprozesse in der Regel vor Ort in den einzelnen Banken ablaufen, aber zum Teil auch zentral mitgestaltet werden. Es existiert somit also eine gewisse Zentralität, die jedoch äußerst gering ausgeprägt ist. Dies wurde mit dem Begriff der Dezentralität 106 Hierzu zählen Regionalverbände, regionale Beratungsgesellschaften, Prüfverbände, Akademien, Verbundorganisationen etc. Eine nähere Beschreibung erfolgt in Kapitel 5. 135 beschrieben. Der Begriff der Dezentralität ist jedoch in der Wissenschaftsliteratur nur in begrenztem Umfang auffindbar und traf den Kern der Forschungsbeobachtungen nur unzureichend. Aus diesem Grund wurde er aufgegeben. Unter Inversität wurde der Umstand beschrieben, dass innerhalb der VROrganisation die Banken die Besitzer aller Zentralorganisationen sind. 107 Damit sind die einzelnen Banken rechtlich gesehen in der Lage, über Gremien die Entscheidungen der Zentralorganisationen zu bestimmen. Es gibt hierzu auch konkrete Beispiele. So entschieden sich die beiden deutschen Rechenzentren der VR-Gruppe, GAD und Fiducia, 2012 ihre Fusionsverhandlungen aufzugeben, wurden aber durch die Intervention der Volksbanken erneut zu Fusionsgesprächen gebracht. Wie jedoch über die Zeit der Forschungsarbeit immer offensichtlicher wurde, ist dieser Einfluss von unten nach oben faktisch begrenzt, da er nur über einen hohen demokratischen Mobilisierungsaufwand realisiert werden kann. Somit besitzt die Konzeption der VR-Organisation als inverser Organisation einen relativ geringen Erklärungswert. In der Phase der breiter angelegten empirischen Betrachtungen über das Zusammenspiel der verschiedenen Elemente innerhalb der VR-Gruppe wurde auch eine ebenso breit angelegte Literatur herangezogen. So lassen sich die organisationalen Zusammenhänge der VR-Gruppe äußerst wertvoll mit Marchs (1962) Überlegungen zu Organisationen als politischen Koalitionen analysieren. Diese werden auch in Cyert und March (1963) weiter ausgeführt. Es wird beschrieben, dass Komplexität nicht von einem Zentrum aus, sondern durch Koalitionen geführt werden, wobei „in the last analysis a coalition is a process, not an entity“ (S. 139). Auch die Überlegungen von Herbst (1976) zu directive correlations 108 als Alternative zu Hierarchien erweisen sich in dieser Phase als hilfreich. Ebenso boten Willkes (2006) abstrakte Überlegungen zu organisationaler Differenzierung und Integration eine Möglichkeit, die VR-Organisation zu beschreiben. Um jedoch wieder einen engeren Fokus zu gewinnen, wurde der Anschluss an aktuelle betriebswirtschaftliche Debatten gesucht. Ein erster Versuch war die Annäherung die wissenschaftliche Debatte im Rahmen der Literatur zu Multinationalen Organisationen (MNC), die die Frage stellt, wie Unternehmenszentralen Einfluss auf lokale Unternehmenseinheiten nehmen können, obwohl sie diese im Alltag faktisch nur zu einem sehr geringen Grad kontrollieren 107 Vgl. Kapitel 5 für eine Darstellung der gegenseitigen Beteiligungsverhältnisse. “The study of non-hierarchical organizations of this type shows that these have the capacity for functioning by way of directive correlation of the activities of members who may be working independently or in smaller subsets. That is although members may work independently for shorter or longer periods, the work of each supports and facilitates the work of others in the direction of the achievement of a joint aim. This makes it possible to identify the operating principle of a network in which members may be geographically dispersed and have no form of direct control over one another” (Herbst, 1976; S. 32) 108 136 können. 109 In ähnlicher Weise stellen Kostava und Roth (2002) die Frage, wie es zentralen Organisationseinheiten in MNCs gelingen kann, gewünschte Praktiken in lokalen Organisationseinheiten zu verankern. Obwohl sich diese Fragestellungen in ähnlicher Weise auf das Verhältnis von BVR und Volksbanken übertragen lässt, ist der Schritt zwischen der ausschließlich in Deutschland tätigen VR-Organisation zu einer global tätigen MNC recht hoch und es wäre somit schwer vorstellbar, die VROrganisation als MNC zu konzipieren. Die passende theoretische Konzeption für die VR-Organisation wurde dennoch im Feld der MNC-Literatur gefunden. Hedlund (1986) stellte MNCs als Heterarchien dar, womit er Organisationen beschrieb, in denen Entscheidungen alternierend an unterschiedlichen Orten der Organisation getroffen werden. Dieses theoretische Konstrukt passt in bemerkenswerter Weise zu den beobachteten Entscheidungsstrukturen innerhalb der VR-Organisation. Im anschließenden Kapitel wird dieser Gedanke aufgegriffen und weiter ausgeführt. Es folgte nun noch ein weiterer Schritt der Fokussierung. Wie bereits beschrieben, wurde im Forschungsverlauf von dem Versuch abgesehen, die gesamte organisationale Struktur der VR-Organisation zum Forschungsgegenstand zu machen. Vielmehr rückte zunehmend die Frage in den Mittelpunkt, wie es dem BVR innerhalb einer heterarchischen Struktur gelingt, seine Führungsfunktion zu behaupten. Diese Frage führte zu dem in Kapitel 2 dargestellten wissenschaftlichen Diskurs über die Thematik der Führungslegitimität. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass der zu Beginn offene Forschungsansatz es ermöglichte, über etliche Iterationsschlaufen den Forschungsfokus, die Forschungsfrage und die empirische Vorgehensweise zuerst auszuweiten und anschließend scharf einzugrenzen. Die Reflexion und Darstellung dieses Wegs, der über den Verlauf des Forschungsprozesses vollzogen wurde, soll es dem Leser ermöglichen, den Weg zu den im Rahmen dieser Arbeit sehr geradlinig aufeinanderfolgenden Überlegungen besser nachvollziehen zu können. Im nächsten Kapitel wird nun näher auf die VROrganisation und den BVR eingegangen, um dem Leser das nötige Kontextwissen für die sich daran anschließende Beschreibung der empirischen Beobachtungen zu ermöglichen. 109 Vgl. insbesondere die dreiteilige Abhandlung zu strategischer Kontrollen in MNCs von Doz und Prahalad (Prahalad und Doz, 1981; Doz und Prahalad, 1981; 1984) 137 5 Empirischer Forschungskontext: Heterarchie und Organisation der Deutschen Genossenschaftsbanken „Warum glauben Sie denn“, sagte Lewin, der auf das eigentliche Problem zurückkommen wollte, „dass es unmöglich sei, ein solches Verhältnis zu den Arbeitskräften zu finden, dass die Arbeit produktiv wird? […] Diese Frage beschäftigt zur Zeit die erlauchtesten Geister Europas. Die Schulze-Delitzsch’sche Richtung zum Beispiel […] – sie ist Ihnen wahrscheinlich nicht unbekannt.“ - Lew Tolstoi, Anna Karenina In den vorangegangen Kapiteln wurde mit der Beschreibung eines Prozessverständnisses von Führung und Führungslegitimität die theoretische Basis für die vorliegende Arbeit gelegt und anschließend das dieser Arbeit zugrundeliegende Forschungsverständnis dargestellt. Ziel dieses Kapitels ist es nun, den empirischen Forschungskontext näher zu beschreiben. Hierzu wird in einem ersten Schritt die Organisationsform der Heterarchie erläutert (Kapitel 5.1). Die Begrifflichkeit der Heterarchie wird dabei von Hedlund (v.a. 1986, 1993) übernommen. Zwar war es bereits in den vorangegangen Kapiteln immer wieder erforderlich, gewisse Eigenschaften von Heterarchien hervorzuheben, es erfolgte bislang jedoch noch keine dedizierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Heterarchie bzw. heterarchischer Organisationsstrukturen. Anschließend an diese allgemeine Beschreibung eines Verständnisses heterarchischer Organisationen wird die VR-Organisation in ihren Grundzügen näher vorgestellt (Kapitel 5.2). Dabei soll zum einen aufgezeigt werden, warum es angemessen scheint, die Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken als eine heterarchische Organisation zu bezeichnen. Zum anderen soll ein Grundverständnis für die VR-Organisation geschaffen werden, auf dessen Basis die Anschlussfähigkeit der nachfolgenden Diskussionen beim Leser gewährleitet werden kann. Dieses allgemeine Verständnis für die Volksbankengruppe wird im abschließenden Teilkapitel nochmals vertieft, indem der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken eingehend beschrieben wird (Kapitel 5.3). Gleichzeitig wird beschrieben, warum der BVR als zentrale Organisationseinheit mit strategischer 138 Führungsfunktion innerhalb der VR Gruppe sich in besonderem Maße für die Annäherung an die Forschungsfrage dieser Arbeit eignet. 5.1 Heterarchien als Alternative zum hierarchischen Organisationsverständnis Oftmals werden Organisationen grundsätzlich als hierarchisch betrachtet oder der Begriff der Organisation wird mit einem Verständnis hierarchischer Koordination gleichgesetzt. Ein zentrales Beispiel hierfür ist die äußerst einflussreiche Transaktionskostentheorie. Coase (1937) und später insbesondere Williamson (1975, 1985, 1991) argumentieren, dass Firmen überall dort entstehen, wo eine Koordination mittels Markttransaktionen aufwändiger ist als eine hierarchische Koordination innerhalb von einer Organisation. Die Grundannahme ist, dass Transaktionskosten bei niedriger Faktorspezifität mithilfe von Markttransaktionen am geringsten ausfallen, während die Notwendigkeit transaktionsspezifischer Investitionen nach einer hierarchischen Koordination verlangt. Interessant an dieser Diskussion ist, dass mit der Gegenüberstellung der Koordination durch Märkte und der Koordination durch Hierarchie ein Organisationsverständnis beschrieben wird, nach dem Organisationen per Definition hierarchisch sind bzw. nach dem sie in erster Linie auf hierarchischer Koordination aufbauen. Diese Annahme wird nicht nur in der Transaktionskostentheorie, sondern auch in weiten Teilen der Betriebswirtschaftsliteratur zumindest implizit mitgeführt. Jedoch wird auch verschiedentlich hinterfragt, ob diese Annahme der Realität von Organisationen gerecht wird. So meint zum Beispiel Perrow (1986) im Hinblick auf die Transaktionskostentheorie, dass die strikte Einteilung in Markt und Hierarchie eine unzulässige Vereinfachung darstellt. Etwas allgemeiner fasst Luhmann (2006) seine kritische Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Hierarchie und Organisation mit seiner Argumentation, dass selbst innerhalb von Organisationen, die sich selbst als hierarchisch betrachten, „Hierarchie mit ihren Notstandskompetenzen des formal bindenden Entscheidens nur eine Hilfsfunktion erfüllt“ (S. 207). Dieses Argument findet sich zuvor auch bereits bei Ulrich (1984): “The representation of a multi-level chain of command presented as “official channels”, which is still conveyed by organizational plans, is an exceedingly inadequate model for what actually happens in management” (S. 85). Und auch die Machbarkeit der hierarchischen Koordination komplexer Probleme wird immer wieder angezweifelt. Willke (2001) sieht die Stärken der Hierarchie lediglich dort, wo Probleme in eine einfache, eventuell sogar binäre und logische Form aufgeteilt werden können und Teillösungen sich anschließend zu einer 139 Gesamtlösung zusammensetzen lassen. In komplexeren Kontexten ist die Eignung hierarchischer Strukturen aus seiner Sicht zu hinterfragen. Basierend auf ähnlichen Überlegungen haben insbesondere zwei Autoren den Begriff der Heterarchie als Gegenstück zum meist unhinterfragten Hierarchieverständnis von Organisationen in die Betriebswirtschaftslehre eingeführt. Dabei handelt es sich zum einen um Heinz von Foerster (1984) mit seinem Beitrag Principles of Self-Organization. Er argumentiert, dass es sich bei komplexen Organisationen um nicht-triviale Maschinen handelt, die sich durch vier Eigenschaften auszeichnen: Sie sind i) synthetically deterministic; ii) history dependent; iii) analytically indeterminable; iiii) analytically unpredictable (von Foerster, 1984; S. 13). Für solche Systeme sieht von Foerster Hierarchien als ungeeignete Formen der Strukturierung und Koordination; vielmehr sind nicht-triviale Systeme auf ein hohes Maß an Selbst-Organisation angewiesen, die nicht von einer bestimmten Stelle aus kontrolliert oder gesteuert werden kann. Dies bringt von Foerster zu dem Schluss, dass „in a self-organizing managerial system each participant is also a manager of this system. Such an organizational structure is called a ‘heterarchy’” (S. 8). Der zweite Autor, der den Begriff der Heterarchie in der Betriebswirtschaft popularisiert hat, ist Gunnar Hedlund (insb. 1986, 1993). Er setzt mit seinen Überlegungen zur Beschreibung heterarchischer Organisationsformen an einem ähnlichen Punkt an. Hedlund kritisiert, dass die Selbstverständlichkeit der hierarchischen Ordnung von Organisationen generell stillschweigend akzeptiert und nur selten im Detail definiert wird. Dabei sieht er ähnlich wie in den zuvor aufgeführten Überlegungen von Willke (2001) eine besondere Problematik in der Annahme von Teillösungen, die hierarchisch zu Gesamtlösungen kombiniert werden können. Um die Problematik hierarchischer Organisationskonzeptionen zu verdeutlichen, greift Hedlund (1993) auf Simon (1962) zurück. Simon ist einer der wenigen Autoren, der Hierarchie nicht stillschweigend als Ordnungsform von Organisationen voraussetzt, sondern sich intensiver mit der Frage hierarchischer Strukturen auseinandersetzt. Er definiert eine Hierarchie dabei als ein „system that is composed of interrelated subsystems, each of the latter being, in turn, hierarchic in structure until we reach some lowest level of elementary subsystem“ (S. 468). Simon beschreibt nun, dass soziale, biologische und selbst symbolische Systeme wie Bücher und Musikstücke hierarchisch organisiert sind. Den allgemeinen Grund hierfür sieht Simon (1962) in einem Evolutionsprozess komplexer Systeme, der letztendlich immer zum Aufbau hierarchischer Strukturen für solche Systeme führt. Diesen Evolutionsprozess veranschaulicht Simon mit seinem äußerst bekannten Beispiel zweier Uhrmacher: Die beiden Uhrmacher Tempus und Hora stellen Uhren her, werden dabei jedoch in unregelmäßigen Abständen von Telefonanrufen ihrer 140 Kunden gestört. Tempus hat seine Uhren auf eine Weise konstruiert, dass er sie stets vollständig zusammenbauen muss und nach jeder Störung wieder von vorne beginnen muss. Aus diesem Grund gelingt es ihm kaum, eine Uhr fertigzustellen. Hora hingegen hat seine Uhren hierarchisch aufgebaut – er kann verschiedene Subsysteme einzeln fertigstellen und diese anschließend zu einem Ganzen zusammensetzen. Bei der Störung durch einen Kunden verliert er immer nur den Arbeitsfortschritt an einem Subsystem und macht aus diesem Grund deutlich schnellere Fortschritte als sein Kollege Tempus. Somit kommt Simon zu dem Schluss, dass die Entstehung komplexer Systeme nur denkbar ist, wenn es stabile Subsysteme gibt, deren hierarchischer Aufbau ein Gesamtsystem ergibt. Die Existenz nicht-hierarchischer komplexer Systeme schließt Simon weitgehend aus, beziehungsweise geht davon aus, dass sie unter Umständen das menschliche Verständnis übersteigen: “The fact, then, that many complex systems have a nearly decomposable, hierarchic structure is a major facilitating factor enabling us to understand, to describe, and even to "see" such systems and their parts. […] If there are important systems in the world that are complex without being hierarchic, they may to a considerable extent escape our observation and understanding.”(Simon, 1962; S. 477) Hedlund (1993) nimmt diese Überlegungen von Simon als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zur Struktur von Organisationen. Dabei arbeitet er folgende Annahmen heraus, die Simons Beispiel der zwei Uhrmacher zugrunde liegen: Im Blickpunkt stehen Uhren und somit mechanische Systeme Das System Uhr ist über die Zeit unveränderlich; es gibt keinerlei Veränderungen Es gibt keine Reibungen an den Schnittstellen der hierarchisch aufgebauten Subsysteme von Horas Uhr Bevor die Produktion der Uhren beginnt, steht das gewünschte Ergebnis des Produktionsprozesses bereits fest Umwelteinflüsse wirken sich lediglich auf das System aus, an dem gerade gearbeitet wird, dieses wird dabei jedoch vollständig zerstört Das Zusammenspiel einzelner Subsysteme wird ausgeblendet Subsysteme haben eine klare und eindeutige Zuordnung zu genau einem übergeordneten System Der Einfluss zwischen den Systemen verläuft immer ausschließlich in eine Richtung Durch die Veranschaulichung dieser Annahmen gelingt es Hedlund darzustellen, dass die Annahme einer klaren hierarchischen Strukturierung eines sozialen Systems eine starke und unter Umständen unzulässige Vereinfachung darstellt. Insbesondere die Vorstellung, dass sich komplexe Systeme aus eindeutig 141 voneinander abgrenzbaren Subsystemen zusammensetzen, ist aus Hedlunds Sicht nicht haltbar: “If Simon’s view of evolution is correct, we should observe many independent components floating about: protons without neutrons, brains without heads, accounting departments outside firms. The theory may explain the existence of complex systems, but it does not explain the relative absence of independent intermediate forms.” (Hedlund, 1993; S. 219) Auf dieser Basis führt Hedlund in Anlehnung an Ogilvy (1977) den Begriff der Heterarchie in die Betriebswirtschaftstheorie ein, „as an ideal type in contradistinction to hierarchy“ (Hedlund, 1994; S. 87). Der Ursprung des Heterarchiebegriffs liegt dabei, ähnlich wie beim systemischen Begriff der autopoietischen Systeme, in der Biologie. Hier wurde er von McCulloch (1945, 1965) bei seinen Untersuchungen zum Aufbau des menschlichen Gehirns geprägt. McCulloch argumentiert, dass Hierarchien auf klar hierarchisierbaren Wertepräferenzen basieren: Sie gehen davon aus, „that the many ends are ordered by the right of each to inhibit all inferiors. The number of ends, although large, is finite. The order is such that there is some end preferred to all others, and another such that all are preferred to it, and that of any three if a first is preferred to a second and a second to a third, then the first is preferred to the third” (McCulloch, 1945; S. 91). Wenn man nun davon ausgeht, dass derartig klare Präferenzen in komplexen Systemen nicht existieren, sondern Präferenzen in vielen Fällen auch zirkulär verlaufen, gerät die Vorstellung hierarchischer Strukturen ins Wanken. Ein solch komplexes System „has a heterarchy of values, and is thus internectively too rich to submit to a summum bonum” (ibid.; S. 92). Dass solche zirkulären Präferenzstrukturen tatsächlich vorkommen, zeigt McCulloch (1956) anhand eines Experiments mit männlichen Ratten. Nachdem diese unter experimentellen Bedingungen über einige Zeit unter Entzug von Nahrung und Sex gehalten werden, präferieren sie generell Nahrung gegenüber Sex, Sex gegenüber der Vermeidung von elektrischen Schocks und die Vermeidung von elektrischen Schocks gegenüber Nahrung. Diese Erkenntnis ist von weitreichender Bedeutung für die Konzeption komplexer Systeme. Soll es möglich sein, komplexe Systeme als stringente Hierarchien von Subsystemen zu beschreiben, ist eine Hierarchie von Präferenzen ebenfalls erforderlich, da es ansonsten keine Möglichkeit gibt, diese Subsysteme hierarchisch zu einem Gesamtsystem zu integrieren. Deshalb zieht McCulloch den Schluss, dass komplexe Systeme als heterarchisch zu beschreiben sind, weil Präferenzen an unterschiedlichen Orten der Systeme ausgebildet werden können und es nicht immer 142 im Sinne einer Hierarchisierung möglich ist zu beurteilen, welche Präferenz sich letztendlich durchsetzen wird. Auf McCullochs Überlegungen zur heterarchischen Struktur komplexer Systeme wurde in der Folge in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen referenziert, unter anderem in der Anthropologie (z.B. Crumley, 1995; Gill, 2001) oder in der Entwicklung künstlicher Intelligenz im Bereich der Computer Technologie (z.B. Dupuy, 2000). Für die betriebswirtschaftliche Theorie hat sich McCullochs Beschreibung des heterarchischen Aufbaus eines Gehirns wie bereits beschrieben als wertvoll erwiesen, weil es einen Gegenpol zum oft vereinfachenden Bild hierarchischer Strukturierung komplexer Organisationen liefern kann. Für eine Organisation bedeutet eine heterarchische Struktur, dass Entscheidungen und Vorgänge nicht mehr automatisch der Spitze der Hierarchie zugerechnet werden können. „Heterarchie bedeutet: die Herrschaft des Anderen. Es ist nicht mehr der Heilige, 110 der von oben herab regiert, es hat keinen Sinn mehr, von absoluten Werten zu sprechen; jeder ist an der Herrschaft beteiligt, die Herrschaft wird zirkulär“ (von Foerster, 2011; S. 87). Dabei verändert sich je nach Zeitpunkt und Kontext das Verhältnis, in dem Organisationseinheiten zueinander stehen. Eine Organisationseinheit kann Entscheidungsgewalt in Bezug auf eine Fragestellung ausüben, jedoch bei einer anderen Fragestellung die Entscheidung anderer Organisationseinheiten akzeptieren: „At one time it may be one of your neighbors who is making the decision, at another you, as the neighbor of others” (von Foerster, 1984; S. 8). Etwas detaillierter, aber im Kern mit dem gleichen Grundgedanken beschreibt Hedlund, was er unter heterarchischen Organisationen versteht. Er geht dabei von Multinationalen Organisationen (MNC) aus, die aus seiner Sicht durch ein hierarchisches Organisationsverständnis nur unzureichend beschrieben werden. Wie später beschrieben wird, ist sein Heterarchie-Begriff jedoch nicht auf multinationale Kontexte beschränkt. Im Einzelnen lassen sich bei Hedlund (1986; 1993) sowie bei Hedlund und Kogut (1993) folgende sechs zentrale Merkmale von Heterarchien ausmachen: 1. Heterarchien besitzen viele Zentren. Es gibt nicht länger ein eindeutiges Zentrum, eine Spitze der Hierarchie, an der alle Fäden zusammenlaufen. 2. Zentren werden dezentralen Organisationseinheiten nicht als übergeordnet betrachtet. Es gibt nach wie vor zentrale Einheiten, die eine eher koordinierende Rolle innerhalb der Gesamtorganisation innehaben, „however, 110 Von Foerster spielt an dieser Stelle mit der Etymologie der beiden Begriffe. Hinter dem Begriff der Hierarchie stecken die beiden griechischen Wörter ἱερός und ἀρχή, die mit heiliger Herrschaft bzw. heiliger Ordnung übersetzt werden können. Der Begriff der Heterarchie setzt sich aus den beiden Wörtern ἕτερος und ἀρχή zusammen, was so viel bedeutet wie die Herrschaft eines Anderen. 143 it is not clear why managers should be „above“ those whose coordination needs they serve“ (Hedlund, 1993; S. 231). 3. Die Rolle einzelner Organisationseinheiten kann sich je nach spezifischem Kontext stark voneinander unterscheiden. Eines der mehreren Zentren kann gleichzeitig die Führung für bestimmte Initiativen übernehmen und bei anderen Initiativen von anderen Zentren geführt werden. „A given unit will be both Chief and Indian“ (Hedlund, 1993; S. 230). 4. Eng damit zusammenhängend sind die verschiedenen organisationalen Zentren nicht homogen. Sie unterscheiden sich voneinander und können auch nicht wie in einer Matrix-Struktur entlang gewisser Dimensionen gruppiert werden: „A heterarchy consists of a mix of ogranizing principles. […] There is not one overriding dimension superordinate to the rest” (Hedlung, 1986; S. 22). 5. Die einzelnen Organisationseinheiten sind lose miteinander gekoppelt und stehen in einem oft zirkulären Einflussverhältnis zueinander. Die Freiheitsgrade einzelner Organisationseinheiten im Verhältnis zu anderen sind in ständigem Wandel und es gibt keine starken Durchgriffsmöglichkeiten von einer Einheit in eine andere. 6. Abschließend betont Hedlund, dass der zentrale Integrationsmechanismus heterarchischer Organisationen normativer Natur ist. „[In a heterarchy] integration is achieved primarily through normative control, and only secondarily through calculative and coercive/bureaucratic regulations” (Hedlund, 1986; S. 24). Zusätzlich zu diesen Kerneigenschaften von heterarchisch strukturierten Organisationen, die sich aus Hedlunds Schriften entnehmen lassen, betont er den äußerst dynamischen Charakter dieser Organisationsform. “Some basic points are that several strategic apexes emerge, that these shift over time, and that there are several ordering principles at work […] they interweave in a dynamic process” (Hedlund, 1994; S. 87). Das Konzept einer heterarchischen Ordnung unterscheidet sich somit von hierarchischen Organisationsvorstellungen insbesondere durch ihre flüchtige, ephemere Struktur. Da es keine klare Über- und Unterordnung von Organisationseinheiten gibt, befindet sich eine heterarchische Organisation gleichermaßen in einem ständigen Umstrukturierungsprozess. Im Strom des täglichen Tuns entscheidet sich, welche Organisationseinheit für welche Fragestellungen eine Führungsrolle einnimmt und jede Art von Führung ist immer kontextbezogen und vorübergehend. Ein Führungsanspruch einzelner Organisationseinheiten muss somit ständig aufs Neue wiederhergestellt werden. In der Betonung dieses Umstands sieht Crumley (1995) den zentralen Beitrag des Begriffs der Heterarchie: “The addition of the term heterarchy to the vocabulary of power relations reminds us that forms of order exist 144 that are not exclusively hierarchical and that interactive elements in complex systems need not be permanently ranked relative to one another” (S. 3). An dieser Stelle wird somit auch offensichtlich, warum sich die zuvor beschriebenen Prozessverständnisse von Führung und Führungslegitimität besser für das Verständnis heterarchischer Organisationen eignen als statische Konzeptionen dieser Begriffe. Und auf der anderen Seite zeigt sich, warum heterarchische Organisationskontexte eine besondere Chance für die empirische Untersuchung von Führungslegitimität bieten. Dabei ist festzuhalten, dass trotz der wechselnden Verantwortlichkeiten innerhalb von Heterarchien die Notwendigkeit für Führung in solchen Organisationen von diversen Autoren betont wird. Von Foerster und Hedlund reden beide wiederholt von Führung. Auch Schwaniger (1994) betont, dass Heterarchien über eine Lenkungsfunktion verfügen müssen, wobei diese jedoch im Unterschied zu Hierarchien nicht exklusiv an einer Stelle sitzt. Auf diesen entscheidenden Unterschied weisen auch Klimecki, Probst und Eberl (1994) hin: Nur weil Führung in Heterarchien nicht fix an einem Ort verankert ist, bedeutet dies nicht, dass es keine Führung gibt, oder gar eine Art von Anarchie herrscht. Führung in Heterarchien ist in gewisser Weise virtuell (Bühl, 1987), weil sie je nach Kontext an einem anderen Ort sein kann, aber sie ist nach wie vor unentbehrlich. Die grundsätzliche Rolle, die Führung innerhalb von Organisationen spielt, unterscheidet sich somit in Hierarchien und Heterarchien nicht. In Anlehnung an Kapitel 3 müssen beide Organisationsformen mittels Entscheidungsprämissen dafür sorgen, dass sie ihre Existenz als ein von der Umwelt abgrenzbarer Kommunikationszusammenhang erhalten können. Und Führung hat in beiden Fällen die zentrale Aufgabe, diese Entscheidungsprämissen zu beeinflussen. Oder anders ausgedrückt: Legitime Führung ist die Funktion, deren Entscheidungen in Form von Entscheidungsprämissen für den größeren Organisationszusammenhang relevant werden – in Heterarchien wie in Hierarchien. Führung in der Art von Organisationen, die hier als heterarchisch bezeichnet werden, ist jedoch ein fließendes Phänomen. Vereinfacht gesagt: „With heterarchy, everyone is able to get involved“ (Fairtlough, 2005, S. 75). Führung in Heterarchien ist breit verteilt (Sohn, 2001). Etwas abstrakter lässt sich mit von Foerster (1984) in Heterarchien vom “Prinzip der potentiellen Führung” (S. 8) sprechen. Potenziell kann Führung an sehr unterschiedlichen Stellen der Organisation ausgeübt werden. Die entscheidende Frage verlagert sich somit von der Suche nach dem fixen Ort von Führung zu einer Untersuchung, wie die stets potenziell mögliche Führung in heterarchischen Organisationen von einzelnen Organisationseinheiten wiederholt realisiert werden kann. Verglichen mit dem wohlgeordneten Bild klar strukturierter Hierarchien, mag diese Flüchtigkeit von Führung in heterarchischen Organisationen chaotisch anmuten. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass gerade eine zentralisierte 145 Organisationsführung durchaus auch in der Lage ist, erhebliche Verwirrung in einer Organisation zu erzeugen. Deshalb scheint die Einschätzung von Hedlund und Kogut (1993) angemessen, dass “chaos is as, if not more, likely to emanate from the center clutching onto power as from distributing it, even in theoretically “unclear” ways” (S. 356). Dennoch ist die Frage berechtigt, wie Führung in einem derart ephemeren Organisationsgebilde aktualisiert werden kann und insbesondere, wie es einer Organisationseinheit gelingen kann, wiederholt eine wirksame Führungsfunktion einzunehmen und somit aus organisationaler Sicht Führungslegitimität zu besitzen. Diese Fragestellung bleibt jedoch in der bisherigen Literatur zu heterarchischen Organisationen weitgehen unreflektiert. Hedlund (1993) selbst betont, seine Darstellungen "are couched in terms of efficiency rather than legitimacy or power“ (S. 213). Auch andere Autoren setzen sich mit der Frage nach der Aktualisierung der potenziell überall realisierbaren Führung nur oberflächlich auseinander. So spricht Taschdjian (1981) davon, dass Führung in Heterarchien immer wieder aufs Neue ausgehandelt wird. Dies ist jedoch im besten Falle als eine Metapher zu verstehen. Denn es wäre kaum praktikabel, Führung tatsächlich von Situation zu Situation formal neu auszuhandeln. Somit erfährt man durch diese Beschreibung wenig mehr als den bereits bekannten Umstand, dass Führung nicht fix an einer Stelle verortet ist. Einen gewissen Anhaltspunkt liefern Hedlund und Kogut (1993) mit ihrer Feststellung, dass moderne MNCs, die sie als Heterarchien konzipieren, „will have to be managed more like a professional organization than a bureaucracy“ (S. 355). Der Grundgedanke ist, dass Führung keine kontrollierende, sondern eine unterstützende Rolle wahrnimmt. Somit kann Führung in einer Heterarchie vorzugsweise dort ausgeübt werden, wo eine Organisationseinheit einen wertvollen Beitrag für andere Organisationseinheiten liefern kann. In ähnlicher Weise lassen sich auch Probst und Ulrich (1984) interpretieren. Für sie ist die relative Bedeutung eines Teils einer Heterarchie von der Relevanz der Informationen abhängig, die dieser Teil zum Ganzen beitragen kann. Offen bleibt jedoch die Frage, welche Informationen relevant sind. Und auch die übergeordnete Frage, wie es gelingen kann, wiederholt eine Relevanz für die Organisation zu haben, bleibt ungestellt. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass das Konzept der Heterarchie insbesondere als Gegenposition zu einem extrem hierarchischen Verständnis von Organisationen in Wirtschaftspraxis wie -wissenschaft konzipiert wurde. Hedlund (1994) spricht selbst von einem Idealtyp. Der Kern des Konzeptes liegt in der Vorstellung, dass Führung als eine verteilte Leistung unterschiedlicher Organisationseinheiten erbracht wird. Je nach Kontext und Zeitpunkt kann Führung von einem „Anderen“ wahrgenommen werden. Somit wird auch der Zusammenhang 146 zwischen einem heterarchischen Organisationsverständnis und einem Prozessverständnis von Führung und Führungslegitimität deutlich. Führung in einer Heterarchie ist nicht eine fixe organisationale Position oder gar ein Bündel von Persönlichkeitseigenschaften einer Führungspersönlichkeit, sondern eine organisationale Funktion, die verteilt erbracht wird. Demnach ist Führungslegitimität in dieser Konzeption auch nur schwerlich als der Besitz einer einzelnen Führungsperson denkbar. Bislang wurde die Frage nach Führungslegitimität im Kontext von Heterarchien jedoch kaum erörtert. Deshalb ist die VR-Organisation, die dem Idealtyp einer Heterarchie sehr nahe kommt, ein ideales empirisches Untersuchungsobjekt für die Fragestellung, wie Führungslegitimität in einem nicht-hierarchischen Kontext kontinuierlich wiederhergestellt werden kann. Denn gerade in einem solchen Organisationskontext besteht nicht die Gefahr, Führungslegitimität voreilig einer Stellung in der Hierarchie zugeschrieben wird. Es ist zu jeder Zeit offensichtlich, dass Führung kontingent ist und auch einer anderen Stelle erbracht werden könnte. Wenn es unter diesen Bedingungen einer Organisationseinheit gelingt, wiederholt eine Führungsrolle wahrzunehmen und die Entscheidungsprämissen der Organisation in spürbarer Weise zu beeinflussen, muss sie eine Form der Interaktion mit anderen Organisationseinheiten entwickelt haben, die die kontinuierliche Wiederherstellung von Führungslegitimität ermöglicht. Dieser zentralen Fragestellung soll in den Kapiteln 6 und 7 nachgegangen werden. Zuvor gilt es jedoch im nachfolgenden Teilkapitel die untersuchte Organisation der deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken vorzustellen und zu erklären, warum diese als eine sehr idealtypische Heterarchie betrachtet werden kann (Kapitel 5.2). Anschließend wird argumentiert, warum der Bundesverband der Volksbanken und Raiffeisenbaken ein interessantes empirisches Untersuchungsobjekt innerhalb dieser Organisation darstellt (Kapitel 5.3). Es wird erläutert, welche Rolle der BVR spielt und dass es ihm innerhalb einer ausnehmend heterarchischen Organisationsform wiederholt gelingt, eine Führungsfunktion wahrzunehmen. 5.2 Die VR-Organisation als Heterarchie Wie bereits in Kapitel 4 dargestellt, baut die vorliegende Arbeit auf einer empirischen Einzelfallstudie auf. Die Forschung fand dabei in der Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken 111 (VR) statt. Als Gruppe von Genossenschaftsbanken handelt es sich hierbei um eine Organisation, die sich in vielerlei Hinsicht von anderen Unternehmen und Konzernen unterscheidet. Nach 111 Aus stilistischen Gründen und zur Verbesserung der Lesbarkeit wird die offizielle Firmenbezeichnung im Verlauf dieser Arbeit verschiedentlich durch nicht-offizielle Abkürzungen wie VR-Gruppe oder VROrganisation substituiert. 147 einer Vorstellung der Geschichte und der Struktur der VR-Organisation soll aufgezeigt werden, inwiefern es sich bei dieser Organisation um ein sehr ausgeprägtes Beispiel einer Heterarchie handelt, die sich als ein Extremkontext im Sinne von Pettigrew (1990) in besonderem Maße für eine empirische Untersuchung von Führungslegitimität aus einer Prozessperspektive eignet. 5.2.1 Ursprünge der deutschen Genossenschaftsbanken Für die heutige Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken ist die Geschichte der deutschen Genossenschaftsbanken nach wie vor von großer Bedeutung, da hierin ein zentrales Alleinstellungsmerkmal der Bankengruppe liegt. Am Beginn dieser Geschichte stehen in der Regel zwei Namen, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und der bereits im Eingangszitat erwähnte Hermann Schultze-Delitzsch. Durch ihre Initiative entscheidend mitgeprägt, entstanden die ersten Raiffeisenbanken respektive die ersten Volksbanken. Ein entscheidendes Ereignis für die Entstehungsgeschichte der VR-Gruppe war eine Hungersnot in den Jahren 1846/1847. Um dieses Ereignis gemeinsam mit seinen Bürgern überwinden zu können, baute der damalige Bürgermeister des preußischen Weyerbusch, Friedrich Wilhelm Raiffeisen, auf das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe, das bis heute für die VR-Gruppe charakteristisch ist. Er gründete den „Weyersbuscher Brodverein“, an dem wohlhabende Bürger genossenschaftlich beteiligt waren. In der Genossenschaft wurde gemeinsam Getreide beschafft und an Arme in Form von Getreidekrediten vergeben. Der Erfolg dieser Initiative bestärkte Raiffeisen in der Gründung weiterer landwirtschaftlicher Genossenschaften, in denen sich Kleinbauern organisierten, um gemeinsam zu verbesserten Konditionen Saatgut, Düngemittel oder Vieh erwerben zu können. Auch hier stand das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund. Raiffeisen vertrat das Genossenschaftsprinzip mit großer Überzeugung: „Nach meiner festen Überzeugung gibt es nur ein Mittel, die sozialen und besonders auch wirtschaftlichen Zustände zu verbessern, nämlich die christlichen Prinzipien in freien Genossenschaften zur Geltung zu bringen.“ 112 Auch das Prinzip der Subsidiarität wurde zu dieser Zeit bereits in den Genossenschaftsorganisationen inkorporiert. Mit der Gründung des Anwaltschaftsverbands der ländlichen Genossenschaften im Jahr 1877 entstand eine Organisation, die sich um übergeordnete Interessen der Genossenschaften kümmerte, den einzelnen Einheiten jedoch ihre volle Autonomie beließ. Die erste 112 Dok-01; S. 4 148 Raiffeisenbank lässt sich auf den 1862 ebenfalls von Friedrich Raiffeisen gegründeten Heddesdorfer Darlehnskassenverein zurückführen. Der zweite Gründername, der im Zusammenhang mit der Entstehung der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbaken hervorsteht, ist Hermann Schulze-Delitzsch. Er gründete mit einer Rohstoff-Assoziation für Schuhmacher und Tischler 1847 die erste gewerbliche Genossenschaftsorganisation in Deutschland. Der drei Jahre später gegründete Eilenburger Vorschussverein kann als die erste Vorstufe zu den späteren Volksbanken angesehen werden. Der Titel der Volksbank wurde erstmals von Schulze-Delitzsch in einer Veröffentlichung des Jahres 1855 mit dem Titel Vorschußund Kreditvereine als Volksbanken gebraucht. Darüber hinaus zeichnete sich Schultze-Delitzsch als starker Fürsprecher der deutschen Genossenschaftsbewegung im Reichstag aus. Das erste Genossenschaftsgesetzt Deutschlands, das 1889 vom Reichstag verabschiedet wurde, basiert entscheidend auf seiner Vorarbeit. Es zeigt sich somit, dass die Genossenschaftsbanken in ihrem Ursprung nicht lediglich die Idee der genossenschaftlichen Organisation aufgriffen, sondern diese entscheidend prägten und weiterentwickelten. Das Interesse an dieser neuen Form der Organisation verbreitete sich innerhalb kurzer Zeit bis weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, wie sich bereits aus dem Zitat zu Beginn des Kapitels erschließen lässt. Der Erfolg zeigte sich insbesondere in Deutschland, wo die Genossenschaftsbanken bereits Mitte des 20. Jahrhunderts insgesamt 3,5 Millionen Mitglieder auf sich vereinigen konnten. 113 Dabei ist wichtig zu betonen, dass sich die Genossenschaftsidee nicht allein auf der Basis der zwei genannten Gründerväter verbreitete. So wurde im württembergischen Öhringen bereits 1843 und damit 3 Jahre vor der Gründung der ersten Genossenschaft durch Raiffeisen von Bürgern eine Leihkasse gegründet, aus der die heutige Volksbank Hohenlohe hervorging, die sich somit als die älteste Genossenschaftsbank Deutschlands bezeichnen kann. Trotz des wichtigen Beitrags von Raiffeisen und Schulze-Delitzsch sind die Genossenschaftsidee und die Entwicklung der Genossenschaftsbanken seit ihren Anfängen breit gestreut und basieren auf der Initiative unzähliger Bürger. Diese enge Verbindung zwischen der Entstehung der Genossenschaftsbanken und der Entwicklung des genossenschaftlichen Organisationsprinzips besteht bis heute. So zeigen unter anderem die im Rahmen dieser Forschungsarbeit durchgeführten Interviews, dass Vorstände und Mitarbeiter diverser über Deutschland verteilter Banken auch heute noch die Idee der Hilfe zur Selbsthilfe an vorderster Stelle nennen, wenn sie über die Werte der VR-Gruppe befragt werden. Außerdem zeigen eine Reihe von Initiativen sowie ein Blick auf die Außenkommunikation, dass 113 Siehe historische Darstellung der Entwicklung der genossenschaftlichen Finanzgruppe unter www.bvr.de/finanzgruppe. 149 genossenschaftliche Werte den Kern der Gruppenidentität sehr stark prägen. Insbesondere die lokale Verwurzelung und die Autonomie der lokalen genossenschaftlichen Organisationen sind auch heute noch unangefochtene Grundpfeiler der VR-Organisation. Das Prinzip der Subsidiarität und der Eigenständigkeit kleiner Einheiten wird selbst von zentralen Organisationseinheiten regelmäßig betont. Jedoch hat auch die überregionale Verbundenheit und das Gemeinschaftsgefühl unterschiedlicher Genossenschaftseinheiten eine lange Geschichte. Bereits 1920 schlossen sich die gewerblichen Genossenschaften in Deutschland zum Deutschen Genossenschaftsverband e.V. zusammen. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise folgte 1930 der Zusammenschluss zum Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen – e.V. Im Jahr 1972 folgte schließlich die Gründung des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. (DGRV), in dem die bestehenden Raiffeisen- und Volksbanken enthalten waren. Im Zuge dieser Gründung entstand auch der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), der im folgenden Teilkapitel näher beschrieben wird. Trotz dieser stets vorhandenen überregionalen Bestrebungen, die im Grunde bereits mit dem Anwaltschaftsverband der ländlichen Genossenschaften im Jahr 1877 ihren Anfang nahmen, erfolgten diese Interessenbündelungen nie auf Kosten der lokalen Selbstbestimmung einzelner Volksbanken oder Raiffeisenbanken. Bis heute, mit einer Gesamtzahl von insgesamt 17,7 Millionen Mitgliedern und 30 Millionen Kunden, gilt das Prinzip der Subsidiarität in der Deutschen VR-Organisation unangefochten. Jede lokale Ortsbankengruppe ist eine eigenständige Genossenschaft, die einzig und allein gegenüber ihren jeweiligen Mitgliedern verantwortlich ist. 5.2.2 Heutige Struktur der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken Der organisatorische Aufbau der VR-Organisation ist so kompliziert wie vielsagend. Durch die Darstellung der entscheidenden Organisationseinheiten und ihrer jeweiligen Rollen innerhalb des Organisationsverbunds wird der Ausgangspunkt für die anschließende Beurteilung der Organisationsform geschaffen. Darüber hinaus spielt die Darstellung der Struktur eine entscheidende Rolle für das Verständnis und die Anschlussfähigkeit der Schilderungen in den Kapiteln 6 und 7. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die komplexe Struktur der VR-Organisation auf den wenigen Seiten, die hier für die Beschreibung zur Verfügung stehen, keineswegs vollständig wiedergegeben werden kann. Leichte Vereinfachungen sowie die Aussparung von Organisationseinheiten, die für die hier vorliegende Arbeit eine untergeordnete Bedeutung haben, sind deshalb unvermeidlich. Allein die schiere Größe der VR-Organisation mit bundesweit 12.000 Bankfilialen und einer 150 Bilanzsumme von € 763 Milliarden auf der Ebene der Primärbanken 114 lässt erahnen, dass jede Beschreibung zwangsläufig auf gewisse Selektionen angewiesen ist. Regionale Genossenschaftsbanken Der grundsätzliche Aufbau der VR-Organisation ist basisdemokratisch organisiert. Gemäß dem beschriebenen Prinzip der Subsidiarität bilden die einzelnen regionalen Genossenschaftsbanken das Rückgrat der VR-Organisation. Auf dem bundesdeutschen Gebiet existieren über 1.000 dieser so genannten Ortsbanken, die in der Regel unter dem Namen Volksbank oder Raiffeisenbank firmieren. Jede dieser Banken ist eine rechtlich selbständige eingetragene Genossenschaft, die im Besitz ihrer Mitglieder ist. Da die Mitgliedschaft an einer Volksbank in der Regel an die Führung eines Kontos gebunden ist, setzt sich der überwiegende Teil der Mitglieder aus der lokalen Bevölkerung des Geschäftsgebiets einer Bank zusammen, die gleichzeitig auch Kunden der jeweiligen Bank sind. Ferner lässt sich über die Mitgliedschaftsstruktur aussagen, dass sie bei einer Gesamtzahl von fast 18 Millionen Mitgliedern äußerst breit gestreut ist. Der typische Mitgliedsanteil ist auf maximal € 500 bis € 1.000 beschränkt. Das oberste Mitgliederorgan ist die jährliche Mitgliederversammlung. Hier hat jedes Mitglied, unabhängig von der Höhe seines Geschäftsanteils, eine Stimme. Die Mitgliederversammlung muss Vorstand und Aufsichtsrat einer Genossenschaftsbank entlasten, entscheidet über die Gewinnverwendung und wählt neu zu besetzende Aufsichtsratsposten. Auch weitere zentrale geschäftspolitische Entscheidungen, wie zum Beispiel Fusionen zwischen zwei VR-Banken, sind durch die Mitglieder abzusegnen. In größeren Volksbanken ist es nicht unüblich, dass in der Satzung die Gründung von einer Vertreterversammlung vorgesehen ist. Vertreter sind gewählte Repräsentanten der Mitglieder, die deren Meinung auf einer jährlichen Versammlung vertreten. Die oben aufgeführten Entscheidungen werden dann auf den Vertreterversammlungen getroffen. Dies kann in der Praxis stellvertretend für andere Banken am Beispiel der Volksbank Mittelhessen veranschaulicht werden: Sie veranstaltet jährlich mehr als 40 lokale Mitgliederversammlungen, auf denen die ortsansässigen Mitglieder über den aktuellen Geschäftsverlauf informiert werden und ihre Vertreter wählen können. Außerdem findet einmal im Jahr eine Vertreterversammlung statt, auf der die Entscheidungspflichten der Mitglieder durch die gewählten Repräsentanten wahrgenommen werden. Der basisdemokratische Grundsatz bleibt somit intakt. Neben der Mitgliederversammlung verfügt jede Volksbank auch über einen Aufsichtsrat. Dabei ist insbesondere zu erwähnen, dass der Aufsichtsrat aus den Reihen der Mitglieder gewählt wird. Aus diesem Grund handelt es sich bei den 114 Vgl. Dok-04 151 Aufsichtsräten in aller Regel um ortsansässige Personen, die ebenso wie die Volksbank selbst in der jeweiligen Region verwurzelt sind. Typische Vertreter in Aufsichtsräten sind regionale Handwerksunternehmer, Unternehmer, Juristen, Apotheker oder Ärzte. Der Aufsichtsrat bildet das oberste Kontrollorgan des Vorstands und ist insbesondere auch für die Wahl der Vorstände verantwortlich. Entscheidend ist das Verständnis, dass die einzelnen Genossenschaftsbanken beziehungsweise deren Vorstände einzig ihren Mitgliedern und ihrem Aufsichtsrat verpflichtet sind. Bereits bei der Wahl der Vorstände und der Aufsichtsräte gibt es jenseits der gesetzlichen Mindestanforderungen keinerlei Einschränkungen oder Mitspracherechte zentraler Stellen. Ebenso gilt dies bei der Geschäftspolitik der Banken. Es steht den Banken frei, ihre Produkte, ihre Konditionen und ihre Partner so auszuwählen, wie ihnen dies beliebt. Markante Beispiele sind Banken, die nicht einmal das Logo der Volksbankengruppe nutzen, oder Banken deren Name keinen Hinweis auf die VR-Gruppe enthält. So firmiert die seit über 150 Jahren existierende Volksbank München bis heute unter dem Namen Münchner Bank. Auch war es für bayerische Volksbanken lange Zeit üblich, nicht die Produkte der genossenschaftlichen R+V Versicherungsgesellschaft, sondern ausschließlich Versicherungsprodukte der Allianz SE zu vertreiben. Wie diese Beispiele veranschaulichen ist, die vollständige rechtliche, organisatorische und geschäftspolitische Autonomie jeder einzelnen Volksbank ein entscheidendes Merkmal der VR-Organisation. Des Weiteren ist zu betonen, dass die einzelnen Volksbanken sehr stark lokal organisiert sind. Die Banken haben in nahezu allen Fällen ein zusammenhängendes Geschäftsgebiet, auf dem sie keine Konkurrenz durch umliegende Volksbanken befürchten müssen. Maximal an den Grenzen von Geschäftsgebieten kommt es teilweise zu sehr eingeschränkten Formen von Wettbewerb. Volksbanken sind generell stark engagiert in ihren Regionen und stehen über das Mitglieder-Modell in einem engen Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Dies ist insbesondere für die Volksbanken aus ländlichen Regionen der Fall. Diese regionale Komponente ist insbesondere auch in der Kundenwahrnehmung ein zentrales Alleinstellungsmerkmal der Volksbanken und Raiffeisenbanken. Regionalverbände Die verschiedenen Volksbanken sind jeweils in regionalen Verbänden organisiert. Diese Verbände sind selbst eingetragene Genossenschaften. Nach verschiedentlichen Fusionen existieren heute noch fünf Genossenschaftsverbände: Der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband (BWGV), der Genossenschaftsverband Bayern (GVB), der im Raum Frankfurt sowie in Nord- und Ostdeutschland tätige Genossenschaftsverband (GV), der Rheinisch-Westfälische Genossenschaftsverband (RWGV) und zuletzt der Genossenschaftsverband Weser- 152 Ems (GVWE). Ihre Mitglieder sind die Genossenschaftsbanken sowie sonstige kleinere Genossenschaften wie die teilweise noch existierenden klassischen Warengenossenschaften. Damit wird die basisdemokratische Organisationsstruktur fortgeführt: Die oberste Instanz der Willensbildung innerhalb der Regionalverbände sind ihre Mitglieder beziehungsweise von ihnen bestimmte Vertreter. Dabei handelt es sich in aller Regel um Vorstandsvorsitzende unterschiedlicher Ortsbanken, die an einem Regionalverband beteiligt sind. Die fünf Regionalverbände nehmen in der VR-Organisation grundsätzlich vier zentrale Tätigkeiten wahr: Sie sind Prüfverbände für die ihnen angeschlossenen Genossenschaftsbanken. Jede Bank muss sich von Gesetzes wegen einer jährlichen Prüfung unterziehen. Diese Prüfung könnte zwar theoretisch auch bei einer externen Prüfgesellschaft eingeholt werden; weitgehend alle Volksbanken lassen die jährliche Revision jedoch von ihrem regionalen Prüfverband durchführen. Eine zweite Funktion ist die Beratungstätigkeit der Regionalverbände, die diese den lokalen Banken zur Verfügung stellen. Diese wird in zweierlei Form erbracht. Zum einen können Mitarbeiter der Ortsbanken bei spezifischen Fragen die Unterstützung von Experten auf regionaler Ebene einholen. Zum anderen gibt es regionale Beratungsgesellschaften, die von den VR-Banken – ähnlich wie externe Beratungen – kostenpflichtig beauftragt werden können. Grundsätzlich gibt es jedoch keinerlei Pflicht für Banken, diese Beratungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Eine weitere wichtige Funktion der Regionalverbände ist die Bereitstellung von Bildungs- und Schulungsangeboten für die regionalen Volksbanken und Raiffeisenbanken, die durch den Regionalverbänden angeschlossene regionale Akademien erbracht werden. Diese Schulungsangebote reichen von Verkaufstrainings bis zur Qualifikation von Aufsichtsräten und können von den Banken jeweils kostenpflichtig in Anspruch genommen werden. Auch hier gilt, dass keinerlei Verpflichtung zur Nutzung dieser Bildungsangebote besteht und es durchaus Banken gibt, die bevorzugt mit externen Bildungsdienstleistern zusammenarbeiten. Abschließend fungieren die Regionalverbände auch als Interessenverbände der ihnen angeschlossenen Volksbanken, da diese auf sich selbst gestellt nur beschränkte Möglichkeiten haben, sich zum Beispiel in der Politik Gehör zu verschaffen. In diesem Aufgabenfeld ergibt sich zum Teil eine gewisse Aufgabenüberschneidung zwischen den Regionalverbänden und dem Bundesverband der VR-Banken. 153 Verbundunternehmen Die Verbundunternehmen (Abbildung 2) sind unabhängige Produktlieferanten innerhalb der VR-Organisation. Sie sind meist als Aktiengesellschaften, nicht als Genossenschaften organisiert. Der überwiegende Besitz der Anteile liegt jeweils bei den zwei Zentralbanken der VR-Gruppe, die im Anschluss näher vorgestellt werden. Faktisch sind die Verbundunternehmen indirekt im Besitz aller Volksbanken, genießen aber selbst gemäß dem genossenschaftlichen Prinzip einen sehr hohen Grad an Autonomie. Abbildung 2: Der VR Finanzverbund Das allgemein bekannteste der Verbundunternehmen ist wahrscheinlich die Bausparkasse Schwäbisch Hall (BSH). Sie ist die größte deutsche Bausparkasse, beschäftigt über 14.000 Mitarbeiter und zählt aktuell rund sieben Millionen Kunden. Gegründet wurde die BSH 1931 von einer Kölner Handwerkskammer. Ab dem Jahr 1941 firmierte sie unter dem Namen Bausparkasse der Deutschen Volksbanken, bevor sie 1970 ihren heutigen Firmennahmen annahm: Bausparkasse Schwäbisch Hall AG, Bausparkasse der Volksbanken und Raiffeisenbanken. Eine zu erwähnende Besonderheit ist dabei ihre Vertriebsstruktur: Der wichtigste Vertriebspartner für die BSH ist das bundesweite Netz der Volksbanken und Raiffeisenbanken. Es gibt jedoch darüber hinaus ca. 4.000 Handelsvertreter, die selbständig die Produkte der BSH vertreiben. Somit besteht die interessante Kombination, dass Volksbanken und BSH enge Partner sind, aber gleichzeitig eine große Unabhängigkeit voneinander haben. Volksbanken können Konkurrenzprodukte vertreiben und die BSH kann Kunden auf dem Geschäftsgebiet der Volksbanken mit Handelsvertretern für sich gewinnen. 154 Ein weiteres bekanntes Unternehmen aus dem Volksbanken Verbund ist die Union Investment AG, die ein Vermögen von über 200 Milliarden € verwaltet. Heute ebenfalls mehrheitlich im Besitz der Zentralbanken der VR-Gruppe, wurde sie im Jahr 1956 von mehreren Genossenschaftsbanken gegründet. Sie stellt den Genossenschaftsbanken diverse Fonds und strukturierte Produkte wie Index- oder Garantiezertifikate zur Verfügung. Zusätzlich zu den Vertriebsmöglichkeiten über die diversen Volksbanken und Raiffeisenbanken nutzt auch die Union Investment das Außendienstnetz der BSH für den Vertrieb ihrer Produkte. Damit besteht ein ähnliches Verhältnis der abhängigen Unabhängigkeit zwischen Volksbanken und der Union Investment, wie dies schon bei der BSH beschrieben wurde. Als letztes Beispiel für ein bekanntes Verbundunternehmen sei die R+V Versicherung AG genannt, die mit ebenfalls über 14.000 Mitarbeitern zu den größten Versicherungen Deutschlands zählt. Die R+V Versicherung geht geschichtlich auf die Raiffeisen Allgemeine Versicherungsgesellschaft zurück, die im Jahre 1922 gegründet wurde. Auch sie ist heute weitgehend im Besitz der VR-Zentralbanken bei einer nach wie vor geringen direkten Beteiligung von Genossenschaftsbanken. Der Produktvertrieb erfolgt vornehmlich über das Filialnetz der VR-Banken, jedoch verfügt auch die R+V Versicherung über einen unabhängigen Vertrieb. Sie setzt dabei auf unabhängige Versicherungsmakler. Weitere Verbundunternehmen sind EasyCredit, die Banken Angebote für Konsumentenkredite zur Verfügung stellt, die Deutsche Genossenschafts Hypothekenbank, die VR Leasing, sowie weitere nationale oder lokale Anbieter von Finanzprodukten. Auch wenn sich die Verbundunternehmen zum Teil stark voneinander unterscheiden können, gelten zumindest für etliche von ihnen gewisse Gemeinsamkeiten. So wird zum einen offensichtlich, dass die meisten der Verbundunternehmen eine lange Geschichte haben. Ihr Ursprung liegt in der Regel in der Genossenschaftsorganisation und sie haben ihren Platz innerhalb der VRGruppe bereits über etliche Jahrzehnte behaupten können. Noch markanter ist das gleichzeitige Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, das zwischen den Verbundunternehmen und den Volksbanken und Raiffeisenbanken herrscht. Auf der einen Seite sind sie stark aufeinander angewiesen. Die Verbundunternehmen profitieren von einem bundesweit verwurzelten Filialsystem der Ortsbanken sowie von deren regionalen Kundenkontakten, während die Banken selbst kaum in der Lage wären, ihren Kunden ein modernes Portfolio an Finanzprodukten zur Verfügung zu stellen, wenn sie nicht auf die Angebote der Verbundunternehmen zurückgreifen könnten. Auf der anderen Seite bleibt die gemäß dem genossenschaftlichen Subsidiaritätsprinzip entscheidende Autonomie der einzelnen Einheiten gewahrt. Es handelt sich jeweils um eigenständige Organisationen. Die Verbundunternehmen haben keine direkten Durchgriffsmöglichkeiten in die Geschäftsentscheidungen der 155 Volksbanken. Und die Volksbanken können ihre indirekte Eigentümerschaft faktisch nur äußerst schwer in direkte Einflussnahme bei den Verbundunternehmen ummünzen. Es wäre zuerst nötig, über komplexe lokale und regionale Willensbildungsprozesse eine einheitliche Position bei den Repräsentanten der Volksbanken in den Gremien der Zentralbanken zu erzielen, um dann auf diese Weise über die Zentralbanken Einfluss auf die Verbundunternehmen auszuüben. Die größere Einflussmöglichkeit der Volksbanken liegt darin, dass sie Produkte von nichtgenossenschaftlichen Konkurrenzfirmen der Verbundunternehmen anbieten können, wenn sie von den Angeboten aus dem Finanzverbund nicht überzeugt sind. Somit lässt sich faktisch eine komplexe Organisationsdynamik der wechselseitigen Interaktionsdynamiken beobachten. VR-Banken und Verbundunternehmen sind in ihren Entscheidungen weitgehend voneinander unabhängig, müssen aber ihr Verhalten dennoch in einer Art und Weise aufeinander abstimmen, das für beide Seiten eine tragfähige Kooperationsbasis ermöglicht. Zentralbanken Es gibt bundesweit zwei Zentralbanken der VR-Organisation, die DZ-Bank und die WGZ-Bank. Beide Zentralbanken sind Aktiengesellschaften, deren Anteile zum größten Teil in der Hand der Volks- und Raiffeisenbanken liegen. Zudem besteht eine gegenseitige Beteiligung beider Banken aneinander. Wie die Mehrzahl der Verbundunternehmen können auch die Zentralbanken auf eine lange Geschichte zurückblicken. Die WGZ Bank, die insbesondere im Rheinland und in Westfalen tätig ist, geht auf eine Zahl von genossenschaftlichen Zentralbanken zurück, von denen die ersten bereits Ende des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Ähnlich verhält es sich mit der deutlich größeren DZ Bank, deren Geschichte auf der Gründung der Preußischen Zentralgenossenschaftsbank im Jahr 1895 gründet. Die entscheidende Aufgabe der beiden Zentralbanken ist die Abwicklung des Zahlungsverkehrs der Volks- und Raiffeisenbanken. Zudem stellen sie den Genossenschaftsbanken Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung. Insofern erfüllen sie zu Teilen eine ähnliche Aufgabe wie staatliche Zentralbanken im nicht genossenschaftlichen Bankensektor. Es kommen jedoch spezifische genossenschaftliche Aufgaben hinzu. So sind die genossenschaftlichen Zentralbanken die größten Emittenten von Derivaten und sonstigen strukturierten Finanzprodukten im Genossenschaftsverbund. Damit stellen sie den Ortsbanken eine Auswahl an modernen Produkten zur Verfügung, die diese an ihre Kunden vertreiben können. Ebenso spielt die bereits angedeutete Funktion als Verbund-Holding eine entscheidende Rolle. Die Zentralbanken halten eine kontrollierende Mehrheit der Anteile an allen zuvor genannten Verbund-Unternehmen der VR-Gruppe. Auf diese Weise liegt der Besitz dieser genossenschaftlichen Produktlieferanten indirekt bei 156 den lokalen Volksbanken. Die mehrstufige Beteiligungsstruktur schafft jedoch eine relativ hohe Handlungsautonomie. Ähnliches gilt für die Zentralbanken selbst. Sie sind zwar direkt im Besitz der Ortsbanken. Da der Prozess der Willensbildung bei ca. 1.100 Banken jedoch äußerst kompliziert ist, besteht eine faktisch recht hohe Unabhängigkeit der beiden Zentralbankinstitute. Dies zeigt sich nicht zuletzt an diversen Fusionsverhandlungen beider Zentralbanken, die von der Mehrheit der Genossenschaftsbanken gewünscht sind, aber dennoch mehrfach abgebrochen wurden. Weitere zentrale Organisationseinheiten Um die Vorstellung der VR-Struktur abzurunden, sind an dieser Stelle noch drei weitere Organisationseinheiten zu nennen: Der Bundesverband der Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), die Rechenzentren der VR-Gruppe sowie die Akademie Deutscher Genossenschaften (ADG). Die Funktion des BVR gliedert sich in die Bereiche der nationalen Interessenvertretung, der Führung der Sicherungseinrichtung sowie der strategischen Gruppenführerschaft. Da der BVR die Organisationseinheit ist, die im Rahmen dieser Arbeit als Forschungspartner und empirisches Untersuchungsobjekt eine besonders herausgehobene Rolle spielt, wird er im Kapitel 5.3 detaillierter vorgestellt. Mit der Fiducia IT AG und der GAD eG verfügt die VR-Organisation über zwei unterschiedliche IT-Dienstleister und Rechenzentren. Beide sind bezüglich Umsatz und Mitarbeiter ähnlich groß und teilen sich das Bundesgebiet untereinander auf. Beide dienen für die ihnen angeschlossenen VR-Banken als Partner für Software und Hardware. Von der Gestaltung des Online-Auftritts bis zur technischen Abwicklung des Online-Banking auf ihren Servern ermöglichen sie es selbst kleineren Volksbanken, die technischen Voraussetzungen des modernen Bankbetriebs zu stemmen. Zusätzlich bieten sie Software für die Abwicklung gesamter Geschäftsprozesse an. Von standardisierten Eingabeprogrammen zur Erfassung von Kundendaten und Unterstützung von Beratungsgesprächen bis hin zum Controlling können Genossenschaftsbanken unterschiedliche Softwarelösungen dazu nutzen, um ihr Tagesgeschäft effizient abwickeln zu können. Die Akademie Deutscher Genossenschaften fungiert als nationale Bildungseinrichtung für die VR-Organisation. Sie ist wie der BVR ein eingetragener Verein. 115 Die Willensbildung erfolgt neben Mitgliederversammlungen insbesondere auch über Fachräte aus Vertretern von Banken und Verbundunternehmen. Dieses Organisationsprinzip wird im Kapitel 5.3 am Beispiel des BVR näher vorgestellt. Die ADG bildet das Pendant zu den Bildungseinrichtungen der Regionalverbände auf 115 Die ADG nimmt zudem einen Bildungsauftrag für weitere genossenschaftliche Einrichtungen außerhalb der VR-Finanzgruppe wahr; diese sind von ihrem Umfang jedoch mit der Rolle als nationaler Akademie für die VR-Gruppe nicht vergleichbar. 157 Bundesebene. Sie konzentriert sich dabei auf Bildungsangebote für das TopManagement, also insbesondere für amtierende oder kommende Bankvorstände der diversen Ortsbanken. Eine besondere Rolle spielt dabei das GBF (Genossenschaftliches BankFührungsseminar). Dabei handelt es sich um ein Ausbildungsprogramm, das der Großteil der VR-Bankvorstände durchlaufen hat. Das GBF erfüllt innerhalb der genossenschaftlichen Organisation mehrere Funktionen. Zum einen dient es als ein groß angelegtes Qualifizierungsprogramm. Zum anderen ist es von aufsichtsrechtlicher Bedeutung. Die Bankenaufsicht schreibt Bankvorständen gewisse Mindestanforderungen hinsichtlich ihrer Qualifikation vor. Da Bankvorstände in den Volksbanken und Raiffeisenbanken oftmals über keine akademische Bankausbildung verfügen, können sie diese gesetzlichen Mindestanforderungen durch das von der Bankenaufsicht akzeptierte GBF-Programm der ADG erwerben. Und zuletzt dient das GBF als eine Vernetzungs- und Austauschplattform für werdende VR-Vorstände aus dem gesamten Bundesgebiet. Rollenverschränkung innerhalb der VR-Struktur Aus der bisherigen Beschreibung wird ersichtlich, dass die VR-Gruppe ähnlich wie andere Großunternehmen der Komplexität ihrer Aufgaben durch die Ausdifferenzierung spezialisierter Organisationseinheiten begegnet. Im Unterschied zu einer Vielzahl sonstiger Organisationen setzt die VR-Organisation jedoch auf eine Verbundstruktur rechtlich unabhängiger Organisationen. Die meisten dieser Organisationen können auf eine lange genossenschaftliche Geschichte zurückblicken, in deren Verlauf ihre heutige Form entstanden ist. Somit kann es auch nicht verwundern, dass die Rollengrenzen zwischen den einzelnen genossenschaftlichen Organisationen keineswegs immer gradlinig verlaufen. Vielmehr kommt es oftmals zu komplizierten Rollenverschränkungen. So gibt es Interessenvertretungen auf Ebenen von Regionalverbänden und Bundesverband. Auch Finanzprodukte werden von unterschiedlichen Verbundunternehmen bereitgestellt. Um diese zu vertreiben, gibt es von dort aus auch gewisse Tendenzen, sich in strategische Gruppenfragen einzumischen, in denen wiederum auch der Bundesverband und die Regionalverbände engagiert sind. Zudem üben etliche Volksbanken über die Beteiligung ihrer Vorstände in Gremien der Verbundunternehmen und Verbände dort wiederum Einfluss aus. Unterstützt werden diese Rollenverschränkungen dadurch, dass innerhalb der VROrganisation rege Jobrotationen zwischen den Organisationen stattfinden. Wie zum Beispiel auch aus einigen der Interviews hervorgeht, sind die typischen Biografien in genossenschaftlichen Führungsfunktionen meist voll von Erfahrungen aus unterschiedlichen Genossenschaftsbereichen. Ein Interviewpartner betonte sogar 158 explizit, dass es für eine führende Stellung in einem Verband ungewöhnlich sei, keine durchgängig genossenschaftliche Biografie mitzubringen. 116 Außerdem sind die unterschiedlichen Organisationen – wie bereits beschrieben – oft wechselseitig aneinander beteiligt oder entsenden Repräsentanten in führende Gremien anderer VR-Organisationen. Auf diese Weise entsteht ein eng geknüpftes Netz wechselseitiger Abstimmung, kollektiver Willensbildung und gegenseitiger Beeinflussung, in dem jedoch die Autonomie der einzelnen Organisationen niemals zur Disposition steht. Dies führt bei einer längerfristigen Betrachtung der VR-Organisation zu der Erkenntnis, dass jede Teilorganisation der Gruppe zwar eine gewisse über die Zeit stabile Kernaufgabe hat, aber dass es gleichzeitig an den Rändern dieser Kernaufgaben immer wieder zu Verschiebungen kommt. So kann es sein, dass eine Organisationseinheit in einer bestimmten Phase ihren Einfluss und ihre Rolle ausweitet und zu einem späteren Zeitpunkt wieder etwas an Bedeutung verliert. Am Ende sind es jedoch immer die Ortsbanken, die entscheiden, wie sich die Gruppe entwickelt – aber nicht durch ihren eher geringen direkten Einfluss auf zentrale Organisationseinheiten der Gruppe, sondern durch die Art und Weise, wie sie ihr Geschäft betreiben. Wenn zu Zeiten der Börseneuphorie nicht nur Produkten, sondern auch strategischen Entwicklungskonzepten von Union Investment, DZ Bank und WGZ Bank eine hohe Rolle beigemessen wird, bedeutet dies, dass sich deren Einflussmöglichkeiten innerhalb der Gruppe erweitern. Eine Finanzkrise kann hingegen dazu führen, dass das Privatkundengeschäft stärker in den Fokus rückt, und strategische Konzepte der Regionalverbände und des Bundesverbands an Einfluss gewinnen. Somit kann die in diesem Teilkapitel beschriebene Rollenverteilung innerhalb der VR-Organisation als eine grobe Beschreibung einer Struktur verstanden werden, die sich über etliche Jahrzehnte ausdifferenziert hat. Dies ist jedoch keine starre Struktur, sondern ein lebendes Gebilde, in dem es zumindest an den Rändern der jeweiligen Rollen immer wieder zu Verschiebungen kommt. Insbesondere die Verbundunternehmen und Verbände stehen dabei in einer anhaltenden Konkurrenz um die Aufmerksamkeit und Anerkennung durch die ca. 1.100 unterschiedlichen Primärinstitute. 116 Int-03 159 5.2.3 Die Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken als Heterarchie Basierend auf dem kurzen Überblick über die Struktur der VR-Organisation, soll nun dargestellt werden, warum es sich im Rahmen dieser Arbeit als wertvoll erweist, diese Organisation als Heterarchie zu betrachten. Wie aus den bisherigen Beschreibungen bereits eindrücklich hervorgeht, unterscheidet sich die VR-Gruppe sehr deutlich von den Vorstellungen, die hierarchische Beschreibungen von Organisationen mitführen. Insbesondere die Autonomie der kleinsten Einheiten und das faktische Besitzerverhältnis, in dem die Ortsbanken gegenüber den zentralen Organisationseinheiten stehen, verlaufen eher konträr zu den Annahmen hierarchischer Strukturen. Vielmehr liegt, wie bereits beschrieben, ein komplexes Netz gegenseitiger Beeinflussungen vor, in dem keine klaren Über- und Unterordnungen ausgemacht werden können. Der naheliegende Gedanke ist es deshalb, sich den VR-Verbund als ein Netzwerk, respektive als eine Netzwerkorganisation vorzustellen. Eine solche Betrachtung könnte insbesondere auf ein breites Feld von wissenschaftlicher Literatur zurückgreifen, das sich mit Netzwerken und Netzwerkorganisationen auseinandersetzt. Dabei besteht jedoch die Problematik, dass in dieser umfangreichen Literatur oft sehr unterschiedliche Organisationsvorstellungen angelegt sind. So zeigt beispielsweise Sydow (1999), dass man unter Netzwerkorganisationen von marktinduzierten temporären Partnerschaften zwischen eigenständigen Unternehmen bis hin zu hierarchischen Konzernstrukturen alles verstehen kann. Zwischen diesen beiden extremen Ausprägungen stellt er eine Vielzahl von Mischformen vor. Basierend auf derartigen Betrachtungen, kommt Hennart (1993) in seinem Artikel „Explaining the swollen middle“ zu dem Schluss, dass nahezu alle in der Praxis vorkommenden Organisationen in gewisser Weise als Netzwerke verstanden werden können, die sich irgendwo zwischen den Extremen einer reinen Marktlogik und einer reinen Hierarchielogik bewegen. Der semantische Wert des Netzwerkbegriffs läge somit in erster Linie darin, dass er von einer simplistischen Reduktion von Organisationskonfigurationen auf die Begriffe Markt und Hierarchie Abstand nimmt, nicht jedoch in der genaueren Eingrenzung dessen, wie eine bestimmte Organisationen zu verstehen ist. Darüber hinaus ist die Netzwerkliteratur gespalten in die Betrachtung interorganisationaler und intraorganisationaler Netzwerke. So definiert zum Beispiel Kappelhoff (2000) Netzwerke als „Verbund sachlich und zeitlich begrenzter Kooperationsepisoden“ (S. 388). In ähnlicher Weise sieht Sydow (2000) den Netzwerkbegriff in erster Linie als eine Beschreibung für Beziehungen zwischen Organisationen. Intraorganisationale Netzwerke hingegen werden oft als 160 Zweitstrukturen beschrieben, die zum Beispiel neben hierarchischen Primärstrukturen bestehen. Ein Beispiel hierfür ist die Konzeption von Wissensnetzwerken, deren Wert vornehmlich darin gesehen wird, dass eine laterale Vernetzung von Wissen jenseits der dominanten Organisationsstrukturen ermöglicht wird (vgl. z.B. Back, von Krogh et al.; 2005). Es ist somit schwierig, eine klare Definition für eine Netzwerkorganisation herauszuarbeiten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Frage der Führung für eine Art von intraorganisationalem Netz weitgehend autonomer Organisationseinheiten, wie der VR-Organisation, in der Literatur zu Netzwerkorganisationen nicht im Detail behandelt wird. Aus diesem Grund wird die Konzeption der Netzwerkorganisation an dieser Stelle nicht weiterverfolgt, sondern der Anschluss zur Literatur heterarchischer Organisationen gesucht. In dieser Literatur wird eindeutig auf das Zusammenspiel von Organisationseinheiten innerhalb einer Organisation, bzw. eines Organisationsverbunds referenziert und gleichzeitig wird die Frage der Entscheidungskompetenz problematisiert. Wie zuvor beschrieben, entstand die Literatur zu Heterarchien gerade in Abgrenzung zu hierarchischen Vorstellungen, nach denen Entscheidungen im Zweifel immer von einer übergeordneten Stelle getroffen werden. Der Begriff der Heterarchie eignet sich somit insbesondere für Organisationsformen, die keine flüchtigen Netzwerke sind, in denen aber nicht ohne weiteres ersichtlich ist, an welchen Orten der Organisation Entscheidungen getroffen werden und Willensbildungsprozesse ablaufen. Es soll nun anhand der bereits eingeführten Merkmale von Heterarchien, die sich aus Hedlunds Schriften ableiten lassen, erörtert werden, inwieweit bei der Organisation der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken von einer Heterarchie gesprochen werden kann. 117 Als erste Eigenschaft von Heterarchien wurde beschrieben, dass sie über mehrere Zentren verfügen. Dies ist bei der VR-Organisation eindeutig der Fall. Alle Verbundorganisationen, Zentralbanken, Regionalverbände und Bildungseinrichtungen sowie der BVR können als unterschiedlich spezialisierte, zentrale Organisationseinheiten identifiziert werden. Zweitens sind die Zentren nicht als übergeordnet zu betrachten. Diese Eigenschaft ist im Fall der Genossenschaftsbanken besonders stark ausgeprägt. De facto sind die zentralen Einheiten im Besitz der Primärbanken und es gibt keinerlei zentrale Weisungsbefugnisse. Einer der an ESPrit beteiligten Berater beschrieb, dass es ein „Spezifikum des Sektors [sei], dass der jeweilige Adressat [von zentralen Interventionen], die Volks- und Raiffeisenbanken beziehungsweise der Vorstand, letztendlich 117 unternehmerisch frei ist.“ Int-06 161 Auch die Anforderung, dass je nach Situation eine Organisationseinheit die Rolle eines Häuptlings oder eines Indianers einnehmen kann, ist voll umfänglich erfüllt. Keine Organisationseinheit innerhalb der VR-Gruppe ist als zentrale Führungseinheit zu verstehen. Je nach Fragestellung sind unterschiedliche Einheiten verantwortlich. Und an den Schnittstellen ist immer wieder beobachtbar, dass sich die Verantwortlichkeiten über die Zeit verschieben können. Damit prägen manche Organisationseinheiten in gewissen Aspekten die Strategie der Gesamtorganisation, während sie in anderen Aspekten den Vorgaben anderen Einheiten folgen. Hedlund betont zudem, dass organisationale Zentren in Heterarchien nicht homogen sind. In den vorangegangen Ausführungen wurde offensichtlich, dass die zentralen Einheiten der VR-Organisation sich bereits bei der Rechtsform und hinsichtlich ihrer Besitzer unterscheiden. Zudem gibt es Spezialisierungen auf Produkte, auf strategische Fragestellungen, auf Regionen etc. Somit haben sich die zentralen Einheiten der Genossenschaftsbanken in einem zum Teil lang anhaltenden Ausdifferenzierungsprozess jeweils auf ihre eigene Art entwickelt und können deshalb auch ihre jeweiligen organisationalen Rollen äußerst spezialisiert wahrnehmen. Lose Koppelung und zirkuläre Einflussverhältnisse können als eine der Kerneigenschaften der Genossenschaftsbankorganisation verstanden werden. Es gibt durch wechselseitige Beteiligungen und Gremienvertretungen ständig komplexe Prozesse gegenseitiger Einflussnahme. Und dennoch sind alle Organisationseinheiten wie beschrieben rechtlich autonom und somit nur sehr lose aneinander gekoppelt. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu hochintegrierten Konzernstrukturen. Ein letzter zentraler Punkt von Hedlund hebt hervor, dass Heterarchien in erster Linie normativ integriert sind. Dies ist weniger klar überprüfbar als die zuvor genannten Punkte. Es lässt sich jedoch sagen, dass die Identität der VR-Organisation sehr markant durch ihre lange gemeinsame Geschichte und insbesondere durch ihr genossenschaftliches Alleinstellungsmerkmal geprägt wird. Die so genannten genossenschaftlichen Werte spielen in der Innen- wie Außenkommunikation der VR-Gruppe eine zentrale Rolle. Und auch das organisationale Selbstverständnis der Subsidiarität und der Autonomie der einzelnen Einheiten wurde in etlichen Beobachtungen als ein tief verwurzeltes Kernprinzip der Organisation nachvollzogen. Auch wenn die Frage, ob eine Organisation primär normativ integriert ist, nicht eindeutig beantwortet werden kann, so lässt sie sich im vorliegenden Fall zumindest tendenziell bejahen. Diese Bewertung der VR-Organisation vor dem Hintergrund Hedlunds Definition von Heterarchien zeigt eindrücklich, dass die deutschen Genossenschaftsbanken mehr als nur gewisse heterarchische Eigenschaften besitzen. Hedlund (1994) beschrieb 162 seine Darstellungen heterarchischer Organisationen als idealtypisch. Er betrachtete MNCs keineswegs durch und durch als Heterarchien. Dies wird in Aussagen bemerkbar wie: “A heterarchical MNC would do well seriously to consider global employee ownership of the ‘parent company’ (Hedlund, 1993; S. 232). Er sieht derartige Organisationsprinzipien in MNCs nicht verwirklicht, aber latent in ihnen angelegt. Es zeigt sich nun jedoch, dass die genossenschaftliche VR-Gruppe auf einem Hedlunds Vorstellung sehr nahe kommenden Prinzip basiert, in dem die zentralen Organisationseinheiten im breit gestreuten Besitz der einzelnen dezentralen Einheiten sind. Und auch die anderen von Hedlund aufgestellten Qualitäten einer Heterarchie sind sehr markant vorhanden. Somit lässt sich festhalten, dass die VR-Organisation Hedlunds Idealtypus der Heterarchie äußerst nahe kommt. Ähnliches lässt sich auch in Zusammenhang mit den Ausführungen von Foersters beschreiben. Von Foersters (1984) entscheidende Zusammenfassung des heterarchischen Organisationsprinzips ist in dem Satz festgehalten: „At one time it may be one of your neighbors who is making the decision, at another you, as the neighbor of others” (S. 8). Dieses Prinzip der wechselnden Entscheidungskompetenz und der Unvorhersehbarkeit, welche Organisationseinheit Entscheidungen in einem bestimmten Kontext entscheidend prägen kann, ist in der Organisation der Genossenschaftsbanken ebenfalls sehr ausgeprägt verwirklicht. Entscheidungen können von verschiedenen Zentraleinheiten getroffen werden, ihre Annahme durch Banken bleibt jedoch kontingent. Außerdem gibt es die Möglichkeit, dass Banken über lokale und regionale Interessenvertretungen ihre Meinungen bündeln und damit entscheidenden Einfluss auf die Gesamtorganisation ausüben können. 118 Insgesamt scheint es deshalb sehr geeignet, die VR-Gruppe als heterarchische Organisation zu betrachten. Diese Betrachtung der VR-Organisation aus der theoretischen Perspektive der Heterarchie schärft insbesondere den Blick dafür, dass Führung dort äußerst verteilt stattfindet. Es wird offensichtlich, dass Führung auf der einen Seite als organisationale Funktion sehr robust ist, weil sie an vielen Orten erbracht wird. Wenn eine Einheit in einem bestimmten Kontext keine Führung übernehmen kann oder will, kann die Führungsfunktion durch andere Einheiten erbracht werden. Wie Hedlund und Kogut (1993) beschreiben, gibt es nicht eine zentrale Einheit, die das Gehirn der Organisation ist, während alle anderen Organisationseinheiten ausführende Organe sind. „Rather, a better metaphor is of the firm as a brain, where all the parts contribute to the thinking, as well as to the action” (S. 356). Auf diese Weise kann das Risiko minimiert werden, dass die Dysfunktionalität einer Organisationseinheit die Führungsfunktion der Gesamtorganisation gefährdet. 118 In etlichen Interviews wird dieser Mechanismus beschrieben. Insbesondere in Int-08 wird darauf eingegangen, wie zahlreiche regionale Kreisverbände und die in ihnen tagenden Vorstände zur Willensbildung im Regionalverband und darüber hinaus beitragen können. 163 Die Verteiltheit von Führung in einer Heterarchie kann somit zur Stabilisierung dieser organisationalen Funktion als Ganzes beitragen. Auf der anderen Seite ist die Führung, die von einer spezifischen Einheit über die Zeit ausgeübt wird, in hohem Maße fragil. Die Führungslegitimität einer zentralen Einheit kann nicht als fixe Größe vorausgesetzt werden, da es immer auch möglich ist, dass die übrigen Organisationseinheiten ihr Verhalten nicht mehr an den Führungsinterventionen der betrachteten Einheit orientieren, also deren Verhalten nicht mehr als Entscheidungsprämissen nutzen. Damit bietet die Gruppe der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbaken einen idealen empirischen Extremkontext (Pettigrew, 1990) zur Betrachtung von Führungslegitimität. Aufgrund der starken heterarchischen Organisationsstruktur stehen zentrale Organisationseinheiten unter einem gesteigerten Druck zur ständigen Wiederherstellung ihrer Führungslegitimität, was diesen Prozess für einen Betrachter besser beobachtbar werden lässt. Es soll deshalb im empirischen Kontext der Deutschen Genossenschaftsbanken betrachtet werden, welche Interventionspraktiken einer zentralen Organisationseinheit der VR-Gruppe diese kontinuierliche Wiederherstellung von Führungslegitimität ermöglichen. Die hierbei im Fokus stehende Organisationseinheit ist der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), der im nächsten Teilkapitel näher vorgestellt werden soll. 5.3 Empirischer Forschungsfokus: Strategisches Kompetenzzentrum BVR Nachdem mit der Beschreibung der VR-Gruppe und ihrer heterarchischen Organisationsstruktur der grobe Rahmen für den empirischen Forschungskontext geschildert wurde, soll nun eine Eingrenzung des empirischen Fokus der vorliegenden Arbeit folgen. Aufgrund ihrer komplexen Struktur ist es ausgeschlossen, die gesamte VR-Organisation in einem einzigen Forschungsprojekt zu betrachten. Eine erste Eingrenzung wurde deshalb mit der Fokussierung der Betrachtung auf den BVR getroffen, der nun näher vorgestellt werden soll. Anschließend an diese allgemeine Vorstellung wird eine zweite Eingrenzung beschrieben. Innerhalb des BVR konzentrierten sich die Beobachtungen auf die Einheit des strategischen Kompetenzzentrums. Die Beschreibung dieser Organisationseinheit bildet somit den engeren Rahmen für das Verständnis der empirischen Schilderungen in den nachfolgenden zwei Kapiteln. Zuletzt soll abschließend in diesem Kapitel darauf eingegangen werden, auf welche Art und Weise die Forschungsfrage dieser Arbeit durch die gemachten empirischen Beobachtungen beantwortet werden kann. Hierbei gilt es insbesondere, das 164 Verhältnis der empirischen Betrachtungen in den drei unterschiedlichen Beobachtungskontexten der Arbeit – der BVR selbst, die BVR-Initiative ESPrit, sowie die sieben begleiteten Primärbanken – aufzuzeigen und zueinander in Verbindung zu setzen. Der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) Der BVR ist innerhalb der VR-Organisation eine eher junge Organisationseinheit. Er entstand 1972 im Zuge einer größeren Neuordnung der deutschen Genossenschaftslandschaft. Die unterschiedlichsten deutschen Genossenschaften einigten sich in diesem Jahr auf eine Bündelung ihrer Interessen und gründeten den Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV) als Dachverband aller Genossenschaften. Diesem Dachverband gehören etliche deutsche Genossenschaftsverbände an, darunter vier Bundesverbände. Sie vertreten Agrargenossenschaften (DRV), gewerbliche Genossenschaften (ZGV), Konsumgenossenschaften (ZDK) und schließlich die deutschen Genossenschaftsbanken (BVR). Als Dachverband sind beim DGRV die Prüfinstitute der Genossenschaftsbanken angesiedelt. Im Hinblick auf die konkrete Geschäftspolitik und strategische Fragestellungen der Volksbanken und Raiffeisenbanken übt der DGRV jedoch keinen sehr großen unmittelbaren Einfluss aus, weshalb er nicht im Fokus der hier durchgeführten empirischen Betrachtung steht. Das Jahr 1972 war ein entscheidender Meilenstein in der Entwicklung der VROrganisation, da der auf Schulze-Delitzsch zurückzuführende Deutsche Genossenschaftsverband mit dem Raiffeisenverband zusammengeführt wurde. Dies war das Resultat von Fusionsverhandlungen, die bereits in den 1960er Jahren begonnen worden waren. Mit der Gründung des BVR entstand in diesem Rahmen der erste bundeseinheitliche Verband aller Volks- und Raiffeisenbanken. Die entscheidende Aufgabe des BVR war dabei die nationale und übernationale Interessenvertretung aller deutschen Genossenschaftsbanken. Darüber hinaus übernahm der BVR die wichtige Funktion der Sicherungseinrichtung für die gesamte VR-Gruppe. Hierzu wurden die zwei Sicherungssysteme der Volksbanken und der Raiffeisenbanken während einer Übergangszeit verschmolzen. Die Führung der Sicherungseinrichtung ist bis heute eine zentrale Aufgabe des BVR. Ihre Ursprünge gehen bereits auf das Jahr 1934 zurück. Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise wurde damals ein genossenschaftliches Sicherungssystem für Banken gegründet. Damit kann die Sicherungseinrichtung des BVR als das älteste privat finanzierte Sicherungssystem für Banken angesehen werden. Seit 1934 kam es in keinem Fall zum Verlust von Kundengeldern und es musste zu keinem Zeitpunkt – auch nicht während der Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts – auf staatliche Unterstützung zurückgegriffen werden. 165 Im Einzelnen setzt sich die Sicherungseinrichtung des BVR aus einem Garantiefonds, in den alle VR-Banken einzahlen, und aus einem Garantieverbund gemeinschaftlicher Haftung aller VR-Banken zusammen. Der BVR ist verantwortlich für die Verwaltung der Geldmittel. Zudem konzentriert sich die Sicherungseinrichtung verstärkt auf die Prävention von finanziellen Schieflagen von Banken. Im Rahmen der genossenschaftlichen Hilfe zur Selbsthilfe werden Banken unterstützt, die unter Umständen auf eine finanzielle Problemsituation zusteuern. Bevor jedoch eine tatsächliche finanzielle Schieflage erreicht ist, besitzt die Sicherungseinrichtung nur geringe direkte Einflussmöglichkeiten auf einzelne VR-Banken. Dies ändert sich, sobald eine Bank, die finanziellen Mittel der Sicherungseinrichtung in Anspruch nehmen muss. In diesem Moment wird sie dazu verpflichtet, ein Sanierungskonzept auszuarbeiten und umzusetzen. Der BVR hat dann das Recht zur Mitarbeit an dieser Ausarbeitung und jedes Sanierungskonzept bedarf der finalen Zustimmung des BVR. 119 Diese direkten Durchgriffmöglichkeiten in die Geschäftspolitik einer Bank stellen jedoch eine nur in Extremfällen vorkommende Ausnahme dar. Außerhalb von Sanierungsfällen gilt auch für den BVR, dass die lokale Souveränität aller Banken nach dem Prinzip der Subsidiarität zu beachten ist. Dies wird bereits in der Präambel der Satzung des BVR deutlich: „Das Leitbild der genossenschaftlichen Bankengruppe ist und bleibt die rechtlich und wirtschaftlich selbständige Genossenschaftsbank vor Ort. Die genossenschaftliche Bankengruppe ist kein Konzern, sie soll es auch in Zukunft nicht werden. Die Subsidiarität und die Autonomie der Mitglieder des BVR und ihrer Organe muss gewahrt werden. Die Verantwortung für die Ausschöpfung der Markt- und Ertragspotenziale im jeweiligen Marktgebiet liegt bei den Genossenschaftsbanken. Aus dieser prinzipiellen Marktverantwortung folgt, dass alle Vertriebsaktivitäten in einem Geschäftsgebiet unter Führung der jeweiligen Genossenschaftsbank stattzufinden haben. Die Verbundunternehmen haben als Produktspezialisten die Verantwortung, den Genossenschaftsbanken wettbewerbsfähige Leistungen und Produkte anzubieten.“ 120 Diese bemerkenswerte Einführung in die Satzung des BVR, die auf Initiative von über 100 Volksbanken als Präambel aufgenommen wurde, 121 illustriert das Selbstverständnis der VR-Organisation sehr deutlich. Beide Abschnitte konzentrieren 119 Vgl. Dok-05; Bei dieser Regelung handelt es sich um die einzige Möglichkeit eines hierarchischen Durchgriffs des BVR auf einzelne Banken. Dies könnte als eine hierarchische Notstruktur betrachtet werden, die nur in Notfällen zum Einsatz kommt – also wenn eine Bank in finanzielle Schieflage geraten ist. Somit hat die VR-Organisation auch für diese Sonderfälle eine tragfähige Lösung entwickelt, ohne dabei das grundsätzliche Prinzip der lokalen Autonomie einschränken zu müssen. 120 Dok-03, S. 7 121 Vgl. Dok-02 166 sich im Wesentlichen darauf, die Autonomie der Ortsbanken auf mannigfaltige Weise zu unterstreichen. Es wird somit erneut offensichtlich, dass es sich beim BVR nicht um die Zentraleinheit einer klassischen Konzernorganisation handelt. Zwar ist der BVR für die strategische Ausrichtung der VR-Gruppe verantwortlich, aber seine direkten Eingriffsmöglichkeiten in die Organisation lassen sich nicht mit denen klassischer Konzernzentralen vergleichen. Die Vorstellung der Organisationssteuerung durch große administrative Unternehmenszentralen ist nach Hedlund und Kogut (1993, S. 352) in Heterarchien zu verwerfen. Und selbst theoretisch könnte der BVR mit gerade einmal 190 Mitarbeitern keine zentrale Steuerungsrolle in einer Organisation mit 1.078 eigenständigen Banken 122 ausüben. Auch der Aufbau der entscheidenden Gremien zeigt auf, dass die Willensbildung innerhalb der VR-Organisation keineswegs einseitig vom BVR als Zentralverband in die unterschiedlichen Organisationseinheiten der VR-Gruppe verläuft. Das höchste Organ des BVR ist die Mitgliederversammlung. In §6 der Satzung des BVR123 sind als mitgliedsberechtigte Organisationen namentlich aufgeführt: „die Kreditinstitute, die einem Prüfungsverband angeschlossen sind; die Prüfungsverbände 124; die DZ BANK AG Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank; die WGZ-Bank Westdeutsche Genossenschafts-Zentralbank eG; die Verbundunternehmen“ (S. 9). Somit sind die dem BVR angeschlossenen Organisationseinheiten gleichzeitig als Mitglieder in der Lage, Einfluss auf die Willensbildung des BVR zu nehmen. Ähnlich verhält es sich bei der Zusammensetzung des Verbandsrates. Der Verbandsrat ist das Gremium mit dem zentralen Einfluss auf die grundsätzliche Geschäftspolitik des BVR. Er „entscheidet über die strategische Ausrichtung der Gruppe“ (S.17). 125 Die Mitglieder des Verbandsrats sind von den unterschiedlichen Regionalverbänden entsandte Repräsentanten. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um Vorstände verschiedener Banken, die jeweils ihre lokalen Interessen in den Verbandsrat einbringen können. Daneben sind jedoch erneut auch alle sonstigen maßgebenden Organisationseinheiten der VR-Organisation im Verbandsrat vertreten. 126 Es wurde somit bei der Ausgestaltung des BVR an jeder 122 Dok-04 Dok-03 124 Hierbei handelt es sich um die Organisationen, die im Rahmen der Arbeit als Regionalverbände bezeichnet werden. 125 Ibid.; §24 126 Die genaue Zusammensetzung des Verbandsrat ist in §19 der Satzung des BVR festgehalten: Von seinen maximal 53 Mitgliedern stellen die Kreditgenossenschaften bis zu 30 eigene Repräsentanten. Weitere 10Mitglieder stammen aus Prüfverbänden und dem DGRV. Je ein Mitgliedsrecht besitzen die DZ BANK AG, die WGZ-Bank, die BSH, die R+V Versicherungsgruppe, die Union Investment, die Deutsche Genossenschafts-Hypothekenbank AG, die Münchener Hypothekenbank eG, der Deutsche Genossenschafts-Verlag eG, die ADG, die Fiducia, die GAD sowie der Deutsche Raiffeisenverband. 123 167 Stelle darauf geachtet, dass die Willensbildung unter der Beteiligung von Vertretern aller VR-Organisationen erfolgt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der BVR als nationale Interessenvertretung und Hüter der nationalen Sicherungseinrichtung im Auftrag der Gesamtheit der deutschen Genossenschaftsbanken entstand. Er ist organisational so aufgestellt, dass er keinerlei direkte Durchgriffsrechte gegenüber den einzelnen Banken, Verbänden oder Verbundunternehmen besitzt, wenn diese sich nicht in einer Sanierungsphase unter dem Schirm der Sicherungseinrichtung befinden. Alle Grundsatzentscheidungen über die strategische Ausrichtung des BVR liegen in der Hand von Gremien, die sich aus Repräsentanten der einzelnen genossenschaftlichen Organisationseinheit der VR-Gruppe zusammensetzen. Der BVR als strategisches Kompetenzzentrum Auch wenn die Interessenvertretung und die Verwaltung der Sicherungseinrichtung die ursprünglichen Kerntätigkeiten des BVR darstellen und bis heute von entscheidender Bedeutung sind, soll der empirische Fokus dieser Arbeit auf dem dritten Aufgabenfeld des BVR liegen – dem BVR als strategischem Kompetenzzentrum der VR-Organisation. Wie in §3 der heutigen Satzung festgehalten, hat der BVR die Aufgabe der „Entwicklung von Konzepten für die Gruppe als strategisches Kompetenzzentrum, wobei die Autonomie der Primärgenossenschaften in ihrer strategischen Ausrichtung unberührt bleibt.“ 127 Auch an dieser Stelle wird die Autonomie der Primärbanken erneut hervorgehoben, dennoch wird dem BVR gleichzeitig die Aufgabe übertragen, die Rolle der Strategieführerschaft innerhalb der VR-Gruppe zu übernehmen. Dies geschah im Jahr 2004 im Rahmen einer Satzungsänderung, deren Verlauf ebenfalls äußerst aufschlussreich ist. Aufgrund der steigenden Anforderungen, die das Bankgeschäft des 21. Jahrhunderts an Banken stellt – vom unablässig zunehmenden Regulierungsdruck, über die sich verschärfende Wettbewerbsintensität im Privatkundengeschäft, bis hin zu den ständigen technischen Neuerungen, etc. – entstand eine Initiative, die es vorsah, dem BVR die Entwicklung strategischer Kompetenzen für die VR-Gruppe zu übertragen. Nach ausführlichen Vorarbeiten und Diskussionen in diversen Gremien wurde diese Neupositionierung den Mitgliedern des BVR im Rahmen einer Satzungsänderung zur Abstimmung vorgelegt. Im September stimmten die Repräsentanten von 771 Volksbanken, Verbundunternehmen und weiteren VROrganisationseinheiten mit einer Mehrheit von 73,4% für die Satzungsänderung. 128 127 Dok-03; S. 8. Quelle: Pressearchiv des BVR: http://www.bvr.de/p.nsf/index.html?ReadForm&main=6&sub= 1&ParentUNID=200AA5406BB61843C1256F170049908B 128 168 Damit wurde die erforderliche Mehrheit von 75% verfehlt und es musste weiter nach einem Konsens für die Neupositionierung des BVR gesucht werden. Für diese Fortführung der Beratungen über das Konzept der Neupositionierung stimmten 87% der vertretenen Mitglieder. Im Dezember des Jahres 2004 gelang es dann, die erforderliche Zustimmung der Genossenschaftsbanken für die Erweiterung der Aufgabengebiete des BVR zu erlangen. Dem BVR wurde in dieser zweiten Abstimmung die Aufgabe des strategischen Kompetenzzentrums für die VR-Organisation übertragen. Der damalige BVR-Präsident Dr. Pleister kommentierte diesen Prozess mit einer Aussage, die sinnbildlich für die Arbeitsweise des BVR, aber auch anderer zentraler Organisationseinheiten der VR-Gruppe steht: „Solche Umwege sind manchmal notwendig; denn zukunftsweisende Reformen wie die der Neupositionierung können nur dann nachhaltig wirken, wenn sie von unseren Mitgliedsbanken mit breiter Zustimmung getragen und gelebt werden.“129 Es sind nicht zentrale Einheiten, die in der VR-Gruppe die Schrittgeschwindigkeit festlegen, sondern der Erfolg aller zentralen Initiativen hängt von der Überzeugung ab, mit der diese von den lokalen Primärbanken akzeptiert und umgesetzt werden. Die Neuausrichtung des BVR änderte somit nichts an der heterarchischen Organisationskonfiguration und der subsidiären Selbstverantwortung autonomer Organisationseinheiten unter dem Dach der VR-Organisation. Dieses Grundprinzip genossenschaftlicher Arbeitsweise fand auch in der geänderten Satzung des BVR von 2004 Eingang. Dies lässt sich zum einen in der bereits beschriebenen Präambel finden, die jede Art zentraler Kontrolle von vornherein ausschließt. Zum anderen wurde auch die Aufgabe des BVR als strategischem Kompetenzzentrum so beschrieben, dass eine möglichst hohe Einbindung von Vertretern anderer Organisationseinheiten der VR-Gruppe sichergestellt ist. In §26 der BVR-Satzung 130 wird beschrieben, dass die Aufgabe des strategischen Kompetenzzentrums in sieben neu gegründeten Fachräten, dem Fachrat Markt, den Fachrat Produkte, dem Fachrat Informationstechnologie, dem Fachrat Zahlungsverkehr, dem Fachrat Steuerung, dem Fachrat Personal und dem Fachrat Bankrecht erbracht wird. Dabei setzen sich die Mitglieder der Fachräte aus ehrenamtlichen Repräsentanten von Volksbanken, Verbundunternehmen, Zentralbanken, Regionalverbänden etc. zusammen. Die Mehrheit liegt wie auch in anderen Gremien bei den Vertretern der lokalen Volksbanken und Raiffeisenbanken. 129 Quelle: Pressearchiv des BVR: http://www.bvr.de/p.nsf/index.html?ReadForm&main=6&sub= 1&ParentUNID=FD62C7195FBA8126C1256FB6004AE122 130 Dok-03 169 Dies führt faktisch zu folgender Arbeitsteilung: Die Fachräte sind die obersten Gremien des strategischen Kompetenzzentrums. Strategische Konzepte und Initiativen können jedoch nicht in den turnusmäßig tagenden Fachräten selbst erarbeitet werden. Vielmehr beauftragen die Fachräte gewisse Konzepte, die dann innerhalb der BVR-Abteilungen und eigens gebildeten Ausschüssen ausgearbeitet werden. Abschließend müssen die jeweiligen Konzepte und Initiativen vom zuständigen Fachrat für gut befunden werden. Andernfalls werden sie zur weiteren Überarbeitung zurückgewiesen. Damit können Fachräte deutlich Einfluss auf die Arbeit des BVR nehmen, die konkrete Ausgestaltung von strategischen Initiativen wird jedoch auch stark von den jeweiligen Abteilungen des BVR geprägt. Außerdem wird in den Fachräten die Weiterentwicklung der Initiativen beobachtet, wodurch regelmäßig die Perspektiven unterschiedlicher Anspruchsgruppen in den Schaffensprozess einfließen können. Dabei können insbesondere auch Punkte diskutiert werden, an denen BVR-Initiativen die Kompetenzen von Verbundunternehmen oder Regionalverbänden berühren. Auf diese Weise sind Rückmeldungen der Banken, als Zielgruppe von strategischen Initiativen, und Verbundunternehmen sowie Regionalverbänden, deren Interessen betroffen sein könnten und deren Unterstützung oftmals für eine spätere Umsetzung essenziell ist, bereits in der Satzungsstruktur des BVR institutionalisiert. Empirischer Beobachtungsfokus innerhalb des BVR Ausgangspunkt für den empirischen Beobachtungsfokus ist die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit: Durch welche Interventionspraktiken kann Führungslegitimität in einer Wirtschaftsorganisation unter Abwesenheit hierarchischer Strukturen in einem ständigen Prozess wiederhergestellt werden? Es wurde argumentiert, dass ein Prozessverständnis von Führungslegitimität idealerweise in einer Organisation nachvollzogen werden kann, in der keine klassische Hierarchie als „Diskussions-Beendigungs-Institution“ (Neuberger, 2007; S. 186) gegeben ist und somit der kontinuierliche Prozess der Wiederherstellung von Führungslegitimität deutlicher beobachtbar ist. Die VR-Organisation als heterarchische Organisation eignet sich für ein derartiges Forschungsprojekt, ist jedoch als Ganzes zu komplex für eine fokussierte empirische Betrachtung. Darum wurde der Beobachtungsfokus in der vorliegenden Arbeit auf den BVR gerichtet. Innerhalb des BVR wurden dabei die zwei Felder der nationalen Interessenvertretung und der Betreuung der genossenschaftlichen Sicherungseinrichtung weitgehend ausgeklammert, um eine weitere Konzentration der Beobachtungen auf die Funktion des BVR als strategisches Kompetenzzentrum zu bewirken. 170 Wie beschrieben ist das strategische Kompetenzzentrum eine relativ junge Einrichtung innerhalb der VR-Organisation, der die Aufgabe der strategischen Gruppenführerschaft übertragen wurde. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass am Beispiel des strategischen Kompetenzzentrums innerhalb des BVR in besonders deutlicher Weise der Prozess der Legitimierung einer organisationalen Führungsfunktion beobachtet werden kann. Den Ausgangspunkt für die empirischen Beobachtungen bildete die strategische Initiative ESPrit. 131 Diese Initiative ging vom Fachrat Markt des BVR aus, wurde jedoch auch vom Geschäftsführer des Fachrates Personal unterstützt. Zudem war am Rande der Fachrat Steuerung mit einbezogen. Auf diese Weise konnte die Arbeitsweise und die Interaktion des strategischen Kompetenzzentrums am Beispiel von ESPrit beobachtet werden. Der Fokus dieser Beobachtungen liegt gemäß der Forschungsfrage auf den Interventionspraktiken, die der BVR nutzt, um seine Aufgabe als strategisches Kompetenzzentrum wahrzunehmen. Diese Betrachtungsweise ist mit einer Definition von Führung als organisationaler Funktion abgestimmt. Fragen, wie Einzelpersonen agieren, oder welche Eigenschaften diese mitbringen, stehen ausdrücklich nicht im Fokus. 132 Vielmehr gilt es darzustellen, mit welchem Muster von Interventionspraktiken die Interaktion des BVR mit den Banken beschrieben werden kann. Bei der Herausarbeitung dieser Interventionspraktiken, deren Abgrenzung und Benennung durch das Forscherteam erfolgte und nicht auf bereits innerhalb des BVR präexistierende Kategorien zurückgreifen konnte, wurde neben den Beobachtungen aus ESPrit auf die Rekonstruktion weiterer Projekte des strategischen Kompetenzzentrums gesetzt. Diese Rekonstruktion basiert auf den Beobachtungen und Interviews innerhalb des BVR ebenso wie innerhalb der begleiteten sieben Banken. Die Unterscheidung und Benennung dieser Interventionspraktiken des BVR ist somit der erste Schritt zur Beantwortung der gestellten Forschungsfrage. Ausgehend von der Beobachtung in mehreren Banken, die diverse Formen von Einfluss des BVRs zum Vorschein brachten, ist der Schluss erlaubt, dass die vom BVR genutzten Interventionspraktiken dazu geeignet sind, die Legitimität organisationaler Führung im vorliegenden Organisationskontext kontinuierlich zu erneuern. Es soll jedoch darüber hinaus beschrieben werden, wie die verschiedenen Interventionspraktiken des BVR hierzu beitragen, oder präziser ausgedrückt, wie sich diese unterschiedlichen Interventionspraktiken auf die Entscheidungsprämissen auswirken, die in lokalen Banken beobachtet werden konnten. 131 Für eine genauere Beschreibung des Feldzugangs siehe Kapitel 4.3 Dies darf nicht so gedeutet werden, dass diese Fragen keine Bedeutung haben. Gerade in der VROrganisation erwies es sich wiederholt, dass erfolgreiche Mitarbeiter in zentralen Organisationseinheiten oftmals aufgrund vergangener Berufserfahrungen in der VR-Gruppe äußerst gut vernetzt waren und gleichzeitig eine sehr wertschätzende Art des Umgangs mit Mitgliedern anderer VR-Organisationen und VR-Banken entwickelt hatten. Diese Aspekte sollen jedoch aus der vorliegenden Betrachtung ausgeschlossen werden und nur insoweit in die angestellten Überlegungen wiedereingeführt werden, wie dies für das zugrunde gelegte organisationale Führungsverständnis von Bedeutung ist. 132 171 Dahinter steht die bereits beschriebene Hypothese, dass Führung nur über die Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen Wirkung innerhalb einer Organisation entfalten kann und dass die Beobachtung dieses Einflusses auf Entscheidungsprämissen deshalb geeignet ist, auf Führungslegitimität zu schließen. Eine tiefergehende Beantwortung der aufgestellten Forschungsfrage erfordert es deshalb, im Detail zu schildern, wie die Interventionspraktiken des BVR für sich und im Zusammenspiel miteinander es ermöglichen, die Führungslegitimität des BVR als strategischem Kompetenzzentrum zu perpetuieren. Vor dieser Rekonstruktion und Interpretation der Interventionspraktiken des BVR (Kapitel 7) gilt es jedoch, den nötigen Beobachtungskontext darzulegen. Wie bereits in Kapitel 4 geschildert, sind Kategorisierungen und Interpretationen empirischer Daten bereits Konzepte zweiter Ordnung. Die Basis für diese bildet in der vorliegenden Arbeit eine dichte Beschreibung der empirischen Beobachtungen (Kapitel 6), die als ein Konzept erster Ordnung zu betrachten ist. Eine solche dichte Beschreibung ist entsprechend der Ausführungen des vorangegangen Kapitels nicht lediglich vorteilhaft für die Strukturierung des Forschungsprozesses, sondern ermöglicht es insbesondere auch, dem Leser einen Einblick in das empirische Material zu gewähren und auf diese Weise zum wissenschaftlichen Gütekriterium der Nachvollziehbarkeit beizutragen. Einschränkend muss hierzu jedoch angemerkt werden, dass aufgrund der Fülle der empirischen Beobachtung keine umfassende Darstellung aller Beobachtungsphasen möglich ist. Der Fokus des nächsten Kapitels liegt auf der Darstellung des ESPrit Projektes, da dieses dazu geeignet ist, einen ersten Eindruck der Arbeitsweise des BVR in unmittelbarer Interaktion mit den Banken zu vermitteln. Hierzu zählen auch die Beobachtungen innerhalb des BVRs, die im Zusammenhang mit ESPrit gemacht werden konnten. Alle Beobachtungen, die bei der forschenden Begleitung der beschriebenen sieben Volksbanken durchgeführt werden, werden nur dort in die dichte Beschreibung von ESPrit einfließen, wo sie diese unmittelbar bereichern können. Diese empirischen Daten, die durch Beobachtungen und Interviews in den sieben Banken gesammelt werden konnten, werden ein stärkeres Gewicht in Kapitel 7 gewinnen, wenn es darum geht, die Interventionspraktiken des BVR zu rekonstruieren und zu interpretieren. 172 6 ESPrit – eine strategische Initiative des BVR All nature is but art unknown to thee, All chance, direction which thou canst not see; All discord, harmony not understood; All partial evil, universal good; And, spite of pride, in erring reason's spite, One truth is clear, whatever is, is right. - Alexander Pope, An Essay on Man Die empirische Grundlage der vorliegenden Arbeit ist die intensive Beobachtung des ESPrit Projektes des BVR sowie die weiterführende Beobachtung einiger teilnehmender Banken. ESPrit – erfolgreiche Strategien im Privatkundengeschäft – wurde vom BVR als ein Pilotprojekt deklariert, mit dessen Hilfe eruiert werden sollte, wie Banken im Privatkundengeschäft von Seiten des Bundesverbandes unterstützt werden können. Diese Vorgehensweise ist nicht unüblich, sondern gründet auf den Erfahrungen aus ähnlichen Projekten der Vergangenheit. Ein BVR-Verantwortlicher meinte zum Beispiel: „Das ist sicherlich ein Stück getrieben auch aus PROFI [Anm. d. Autors: Initiative Profitables Firmenkundengeschäft], aus den Überlegungen im Firmenkundengeschäft.“ 133 Für den BVR sind derartige Pilotprojekte eine Möglichkeit, um Ideen und bestehende sowie neue strategische Konzepte in der Interaktion mit mehreren Volksbanken zu testen. Aus diesem Grund bietet die Begleitung eines solchen Pilotprojekts die Möglichkeit, ein breites Verständnis für die Arbeitsweise des BVR und für die Art der Zusammenarbeit zwischen BVR, Banken und weiteren VR-Organisationen aufzubauen. Im Rahmen des vorliegenden Kapitels soll dem Leser mittels einer dichten Beschreibung des ESPrit Projektes ein Eindruck der charakteristischen Interaktionsprozesse zwischen dem BVR und anderen Einheiten der VROrganisation vermittelt werden. Hierzu wird zunächst die Entstehung von ESPrit sowie die Vorbereitung des ESPrit Projektes durch den BVR beschrieben (Kapitel 6.1). Anschließend wird die Durchführung der sechs ESPrit-Module dargestellt (Kapitel 6.2). Zwei hierzu parallel abgelaufene Aktivitäten, der Aufbau von Erfahrungs- und Austauschgruppen (Kapitel 6.3) sowie die Einbindung von 133 Int-02 173 Verbänden und Verbundunternehmen in das ESPrit Projekt (Kapitel 6.4), werden der Übersichtlichkeit wegen gesondert behandelt, obgleich sie während der gesamten Dauer von ESPrit kontinuierlich stattfanden. Auf diese Weise soll eine Basis für die Identifikation und Diskussion der charakteristischen Interventionspraktiken des BVR (Kapitel 7) geschaffen werden. Der aktiv beobachtete Zeitraum des ESPrit-Projektes erstreckte sich dabei von Januar 2010 bis April 2012. Die Vorbereitungsphase vor diesem Zeitraum konnte mithilfe von Dokumenten und Interviews rekonstruiert werden. 6.1 Entstehung und Vorbereitungsphase von ESPrit Zu Beginn der Darstellung des ESPrit Projektes soll auf den Hintergrund der Entstehung und die Konzeptionsphase des Projektes eingegangen werden. Anschließend folgt eine Beschreibung, wie der BVR Volksbanken informierte, um mögliche Teilnehmer für die Initiative gewinnen zu können, und wie Verbände, Beratungs- und Verbundunternehmen informiert wurden. Konzeption von ESPrit Die Entstehung des Projektes ESPrit geht bereits auf das Ende des Jahres 2008 zurück. 134 Zu dieser Zeit formte sich innerhalb des BVR die Überzeugung, dass Möglichkeiten eruiert werden müssen, wie diverse, bereits vorhandene, Unterstützungsangebote für lokale Volksbanken im Privatkundengeschäft besser vermittelt werden können. Insbesondere Erfahrungen aus anderen Projekte, wie zum Beispiel dem Firmenkundenprojekt PROFI, trugen dazu bei, dass eine Vorgehensweise im Rahmen eines Pilotprojektes erwogen wurde, die es ermöglicht, eng mit mehreren Volksbanken zusammenarbeiten zu können. 135 Nachdem eine derartige Absicht Gestalt angenommen hatte, ging es in einem nächsten Schritt darum, ein breiteres Interesse für das geplante Vorhaben zu mobilisieren. „Die erste Hürde ist, glaube ich, Mitverbündete zu finden.“ 136 In einem ersten Schritt wurde insbesondere um die Unterstützung des Fachrates Markt geworben: „Also im Fachrat muss natürlich entschieden werden: Ist das ein Projekt, das wir so betreiben wollen oder nicht, und was nutzt es denn überhaupt für die 134 Vgl. Int-02 Vgl. Int-01 136 Int-02 135 174 Banken?“ 137 Eine Abstimmung mit dem Fachrat ist bereits deshalb unumgänglich, „weil es natürlich auch durch das Budget aus dem Fachrat Markt finanziert wird.“ 138 Wie bereits beschrieben, besteht der BVR aus sieben Fachräten mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten. Das Projekt ESPrit mit seinem Schwerpunkt auf das Privatkundengeschäft der Banken fällt in die Verantwortlichkeit des Fachrates Markt. Innerhalb dieses Gremiums wurde das Projekt den jeweiligen Repräsentanten aus lokalen Banken, Verbänden, Verbundunternehmen etc. vorgestellt. Nach einer Diskussion im Fachrat Markt ist laut einer verantwortlichen Person des BVR bei den Kollegen des Fachrates „schon auch deutlich geworden, dass es eben kein Erkenntnisproblem ist, kein Konzeptproblem, oder kein inhaltliches Problem, sondern dass es einfach eine Frage des Machens ist.“139 Die generelle Überlegung des BVR, dass weitere Initiativen nötig sind, um bereits vorhandene Konzepte mit Banken zu debattieren, wurde somit geteilt. In einem nächsten Schritt wurde vom BVR gemeinsam mit einer externen Beratung die Grundidee des Projektes ESPrit weiter ausgearbeitet. Hierzu wurde auf die systemische Organisationsberatung osb gesetzt, mit dem Verweis, dass eine prozessorientierte und ergebnisoffene Arbeitsweise für äußerst wichtig erachtet wurde. 140 Ein Berater beschrieb die Einbindung der osb in die Erarbeitung von ESPrit wie folgt: „Wir sind ja erst später dazugekommen. Die Idee oder die Fragestellung, die [den BVR] umgetrieben hat [bestand bereits]: Wie kann man das Privatkundengeschäft fördern, wie kann man die Leistungsfähigkeit der Volks- und Raiffeisenbanken im Privatkundengeschäft stärken? […] Das Konzept [war jedoch] noch nicht fertig, sondern war im Wesentlichen eine Idee. Eine Idee, wo ich dazu gekommen bin, um diese Idee gemeinsam durchzuführen und auch zu erarbeiten.“141 Es wurde somit vom BVR kein externes Beratungskonzept eingekauft, sondern eine intern entstandene Konzeptidee in Kooperation mit einer externen Beratung ausgearbeitet. Die Konzeption von ESPrit wurde vom BVR anhand der Grafik in Abbildung 3 beschrieben. Als Ausgangspunkt wurden die strategischen Ziele der VR-Banken herangezogen. Um diese für den Bereich des Privatkundengeschäfts zu erreichen, sollte mit dem Pilotprojekt ESPrit der Vorstand der Teilnehmerbanken angesprochen werden. Mittels des Projektes selbst (1. Säule), der begleitenden Beratung des Expertenpools verschiedener involvierter Verbände und Verbundunternehmen (2. Säule) sowie mit einem begleitenden Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmern (3. Säule) sollten Entwicklungsimpulse für die Teilnehmerbanken generiert werden. Die über den Projektverlauf vom BVR gewonnen Erkenntnisse sollten darüber hinaus genutzt werden, um weitere Entwicklungsimpulse für die 137 Int-01 Int-05 139 Int-03 140 Vgl. Int-02 141 Int-06 138 175 gesamte VR-Gruppe setzen zu können. Ferner wurde bezüglich der Projektfinanzierung beschlossen, dass die Kosten für die Beratung durch den BVR übernommen werden und die einzelnen Banken lediglich für die Unterkunft ihrer Teilnehmer aufzukommen haben. Abbildung 3: ESPrit Konzept des BVR 142 Die Zielsetzung für die Teilnehmer des ESPrit Projektes wurde in einem vom BVR erstellten Informationsdokument wie folgt beschrieben: „Letztendlich geht es darum, die Zukunftsfähigkeit Ihrer Bank über eine vernetzte Entwicklung folgender Aspekte und Wahrnehmung derselben durch Sie als Vorstandsmitglied sicherzustellen: 142 Management und Führung Strategische Zielsetzungen wirksame Umsetzung von Vertriebsstrategien passgenaue, nachhaltige und konsequente Umsetzung Vertriebsaktivitäten Schärfung der Marke Ihrer Bank in Ihrem Geschäftsgebiet Ausschöpfung von Marktpotentialen Ausschöpfung von Mitarbeiterpotentialen Dok-007 von 176 Aufspüren von Kundenpotentialen in Ihrer Bank Ziel ist es schließlich, zu einer optimierten Marktpositionierung und Vertriebsleistung Ihrer Bank zu gelangen. Dabei werden entlang IHRES bankindividuellen Projektes aus dem Privatkundengeschäft die o. a. Aspekte analysiert, erarbeitet und implementiert.“ 143 Wie aus dieser Beschreibung hervorgeht, wurde ESPrit als eine begleitende Initiative zu Entwicklungsinitiativen der teilnehmenden Banken konzipiert. Demzufolge wurde die Interaktion mit den Banken in 6 Module aufgeteilt, die zwischen Februar 2010 und Mai 2011 stattfanden (vgl. Abb. 4). Auf diese Weise nahmen die Banken über die Zeit immer wieder an Workshops teil, während sie zwischen den Workshops bereits die Möglichkeit hatten, gewisse Inputs zu reflektieren und in ihren Banken anzuwenden. Die ersten 4 Module bildeten dabei den Kernbestandteil des ESPrit Projekts, während die abschließenden Module lediglich optional waren. Eine eingehendere Beschreibung dieser Kernmodule erfolgt in Kapitel 6.2. Abbildung 4: Ablauf des ESPrit Projektes 144 Unterstützt wurde ESPrit unter anderem durch einen Expertenpool. Dieser setzte sich aus Vertretern verschiedener genossenschaftlicher Beratungsgesellschaften sowie Verbundunternehmen zusammen. Die Interaktion mit diesen wird in Kapitel 6.4 dargestellt. Ebenso wurde die wissenschaftliche Begleitforschung, auf der die vorliegende Arbeit basiert, als ein Element des ESPrit Projektes an die 143 144 ibid. ibid. 177 Teilnehmerbanken kommuniziert. Eine Darstellung der Rolle der Begleitforschung und des Forschungszugangs erfolgte bereits zuvor (Kapitel 4.3.1). Kommunikation von ESPrit in der VR-Gruppe Nach der Erstellung des Konzepts von ESPrit erfolgte eine Phase der intensiven Kommunikation an mögliche Banken sowie an Verbände und Verbundunternehmen. Den VR-Banken wurden ein Q&A-Dokument und eine Entscheidungshilfe zur Verfügung gestellt 145, die sie über ESPrit informieren sollten und ein Interesse bei möglichen Teilnehmern wecken sollten. Ferner wurden bundesweit alle Volksbanken zu einer ganztägigen Informationsveranstaltung über ESPrit in Berlin eingeladen, die im November 2009 stattfand. 146 An dieser Informationsveranstaltung nahmen insgesamt 50 lokale Genossenschaftsbanken teil. 147 Ein BVR-Verantwortlicher fasste die Informationskampagne zu ESPrit wie folgt zusammen: „Wir haben eine Ausschreibung gemacht, wir haben das an die Banken rausgeschickt. Darauf haben sich Banken beworben. Beziehungsweise wir haben einen Informationstag angeboten und im Rahmen dieser Infoveranstaltung haben sich dann die teilnehmenden Banken herausgeschält.“148 Während der Informationsveranstaltung in Berlin wurde die grundsätzliche strategische Bedeutung von ESPrit im Zusammenspiel mit weiteren BVR-Initiativen erläutert. Zudem wurden der Ablauf, die Module und die begleitende Beratung von ESPrit vorgestellt. 149 Die Reaktion der Banken auf die Informationsveranstaltung wurde von Teilnehmern als gemischt bezeichnet. Ein Teilnehmer des BVR schilderte: „Die Reaktionen in dem Kickoff waren auch sehr unterschiedlich, von großer Begeisterung […] bis aber auch kritische Meinungen wie: Verstehe ich nicht. Oder: Was soll das? Also das war denke ich quer Beet.“ 150 Wie auch noch an späterer Stelle wird hierbei die große Heterogenität unterschiedlicher Volksbanken und ihrer Erwartungshaltungen und Bedürfnisse sichtbar. Im Nachgang der Informationsveranstaltung unterhielten BVR-Mitarbeiter der Abteilung Markt weiteren persönlichen Kontakt mit möglichen Teilnehmern, um deren offene Fragen zu beantworten und deren Passung zu ESPrit zu eruieren. Letztendlich entschieden sich 20 Banken aus dem gesamten Bundesgebiet für die Teilnahme an ESPrit. 151 Alle Teilnehmerbanken unterschrieben einen vom BVR aufgesetzten Letter of Intent 152 , in dem die gemeinsame Verpflichtung zur 145 Dok-007 & Dok-008 Dok-011 147 Vgl. Int-04 148 Int-02 149 Dok-010 150 Int-05 151 Dok-012 152 Dok-009 146 178 genossenschaftlichen Wertehaltung und den strategischen VR-Zielen im Allgemeinen, sowie konkret die aktive Mitgestaltung von ESPrit und die Teilnahme am „Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten in den Erfahrungsgruppen“ vereinbart wurde. Anschließend wurden die Teilnehmerbanken in jeweils eine von 3 Projektgruppen (A, B und C) eingeteilt und für das Kick-Off Modul von ESPrit ihrer jeweiligen Gruppe Anfang 2010 eingeladen. Eine entscheidende Festlegung in der Konzeption von ESPrit war es hierbei, dass jede Bank zwei Teilnehmer definieren musste, einen Vorstand und eine leitende Führungskraft aus dem Vertrieb oder einen zweiten Vorstand, die an allen Modulen gemeinsam teilnahmen. Neben der Information und Gewinnung interessierter Banken, war der BVR in der Vorbereitungsphase zu ESPrit ebenfalls bereits sehr stark befasst mit der Kommunikation des Projektes an genossenschaftliche Verbände, Beratungsgesellschaften und Verbundunternehmen. Diese hatten das Projekt mehrheitlich bereits über ihre Vertreter im Fachrat Markt kennengelernt. Nun folgte im Dezember 2009, nach der Informationsveranstaltung der Banken, ein Informationsworkshop für den Beraterpool von ESPrit. 153 An dieser Veranstaltung nahmen Vertreter von fünf regionalen Akademien, Vertreter der fünf Regionalverbände sowie von drei VR-Agenturen teil. Des Weiteren waren Vertreter von acht Verbundunternehmen sowie von sechs genossenschaftlichen Beratungen anwesend. 154 Wie in Kapitel 6.4 näher beschrieben wird, diente diese Veranstaltung zur Information sowie zur Einbindung dieser unterschiedlichen VR-Organisationen. 6.2 Durchführung der ESPrit-Module Im Anschluss an die Vorbereitungsphase setzte mit der Durchführung der Module die Kernprojektphase von ESPrit ein. Die folgenden Schilderungen stützen sich auf die teilnehmende Begleitung der Module durch die wissenschaftliche Begleitforschung und auf eine Dokumentenanalyse von Fotoprotokollen, Emails etc., sowie auf Informationen, die in Gesprächen und Interviews mit Beteiligten gewonnen werden konnten. Insgesamt wurden 15 Workshops im Rahmen der Module durchgeführt: Die vier Pflichtmodule wurden jeweils drei Mal durchgeführt, mit den drei zu Beginn von ESPrit gebildeten Bankengruppen. In den optionalen Modulen V und VI wurden diese Gruppen aufgelöst. Aufgrund der höheren Nachfrage, wurde Modul V zweimal mit unterschiedlichen Gruppen durchgeführt, während für Modul VI die Durchführung in einer einzelnen Gruppe genügte. Die wissenschaftliche Begleitforschung konnte an den ESPrit Workshops ab Modul II teilnehmen. Modul II wurde in der Bankengruppe 153 154 Dok-068 Dok-020 179 A begleitet, Modul III in der Bankengruppe B. Das abschließende Pflichtmodul IV wurde in allen drei Bankengruppen begleitet. Ferner konnte an allen drei Durchführungen der zwei optionalen Module teilgenommen werden. Ein entscheidender Punkt bei der Ausgestaltung der einzelnen Module war, dass deren grobe inhaltliche Orientierung zwar bereits mit dem ESPrit Konzept festgelegt worden war, die genauen Inhalte aber jeweils einzeln im Vorfeld der Module festgelegt wurde. Dem BVR war es ein zentrales Anliegen, Stimmungen und Erkenntnisse möglichst flexibel in den Ablauf der Module einfließen zu lassen. Die Workshops wurden von jeweils zwei Beratern der osb moderiert, es waren jedoch immer auch mindestens zwei projektbetraute Personen aus dem BVR anwesend. Demzufolge konnten Wahrnehmungen von BVR und osb noch während der Module oder in Sitzungen zwischen den Modulen besprochen und für die weiteren Planungen genutzt werden. Somit hatten die Erfahrungen eines Moduls Auswirkungen auf die Ausgestaltung des nächsten Moduls und selbst innerhalb der Workshop-Reihen kam es wiederholt zu flexiblen Umgestaltungen. Die osb unterstütze die Workshop-Gestaltung durch eigene Ideen und Erfahrungen, legte jedoch auch großen Wert auf die Vorstellungen des BVR und die Rückmeldungen von unterschiedlichen Teilnehmern. Ein Berater beschrieb die Rolle der osb als den „Job eines durchgängigen Lernbegleiters.“ 155 Im primären Fokus stand somit nicht die Vermittlung bestimmter Inhalte, sondern die Unterstützung eines Lernprozesses, abgestimmt auf die Ansprüche des BVR und die Bedürfnisse der teilnehmenden Banken. Modul I: Führung und Gesamtverantwortung als Veränderungsmanager einer Bank ESPrit startete offiziell mit der Durchführung des ersten Moduls für die Gruppe A am 17. Februar 2010 in der Stadt Hildesheim. 156 Wie alle übrigen Module fand der Workshop in einem Seminarhotel statt. Zu Beginn wurde insbesondere darauf geachtet, dass die verschiedenen Teilnehmer eine Gelegenheit hatten, sich gegenseitig kennenzulernen. Die Teilnehmer waren über die ersten vier Module in gleichbleibende Gruppen eingeteilt. Außerdem baute das Workshop-Konzept auf die gegenseitige Zusammenarbeit der Teilnehmer. Das Kennenlernen wurde durch persönliche Vorstellungsrunden aber auch insbesondere durch die Vorstellung der jeweiligen Banken erreicht. So wurden zu Beginn alle Teilnehmer dazu aufgefordert, die aktuellen Herausforderungen ihrer Bank zu schildern, wodurch sich die Teilnehmer ein besseres Bild von der Situation der anderen Teilnehmerbanken machen konnten. 155 156 Int-07 Dok-081 180 Ein weiteres Kernanliegen des ersten Moduls war es, in allen drei Gruppen eine Erwartungsklärung bezüglich ESPrit durchzuführen und gleichzeitig nochmals zu vermitteln, wie ESPrit ablaufen würde. Dies geschah zum einen durch eine Vorstellung der groben Themenblöcke, die in den 6 unterschiedlichen Modulen bearbeitet werden sollten. Wichtiger war jedoch die Botschaft, dass es im Kern nicht um die Präsentation fertiger Lösungen gehen würde, sondern um die Unterstützung eines von den Banken selbst getriebenen Lern- und Entwicklungsprozesses, angereichert durch die Interaktionen zwischen den Teilnehmern des Workshops. Dabei war es ein Ziel von ESPrit, immer wieder einen kritisch reflektierenden Blick auf die Teilnehmer, deren Führungsrolle und die Situation der von ihnen geführten Banken zu legen. Aus Sicht des BVR war diese Reflexion ein entscheidender Bestandteil von ESPrit. Dies wurde den Teilnehmern unter anderem auch durch die Bearbeitung der ersten Aufgabenstellungen vermittelt. Eine frühe Aufgabe für alle Gruppen im ersten Modul war es, dass die Teilnehmer eine kurze Rede vor der fiktiv anwesenden Belegschaft halten sollten, in der der jeweilige ESPrit Teilnehmer seine Philosophie, Aufgabe und Rolle als Vorstand/Führungskraft erläuterte. 157 Etwas später ging es darum, dass jede Bank das General-Management Profil der eigenen Bank sowie die Vertriebskultur der eigenen Bank reflektieren und vorstellen sollte. Diese Vorgehensweise und der reflexive Fokus waren für etliche Teilnehmer überraschend. Ein Teilnehmer erinnerte sich später: „Viele haben ja – das ist ja ein Phänomen gewesen, […] dass viele eine falsche Vorstellung hatten.“ 158 Ein anderer Teilnehmer bemerkte, dass „man sich ja doch seine Erwartungen in hohem Maße selber bilden musste. Das Projekt ist nunmal ergebnisoffen und es ist auch vorher kein Rahmen des Ergebnisses definiert worden. Von daher ist man also doch mit sehr stark selbst geprägten Erwartungen rangegangen an dieses Projekt.“ 159 Dieser Prozess der Erwartungsbildung der einzelnen Banken wurde insbesondere durch das erste Modul sehr stark angestoßen. Die wiederholte Arbeit in Kleingruppen der Teilnehmer, sowie die zur Verfügung gestellten Reflexionsräume beförderten diesen Prozess. Ein Teilnehmer beschrieb die allgemeine Stimmung wie folgt: „[Es] wurden kleine Gruppenarbeiten vergeben, im Rahmen derer man dann Dinge herausarbeiten sollte und ich kann mich sehr gut erinnern, dass wir da an einem Tisch standen und das aufgegriffen worden ist. Es ging erst mal 5 bis 10 Minuten lang eigentlich so eine Ratlosigkeit aller Teilnehmer umher, was man denn jetzt eigentlich konkret machen soll. Und da habe ich mich 157 Dok-025, Dok-035, Dok-043 Int-26 159 Int-10 158 181 dann nicht grad wohlgefühlt, sondern beruhigt gefühlt; und anderen ist es auch so gegangen.“160 Bemerkenswert in dieser Anfangsphase ist insbesondere, wie mit den Zweifeln der Banken umgegangen wurde. Auf der einen Seite wurde versucht, den Banken regelmäßig die Möglichkeit für Rückmeldungen zu eröffnen. Auf der anderen Seite wurde jedoch auch mehrfach darüber gesprochen, dass das erste Modul als Orientierung für die Banken diene, und Banken problemlos aus dem Projekt ausscheiden könnten, wenn sie feststellen sollten, dass das Projekt nicht zu ihrer aktuellen Situation passe. Von dieser Möglichkeit machten drei Banken Gebrauch, so dass sich die Zahl der Teilnehmerbanken auf insgesamt 17 reduzierte. Ebenfalls diente das erste Modul zur Etablierung von Plattformen, die über den weiteren Projektverlauf genutzt werden konnten. Dazu zählte unter anderem die Bildung von Lernpartnerschaften zwischen den Banken, auf die in Kapitel 6.3 gesondert eingegangen wird. Eine weitere solche Plattform wurde durch das Angebot einer Kunden- und Mitarbeiterbefragungssystematik etabliert. Der BVR stellte den Banken Werkzeuge für die Befragungen zur Verfügung. Im Bereich der Kundenbefragungen existierte ein aktuelles Rundschreiben des BVR, das einen Fragebogen und Vergleichsmöglichkeiten mit bereits durchgeführten bundesweiten Befragungen bot. 161 Zudem existierte eine IT-Lösung, die die Banken übernehmen konnten, um ihre Kunden bequem online zu befragen. 162 Im Bereich Mitarbeiterbefragung war der Fachrat Personal aktuell mit der Entwicklung eines neuen Tools zur Mitarbeiterbefragung beschäftigt, das die ESPrit-Teilnehmer, die eine Kundenbefragung durchführen wollten, nutzen konnten. 163 Des Weiteren wurden von jeder Bank im Verlauf des ersten Moduls Entwicklungsvorhaben definiert, an denen sie über die Zeit arbeiten wollten und in die sie die Anregungen aus ESPrit je nach Möglichkeit einfließen lassen wollten. Diese Parallelität der ESPrit-Module und der Weiterentwicklung von Entwicklungsvorhaben innerhalb der Teilnehmerbanken wurde bereits in Abbildung 4 dargestellt. Die auf diese Weise von den Banken in das ESPrit-Projekt eingebrachten Entwicklungsvorhaben unterschieden sich dabei sehr stark voneinander. Sie reichten vom Personalmanagement über Kundenbefragungen bis zum Beschwerdemanagement oder der Überarbeitung der Vertriebsstrategie; von der Zusammenlegung von Geschäftsfeldern wie Kundenservice und Finanzberatung bis zu einer Neugestaltung des Mitgliederkonzeptes der jeweiligen Bank. 164 Diese Unterschiedlichkeit der definierten Bankprojekte spiegelte sich auch in der äußerst großen Heterogenität der Teilnehmerbanken selbst wider, die im Verlauf des 160 Int-19 Dok-022, Dok-024 162 Dok-023 163 Dok-065 164 Dok-015, Dok-025, FTB-005 161 182 ersten Moduls sichtbar wurde. Diese Heterogenität bezog sich nicht nur auf die äußeren Umstände der Banken – so gab es Banken aus städtischen und ländlichen Regionen und hinsichtlich ihrer Größe war die größte Bank gemessen an der Bilanzsumme neun Mal größer als die kleinste Teilnehmerbank 165 – sondern auch auf die Einstellungen der Banken in Punkten wie Vertrieb oder Führung. In einem Fazit zu den Wahrnehmungen des ersten Workshops sprach auch die begleitende Beratungsgesellschaft von einer ungewöhnlich großen Heterogenität der einzelnen Banken, zum Beispiel in Bezug auf das Rollenverständnis von Führung, das jeweils bei den anwesenden Führungskräften vorherrschte. 166 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die drei Gruppenworkshops im Rahmen des ersten ESPrit-Moduls von einer ausgeprägten Kennenlernphase und einer extensiven Erwartungsklärung geprägt war. Es wurden aktive Reflexionsprozesse über die Führungsrolle in den jeweiligen Banken angestoßen. Außerdem wurden bankspezifische Entwicklungsprojekte definiert und Lerngruppen für den aktiven Wissensaustausch zwischen Banken eingerichtet. Modul II: Strategische Ausrichtung und Markenführung im Kontext der genossenschaftlichen Vertriebskultur Das zweite Modul konzentrierte sich auf das Thema Strategie. Es fand für alle drei Gruppen zwischen Mai und Juni 2010 statt und dauerte jeweils vier Tage. 167 Damit war es das umfangreichste der sechs ESPrit Module. Nachdem die Teilnehmer sich im ersten Modul gegenseitig kennengelernt hatten und verschiedene Entwicklungsvorhaben in den Banken definiert worden waren, konnte im zweiten Modul darauf aufgebaut werden. Das Modul begann mit einer Vorstellung der Entwicklung der jeweils definierten bankeigenen Entwicklungsprojekte in der Gruppe. 168 Zum Teil wurden von den Banken Präsentationen zum Stand ihrer Entwicklungsvorhaben aufgezeigt. 169 Es wurde gezielt versucht, Diskussionen anzuregen, so dass unterschiedliche Teilnehmer ihre Ideen oder Meinungen zu gewissen Projekten einbringen konnten. Die Anzahl der Entwicklungsvorhaben je Gruppe konnte jedoch aus bis zu 19 unterschiedlichen Projekten bestehen. 170 Dabei handelte es sich wie bereits erwähnt um sehr unterschiedliche Projekte, die nicht in gewisse Schwerpunktthemen eingeteilt werden konnten. Deshalb war keine vertiefte Besprechung aller Entwicklungsprojekte möglich. 171 165 Dok-053 Dok-084 167 Dok-081 – Dok-083 168 Dok-026, Dok-044 169 Dok-037 170 Dok-038 171 FTB-001 166 183 Über das gesamte Modul hinweg erfolgten immer wieder unterschiedliche Sequenzen von Impulsvorträgen. Hier wurden den Banken Themen vorgestellt, die zuvor zwischen BVR und osb festgelegt worden waren. Teilweise handelte es sich dabei um Inputs von Seiten der Beratung, wie zum Beispiel die Vorstellung einer Strategieschleife, die in Strategiefindungsprozessen immer wieder durchlaufen wird. 172 Zum Teil handelte es sich um Inputs des BVR, die zum Beispiel dem Handbuch Privatkundengeschäft entnommen wurden. 173 So wurde den Banken in Modul II eine Einteilung in unterschiedliche Markttypen (1-4) vorgestellt. Dabei wurden die Markttypen anhand der zwei Kategorien starker/schwacher Markt und starke/schwache Marktposition der lokalen Volksbank voneinander abgegrenzt. Insbesondere bei Volksbanken mit schwacher Positionierung in einem schwachen Markt löste diese Sequenz einige Diskussionen aus. 174 Alle inhaltlichen Impulsvorträge waren von kleineren Gruppenarbeiten und Gruppendiskussionen gefolgt. Der Austausch der Teilnehmer untereinander spielte zu jedem Zeitpunkt des Projektes eine entscheidende Rolle. Nach Äußerungen der Projektverantwortlichen war es ihnen ein zentrales Anliegen, verteiltes Wissen der Banken zu nutzen und latent vorhandenes Wissen in reflexiven Diskussionskontexten zu aktivieren. Hierbei wurde auch auf die Methode der kollegialen Fallberatung gesetzt: Je zwei Banken stellten die Vision und Strategie ihrer Bank ihren Kollegen vor. Anschließend wurde in Gruppen darüber diskutiert, welche Stärken und Schwächen ersichtlich wurden. 175 Da von jeder Bank zwei Führungskräfte anwesend waren, dienten derartige Interventionen auch dazu, ihnen aufzuzeigen, dass in vielen Fällen zu selbstverständlich angenommen wird, dass innerhalb einer Bank ein einheitliches Verständnis von Themen herrscht. Zum Teil löste es eine gewisse Bestürzung aus, wenn festgestellt werden musste, dass die Verständnisse von Strategie und Vision sich selbst innerhalb einer Bank stark unterscheiden können. In den Freiräumen zur Reflexion, die den Teilnehmerpaaren der Banken regelmäßig zur Verfügung gestellt wurden, konnte ein solcher Erkenntnisprozess der Teilnehmer wiederholt beobachtet werden. Eine weitere Episode des zweiten Moduls war ein Fachvortrag zum Thema Marke von einem externen Berater, der nicht aus den Reihen der osb kam. 176 Der Fachvortrag unterteilte sich in eine Abendveranstaltung und ein Impulsreferat mit anschließender Diskussionsrunde am darauffolgenden Vormittag. Der Berater war vom BVR eingeladen worden. Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit dem BVR an der Initiative Marke 500 177, in deren Rahmen Richtlinien zur Markenführung definiert werden sollten. Im Anschluss an diese Einheit entschied sich eine der ESPrit-Banken zur Teilnahme am Pilotprojekt zu Marke 500. 172 Dok-026, Dok-038 Dok-006 174 Dok-026 175 FTB-004 176 FTB-003, Dok-021 177 Dok-053 173 184 Auffallend in Modul II war, dass große Unterschiede in den jeweiligen Gruppendynamiken sichtbar wurden. Bei den drei Durchführungen des Moduls kam es in einem Fall zu einer größeren Programmanpassung. Etliche Teilnehmer meldeten an, dass für sie die Frage der Strategieerstellung weniger wichtig sei, als die Frage deren Umsetzung. Auf diese Rückmeldungen wurde flexibel reagiert. BVR und osb passten das Programm des Workshops spontan an. 178 Bei den anderen beiden Durchführungen des Moduls, gab es keine Notwendigkeit zur Durchführung solcher Anpassungen. Gemeinsam war den verschiedenen Gruppen, dass die Mehrheit der Teilnehmer in den abschließenden Feedback-Runden ESPrit als interessant und anregend bezeichnete, aber sich mehr konkrete Konzepte und Methoden gewünscht hätte, die sie mit in ihre Banken nehmen hätten können. 179 Modul III: Veränderungsprozesse steuern Das dritte Modul fand für die drei Teilnehmergruppen zwischen Juni und Oktober 2010 statt. 180 Der Kerngedanke war, dass nach der Besprechung von Strategieprozessen in Modul II nun das Management von Veränderungsprozessen im Mittelpunkt stehen sollte. Zu Beginn des Moduls erfolgte erneut eine Bezugnahme auf die verschiedenen Entwicklungsprojekte der Banken. Grundsätzlich verliefen die Vorstellung und die Diskussionen ähnlich wie im vorangegangen Modul. Es wurde nun zudem sichtbar, dass einige Banken stark an den definierten Projekten arbeiteten, während andere erst damit begannen und manche Projekte nicht mehr umgesetzt werden sollten. Ein spezieller Schwerpunkt wurde auf das Thema Mitarbeiterbefragung gelegt. 181 Wie bereits geschildert, wurden den Banken eine Software und Fragebögen für die Durchführung einer Mitarbeiterbefragung zur Verfügung gestellt. Da einige ESPrit Banken von diesem Angebot Gebrauch gemacht hatten, wurde im dritten Modul über die bisherigen Erfahrungen und die Konsequenzen der durchgeführten Mitarbeiterbefragungen gesprochen. Ebenfalls wurde die Kombination aus episodischen Impulsvorträgen, Arbeiten in Kleingruppen und Gruppendiskussionen beibehalten. Die Inputs, die von BVR und osb definiert waren, konzentrierten sich auf das Thema Veränderungen. Es wurden zum Beispiel verschiedene Spielarten von Veränderungsprozessen besprochen und der Umgang mit Widerstand und unterschiedlichen emotionalen Phasen in einem Veränderungsprozess debattiert. 182 Die Banken wurden erneut durch Gruppenarbeiten involviert. So wurde unter anderem je Bank aufgezeigt, welcher Kategorie von Veränderung (1. Ordnung/2. Ordnung; hoher/tiefer Zeitdruck) ihre 178 FTB-002 FTB-004 180 Dok-081 - Dok-083 181 FTB-007 182 Dok-039 179 185 aktuellen Veränderungsvorhaben zuzurechnen sind. 183 Ebenso wurde jedoch das breitere Thema der Dimensionen einer Unternehmenskultur vorgestellt, begleitet von einer allgemeinen Diskussion über Unternehmenskulturen. 184 Wie im vorangegangenen Modul fand zudem ein Gastvortrag statt, der von Seiten des BVR organisiert worden war. Der Vorstandsvorsitzende der Volksbank Würzburg, einer Bank die selbst nicht an ESPrit teilnahm, stellte den ESPrit-Teilnehmern aktuelle Herausforderungen seiner Bank im Bereich Markenführung vor. 185 Anschließend fand eine kurze Diskussionsrunde statt. Insgesamt wurde im Verlauf des dritten Moduls deutlich, dass sich der Austausch zwischen den Teilnehmern weiter intensivierte. Sowohl die Gruppendynamiken zwischen den zwei Teilnehmern einer Bank als auch der Austausch zwischen Banken wurde zunehmend als wertvoll erachtet. 186 Dies wurde unter anderem durch die bewusste Schaffung von Reflexionsräumen gefördert, in denen immer wieder die Chance für den Austausch gegeben war. Bei einer abschließenden Reflexionsrunde sowie in Gesprächen mit Teilnehmern war darüber hinaus feststellbar, dass die Banken das Projekt ESPrit zwar generell als bereichernd einstuften, es jedoch große Unterschiede bei der Frage gab, welche Aspekte von ESPrit ihnen wertvoll erschienen. Exemplarisch hierfür kann die Reaktion der begleiteten ESPrit-Gruppe auf den Gastvortrag des dritten Moduls angeführt werden. Während einige Teilnehmer ihn als interessant empfanden, meinten andere, dass für sie keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen waren und eine dritte Gruppe von Teilnehmern hatte sich im Vorfeld entschieden, nicht an dem Vortrag teilzunehmen. 187 Auch in einer umfassenderen Einschätzung von ESPrit zeigten Gespräche mit Teilnehmern sowie die parallel durchgeführten Beobachtungen innerhalb der Teilnehmerbanken, dass je nach Bank sehr unterschiedliche Inputs der bisherigen drei ESPrit-Module aufgegriffen wurden. Die Differenzen gingen so weit, dass bestimmte Konzepte oder Inputs von einzelnen Banken als wenig hilfreich eingestuft wurden, während sie andere Banken zu den bisher wertvollsten Episoden von ESPrit zählten. 188 Modul IV: Führung von Führungskräften und Selbstführung Das letzte Modul, an dem alle 17 ESPrit-Banken teilnahmen, fand im Oktober und November 2010 statt. 189 Das Modul konzentrierte sich auf die Themen Führung und Personal. Zum einen bestand die Möglichkeit für alle Teilnehmer, einen Persönlichkeitstest durchzuführen und hierfür individuelles Feedback der 183 Dok-045 Dok-027 185 FTB-005 186 FTB-005 187 FTB-006 188 Vgl. Dok-087 189 Dok-081 - Dok-083 184 186 begleitenden Beratung zu erhalten. 190 Zum anderen wurde erneut auf die Vorgehensweise von Impulsvorträgen und Inputs mit anschließender Bildung von Arbeitsgruppen und Reflexionsrunden gesetzt. Thematisch lag der Schwerpunkt, neben der allgemeinen Besprechung der ESPrit-Projekte aus den Banken am ersten Workshop-Tag, auf Themen wie der Vorstellung unterschiedlicher Karriereanker von Mitarbeiter oder auf der Ausarbeitung von Qualifikations- und Anforderungsprofilen für Stellen innerhalb einer Bank. 191 In einem Gastvortrag stellte der Leiter der Abteilung Personal des BVR Inhalte zur Bedeutung, Wirkung und Steuerung von Personalmanagement vor. Er ging insbesondere auf aktuelle Arbeitsfelder des Fachrates Personal in den Bereichen Führung und Rekrutierung von Mitarbeitern sowie Performance-Messung von Personalmanagement ein. Vor allem bei der Fragestellung nach der Möglichkeit zur Gewinnung von Mitarbeitern in einem sich verschärfenden Wettbewerb um qualifiziertes Personal gab es längere Diskussionen unter reger Beteiligung mehrerer Banken. Insgesamt wurden den Banken für die unterschiedlichen behandelten Themen verschiedene existierende Werkzeuge, Konzepte und Dienstleistungen des BVR präsentiert, auf die sie bei Bedarf zugreifen konnten. 192 Ein zentraler Bestandteil des letzten Pflichtmoduls war der Rückblick auf den bisherigen Projektverlauf. Dies erfolgte in zweifacher Weise. Bei Reflexionsveranstaltungen aller drei Gruppen war je ein Vertreter des BVR anwesend, um mit den Teilnehmern über ihre Eindrücke zu ESPrit zu sprechen. In der ersten Gruppe nahm Herr Dr. Martin, Vorstand des BVR und verantwortlich für die Fachräte Steuerung, IT, Personal und Zahlungsverkehr an einer Abendveranstaltung teil. 193 In Gruppe B war Herr Fröhlich, Präsident des BVR und Verantwortlicher für die Themen Vertrieb, Produkte und Markt, zu einer Gesprächsrunde mit den Banken anwesend. 194 In der Gruppe C wurde der BVR durch Frau Zimmermann, Leiterin der Abteilung Markt und Verantwortliche für ESPrit, vertreten. 195 Neben diesen Austauschrunden gab es eine abschließende Feedbackrunde in jeder der drei Gruppen und es wurden schriftliche Feedbacks der Banken mithilfe eines standardisierten Fragebogens eingefordert. 196 Die Rückmeldungen der Banken bestätigten die bisher beschriebenen Beobachtungen, dass die Interessen und Wahrnehmungen der unterschiedlichen Teilnehmer als äußerst heterogen einzuschätzen sind. Das ESPrit-Projekt wurde trotz einzelner kritischer Stimmen als interessant und wertvoll eingestuft, die Einschätzungen der wertvollen Bestandteile von ESPrit gingen dabei jedoch weit 190 FTB-009, FTB-012, FTB-015 Dok-028 192 Dok-041 193 FTB-008 194 FTB-011 195 FTB-014 196 Dok-032 191 187 auseinander. Meist wurden einzelne Werkzeuge aus verschiedenen Modulen positiv erwähnt, die in Banken verschiedentlich eingesetzt wurden. Eine hohe Einigkeit bestand darin, dass der Erfahrungsaustausch zwischen den ESPrit-Teilnehmern einen wichtigen Bestandteil des Gesamtprojektes darstellte. 197 Etwas kritischer wurden die weiteren Perspektiven des ESPrit Projektes an sich diskutiert. Einige Banken erachteten ESPrit zwar für sich selbst als wertvoll, waren sich jedoch unschlüssig, wie das Projekt so ausgebaut werden könnte, dass es über den Kreis der ESPrit-Teilnehmer der gesamten VR-Gruppe von Nutzen sein könnte. 198 Aus der Sicht des BVR wurde hierzu vermerkt, dass das weitere Vorgehen zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststehe. 199 In jedem Fall war der Kern des ESPrit Projekt mit dem Abschluss des vierten Moduls beendet. Die beiden im Folgenden beschriebenen Zusatzmodule wurden nicht mehr von allen Banken besucht. Optionale Zusatzmodule (V & VI) Die beiden abschließenden Module des ESPrit Projekts waren bereits zu Beginn von ESPrit als optional konzipiert. Den ESPrit Teilnehmern stand es frei, an diesen Modulen teilzunehmen. Insgesamt 13 Banken 200 machten von dieser Möglichkeit beim Modul V Gebrauch, weshalb dieses Modul in 2 Gruppen im März und im April 2011 durchgeführt wurde. 201 Der thematische Schwerpunkt dieses Moduls lag auf dem Umgang mit Komplexität. Das Modul V begann wie die vorangegangen Module mit einer Vorstellung der bankspezifischen ESPrit Projekte. Da die Gruppen jedoch neu zusammengesetzt waren, konnte nicht an bestehende Diskussionen wie in den vorangegangen Modulen angeknüpft werden. Nachdem ESPrit mittlerweile über ein Jahr vorangeschritten war, hatten einige Banken ihre Projekte bereits weitgehend abgeschlossen; andere Banken hingegen mussten Projekte aus diversen Gründen verschieben oder unterbrechen. 202 Die anschließende Vorgehensweise unterschied sich im fünften Modul etwas von der der vorangegangen Module. Zwar gab es auch kleinere Impulsvorträge 203 , der Kern des Moduls war jedoch die Simulation einer Schifffahrt, bei der die Teilnehmer als Mannschaft komplexe Aufgaben unter Zeitdruck lösen mussten. 204 Diese Simulation wurde jeweils am ersten Tag durchgeführt. Der zweite Workshop-Tag diente dann zur Reflexion der gemachten Erfahrungen und wurde mit einigen Theorien zu Konfliktmanagement sowie Umgang 197 FTB-013 FTB-010 199 FTB-008 200 FTB-019, FTB-022 201 Dok-048, FTB-019 202 FTB-22 203 Dok-048, Dok-049 204 FTB-019 198 188 mit kritischen und komplexen Problemen angereichert. 205 Am letzten Tag des Workshops wurde die Simulation ein zweites Mal durchlaufen. 206 Modul VI, das zweite optionale Modul, wurde bereits im Februar 2011 207 durchgeführt und konzentrierte sich auf das Thema der mitglieder- und kundenorientierten Organisationsstruktur. Insgesamt nahmen 5 ESPrit Banken an diesem fünften Modul teil. 208 Zu Beginn erfolgte eine Vorstellung unterschiedlicher Organisationsstrukturen sowie deren Vor- und Nachteilen durch die osb. 209 Daran anschließend wurde erneut auf den Austausch zwischen den Teilnehmern der unterschiedlichen Banken gesetzt, die untereinander über die Eigenheiten ihrer jeweiligen Organisationsstrukturen sprachen. 210 Unterstützt wurde dieser Austausch durch Methoden wie „friendly Consulting“ 211 oder „Open Space“. 212 Außerdem hatte der BVR erneut einen Gastvortrag organisiert. Eine Vertreterin des BVR präsentierte der Gruppe aktuelle regulatorische Anforderungen im Wertpapiergeschäft. 213 Auffallend waren auch in den beiden optionalen Zusatzmodulen die großen Unterschiede zwischen den teilnehmenden Banken. Dies zeigt sich bereits an der extrem unterschiedlichen Teilnehmerzahl der jeweiligen Module. So gab es Banken, die an beiden Modulen teilnahmen und Banken die nur Modul V oder nur Modul VI besuchten. Außerdem nahmen von einigen Banken weiterhin beide ESPritTeilnehmer an den Modulen teil, während andere Banken nur eine Person entsandten. Auch die Gruppendynamik in den zwei Gruppen des Moduls V unterschied sich spürbar, obgleich der Ablauf in beiden Fällen identisch war. Dies schlug sich wiederum in sehr unterschiedlichen Bewertungen der jeweiligen Workshops durch die Teilnehmer nieder. 214 ESPrit-Abschlussveranstaltung Den offiziellen Schlusspunkt des ESPrit-Projektes für die Teilnehmerbanken bildete eine 2-tägige Abschlussveranstaltung im Juni 2011 in Berlin. 215 An dieser Veranstaltung nahmen sämtliche ESPrit Banken, die osb, das Forscherteam der wissenschaftlichen Begleitforschung und Vertreter des BVR teil. Ziel war es zum einen, mit den Banken ihre Erfahrungen im Verlauf von ESPrit nochmals zu erörtern. 205 FTB-020 FTB-021 207 Dok-050 208 FTB-016 209 Dok-051 210 Dok-050 211 Dok-017 212 FTB-018 213 Dok-052 214 FTB-022; FTB-023 215 FTB-034 206 189 Zum anderen sollten die Rückmeldungen aus ESPrit dem Vorstand des BVR vorgestellt werden. Den Auftakt der Veranstaltung bildeten drei Vorträge zu ESPrit aus der Perspektive des BVR, der osb und der wissenschaftlichen Begleitforschung. Auf dieser Basis wurden die Banken dazu aufgefordert, ihre Eindrücke aus ESPrit nochmals in kleineren Gruppen zu diskutieren. Das bereits beschriebene Muster, dass die Wahrnehmung des Projektes durch unterschiedliche Banken stark unterschiedlich ausfiel, setzte sich auch an dieser Stelle fort. 216 Dabei ist zu vermerken, dass etliche Teilnehmer den Nutzen von ESPrit sehr stark auf der Basis einzelner Elemente der Module definieren: Ein Vortrag war nützlich, oder ein spezielles Werkzeug konnte in der Bank angewendet werden. Erneut kam ebenfalls die Frage auf, was ESPrit aus Sicht des BVR für die VROrganisation als Ganzes bedeute und welches weitere Vorgehen vorstellbar sei. Eine aus Sicht der Banken konkrete Antwort wurde weiterhin nicht gefunden. Der BVR beschrieb ESPrit eher abstrakt: "Sie haben sich auf die Reise gemacht"; "es war ein Erfahrungsprozess für Sie". Außerdem verwies er für das weitere Vorgehen darauf, dass die bisherigen Teilnehmer eine "Keimzelle" für die künftige Verbreitung der Ideen sein könnten und dass ESPrit eine "Plattform" für einen "Musterwechsel" darstellen könnte. 217 Am zweiten Tag der Veranstaltung stellten die Banken ihre Eindrücke aus ESPrit vor zwei der drei BVR Vorstände – Herrn Fröhlich und Herrn Hoffmann – vor. In der Diskussion über einen messbaren Nutzen von ESPrit äußerten verschiedene Teilnehmer die Überzeugung, dass die Effekte von ESPrit nicht kurzfristig in einer Erfolgsrechnung sichtbar werden können. Als zentraler Nutzen wurden der Wissensaustausch, die Verbesserung von Kommunikationsprozessen innerhalb von Banken und der verstärkte Fokus auf das Mitnehmen von Mitarbeitern in 218 Veränderungsprozessen genannt. Die Diskussion über die Weiterführungsmöglichkeiten von ESPrit kommt ein weiteres Mal auf. Der BVR Vorstand schließt aufgrund der limitierten ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie aufgrund der genossenschaftlichen Arbeitsteilung eine Verbreiterung des bestehenden Workshop-Vorgehens auf weitere Banken aus. Darüber hinaus wird die Debatte über die aus ESPrit entstehenden Anschlussmöglichkeiten für die VROrganisation vertagt und in späteren Beraterpool-Workshops erneut aufgegriffen (vgl. Kapitel 6.4). 216 Ibid. Ibid. 218 Ibid. 217 190 6.3 Etablierung von Lernpartnerschaften und Austauschmöglichkeiten Gesondert vom Ablauf der Workshop-Module ist für das Verständnis des Projektes ESPrit entscheidend, die Rolle des Wissensaustauschs zwischen Banken und Teilnehmern zu berücksichtigen. Da dieser Wissensaustausch keinem einzelnen Modul zugeordnet werden kann, sondern parallel zum gesamten ESPrit Projekt verlief, soll er an dieser Stelle separat behandelt werden. Bereits zu Beginn der Konzeption von ESPrit wurde vom BVR als Zielvorgabe festgelegt, dass ein Wissensaustausch zwischen den Teilnehmerbanken gefördert werden soll. Diese Zielsetzung kann somit separat von den sonstigen ESPrit Zielen betrachtet werden. Wie ein Verantwortlicher des BVR erläuterte, ist es in der VR-Organisation in unterschiedlichsten Kontexten üblich, auf den Austausch von Erfahrungen und die gemeinsame Erarbeitung von Erkenntnissen zu setzen: „Gemeinsam sich mit anderen entwickeln, das ist etwas, was sowieso gut zu uns passt, weil bei uns immer etwas in Gremien stattfindet, in Erfa-Kreisen stattfindet, basisdemokratisch stattfindet.“ 219 In ESPrit war diese Möglichkeit zum Austausch von Erfahrungen und Wissen auf mehreren Ebenen angelegt. Auf der elementarsten Ebene trug die Teilnahme von jeweils zwei Personen einer Bank zum intensiven Austausch zwischen diesen bei. Gefördert wurde dieser Austausch durch die regelmäßige Zurverfügungstellung von Reflexionsräumen für die Teilnehmerpaare während aller Module sowie durch die Aufforderung zur Bearbeitung einiger Workshop-Aufgaben durch die Teilnehmerpaare der Banken. Zum Teil wurde dieser Austausch zwischen den zwei ESPrit-Teilnehmern einer Bank von diesen als einer der zentralen Mehrwerte des Projektes beschrieben. So meinte ein Bankvorstand: „Wir hatten jetzt den Vorteil in der Bank, dass wir zu zweit als Vorstände teilgenommen haben und eine eigene Erfahrung auf diesem beiderseitigen Erlebnis von [meinem Kollegen] und mir mit auf den Weg genommen haben. [… Wir haben] einen Kontext gefunden, auch Dinge miteinander ins Gespräch und in die Auseinandersetzung zu bringen, wie sie, glaube ich, vor ESPrit nicht möglich gewesen wären.“ 220 Eine zweite Ebene des Austauschs bildete die ständige Interaktion zwischen den Teilnehmerbanken von ESPrit während der verschiedenen Workshop-Module. Auch dieser Austausch wurde – wie bereits beschrieben – durch regelmäßige Gruppenarbeiten und Diskussionsrunden befördert. Zudem boten die informellen Teile der Workshops, wie Abendessen oder gelegentliche Stadtführungen die Gelegenheit für die Teilnehmer unterschiedlicher Banken, sich besser kennenzulernen und sich zu vernetzen. Dies ging so weit, dass einzelne Banken sich 219 220 Int-01 Int-08 191 außerhalb von ESPrit, und unabhängig von den nachfolgend beschriebenen Lerngruppen zu aktuellen Problemstellungen austauschten. Eine Bank berichtete zum Beispiel, dass ihr Vorstand eine andere ESPrit Bank besucht hatte, um sich deren Mitgliederkonzept näher anzuschauen. 221 Die beiden Banken waren nicht Teil einer der Lerngruppen. Diese Lerngruppen selbst bildeten die letzte Ebene des Wissensaustauschs in ESPrit. Sie wurden bereits im ersten ESPrit-Modul gegründet. Als Ziel der Lerngruppen galt, dass die unterschiedlichen Teilnehmerbanken in regelmäßigem Kontakt zueinander stehen sollten, um einen befruchtenden Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Somit stand die Bildung der Lernpartnerschaften nicht in direktem Zusammenhang mit den Kernzielen von ESPrit, sondern war inhaltlich völlig offen. Es gab keinerlei Vorgaben oder Empfehlungen, welche Themen innerhalb der Lerngruppen diskutiert werden sollten. Wie bereits bei anderen Angeboten, gilt auch für die Lernpartnerschaften, dass sie von den verschiedenen Banken in unterschiedlicher Intensität genutzt wurden. Die meisten Teilnehmer gaben jedoch an, dass ihre Lernpartnerschaften für sie ein entscheidender Mehrwert des ESPrit Projektes waren. Etliche der Lernpartnerschaften wurden auch nach dem Ende von ESPrit von den Banken weitergeführt. Ein Interviewpartner berichtete zum Beispiel mehr als ein Jahr nach dem Abschluss von ESPrit: „[Wichtig waren] auch die Kontakte zu neuen Kollegen, die ich kennengelernt habe. Zum Beispiel für uns ein ganz wertvolles Thema, was wir jetzt auch umgesetzt haben, war das Thema des genossenschaftlichen Förderauftrags: Was heißt das für uns? Da hat der Kontakt zu unserer Partnerbank wahnsinnig geholfen.“222 Somit kann festgehalten werden, dass ESPrit den Teilnehmern die Möglichkeit zu Wissens- und Erfahrungsaustausch auf unterschiedlichen Ebenen bot, ohne dass die Themen des Austauschs immer im Zusammenhang mit dem Kernprojekt stehen mussten. Dieser Austausch bildete ein zentrales Element von ESPrit und stellte für etliche der Teilnehmer den wichtigsten oder zumindest einen zentralen Mehrwert des Projektes dar. 6.4 Interaktion mit Verbänden und Verbundunternehmen Eine abschließende Facette von ESPrit, die es an dieser Stelle zu beleuchten gilt, ist die regelmäßige Interaktion zwischen dem BVR und verschiedenen Verbänden, Verbundunternehmen und Beratungsgesellschaften. Bereits während der Konzeption, aber auch während der Durchführung von ESPrit, legte der BVR großen 221 222 FTB-008 Int-17 192 Wert darauf, die verschiedenen zentralen Einheiten der VR-Organisation regelmäßig zu informieren und streckenweise zu involvieren. Ein erster Kontakt der Verbände und Verbundunternehmen mit ESPrit erfolgte aufgrund der Gremienstruktur des BVR im Fachrat Markt. ESPrit wurde dort mehrfach diskutiert und die Entscheidung für die Durchführung und Finanzierung von ESPrit bedurfte der Zustimmung des Fachrats. Somit waren Vertreter aller Verbundunternehmen und Regionalverbände frühzeitig über die Entwicklung von ESPrit informiert, hatten wiederholt die Möglichkeit, Anmerkungen oder Bedenken einzubringen und waren direkt an der Entscheidung zur Durchführung des ESPritProjektes beteiligt. Nachdem der Beschluss für ESPrit im Fachrat gefallen war, bildete der BVR einen Beraterpool. Dieser Pool sollte zwei Ziele erfüllen: Zum einen diente er als Instrument seine Teilnehmer bezüglich ESPrit auf dem Laufenden zu halten; zum anderen sollte er eine Möglichkeit darstellen, um das Know-How der beteiligten Organisationseinheiten für ESPrit zu nutzen. Die verschiedenen zentralen Organisationseinheiten der VR-Gruppe wurden vom BVR gebeten, Vertreter in den ESPrit-Beraterpool zu entsenden. Diesem Aufruf wurde von unterschiedlicher Seite Folge geleistet. Insgesamt kamen im Beraterpool sieben Vertreter von Verbänden und Akademien, fünf Beratungsgesellschaften, drei Agenturen und acht Vertreter von Verbundunternehmen und Zentralbanken zusammen. Damit waren insgesamt 23 VR-Organisationseinheiten im Beraterpool von ESPrit vertreten. 223 Eine erste Kick-Off Veranstaltung mit den Mitgliedern des Beraterpools fand im Oktober 2009 statt. 224 An diesem Termin wurde das allgemeine Konzept von ESPrit vorgestellt. Hierzu war auch die osb anwesend. Ein wichtiges Anliegen des BVR war es, den Anwesenden die Aufgabe der osb nahezubringen. Deshalb wurde die Beratungsphilosophie und das Beratungsvorgehen der osb näher dargestellt und die Rolle der osb im ESPrit Projekt klar abgegrenzt. Da einige der Verbände und Beratungsgesellschaften selbst Beratungsdienstleistungen für Banken anbieten, wurde großer Wert auf eine enge Abstimmung gelegt. Zudem wurde vereinbart, dass die osb über das ESPrit Projekt hinaus keine individuellen Beratungsmandate bei 225 Volksbanken annehmen würde. Sollten Banken zusätzlicher Beratungsdienstleistungen bedürfen, würden sie in jedem Fall auf den Beraterpool verwiesen. Darüber hinaus wurde vereinbart, dass der Beraterpool in WorkshopVeranstaltungen regelmäßig informiert und in das ESPrit Projekt involviert werden sollte. Der erste Beraterpool-Workshop fand im Dezember 2009 statt. 226 Bei allen Beraterpool-Workshops waren die Verantwortlichen für ESPrit aus dem BVR, sowie 223 Dok-017 Dok-014 225 Ibid. 226 Dok-067 224 193 die verantwortlichen Berater der osb anwesend. Bei dieser ersten WorkshopVeranstaltung wurden die Teilnehmerbanken vorgestellt und der detaillierte Ablauf des ersten ESPrit-Moduls besprochen. Ferner wurden die Spielregeln der Zusammenarbeit zwischen BVR, Beraterpool und osb weiter detailliert. 227 Zentral für alle Beteiligten war die erneute Zusicherung, dass die osb selbst keine individuellen Beratungsleistungen in den Banken anbieten würde, sondern diese ausschließlich durch die Mitglieder des Beraterpools zu erbringen wären. Dabei wurde zudem ein Primat der Region festgelegt, so dass bei Beratungsbedürfnissen die regionalen Organisationseinheiten, in deren Einzugsgebiet eine Bank lag, bevorzugt behandelt werden würden. Ebenfalls wurde vereinbart, dass sich die Mitglieder des Beratungspools passiv verhalten würden und nicht aktiv mit Beratungsangeboten auf die ESPrit-Teilnehmer zugehen würden. Alle bestehenden Beratungsprojekte innerhalb von Banken sollten im Gegenzug durch ESPrit nicht tangiert werden, sondern unabhängig von ESPrit fortgesetzt werden. 228 Ein zweiter Beraterpool Workshop fand im März 2010 statt. 229 Im Fokus stand dabei die Berichterstattung über den Verlauf des ersten Moduls in allen drei Bankengruppen. 230 Es stellte sich in diesem Workshop auch heraus, dass bisher nur wenige Banken mit dem Beraterpool in Kontakt getreten waren. Da das ESPritProjekt vom Ansatz her äußerst offen gestaltet war, wurde vereinbart, dass weiterhin keine aktiven Versuche unternommen werden sollten, um ESPrit-Banken für den Beraterpool zu akquirieren. Ebenfalls wurde vereinbart, dass nicht nach jedem ESPrit-Modul Abstimmungsworkshops erforderlich seien. Generell herrschte bei den Vertretern der diversen VR-Organisationseinheiten im Beraterpool keine einheitliche Stimmung in Bezug auf das ESPrit Projekt. Die Einstellung der Teilnehmer reichte von zurückhaltend-kritisch bis hin zu äußerst interessiert. Einige Teilnehmer des Beraterpools stellten sich die Frage, ob der BVR mit dem ESPrit-Projekt in ihr Kerngeschäft der Beratung eingreife, während andere zum Beispiel darauf hofften, angeregt durch das Vorgehen von ESPrit, eigene Beratungsleistungen an Banken vermitteln zu können. 231 Insgesamt war jedoch keine einheitliche Position der Mitglieder des Beraterpools zu ESPrit feststellbar und auch in Gesprächen mit dem BVR zeigte sich immer wieder, dass zum Teil unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung von ESPrit herrschten. Ein BVR-Verantwortlicher meinte, dass im Extremfall einige der im Beraterpool vertretenen Organisationen ESPrit betrachten könnten als einen „Angriff auf ihre Autonomie im Sinne von: Das sind meine Banken, das sind unsere Banken und wenn wir hier eine Unterstützungsleistung haben im Rahmen der Personalentwicklung, der Akademieleistung, der Beratungsleistung, dann ist das 227 Dok-068 DoK-067 229 Dok-019 230 Dok-015 231 FTB-025 228 194 unser Thema, da hat der BVR nichts zu suchen.“ 232 Andere Teilnehmer des Beraterpools waren jedoch deutlich der Auffassung, dass die Durchführung von Pilotprojekten auch mit direkter Einbeziehung von Ortsbanken durchaus dem Aufgabengebiet des BVR zufalle. Nach einer längeren Pause fand im September 2011 ein weiterer BeraterpoolWorkshop statt. 233 Neben dem BVR und der osb übernahm bei dieser Veranstaltung auch die wissenschaftliche Begleitforschung eine aktive Rolle. Alle Module des ESPrit-Projektes waren mittlerweile beendet. Ziel der Veranstaltung war es, in einem gemeinsamen Diskurs den Verlauf des ESPrit-Projektes zu besprechen und mögliche weitere Vorgehensweisen und Lehren für die VR-Organisation zu diskutieren. Nach Präsentationen des BVR, der osb und der wissenschaftlichen Begleitforschung über ihre bisherigen Einschätzungen von ESPrit, wurden in diversen Kleingruppen mit den Mitgliedern des Beraterpools debattiert. Wichtig war die Fragestellung, wie zentrale Komponenten von ESPrit – zum Beispiel die Gruppen-Lernprozesse oder die ergebnisoffene Projektgestaltung – in Dienstleistungen der anwesenden VR-Organisationseinheiten einfließen könnten. Zum Abschluss der Veranstaltung wurde zwischen den Vertretern des BVR und des Beraterpools vereinbart, dass weitere Besprechungen über die Diffusionsmöglichkeiten von ESPrit anberaumt werden. Den Abschluss der im Rahmen der Forschung beobachteten Zusammenarbeit zwischen dem BVR und dem ESPrit-Beraterpool bildete ein zweitägiger BeraterpoolWorkshop im April 2012. 234 Ziel dieses Workshops war es, weiter zu eruieren, wie die Erkenntnisse aus dem ESPrit-Projekt in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Beraterpools für die genossenschaftliche Organisation genutzt werde könnte. Der Workshop wurde erneut von den ESPrit Verantwortlichen des BVR und der osb moderiert. In offenen Diskussionen mit den Workshop-Teilnehmern wurden Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung von ESPrit eruiert. Insbesondere kristallisierte sich im Verlauf des Workshops heraus, dass das prozessorientierte und ergebnisoffene Vorgehen im Rahmen von ESPrit zu einer Erweiterung der Beratungsdienstleistungen einiger Teilnehmer genutzt werden könnte. Interesse bestand vor allem an den Erfahrungen, die gemacht wurden mit der Kombination von interaktiven Lernprozessen im Rahmen der ESPrit-Module und den gleichzeitig durch die Banken vorangetriebenen individuellen Entwicklungsprojekten. Weiterhin zeigte sich jedoch auch, dass die Rezeption von ESPrit innerhalb des Beraterpools äußerst unterschiedlich ausfiel. Innerhalb dieses final beobachteten Beraterpool-Workshops wurden keine endgültigen Beschlüsse über ein weiteres Vorgehen gefasst. Einige 232 Int-02 FTB-038 234 FTB-041 233 195 Teilnehmer des Beraterpools regten jedoch die Einrichtung einer „Zukunftswerkstatt“ an, um die diskutierten Themen weiter zu vertiefen. 235 6.5 Fazit Auch wenn das ESPrit-Projekt des BVR aufgrund seiner Komplexität nicht in allen Details beschrieben werden konnte, sollten die Schilderungen dieses Kapitels es ermöglichen, einen groben Überblick über das Projekt zu vermitteln. Dabei wurde deutlich, dass es sich bei ESPrit inhaltlich und methodisch um eine sehr breit ausgestaltete, komplexe Initiative handelte. In den Beschreibungen dieses Kapitels wurde aufgezeigt, dass im ESPrit Projekt eine große Zahl unterschiedlicher Inhalte und Themen behandelt wurde, das Projekt jedoch gleichzeitig als ergebnisoffene Prozessintervention konzipiert war, die sich auf individuelle Entwicklungsvorhaben von Banken konzentrieren würde. Darüber hinaus fanden über das Projekt verteilt unterschiedliche Gastvorträge statt, und es wurden diverse Möglichkeiten für verschiedene Formen von Wissensaustausch geschaffen. Es existierte zudem ein breit angelegter Beraterpool, auch wenn dieser durch die Banken nur in kleinem Umfang in Anspruch genommen wurde. Dabei wird in der Analyse der Entstehungsgeschichte von ESPrit eine spannende Dynamik beobachtbar. Ausgangspunkt für ESPrit war eine klare Zielsetzung des BVR: Es sollte ein Projekt gestartet werden, auf dessen Basis das Privatkundengeschäft der Volksbanken gestärkt werden könnte, insbesondere durch den Einsatz der diversen bereits bestehenden Werkzeuge und Hilfsmittel, die der BVR im Verlauf der vorangegangenen Jahre entwickelt hatte. Auf der Basis dieser Zielsetzung wurde in Zusammenarbeit mit einer Beratungsgesellschaft ESPrit entworfen. Aus den wissenschaftlichen Beobachtungen lässt sich jedoch ebenfalls herleiten, dass bei der Gestaltung von ESPrit nicht allein das Projektziel maßgeblich war, sondern auch diverse organisationale Gegebenheiten der VR-Organisation eine starke Berücksichtigung fanden – auch wenn sich beides nicht immer scharf voneinander trennen lässt. So konnte diversen Gesprächen entnommen werden, dass die Arbeit mit Lerngruppen und Lernpartnerschaften bereits sehr früh gesetzt war, weil diese Arbeitsweise sehr typisch und historisch bewährt innerhalb der Gruppe der Genossenschaftsbanken sei. Auch die Einbeziehung von Themengebieten unterschiedlichster Fachräte, sowie die Bildung des beschriebenen Beraterpools, ist nicht allein mit den gesteckten Projektzielen, sondern insbesondere auch unter Berücksichtigung der organisationalen und kulturellen Gegebenheiten innerhalb der VR-Gruppe zu erklären. Zudem wurde aufgezeigt, dass die 235 FTB-042 196 Projektgestaltung im Zeitverlauf einer hohen Eigendynamik unterlag, und die einzelnen Module immer auch auf der Basis der Rückmeldungen diverser Banken angepasst wurden. Ein solches Vorgehen ist auf der einen Seite riskant, da die Komplexität eines Projektes auf diese Weise stark steigen kann. Dies lässt sich auch bei ESPrit beobachten. Das Projekt wurde selbst für einige der Teilnehmer etwas unübersichtlich. So kamen Banken trotz einer intensiven Kommunikations- und Informationspolitik des BVR mit sehr heterogenen Erwartungen in das Projekt 236 und bis zum Ende von ESPrit wurden die zentralen Aspekte des Projektes von den Banken zum Teil unterschiedlich beschrieben. Dies lag unter anderem daran, dass nicht alle im Projekt angelegten Elemente mit der gleichen Intensität verfolgt werden konnten. Ein Beispiel sind die individuellen, bankeigenen Entwicklungsprojekte. Diese wurden in der Projektbeschreibung als ein zentrales Element von ESPrit betont. 237 Wie in Kapitel 6.2 beschrieben, wurden diese Projekte während ESPrit auch regelmäßig aufgegriffen, aufgrund der diversen Themen und Elemente des Projektes konnte jedoch keine vertiefte Auseinandersetzung mit diesen Projekten stattfinden. Es könnte auf der Basis dieser Beobachtungen die Frage aufgeworfen werden, ob bei Design und Durchführung von ESPrit eine zu geringe Fokussierung auf die Kernaspekte des Projekts stattgefunden habe und ob bei der Gestaltung des Projektes zu wenig darauf geachtet worden sei, ob jedes Projektelement zur Erreichung der offiziell definierten Projektziele beitrage. Aus der Perspektive der hier vorliegenden Arbeit wäre eine solche Fragestellung jedoch nicht zielführend, da sie ESPrit isoliert betrachten würde und nicht ausreichend berücksichtigen würde, dass ESPrit in einen hochkomplexen organisationalen Kontext eingebettet ist. Die vorliegende Arbeit verfolgt deshalb eine andere Fragestellung. Denn obgleich die finale Ausgestaltung von ESPrit sehr komplex und für einige Banken zeitweilig undurchsichtig war, ließ sich dennoch beobachten, dass die meisten Banken mit dem Projekt zufrieden waren, und dass darüber hinaus – wie in Kapitel 7 detailliert dargestellt – ESPrit spürbare Effekte in den meisten der beobachteten Teilnehmerbanken erzeugte. Diese positive Wirkung des ESPrit Projektes ist insbesondere vor dem Hintergrund des äußerst anspruchsvollen Organisationskontexts der Genossenschaftsbanken keineswegs selbstverständlich. Es soll deshalb die Frage aufgeworfen werden, ob das ESPrit Projekt Hinweise auf eine allgemeine Arbeitsweise des BVR liefern kann, die darauf spezialisiert ist, in einem herausfordernden, heterarchischen Organisationskontext Führungslegitimität zu ermöglichen. Darum sind die empirischen Daten im Zusammenhang mit ESPrit für die vorliegende Arbeit gerade dort von besonderem Interesse, wo gewisse 236 237 Vgl. z.B. Int-10, Int-19, Int-26; zitiert in Kapitel 6.2. Dok-007 197 Ausgestaltungen des ESPrit Projekts nicht allein mit dessen Zielsetzungen erklärt werden können, sondern Hinweise auf eine idiosynkratische Arbeitsweise des BVR geben. Denn auch wenn es diese Elemente sind, die oftmals zu einer gesteigerten Komplexität des Gesamtprojektes mit den oben beschriebenen Folgen führten, verbirgt sich aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit gerade hier der Schlüssel zum Verständnis für die Führungslegitimität des BVR. Ähnlich wie im Eingangszitat dieses Kapitels beschrieben, kann vermutet werden, dass hinter dieser Arbeitsweise des BVR der Kern dessen liegt, was Führungslegitimität in einem heterarchischen Extremkontext überhaupt erst ermöglicht, auch wenn sich die zugrundeliegenden Wirkmechanismen einem Beobachter auf den ersten Blick nicht erschließen. Möglicherweise erlaubt es erst die zufällig („chance“) erscheinende Zusammenstellung unterschiedlichster Themen, einen Mehrwert für alle Elemente einer heterogenen Bankenlandschaft zu generieren, so dass hinter dieser Zusammenstellung eine „direction“ liegt, die dem Betrachter anfänglich verborgen bleibt. Eventuell ist die bei ESPrit beobachtete Projektkomplexität und Themenvielfalt lediglich ein „partial evil“, das ein „universal good“, nämlich den Handlungsspielraum und die Flexibilität ermöglicht, die innerhalb einer heterarchischen Organisation erforderlich sind. Und hinter dem teilweise beobachtbaren „discord“ zwischen den Beteiligten des Beraterpools untereinander und in Bezug auf den BVR könnte eine eingespielte Form der Zusammenarbeit basierend auf partieller Kooperation und partieller Konkurrenz liegen, die gesamthaft als eine dynamische „harmony“ betrachtet werden könnte. In jedem Fall ist anzuerkennen, dass die deutschen Genossenschaftsbanken auf eine 150-jährige Erfolgsgeschichte zurückblicken können. Und auch wenn sich die Wirkmechanismen einzelner Arbeitsweisen einem Betrachter nicht sofort erschließen, zeigt eine genauere Beobachtung der komplizierten Zusammenarbeitsformen innerhalb der VR-Organisation, dass sich im Laufe dieser Geschichte eine kollektive Arbeitsweise entwickelt hat, die die Zukunftsfähigkeit der Gesamtorganisation auch in Krisen wiederholt aufrecht erhalten konnte. Selbst wenn somit die Einstellung „whatever is, is right“ aus Forscherperspektive sicherlich zu unkritisch ist, kann sie zumindest im übertragenen Sinne formuliert werden als „whatever works, is right“. Und hier hat die VR-Organisation über ihre lange Geschichte bewiesen, dass die von ihr ausdifferenzierte Arbeitsweise und die genutzten Interaktionsmuster zu nachhaltigem Erfolg führen können. Die Führungslegitimität zentraler Organisationseinheiten wie des BVR spielte dabei eine entscheidende Rolle. Vor diesem Hintergrund soll auf der Basis der Beobachtungen des ESPrit-Projektes im folgenden Kapitel die charakteristische Arbeitsweise des BVR genauer herausgearbeitet werden. Unterstützt durch Beobachtungen und Interviews in sieben Volksbanken soll aufgezeigt werden, welche 10 charakteristischen Interventionspraktiken die Arbeit des BVR prägen und 198 wie diese es dem BVR ermöglichen, Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext kontinuierlich wiederherzustellen. 199 7 Führungslegitimität stiftende Interventionspraktiken Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen, Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus. Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! Solch ein Ragout, es muss euch glücken; Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht. Was hilft’s, wenn ihr ein Ganzes dargebracht, Das Publikum wird es euch doch zerpflücken. - Johann Wolfgang von Goethe, Faust I Die zentrale Fragestellung dieses Kapitels ist, mithilfe welcher Interventionspraktiken es dem BVR wiederholt gelingt, seine Führungslegitimität neu zu erschaffen. Dabei kann bereits vorweggenommen werden, dass die empirischen Beobachtungen den Einfluss des BVR auf die Entscheidungsprämissen lokaler Banken deutlich zeigen und damit bereits vorausgesetzt werden kann, dass der BVR seine Führungslegitimität regelmäßig erfolgreich wiederherstellt. Die zu beantwortende Frage ist, welche Interventionspraktiken des BVR dies ermöglichen. In den Kapiteln 2 und 3 wurde das dieser Arbeit zugrunde liegende theoretische Verständnis von Führungslegitimität erarbeitet; in den Kapiteln 5 und 6 wurde die Organisation des BVR näher vorgestellt sowie eine dichte Beschreibung der beobachteten Intervention ESPrit dargestellt. Das siebte Kapitel wird nun diese beiden Bestandteile der vorliegenden Forschungsarbeit zusammenführen. Hierfür gelten die drei in Kapitel 4 aufgestellten Fragestellungen: 1) Welche Interventionspraktiken des BVR lassen sich im Rahmen des über zwei Jahre ablaufenden ESPrit-Projektes identifizieren? 2) Welche Beobachtungen und Interview-Aussagen weisen darauf hin, dass die beobachteten Interventionspraktiken charakteristisch für die generelle Arbeitsweise des BVR sind und keine Besonderheiten von ESPrit darstellen? 3) Welche Kommunikationsdynamiken zwischen Entscheidungen des BVR und Entscheidungsprämissen der Banken ergeben sich aufgrund der identifizierten Interventionspraktiken des BVR? 200 Es geht somit im vorliegenden Kapitel zum einen darum, charakteristische Interventionspraktiken des BVR zu beschreiben und zum anderen darzulegen, wie diese Interventionspraktiken es dem BVR ermöglichen, Entscheidungsprämissen unterschiedlicher Volksbanken mitzugestalten. Hierbei wird demnach auf der zuvor aufgestellten Definition von Führungslegitimität aufgebaut, nach der Führungslegitimität ein Prozess ist, in dem es um die kontinuierliche Wiederherstellung der Fähigkeit zur Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen geht. Das Konzept der Entscheidungsprämissen erklärt dabei, wie Führungseinfluss auch in Entscheidungen spürbar werden kann, an denen die Führung selbst gar nicht beteiligt ist. Die Fokussierung auf Interventionspraktiken darf dabei nicht in der Weise gedeutet werden, dass diese allein maßgeblich für die kontinuierliche Verfertigung von Führungslegitimität sind. Auch im Kontext der VR-Organisation existieren weitere Faktoren, die großen Einfluss auf Führung und deren Legitimität haben. So soll zum Beispiel nicht bestritten werden, dass die Art und Weise wie einzelne Führungspersonen sich verhalten und auf welche Netzwerke sie zurückgreifen können, Einfluss auf die Führungslegitimität zentraler Organisationseinheiten haben können. Wie zum Beispiel von Hedlund (1986) beschrieben, „the core of a heterarchical enterprise will consist of people with a long experience in it” (S. 27). Dass zentrale Personen und ihre organisationsinterne Vernetzung sowie ihr Auftreten gegenüber verschiedenen Organisationseinheiten eine wichtige Rolle spielen können, wurde auch während der empirischen Forschungsarbeit mehrfach beobachtet. Auch die sehr charakteristischen genossenschaftlichen Werte sowie die Kultur der VR-Organisation sind entscheidend für die Art und Weise, wie Führung innerhalb dieser Organisation ihre Legitimität wiederherstellen kann. „Die Referenz auf ihre Kultur stattet die Organisation mit einem in sich ebenso robusten wie mobilen Sinnpotenzial aus, mit dessen Hilfe die Bruchlinien der Organisation sowohl dargestellt als auch überbrückt werden können“ (Baecker, 2003; S. 288). Dieses Miteinander aus Abgrenzung und Überbrückung von organisationalen Trennlinien durch eine stark wertegetriebene Kultur ist ein zentraler Bestandteil der VROrganisation. Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass hier keineswegs der Versuch unternommen wird, das komplexe Phänomen der Führungslegitimität auf einige Interventionspraktiken zu reduzieren. Durch eine Ausklammerung anderer Einflussfaktoren auf die Führungslegitimität kann jedoch Komplexität reduziert werden, um bei der Betrachtung der Interventionspraktiken selbst eine verständnissteigernde Komplexität aufbauen zu können. Alle Einflussfaktoren neben den identifizierten zehn Interventionspraktiken des BVR werden somit in einem ersten Schritt ausgeklammert und nur dann wieder in die Betrachtung eingeführt, wenn sie einen entscheidenden Beitrag zur Wirkungsweise der einzelnen 201 Interventionspraktiken leisten. Damit soll der Blick für die Bedeutung und den Beitrag der Interventionspraktiken selbst geschärft werden. 7.1 10 charakteristische Interventionspraktiken des BVR Die im Folgenden vorgestellten zehn Interventionspraktiken sind als Konstruktionen der Forschung zu betrachten. Es handelt sich bei ihnen nicht um gegebene Kategorien innerhalb des BVR. Vielmehr erfolgte ihre Abgrenzung und Bezeichnung im Laufe des wissenschaftlichen Beobachtens durch einen regelmäßigen Austausch des Forscherteams. Das Ziel dieser Konstruktionen ist es, die Arbeitsweise des BVR und sein Interaktionsverhalten in Bezug auf verschiedene VR-Banken pointiert darzustellen und die Charakteristiken dieser Arbeitsweise hervorzuheben. Auf dieser Basis soll jeweils diskutiert werden, wie die einzelnen Interventionspraktiken dazu beitragen können, Entscheidungsprämissen in VR-Banken mitzugestalten. Der Interventionsbegriff weist dabei, wie bereits in Kapitel 3 dargestellt, darauf hin, dass der BVR sein Handeln mit der Absicht ausübt eine gewisse Wirkung auf die Organisation zu erzeugen, und damit eine Führungsrolle innerhalb der VROrganisation einzunehmen. Die VR-Banken als intervenierte Systeme liegen jedoch außerhalb der direkten Kontrolle des BVR und erleben deshalb die Interventionen aus systemtheoretischer Perspektive lediglich als Irritationen (Krause, 2005). Entscheidend ist deshalb, wie die Interventionen gestaltet sind, um die Wahrscheinlichkeit ihrer Annahme und damit ihren Einfluss auf organisationale Entscheidungsprämissen zu erhöhen. Hieraus definiert sich die Führungslegitimität des BVR. Die wissenschaftliche Begleitforschung des ESPrit-Projektes eröffnete eine Möglichkeit, die Arbeitsweise des BVR über einen längeren Zeitraum zu beobachten und auf dieser Basis charakteristische Interventionspraktiken abzuleiten. Die Vorgehensweise im Rahmen eines einzelnen Projektes bereits als allgemeingültig für die allgemeine Arbeitsweise des BVR zu betrachten, wäre jedoch voreilig. Dennoch wurde in einem ersten Schritt versucht, eine große Zahl möglicher Interventionspraktiken zu formulieren. Im Sinne von Popper (1963) lässt sich sagen: "Without waiting, passively, for repetitions to impress or impose regularities on us, we actively try to impose regularities upon the world. We try to discover similarities in it, and interpret it in terms of laws invented by us. Without waiting for premises, we jump to conclusions. These may have to be discarded later, should observation show that they are wrong” (S. 73). Es wurden demnach auf der Basis der Beobachtungen im Rahmen von ESPrit etliche mögliche Interventionspraktiken aufgestellt. Diese wurden im Anschluss mit den umfangreichen Interviewdaten und den Beobachtungen aus sieben verschiedenen Volksbanken abgeglichen. Alle Interventionspraktiken, die nicht auch 202 außerhalb von ESPrit aus den empirischen Daten identifiziert werden konnten, wurden verworfen. Am Ende dieses Prozesses blieben die 10 Interventionspraktiken bestehen, die in den nächsten Teilkapiteln im Einzelnen vorgestellt werden. 7.1.1 Betonung der lokalen Autonomie aller Volksbanken und Raiffeisenbanken Wie in Kapitel 5 beschrieben, baut die genossenschaftliche Organisationsstruktur der VR-Organisation auf dem Prinzip der Subsidiarität auf. Jede einzelne Volksbank ist eine eigenständige Organisation, im Verhältnis zu der zentrale Organisationseinheiten keine übergeordnete hierarchische Rolle einnehmen. So ist auch in der Satzung des BVR verankert, dass die genossenschaftliche Bankenorganisation kein Konzern ist und keine Konzernstrukturen anstrebt. Während die Organisationsstruktur relativ eindeutig ist, bestehen dennoch mehrere Möglichkeiten, wie zentrale Organisationseinheiten mit dieser Gegebenheit umgehen können. Im Rahmen des ESPrit Projektes war an mehreren Stellen beobachtbar, dass der BVR in dieser Hinsicht eine Haltung einnimmt, die die lokale Autonomie der VR-Banken immer wieder aufs Neue betont und fördert. Besonders markant war dies im Verlauf des ersten ESPrit-Moduls sichtbar, in dem Banken dazu aufgefordert wurden, nochmals aktiv zu reflektieren, ob sie am weiteren Verlauf des ESPrit Projekts teilnehmen wollten oder nicht. Zwar war von vorn herein keine der Teilnehmerbanken eine Verpflichtung eingegangen und es hätte somit keine Möglichkeit gegeben, eine Bank zur weiteren Teilnahme zu verpflichten. Interessant ist jedoch, dass dieser Umstand von Seiten des BVR nochmals ausdrücklich betont. Gleichzeitig wurde versucht, durch einen Letter of Intent eine Selbstverpflichtung der Banken zur aktiven Teilnahme an ESPrit zu erwirken. Auch in diesem Vorgehen zeigt sich, dass der BVR offensiv damit umgeht, dass alle Banken autonom sind und sich lediglich selbst für Initiativen verpflichten können. Ebenso zeigt der Umstand, dass drei der ESPrit-Teilnehmerbanken im Anschluss an das erste Modul ihre Projektteilnahme beendeten, dass die Banken ihre Entscheidungsautonomie wahrnahmen und keine Sorge vor etwaigen politischen Sanktionen von Seiten des BVR befürchten mussten. Auch innerhalb der Beraterpool-Workshops war beobachtbar, dass auf Seiten des BVR wie auch von anderen Teilnehmern zentraler VR-Organisationseinheiten die Entscheidungsfreiheit der Volksbanken wiederholt betont wurde und als ein positives Alleinstellungsmerkmal der VR-Gruppe dargestellt wurde. Diese Tendenz, die unbedingte Autonomie der einzelnen Volksbanken konsequent hervorzuheben, konnte auch im Rahmen der durchgeführten Interviews mehrfach angetroffen werden. So betonte eine Führungskraft des BVR: „Also im Grunde, der 203 oberste Souverän unserer Gruppe ist die Ortsbank. Eigentlich sogar die Mitglieder der Ortsbank, wenn man das ganz konsequent durchdenkt.“ 238 Diese ständige Bestärkung der organisationalen Unabhängigkeit aller Genossenschaftsbanken lässt sich auch in der Einstellung des Managements der Volksbanken wiederfinden. Ein leitender Mitarbeiter eine Volksbank betonte in einem Interview: „Ich müsste nicht [an Initiativen des BVR teilnehmen]. Die [vom BVR] müssen dafür werben. Die müssen ganz klar dafür werben, und ich muss das Gefühl haben, dass das, was die mir da geben, passt und mir gefällt.“ 239 Ebenso wird die lokale Autonomie der Banken von Seiten des BVR dadurch hervorgehoben, dass der BVR explizit nicht die alleinige Strategiekompetenz bei sich selbst sieht. Es besteht nicht der Anspruch, dass alle Volksbanken dem BVR in jedem Punkt folgen. Vielmehr werden strategische Konzepte und Initiativen als Angebote verstanden, die je nach Bedarf von Banken aufgegriffen werden können. So wurde auch im Rahmen von ESPrit von den Verantwortlichen mehrfach betont, dass es sich um einen ergebnisoffenen Prozess der Zusammenarbeit handle, den jede Bank nach eigenem Gutdünken für sich nutzen könnte. Auf einer etwas abstrakteren Ebene hielt ein leitender Mitarbeiter des BVR fest, dass der BVR zwar für die Entwicklung der Gruppenstrategie verantwortlich sei, dies aber nicht mit einem strategischen Hoheitsanspruch über alle Banken gleichzusetzen sei: „Die Organisation [hat sich] im Rahmen eines Strategiebildungsprozesses – wo wollen wir eigentlich hin und wer soll eigentlich hier welche Rolle wahrnehmen? – entschieden, dass der BVR eben genau diese Rolle des strategischen Kompetenzzentrums wahrnimmt. Wobei das aus meiner Sicht nicht bedeutet, dass die Strategie ausschließlich hier aus Berlin kommt.“ 240 Diese klare Positionierung des BVR in Bezug auf die lokale Autonomie aller Volksbanken und Raiffeisenbanken, die den Interventionen des BVR zugrunde liegt, kann seine Führungslegitimität auf verschiedene Weise fördern. Zum einen trägt sie zu einem einheitlichen externen und internen Rollenverständnis des BVR bei, innerhalb dessen der BVR eine gleichberechtigte Rolle neben den einzelnen Volksbanken einnimmt: „[Wir sind eine] Unternehmensgruppe, die auf Augenhöhe agiert – das heißt mit jeder guten Idee müssen Sie grundsätzlich natürlich erst einmal eine politische Meinungsbildung erreichen, die diese Idee unterstützt. Und dann müssen Sie die Mitglieder unserer Gruppe überzeugen, dass sie sich mit dieser Idee auch aufmachen und sie dann auch für sich übernehmen. Und das basiert dann bei uns tatsächlich auf Freiwilligkeit, 238 Int-03 Int-11 240 Int-04 239 204 es sei denn es gibt Sachzwänge aufsichtsrechtlicher Art, oder gesetzlicher Art.“ 241 Aus dieser gleichberechtigten Rolle heraus, ist es die Aufgabe des BVR, strategische Konzepte zu entwickeln und Banken von diesen zu überzeugen. Somit werden die einzelnen Banken nicht in eine Position gedrängt, ihre Autonomie gegenüber dem BVR verteidigen zu müssen. Deshalb können sich Banken weitgehend unbefangen mit Konzepten und Initiativen des BVR auseinandersetzen. Da der BVR keine Möglichkeit hat, den Banken die Nutzung von BVR-Konzepten anzuordnen, kann er durch diese starke Betonung der jeweiligen Autonomie zumindest sicherstellen, dass mögliche Widerstände gegenüber dem BVR möglichst klein sind. Und auf der anderen Seite bestehen keine internen und externen Erwartungen an den BVR, dass er sich mit seinen Ideen in jeder Volksbank durchsetzen muss, um seine strategische Führungsrolle zu legitimieren. Zudem stärkt die Betonung der Autonomie aller Banken im Rahmen von BVRInterventionen das Bewusstsein der Banken, die sich auf diese Interventionen eingelassen haben, dass dies aus ihrem eigenen Willen geschah. Wie Weick (1993) betont, ist dieses Bewusstsein der Freiwilligkeit einer Entscheidung die wichtigste Voraussetzung, um Engagement zu erzeugen. Er zeigt, dass bei freiwilligen Entscheidungen selbst in dem Fall von Erwartungsenttäuschungen oft Rationalisierungsprozesse einsetzen, mit denen getroffene Entscheidungen gerechtfertigt werden können. Die Interventionsstrategie des BVR ist deshalb dazu geeignet, ein Fundament für die Zusammenarbeit zwischen Banken und dem BVR zu schaffen. Wenn Banken sich auf dieser Basis für die Nutzung von strategischen Konzepten oder Initiativen des BVR entscheiden, ist ihr Engagement in der Regel ausgeprägt. Für den BVR ergibt sich deshalb die Möglichkeit, nachhaltiger bei der Gestaltung lokaler Entscheidungsprämissen mitzuwirken, wenn sich Banken einmal zur Nutzung von Vorschlägen des BVR entschieden haben. 7.1.2 Aktive Involvierung von lokalen Banken, Verbänden und Verbundunternehmen Strukturell ist die VR-Organisation durch wechselseitige Beteiligungen ihrer Organisationseinheiten äußerst vernetzt aufgebaut. Dies wurde bereits in Kapitel 5 dargestellt. Eine entscheidende Interventionspraktik des BVR ist es, diese strukturellen Voraussetzungen aktiv zu nutzen und die Involvierung diverser Organisationseinheiten in BVR-Projekte sehr stark zu forcieren. ESPrit selbst macht dieses Vorgehen deutlich. Zum einen wurde auf der Ebene der Gremien der Fachrat Markt des BVR stark einbezogen. So wurde das Projekt 241 Int-03 205 mehrfach im Fachrat diskutiert. Wie eine verantwortliche Person des BVRs angab, teilten Mitglieder des Fachrates die Zielsetzungen von ESPrit. 242 Und auch während des Projektverlaufs wurde im Fachrat über ESPrit diskutiert. Hierzu zählt eine Präsentation durch das begleitende Beratungsunternehmen sowie eine Präsentation durch die wissenschaftliche Begleitforschung. Auf diese Weise waren bereits diverse Repräsentationen von Banken und zentralen VR-Organisationseinheiten recht früh in den ESPrit Prozess einbezogen und wurden immer wieder auf dem Laufenden gehalten. Zum anderen war bei ESPrit insbesondere die Partizipation der Verbundunternehmen und Verbände sehr stark ausgeprägt. Von Anfang an wurde, wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, ein Beraterpool aufgesetzt, dessen Mitglieder früh über ESPrit informiert wurden. Insbesondere in einer fortgeschrittenen Phase des Projektes fanden dann mehrere Workshops statt, in denen mit den Mitgliedern des Beraterpools Möglichkeiten erarbeitet wurden, um Erkenntnisse aus ESPrit für die VR-Gruppe zu nutzen. Diese aktive Nutzung von Gremien und Plattformen lässt sich in diversen Projekten und Initiativen des BVRs wiederfinden. Auf diese Art und Weise wird ein weit verzweigter Meinungsbildungsprozess innerhalb der VR-Organisation sichergestellt. Durch die Möglichkeit der Teilhabe an BVR-Entscheidungen im Rahmen der Fachräte organisieren sich lokale Banken auf eine Art und Weise, die es ihnen ermöglicht, ihre Ansichten zu bündeln und auf der Bundesebene zum Ausdruck zu bringen. Ein Bankvorstand beschreibt diesen Prozess wie folgt: „Wir haben die Primärbanken, wir haben dann die Bezirksvereinigungen, dann haben wir die verschiedenen Gremien auf regionaler Ebene, Verbandsgremien und so weiter, wo die Meinungen wieder einfließen. [...] Auf regionaler Ebene gibt es den Fachrat Kredit, oder Fachrat Markt. Da entsenden die Bezirksvereinigungen immer jeweils wieder einen oder zwei Vorstände, die dann von der Bezirksvereinigung auch gewählt und bestimmt werden. Und so gibt das dann sukzessive ein Konzentrat nach oben, Richtung BVR.“ 243 Etliche Bankvorstände sind Mitglieder von Kreisräten, Bezirksräten oder weiteren lokalen Gruppierungen, in denen lokale Willensbildungsprozesse stattfinden. Die gebildeten Meinungen werden daraufhin innerhalb der VR-Organisation in Richtung zentraler Einheiten kanalisiert. Ähnliche Meinungsbildungsprozesse laufen auch im Zusammenhang mit den Verbundunternehmen der VR-Gruppe ab. Ein Bankvorstand beschrieb dies wie folgt: „Wir haben neben unserer Verbandsstruktur, die wir eben besprochen haben, auch unsere Verbundstruktur. Das heißt, ob das die Bausparkasse, ob das die R+V und 242 243 Vgl. Int-03 Int-33 206 Allianzversicherung ist, ob das die Teambank ist, die DZ-Bank, auch dort gibt es über deren Beiräte alle möglichen sonstige Gremien viele bilaterale Kontakte. Das heißt, wir sind unwahrscheinlich eng vernetzt in unserer Organisation, über die verschiedensten Kanäle.“ 244 Die strukturelle Vernetzung der VR-Organisation bildet somit eine fruchtbare Basis für aktive Partizipationsprozesse, die insbesondere auch vom BVR gefördert werden. Hieraus resultiert zum einen ein Willensbildungsprozess, der dazu beitragen kann, dass die Entscheidungen zentraler VR-Einheiten wie des BVR mit den Interessen und Bedürfnissen von Banken sowie anderer zentraler Organisationseinheiten kompatibel sind. Zum anderen wird die Akzeptanz von zentralen Entscheidungen durch die Möglichkeit zur Mitwirkung dezentraler Einheiten gefördert. Insgesamt beschrieb ein BVR-Manager den resultierenden Arbeitsprozess wie folgt: „Also es gibt ja beim BVR nirgends etwas, wo man sagt: Das ist es, oder das lasse ich stehen. Sondern es wird im Prinzip alles in Gremien politisch besprochen, diskutiert und es gibt dann eben kein Ergebnis, was nicht wahrscheinlich ein Kompromiss ist.“ 245 Der Umstand, dass organisationale Ziele und Entscheidungen das Resultat kollektiver Meinungsbildungsprozesse sind, ist an sich nicht ungewöhnlich. Bereits Cyert und March (1963) beschrieben, dass organisationale Zielsetzungen in der Regel durch Koalitionen innerhalb von Organisationen geprägt werden. Auffällig an der Arbeitsweise des BVR ist jedoch, dass eine Vielzahl formal definierter Plattformen aktiv genutzt wird, um diese kollektiven Meinungsbildungsprozesse zu leben und deren Existenz innerhalb der VR-Organisation hervorzuheben. Ferner wird die ständige Entstehung informaler Austauschplattformen gefördert, 246 die ebenfalls zur Meinungsbildung innerhalb der Organisation beitragen. Die Einbeziehung unterschiedlicher Organisationseinheiten in die Entscheidungsprozesse des BVR ist somit nicht einfach als eine strukturelle Gegebenheit, sondern als eine bewusst gelebte Interventionspraktik des BVR zu betrachten. Wie von Thompsons (1967) beschrieben gilt: „Coalition is a process, not an entity“ (S. 139). Und in diesem Sinne sorgt der BVR kontinuierlich für die Bildung von Koalitionen, die Einfluss auf seine eigenen Entscheidungen nehmen können, damit aber auch zur Legitimierung dieser Entscheidung innerhalb der VROrganisation beitragen. Ebenso stellt der BVR durch diese Vorgehensweise sicher, dass die Identifikation der Banken mit seinen Entscheidungen steigt. Kramer (1993) hielt fest, “that individuals’ willingness to cooperate depends on their identification with other decision makers with whom they are interdependent” (S. 245). Ähnliches gilt für die interdependenten 244 Int-09 Int-02 246 Vgl. Kapitel 7.1.8 245 207 Beziehungen zwischen BVR und Volksbanken. Indem der BVR in seine Entscheidungsprozesse innerhalb unterschiedlicher Gremien Repräsentanten aus Volksbanken, Verbänden und Verbundunternehmen einbezieht, gelingt es ihm, eine starke Identifikation innerhalb der Banken zu erzeugen. Ein Bankmanager beschrieb dies im Rahmen eines Interviews recht deutlich in seiner Darstellung des BVR: „Also der BVR ist kein losgelöstes Gremium. […] Das ist kein Unternehmen, was irgendwo übergestülpt ist. […] Für mich sind dort die handelnden Personen auch Volksbanker. Also die ganze Wahlstruktur, die ganze Besetzung der Arbeitsgremien – ich habe jetzt mit dem Fachrat Personal gesprochen; natürlich sitzen da auch Leute drin, die nicht mehr tagtäglich irgendwo komplett in der Produktion oder an der Front stehen – aber sie sind dort einmal gestanden. Und darin [liegt] für mich die demokratisch legitimierte Form; in dem Mitbringen aus der Organisation an der Spitze und dann dort oben etwas zu erarbeiten und wieder nach unten zu bringen.“247 Durch die gezielte Beteiligung von diversen Repräsentanten an Entscheidungen, kann der BVR somit nicht nur die Entscheidungsqualität an sich erhöhen, indem der deren Expertise nutzen kann, sondern es gelingt ihm auch, die Identifikation der Banken mit BVR Entscheidungen zu erhöhen. Wie von Brickman (1987) beschrieben, „commitment marshals forces that destroy the plausibility of alternatives and remove their ability to inhibit action” (S. 40). Somit erhöht die Einbeziehung von Banken in den Entscheidungsprozess die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz. Dies gilt auch dann, wenn Bankvertreter bei einer konkreten Initiative keinen Einfluss auf deren Gestaltung ausgeübt hat, aber dennoch formal am Entscheidungsprozess beteiligt waren: “Involvement of some constituency in decision making, even if such involvement is more symbolic than real, can have effects on developing commitment to decisions that are reached” (Salancik, 1977, S. 35). Der Erfolg dieser Vorgehensweise wird zum Beispiel aus der folgenden Interviewaussage eines leitenden Bankmanagers deutlich: „Aber dann auch zu erleben, wenn diese Rückmeldung kommt, dass sie daran arbeiten, dann – sage ich – ist das ein richtiges partnerschaftliches Verhältnis. Wenn das nur eine Zentralstelle wäre, die nur abgibt und erwartet, dass das 1:1 umgesetzt wird, dann hätte ich da mehr Probleme damit.“ 248 Diese Einstellung von Bankvorständen, die in der VROrganisation sehr ausgeprägt ist, berücksichtigt der BVR durch die aktive Involvierung von Repräsentationen aus den Banken und die allgemeine Sensitivität gegenüber dem Feedback von Banken. Ein leitender Mitarbeiter des BVR hielt dies wie folgt fest: „Bei uns sind ja […] alle [Banken] auch Mitglied. Das ist ein 247 248 Int-11 Int-21 208 Riesenvorteil. Dadurch kennen wir die und wir haben auch eine ganz andere Argumentationskette.“ 249 Ein anderer Bankvorstand betonte ebenfalls die große Bedeutung der engen Zusammenarbeit des BVR mit Banken und Verbänden: „Also ich finde der BVR hat sich da auch gut entwickelt; sicherlich auch durch die verstärkte Zusammenarbeit mit Verbänden, mit der ADG beispielsweise, und auch mit den Primärinstituten über die Fachratsarbeit. Ich glaube dadurch ist auch sichergestellt, dass man heute stärker als in der Vergangenheit an den Themen arbeitet, die auch für relevant erachtet werden.“ 250 Auch hier wird offensichtlich, wie die aktive Einbeziehung von Banken und Verbänden in Entscheidungsprozesse des BVR zum einen die generelle Akzeptanz von Entscheidungen erhöht und zum anderen einen Beitrag dazu leistet, dass die Bedürfnisse und Interessen der beteiligten Organisationseinheiten hinreichend gewürdigt werden. Darüber hinaus spielt insbesondere die Involvierung von Verbänden, regionalen Beratungsunternehmen und Verbundunternehmen eine bedeutende Rolle, da diese als Multiplikatoren des BVR fungieren können, wenn sie sich mit dessen Entscheidungen identifizieren können. Der BVR selbst mit gerade einmal 190 Mitarbeitern verfügt nicht über die Möglichkeit, 1.100 Volksbanken direkt anzusprechen. Im Falle von ESPrit waren gerade einmal 20 Banken am Pilotprojekt beteiligt. Hierzu bemerkte ein führender Mitarbeiter des BVR: „Um eben mehr als 20 Banken zu erreichen, brauchen wir andere Infrastrukturen. […] Aber da sehe ich eher andere Partner, die da zusätzlich mit ins Boot müssen. … Weil wir tatsächlich ja in unserem Verbund nach dem Prinzip Arbeitsteiligkeit operieren.“ 251 Diese Meinung wurde auch von etlichen Gesprächspartnern innerhalb der Volksbanken geteilt. Ein Bankmanager stellte fest, dass er Operationalisierungen von BVR-Ideen oftmals über die Tätigkeit seines Regionalverbandes bei ihm in der Bank spüren würde. 252 Demzufolge gibt es etliche Beispiele, wie der BVR mit strategischen Konzepten gerade deshalb eine große Wirkung innerhalb der VR-Gruppe erzielen konnte, weil diverse Verbände und Verbundunternehmen von Anfang an involviert waren und später zur Verbreitung zentraler Ideen beitrugen. Das Projekt Marke 500, das zur Stärkung der Marketing-Aktivitäten von Banken diente, wurde zum Beispiel „mit einer externen Beratungsgesellschaft [durchgeführt], aber da sind die Regionalverbände mit dabei.“253 Noch deutlicher wurde dies beim BVR-Projekt PROFI, einer Initiative zur Stärkung des Firmenkundengeschäfts der VR-Banken. Etliche der im Rahmen der Forschungsarbeit beobachteten Banken waren mit diesem Projekt in unterschiedlicher Weise in Berührung gekommen. Ein BVR-Manager meinte dazu: 249 Int-03 Int-12 251 Int-03 252 Vgl. Int-027 253 Int-02 250 209 „Aber PROFI, glaube ich, war deswegen ein Erfolgsmodell, weil man in der Konzeption damals die Verbände schon mit eingebunden hat. Weil man ein Expertenteam geschaffen hat, wo Banker, Regionalvertreter, BVR-Vertreter und Verbundpartner gleichwertig auftreten konnten als Experten zur Begleitung einer Bank.“ 254 Diese Meinung wurde ebenfalls in den Banken geteilt. So wurde von einem Banker betont: „Ich glaube das ist ein ganz wichtiger Punkt: PROFI funktioniert, weil die Regionalverbände involviert sind, weil die Zentralbank involviert ist, und auch andere Verbundunternehmen.“ 255 Auf der Basis der engen Einbindung in das PROFIProgramm erstellten verschiedene Verbundunternehmen und Verbände selbst Beratungs- oder Unterstützungsangebote für Banken, die auf dem PROFI-Konzept des BVR basierten. So bewarb die ADG in ihrem Jahresprogramm ihr Angebot zur Stärkung des Firmenkundenprogramms von Banken mit dem Hinweis auf den „Rückgriff auf bewährte, in der FinanzGruppe entwickelte Konzepte und Erkenntnisse aus Projekten, wie zum Beispiel aus dem BVR-Projekt ‚PROFI‘“. 256 Und der badenwürttembergische Verband BWGV arbeitete an einem Programm OptiPROFI, das auf PROFI aufbaute und in dessen Projektlenkungsteam Vertreter von BVR, Rechenzentren und weiteren Verbänden und Verbundunternehmen vertreten waren. 257 Zusammenfassend lässt sich somit in Bezug auf die vorgestellte zweite Interventionspraktik Folgendes festhalten: Durch die Partizipation von Bankenvertretern in BVR-Gremien wird die Bedürfnisorientierung aller Tätigkeiten des BVR sichergestellt, was die Wahrscheinlichkeit erhöhen kann, dass Banken in ihren lokalen Entscheidungen Konzepte des BVR berücksichtigen. Zudem wird durch die breit gestreute Beteiligung die gruppenweite Akzeptanz für die Tätigkeit des BVR gesteigert, wodurch Banken eher dazu bereit sind, eine Mitgestaltung des BVR bei der Erarbeitung ihrer Entscheidungsprämissen zuzulassen. Darüber hinaus ermöglicht es die Einbindung von anderen zentralen Genossenschaftsorganisationen, diese regelmäßig als Partner zur Verbreitung von Ideen und Konzepten zu gewinnen. Damit kann der BVR neben seiner direkten Interaktion mit Banken die Chance erhöhen, dass es ihm indirekt gelingt, auf Entscheidungsprämissen der Banken einwirken zu können. Aus diesen Gründen erweist sich die aktive Einbindung verschiedener Instanzen in die Entscheidungsprozesse des BVR als eine wirkmächtige Praktik zur ständigen Wiederherstellung der Führungslegitimität des Bundesverbandes. Dabei wirkt diese Praktik jedoch wahrscheinlich auch deshalb besonders effektiv, weil sie nicht einem rein politischen Kalkül entspringt, sondern tief im Selbstverständnis des BVR und der 254 Int-01 Int-34 256 DOK-054, S. 6 257 Vgl. DOK-055, S. 2 255 210 gesamten genossenschaftlichen Organisation verwurzelt ist. Das Bestreben des BVR ist es nicht, eine scheinbare Beteiligung zu erzeugen, sondern diese Praktik zu nutzen, um alle Beteiligten von den entwickelten Ideen zu überzeugen. Ein BVRMitarbeiter betonte: „[Wir sind] eine subsidiäre Organisation. Wenn wir [unsere Mitglieder] einmal überzeugt haben, dann machen die das auch Kraft Überzeugung und nicht Kraft Anweisung. Also das ist auch ein Mehrwert an sich, es ist eben nur aufwändiger. Der Prozess ist aufwändiger.“ 258 7.1.3 Gezielte Nutzung von Ressourcen-Limitationen auf der Seite der VRBanken Eine dritte Interventionspraktik bezieht sich auf die Frage, welche Ressourcen innerhalb von Banken für verschiedene Themen zur Verfügung stehen. Nachdem die grobe inhaltliche Ausrichtung der diversen ESPrit-Module bereits zu Beginn des Programms festgelegt war, wurden die konkreten Inhalte jeweils in vorbereitenden Projektsitzungen zwischen dem BVR und der begleitenden Beratung besprochen. 259 Hier flossen zum einen Rückmeldungen und Wünsche der Teilnehmerbanken ein. Zum anderen spielte jedoch auch stets eine zentrale Rolle, welche inhaltlichen Themen für Banken nach der Einschätzung des BVR interessant und wichtig wären. Hierbei ging es insbesondere um Themen, die die Mehrzahl der Banken zwar beschäftigte, aber für die meist keine dedizierten Ressourcen zur Verfügung standen. Klassisch handelt es sich dabei um strategische Themen wie die strategische Marketingarbeit in einer Bank oder die strategische Kundensegmentierung. Diese sind für Banken keineswegs unbekannt, aber die meisten Banken verfügen nicht über die personellen Ressourcen, um hier eigenständige strategische Konzepte zu entwerfen. Weitere Beispiele sind die Themen Regulierung und Gesetzgebung, denen die VR-Banken typischerweise nicht mit eigenen Rechtsabteilungen begegnen können, oder die Frage nach den Möglichkeiten zur Rekrutierung qualifizierten Personals in Zeiten eines akuten Fachkräftemangels, insbesondere im Verkaufsbereich. Während der ESPrit Module wurden diese beschriebenen Themen, wie in Kapitel 6 dargestellt, verschiedentlich aufgegriffen und von den Banken mit Interesse verfolgt. Es zeigte sich in den weiteren Beobachtungen einzelner Banken und in den Gesprächen mit diversen Bankvorständen, dass diese grundsätzlich insbesondere dort mit Interesse auf Anregungen des BVR – oder von Verbänden und Verbundunternehmen – reagieren, wo sie ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten als eingeschränkt beurteilen. Den Bankvorständen ist bewusst, dass selbst größere Volksbanken zu klein sind, um auf sich alleine gestellt, einen Wettbewerb mit großen nationalen oder internationalen Finanzunternehmen bestehen zu können. Sie können 258 259 Int-03 Vgl. FTB-26, FTB-27, sowie FTB-29 – FTB-31 211 nicht selbst die Kompetenz und die Ressourcen aufbauen, um sämtliche strategischen und rechtlichen Fragestellungen eigenständig lösen zu können. Ein Bankvorstand formulierte dies im Interview sehr deutlich: „Wir sind eine Bank mit […] 100 Mitarbeitern. Wir können nicht alle Themen, die uns betreffen, eigenständig abarbeiten.“ 260 Diesen Umstand berücksichtigt der BVR, indem er insbesondere versucht, dort eine Führungsrolle einzunehmen, wo aufgrund mangelnder lokaler Ressourcen innerhalb der Volksbanken und Raiffeisenbanken ein Unterstützungsbedarf zu vermuten ist. Damit versucht der BVR de facto, auf der Basis der subsidiären genossenschaftlichen Organisationsstruktur eine Form der Zusammenarbeit zu fördern, die als shared entrepreneurship bezeichnet werden könnte. Die unternehmerische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit wird aufrechterhalten, indem Managementaufgaben gemäß dem Prinzip der Subsidiarität innerhalb des Gesamtverbundes verteilt erbracht werden. In Bezug auf einige Themen sind viele VR-Banken weitgehend selbständig unterwegs. Bei anderen Themen nimmt BVR selbstbewusst die ihm aufgetragene Rolle des strategischen Kompetenzzentrums ein, sieht dies jedoch nicht als eine übergeordnete Aufgabe, sondern als einen subsidiären Beitrag zum Erfolg der genossenschaftlichen Organisation: „Die erfolgreiche Arbeit des BVR [ist] ganz entscheidend für die Dauerhaftigkeit des Geschäftsmodells, was wir heute haben – unter subsidiären Aspekten. Die Ortsbanken haben keine Chance für sich selbst [strategische Konzepte] so zu formulieren, wie es der BVR für sie tun kann.“261 Systemtheoretisch lässt sich die hieraus resultierende Beziehung zwischen dem BVR und den einzelnen VR-Banken mit dem Konzept der strukturellen Kopplung beschreiben. Strukturell gekoppelte Systeme stehen in einem Verhältnis „der totalen Abhängigkeit und der totalen Unabhängigkeit“ (Luhmann, 2009; S. 273). Dies bedeutet, auf die VR-Gruppe übertragen, dass die einzelnen Volksbanken ihre vollkommene Autonomie zu jeder Zeit bewahren und keine direkten Einflussmöglichkeiten des BVR in einzelne Banken hinein bestehen; aber auf der anderen Seite sind alle Gruppeneinheiten aufeinander angewiesen. Das Modell des shared entrepreneurship steigert dabei die gegenseitige Abhängigkeit und Unabhängigkeit gleichermaßen. Denn zum einen bleiben Banken, die keine eigenen Ressourcen für entscheidende Aufgabenfelder aufbauen, auf die Unterstützung zentraler Organisationseinheiten angewiesen. Zum anderen erlaubt diese zentrale Unterstützung den Banken jedoch auch, ihre knappen Ressourcen anderweitig einsetzen zu können und steigert damit ihre unternehmerische Selbständigkeit und Autonomie. Diese Form der Arbeitsteilung wird auch vonseiten der VR-Banken selbst konstatiert. Der Marketingverantwortliche einer Bank bestätigte die zuvor zitierte Aussage des 260 261 Int-33 Int-03 212 BVR Managers, dass es für eine einzelne Bank schwer sei, selbst strategische Marketingkonzepte und Kampagnen auf dem gleichen Niveau zu entwickeln, wie sie zentral angeboten werden. Darüber hinaus würde dies seiner Meinung nach den Verzicht auf „Synergieeffekte“ bedeuten. 262 Ein anderer Banker argumentierte ebenfalls im Sinne einer subsidiären Arbeitsteilung, indem er feststellte, die Konzepte des BVR würden seiner Bank helfen, ihre eigene Geschäftsstrategie umzusetzen. 263 Auch folgendes Zitat eines Bankvorstands zeigt, dass es aus seiner Sicht eine für die Banken unverzichtbare Arbeitsteilung im VR-Verbund gibt, wobei gleichzeitig der enge Zusammenhang zu der im vorangegangenen Teilkapitel beschriebenen Interventionspraktik deutlich wird: „Die ganzen [strategischen] Konzepte, die entstehen, und die dann vom Verband, oder vom BVR herausgebracht werden, die fallen ja nicht vom Himmel. In Fachgremien sind da Fachkonzepte entstanden – die werden von der gesamten Breite der Volksbanken getragen. Da ist ja in der Regel auch die Primärstufe dran beteiligt. Das entsteht in allen möglichen Gremien, Ausschüssen, wie auch immer. Das ist keine Geschichte, die irgendwie rein vom BVR, nach unten kommt. […] Sondern da werden ja Probleme gelöst, Handlungsnotwendigkeiten gelöst auf gemeinschaftlicher Ebene und dann vom BVR letztendlich kommuniziert. Da macht es keinen Sinn, dass man sich als kleine, mittlere oder auch größere Volksbank ständig was Eigenes aus den Rippen schnitzt und ständig meint, was Eigenes tun zu müssen. Da sind wir gar nicht in der Lage dazu, dazu haben wir doch den Verbund. Also macht es auch Sinn, dass man sich auch da dran hält und dass man möglichst die Ergebnisse aus dieser verbundweiten Zusammenarbeit nutzt.“ 264 Ebenfalls angedeutet in diesem Zitat ist der Umstand, dass der BVR im Rahmen der genossenschaftlichen Arbeitsteilung mit Regionalverbänden zusammenarbeitet, um die Felder limitierter Ressourcen in den lokalen Banken zu unterstützen. Auch die Regionalverbände der VR-Gruppe arbeiten an Unterstützungsangeboten für Banken, wobei diese meist etwas operativer sind als die Konzepte des BVR und stärker die lokalen Interessen der jeweiligen Banken berücksichtigen. Eine Führungskraft des BVR beschreibt die Arbeitsgrundlage der Regionalverbände wie folgt: „Sie leben als Regionalverband sehr stark davon, dass Sie die Nähe zu ihren Mitgliedern haben, und dass das, was Sie tun, als etwas Unterstützendes wahrgenommen wird.“ 265 Hieraus ergibt sich, ebenfalls basierend auf der zuvor beschriebenen Teilhabe von Regionalverbänden an Entscheidungsprozessen des BVR, eine weitere Gelegenheit der Zusammenarbeit zwischen Verbänden und BVR. Zwar erarbeiten die 262 Vgl. Int-14 Vgl. Int-17 264 Int-15 265 Int-01 263 213 Regionalverbände auch etliche Dienstleistungen selbständig und unabhängig vom BVR. Doch ergeben sich oft für beide Seiten nutzenbringende Situationen, wenn BVR und Verbände bei der Erarbeitung von strategischen Konzepten, Leitfäden oder Empfehlungen kooperieren. Dies konnte verschiedentlich in den Bereichen der Marktbearbeitung und gesetzlichen Regulierung beobachtet werden, wo Regionalverbände lokale VR-Banken unterstützen, indem sie Konzepte und Leitfäden des BVR weiter konkretisierten und damit auf die lokalen Bedürfnisse ihrer Banken anpassten. Auf diese Weise gelingt es dem BVR indirekt, Banken dort zu unterstützen, wo sie aufgrund ihrer Kompetenzen und Ressourcen diese Unterstützung benötigen. Ähnliches lässt sich auch folgendem Ausschnitt aus dem Interview mit einem Bankvorstand entnehmen, in dem er beschreibt, wie BVR und regionaler Verband seine Bank in ähnlicher Weise bei der Bewältigung regulatorischer Herausforderungen unterstützen, für die in seiner Bank selbst keine dedizierten juristischen Ressourcen zur Verfügung stehen: „Bei uns ist es der BWGV und eben der BVR; wir spüren das natürlich schon regelmäßig durch die Rundschreiben und die daraus resultierenden Empfehlungen. Die müssen natürlich auch sein, weil wenn es die nicht gäbe, dann müssten wir uns, zum einen selber Grundsatzgedanken machen, die wir wahrscheinlich auch mal eben zwei Jahre zeitversetzt mitbekommen und bis dahin wahrscheinlich schon einige Strafen bezahlt haben. Also der ganze Bereich Recht und steuerliche Themen – ich kenne bisher kaum eine Genossenschaftsbank, die selber so eine Art Rechtsabteilung hat, die sich mit Urteilen auseinandersetzt, überlegt, was heißt das eigentlich für uns. Von daher sind wir froh darüber, dass da die Impulse kommen. Also es wäre anders sicherlich schwer vorstellbar.“ 266 Resümierend lässt sich somit darstellen, dass der BVR – teilweise in enger Zusammenarbeit mit Regionalverbänden – gezielt versucht, dort tätig zu werden, wo einzelne Volksbanken keine Ressourcen besitzen, um die gleichen Leistungen für sich selbst zu erbringen. 267 Wie Luhmann betont, werden Entscheidungsprämissen oftmals „auch schon deshalb genutzt, weil damit die gesamte Komplexität der Situation nicht neu aufgerollt werden muss“ (Luhmann, 2006; S. 224). Wenn der BVR sich also in Bereichen einsetzt, in denen Banken nach einer solchen Entlastung suchen, besteht eine gesteigerte Möglichkeit, dass der BVR einen Einfluss auf die Entscheidungsprämissen der Banken ausüben und damit seine Führungsfunktion wahrnehmen kann. 266 Int-31 Ein weiteres Beispiel für diese Arbeitsweise ist die Lobby-Arbeit des BVR auf bundesdeutscher und europäischer Ebene. Zwar gehört diese nicht direkt zum Bereich des strategischen Kompetenzzentrums, aber auch sie ist ein Beispiel für eine Tätigkeit, die die Banken für sich selbst nur unzureichend erbringen können. Deshalb gibt es gerade in diesem Bereich sehr viel Zustimmung für die Arbeit des BVR. 267 214 Hieraus ergibt sich eine Arbeitsteilung, die auf einem ähnlichen Prinzip basiert wie die Arbeitsteilung zwischen Führung und operativen Tätigkeiten, die Wimmer (2012) für hierarchische Organisationen beschreibt: „Führung realisiert sich in der Ausdifferenzierung dieser Arbeitsteilung und in ihrer praktischen Durchsetzung. Das Gelingen dieser Ausdifferenzierung entlastet die Funktionsinhaber im operativen Geschäft. Sie können sich auf inhaltliche Fachaufgaben konzentrieren, weil sie das Sich-Kümmern um die Funktionstüchtigkeit des jeweiligen Ganzen bei ihren Führungskräften gut versorgt wissen“ (S. 42 f.). Zwar lässt sich in der VR-Gruppe keine derart klare Unterscheidung zwischen strategischer und operativer Tätigkeit treffen, denn die Entlastung des BVR sowie der Regionalverbände in gewissen Bereichen, wird von den autonom agierenden Volksbanken auch dazu genutzt, in anderen Bereichen selbst strategisch tätig zu sein. Aber das Prinzip der Führung durch Entlastung ist nicht zwangsläufig auf eine Über- und Unterordnung oder auf eine Dichotomie zwischen strategisch und operativ angewiesen. Die für die VR-Organisation beschriebene Form der subsidiären Arbeitsteilung ist dafür ebenfalls geeignet. Der BVR kann sich schlussfolgernd also insbesondere dort an der Erarbeitung lokal gültiger Entscheidungsprämissen beteiligen, wo Banken aufgrund begrenzter Ressourcen selbst noch keine klaren Prämissen entwickelt haben. Hier konkurrieren Vorschläge des BVR meist nicht mit bereits fest definierten und tradierten Entscheidungsprämissen der Banken und werden deshalb mit höherer Wahrscheinlichkeit als entlastende Unterstützung angenommen. Auf diese Weise kann die beschriebene Interventionspraktik zur kontinuierlichen Wiederherstellung der Führungslegitimität beitragen. 7.1.4 Steigerung und Bearbeitung von Unsicherheiten Die vierte Interventionspraktik weist Ähnlichkeiten mit der vorangegangenen Interventionspraktik auf, da sie dem BVR ebenfalls bei der Fokussierung seiner Betätigungsfelder hilft. Sie unterscheidet sich jedoch auch von dieser, weil der BVR aktiv dazu beitragen kann, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Interventionspraktik begünstigen. Generell konnte bereits im Rahmen von ESPrit festgestellt werden, dass bei VRBanken besonders dort ein Interesse an Ideen des BVR herrscht, wo von ihrer Seite Unsicherheit besteht. Der Zusammenhang mit dem vorangegangenen Teilkapitel besteht darin, dass diese Unsicherheit oft einhergeht mit mangelnden Ressourcen auf der Seite der Banken, um ein Thema selbst intensiv zu bearbeiten. Zusätzlich betriff Unsicherheit aber auch insbesondere die Bereiche, in denen sich verändernde Umweltbedingungen die bewährten Arbeitsweisen von Volksbanken infrage stellen. Das im Fokus von ESPrit stehende Privatkundengeschäft ist selbst ein Feld wachsender Unsicherheit bei etlichen Banken, da die Wettbewerbssituation sich in 215 den letzten Jahren intensiviert hat, nachdem auch größere Banken nach der Finanzkrise wieder mehr Wert auf ein Wachstum im Privatkundengeschäft legten. Aber auch einzelne Sub-Themen von ESPrit, wie der Umgang mit Veränderungen oder mit Komplexität zielten auf Bereiche vermuteter Unsicherheit in den Banken ab. Die Resonanz solcher Themen bei den Banken ließ sich unter anderem daran erkennen, dass das Zusatzmodul zum Umgang mit Komplexität aufgrund hoher Nachfrage zweimal abgehalten werden musste, während das vertrauter erscheinende Thema der Organisationsstruktur von Banken auf weniger Interesse stieß. Der Fokus des BVR auf Themen, die innerhalb der Banken mit Unsicherheiten behaftet sind, wurde im Rahmen von ESPrit auch durch verschiedene Interventionen deutlich, die dazu beitrugen, Unsicherheiten offenzulegen oder zu verstärken. Ein Beispiel hierfür ist eine in Kapitel 6 beschriebene Sequenz des zweiten Moduls, in der Banken in unterschiedliche Markttypen eingeteilt wurden. Einige Banken wurden dabei als Banken „mit einer schwachen Marktposition in einem schwachen Markt“ bezeichnet. 268 Diese schonungslose Semantik ist auffallend innerhalb einer Organisation, in der tendenziell großer Wert auf weiche Töne und den politisch korrekten Umgang zwischen verschiedenen Organisationseinheiten gelegt wird. Wie zu erwarten, löste diese Gruppierung von Banken insbesondere bei den Banken, die Teil dieser relativ unvorteilhaften Gruppe waren, Reaktionen aus. Diese Reaktionen reichten von einer Anzweiflung der Aussagekraft solch einer Einteilung bis zu Gedanken, wie die eigene Position verbessert werden könnte. Im Verlauf von ESPrit konnten diverse Beobachtungen gemacht werden, die in ähnlicher Weise als Interventionen zur Steigerung von Unsicherheit interpretiert werden können. So wurde widerholt vom BVR darauf hingewiesen, dass die aktuell vorteilhafte Gewinnsituation vieler Volksbanken in erster Linie auf den sogenannten „Strukturbeitrag“ zurückzuführen sei. 269 Dieser Gewinn könne bei sich wandelnden Zinsniveaus schnell zurückgehen, während sich gleichzeitig die Profitabilität im zuverlässigeren Privatkundengeschäft nicht bei allen Banken auf einem hinreichenden Niveau befinde, so die Argumentation des BVR. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die zum Teil unvorteilhaften Kostenstrukturen einiger Volksbanken im Vergleich mit Wettbewerbern hingewiesen. Schlussfolgernd sollten sich Banken demnach, trotz der aktuell komfortablen Geschäftssituation, nicht über Gebühr in Sicherheit wiegen. Eine vergleichbare Arbeitsweise des BVR konnte auch außerhalb des ESPrit Projektes beobachtet werden. Ein aktuell aufkommender Arbeitsschwerpunkt war die 268 Dok-026 Hierbei handelt es sich in erster Linie um eine Folgewirkung der Fristentransformation, die Banken betreiben. Da Kredite zu einem großen Teil durch kurzfristiges Geld finanziert werden, sind Märkte fallender Zinsen für Banken anfänglich äußerst profitabel. Sie können bestehende Kreditverträge zunehmend durch günstigeres Geld von Sparern oder Zentralbanken refinanzieren. 269 216 Bereitstellung von Angeboten im Bereich der zunehmend an Bedeutung gewinnenden sozialen Meiden. 270 Die starke Dynamik in diesem Bereich löste bei diversen Banken Unsicherheiten aus, da sie selbst keine adäquaten Antworten für den Umgang mit den neuen Meiden parat hatten. Auch der Bereich der sich schnell ändernden rechtlichen Rahmenbedingungen ist – unterstützt durch den bereits beschriebenen Umstand, dass die meisten Volksbanken über keine ausgeprägten juristischen Ressourcen verfügen – ein zentraler Unsicherheitsfaktor für VR-Banken. Demzufolge behandelt der BVR dieses Themengebiet als eines seiner zentralen Betätigungsfelder. Ein weiteres Beispiel ist der Bereich der Planung. Neben einem generellen Eigeninteresse sind alle Banken gesetzlich dazu verpflichtet, formale Planungsprozesse zu durchlaufen. Als Basis für derartige Planungen sind Annahmen bezüglich der zukünftigen Entwicklung von Wirtschaft, Märkten, etc. erforderlich. Der BVR stellt allen Banken unter dem Stichwort „Kompass“ eine umfangreiche Zusammenstellung von Einschätzungen und Daten zur Verfügung, die für die Planung genutzt werden können. 271 Die Banken können diese Daten für ihre Planungen nutzen und auf der Basis eigener Einschätzungen anpassen, wie ein Bankvorstand in einem Interview beschrieb: „Wir [haben] jetzt die Zahlen [des BVR-Kompass] zum zweiten Mal eindeutig als Grundlage genommen. Wir gehen davon aus, unterstellen, dass die Planung vom BVR, […] sehr fundiert gemacht wurde, und dass wir insofern schon mal eine Planungsgrundlage haben, die für uns gültig ist – grundsätzlich. Und dann überlegen wir: Wo muss es für uns [regional angepasst werden]? Aber es bietet Orientierung.“ 272 Auf diese Weise unterstützt der BVR den naturgemäß mit Unsicherheit behafteten Planungsprozess innerhalb der VR-Banken, bietet Orientierung, und prägt damit Grundlagen für zukünftige Entscheidungsprozesse – also systemtheoretisch ausgedrückt: Entscheidungsprämissen. Auch die Steigerung von Unsicherheiten durch den BVR war außerhalb des ESPritProjekts beobachtbar und ist somit als eine charakteristische Arbeitsweise einzustufen. An unterschiedlichen Stellen konnten in den Banken vom BVR angefertigte Benchmarkings angetroffen werden, die unter anderem dem Vergleich von Profitabilitäts- und Marktanteilskennzahlen dienten. Auch für gewisse Prozesse, wie zum Beispiel die Dauer für die Bearbeitung eines Kreditantrags, werden den Banken vergleichende Kennzahlen vom BVR oder regionalen Verbänden zur Verfügung gestellt. Insbesondere in den Kategorien, in denen Banken unterdurchschnittlich im Vergleich zu anderen Banken abschneiden, können solche 270 Vgl. u.a. Int-03 Dok-030, insb. ab S. 100 272 Int-34 271 217 Benchmarks Unsicherheit schaffen und Notwendigkeiten für Verbesserungsmaßnahmen aufzeigen. Zum Teil werden derartige Vergleiche auch im Zusammenhang mit anderen Initiativen eingesetzt. Das Firmenkunden-Projekt PROFI begann zum Beispiel mit einer intensiven quantitativen Analyse des Firmenkundengeschäfts der teilnehmenden Banken, die dann im Vergleich mit den Auswertungen aus anderen Banken mögliche Handlungsfelder aufzeigen sollte. Auch die wiederholten Hinweise auf die höheren Kostenstrukturen der VR-Banken im Vergleich zu Wettbewerbern waren außerhalb von ESPrit sichtbar. Banken teilten weitgehend die Meinung, dass sie nicht kostenseitig mit Direktbanken konkurrieren können und sich deshalb durch bessere Leistungen differenzieren müssen. Dies ist jedoch eine äußerst anspruchsvolle und deshalb mit Unsicherheit behaftete Aufgabe, so dass diese Erkenntnis den Bedarf nach Unterstützungsangeboten durch den BVR oder andere zentrale Organisationseinheiten erhöhen kann. Aus theoretischer Perspektive ist diese vierte Interventionspraktik des BVR gut nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen hält, dass organisationale Unsicherheit per Definition eine Situation bezeichnet, in der keine organisationalen Entscheidungsprämissen vorliegen, die ein hinreichendes Ausmaß an Sicherheit und Vertrauen ausstrahlen. Hierin liegt eine Chance für Organisationseinheiten, die eine Führungsrolle ausüben wollen. Wie Pfeffer (1977b) betont, „uncertainties create power within the organization for those subunits that can cope with the uncertainties“ (S. 257). Vorhandene Unsicherheit stellt demzufolge eine Gelegenheit für den BVR dar, selbst Angebote zu erarbeiten, die Banken bei der Bewältigung von Unsicherheit unterstützen. Da Organisationen tendenziell danach streben, Unsicherheit zu vermeiden (vgl. Cyert und March, 1963), besteht eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit, dass Banken von derartigen Angeboten Gebrauch machen und somit dem BVR Einflussmöglichkeiten auf ihre Entscheidungsprämissen gewähren. Die Interventionen des BVR, die dazu geeignet sind, Unsicherheit zu steigern, fördern diese Einflusschancen. Wie beschrieben, wird die Steigerung der Unsicherheit insbesondere durch vergleichende Analysen oder die direkte Betonung von Handlungsbedarfen erzielt. Diese Steigerung von Unsicherheit kann deshalb auch als ein Aufzeigen von Soll-Ist-Differenzen im Sinne von Wimmer (2010) betrachtet werden. Die enge Bindung des BVR an diverse Verbundunternehmen, Verbände und Banken „schafft prinzipiell eine Mehrfachzugehörigkeit der Inhaber von Führungsrollen und damit privilegierte Beobachtungschancen der Differenz von Innen und Außen, die es für das Kerngeschäft von Führung, nämlich Soll-IstDifferenzen aufzumachen, glaubwürdig zu nutzen gilt“ (Wimmer, 2010; S. 32). Oder anders ausgedrückt: „Im Sinne der Sicherung der Zukunftsfähigkeit einer Organisation ist Führung als Funktion darauf spezialisiert, die eigenen Beobachtungsmöglichkeiten des organisationsinternen Geschehens wie der relevanten Organisationsumwelt dazu zu nutzen, um für den jeweiligen Verantwortungsbereich passende Entwicklungsimpulse zu setzen“ (ibid., S. 30). Die 218 Steigerung von Unsicherheit ist somit eine Möglichkeit des BVR, gewisse Entwicklungsimpulse innerhalb der VR-Organisation zu setzen, wobei er deren Rezeption selbstverständlich nicht kontrollieren kann. Durch die Kombination dieses Vorgehens insbesondere mit den zwei folgenden Interventionspraktiken kann es ihm jedoch gelingen, die Wahrscheinlichkeit seines Einflusses zu steigern. Wie in Kapitel 3 beschrieben, ist die Absorption von Unsicherheit dabei eine entscheidende Führungsaufgabe – jedoch nicht in dem Sinne, dass Unsicherheit stets auf ein völliges Minimum zu reduzieren ist. Vielmehr kann Unsicherheit selektiv gesteigert werden, um anschließend passende Absorptionsangebote bereitstellen zu können. Zwar kann dies nicht völlig willkürlich stattfinden, da die Steigerung von Unsicherheit insbesondere dann erfolgsversprechend ist, wenn sie auf einer bereits vorhandenen Basis aufbaut. Aber dennoch kann der BVR darüber befinden, in welchen Bereichen er latent vorhandene Unsicherheiten steigern möchte. Hier geht es „um eine Form der Beunruhigung, die das System dazu befähigt, die in der Umwelt wahrgenommenen Anforderungen und Gelegenheiten mit den im System verfügbaren oder mobilisierbaren Ressourcen und Kompetenzen immer wieder neu abzustimmen“ (Baecker, 2011; S. 7). Durch gezielte Beunruhigungen ist es deshalb möglich, auch ohne eine hierarchisch übergeordnete Position Führung auszuüben, weil die Aufmerksamkeit der Organisation beeinflusst wird und somit Einfluss darauf genommen wird, welche Themenfelder von einer Organisation als zentrale Handlungsfelder wahrgenommen werden. Wimmer (2012) fasst dies in der Aussage zusammen: „Führung bewirtschaftet […] die knappste aller Ressourcen in Organisationen: die Bündelung kollektiver Aufmerksamkeit“ (S. 47). Insgesamt zeichnet sich die vierte Interventionspraktik des BVR somit durch eine eher passive und eine stärker aktive Komponente aus. Zum einen konzentriert sich der BVR auf Themen, bei denen vonseiten der Banken Unsicherheiten vorhanden sind. Das Vorhandensein von Unsicherheiten in bestimmten Themengebieten signalisiert, dass Banken hier nicht auf Entscheidungsprämissen zurückgreifen können, die sie mit einer hinreichenden Unsicherheitsabsorption versorgen. Dies steigert die Chancen, dass die Interventionen des BVR in Entscheidungsprämissen der Banken Berücksichtigung finden. Zum anderen kann der BVR durch seine exponierte Stellung innerhalb der VROrganisation gewisse Unsicherheiten gezielt steigern. Hierzu nutzt er in erster Linie Vergleiche zwischen Kennzahlen oder allgemeine Analysen und Studien zu bestimmten Themengebieten. Hierdurch kann der BVR eine zentrale Führungsaufgabe ausüben, die Simon (2007) als „die Fokussierung der Aufmerksamkeit und damit die Steuerung der Beobachtung der Organisation“ (S. 115 f.) beschreibt. Indem vorhandene Unsicherheit selektiv in bestimmten Themengebieten gesteigert wird, beeinflusst der BVR die von der VR-Organisation und den Banken als relevant betrachteten Handlungsfelder und kann somit ebenfalls Einfluss auf Entscheidungsprämissen der lokalen Banken ausüben. Entscheidungen 219 über zukünftiges Handeln können direkt an den betonten Handlungsfeldern anschließen. 7.1.5 Bereitstellung eines breiten Portfolios modular aufgebauter strategischer Konzepte und Methoden Eine der markantesten Auffälligkeiten des ESPrit Projektes ist zweifelslos die große Breite der behandelten Themen. Wie in Kapitel 6 beschrieben, wurden in sechs Modulen mit unterschiedlichen Schwerpunkten unterschiedliche Themen von Strategie über Veränderung bis hin zu Personal diskutiert, wobei innerhalb der einzelnen Module ebenfalls sehr unterschiedliche Themengebiete besprochen wurden. Einige Beispiele sind die Durchführung einer Kundenbefragung, die Möglichkeiten im Bereich strategischen Marketings, Ideen zum Thema Personalrekrutierung, oder Vorschläge über Mitgliedermehrwertprogramme. Ferner wurde beschrieben, dass die unterschiedlichen Impulse der ESPrit-Module von den teilnehmenden Banken jeweils unterschiedlich bewertet wurden. Es herrschte keine Einstimmigkeit darüber, welche Themen am ehesten für die Umsetzung innerhalb einer Bank geeignet sein. Des Weiteren konnte insbesondere anfänglich beobachtet werden, dass in Feedback-Runden von den Banken immer wieder angesprochen und zum Teil auch bemängelt wurde, dass ESPrit im Vergleich zu anderen gewohnten Initiativen des BVR zu wenige Methoden und Konzepte bereitstelle. Der Schwerpunkt auf eine reflektierende Arbeitsweise in Gruppen, schien für die meisten Banken eher ungewohnt. 273 Die Mehrzahl der Banken schien es gewohnt zu sein und zu bevorzugen, mit Konzepten des BVR und praktischen Werkzeugen zu deren Umsetzung zu arbeiten. Sehr typisch hingegen erschien das Vorgehen, dass den Banken viele Optionen angeboten wurden. So waren zwei der sechs Workshop-Module optional. Dabei nahmen an einem der optionalen Module nur fünf Banken teil, während das zweite Modul von 13 Banken besucht wurde. Manche Banken nahmen nur an einem der beiden Module teil, manche an beiden, andere Banken entsandten nur einen Teilnehmer oder verzichteten auf die optionalen Module. In ähnlicher Weise wurden auch die in den Workshop-Modulen besprochenen Themen behandelt: Die Banken 273 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass auch ESPrit durchaus auf verschiedene Methoden und Konzepte des BVR hinwies. Wie beschrieben, wurden sehr umfangreich verschiedene Themenbereiche diskutiert und bestehende Methoden und Konzepte vorgestellt. Der Schwerpunkt von ESPrit selbst lag jedoch nicht auf der Vorstellung eines neuen Konzeptes oder einer neuen Methode. Eine Grundüberzeugung des BVR war, dass aufgrund der großen Zahl bestehender Konzepte und Methoden Mehrwert geschaffen werden kann, indem nicht ein weiteres Konzept erstellt würde, sondern indem gemeinsam mit verschiedenen Banken reflektiert würde, welche Handlungsfelder sie im Privatkundengeschäft hätten und welche Unterstützungsleistungen von BVR oder regionalen Verbänden sie hierfür gegebenenfalls nutzen könnten. 220 entschieden selektiv und unabhängig voneinander, welche Themen für sie von weiterem Interesse waren. Es ergibt sich somit ein deutliches Bild, dass ESPrit nicht auf die gemeinsame Umsetzung weniger klar umrissener Angebote abzielte, sondern den Teilnehmern eine breite Auswahl an Optionen anbieten wollte, die von diesen selektiv genutzt werden konnte. Einer der mit der Durchführung von ESPrit betrauten Berater erklärte diesbezüglich, dass diese Arbeitsweise aus seiner Sicht auf die organisationalen Eigenheiten der VR-Organisation zurückzuführen sei. Die Vorgehensweise war aus seiner Sicht bestimmt „durch das Spezifikum des Sektors [der genossenschaftlichen Banken], dass der jeweilige Adressat, die Volks- und Raiffeisenbanken beziehungsweise der Vorstand, letztendlich unternehmerisch frei ist.“ Deshalb sah er alle Anregungen, die im Laufe von ESPrit beratungsseitig oder durch den BVR eingebracht wurden, als „Angebote, die man aufgreifen kann, aber nicht aufgreifen muss.“274 Die weiteren empirischen Beobachtungen innerhalb der VR-Organisation stützten die These, dass es sich bei der Arbeit mit einer Vielzahl optionaler Konzepte um eine generelle Vorgehensweise des BVR handelt. Der optionale Charakter ergibt sich hierbei zwangsläufig aus der heterarchischen, genossenschaftlichen Organisationsstruktur der VR-Gruppe. Konzepte und Methoden des BVR können für Banken immer nur Vorschläge darstellen. Dieser Umstand scheint zu einer Anpassung des BVR, aber auch anderer zentraler Organisationseinheiten der VRGruppe an diese organisationalen Rahmenbedingungen geführt zu haben, die auf die Bereitstellung äußerst diverser Angebote setzt, aus denen die Banken jeweils selbst eine Auswahl treffen können. So erarbeiten innerhalb des BVR alle sieben Fachräte kontinuierliche neue strategische Konzepte, Leitfäden und Methoden in ihren jeweiligen Aufgabengebieten. Allein diese formale Unterteilung des BVR in Fachräte löst somit eine hohe Eigendynamik bei der Entstehung neuer Angebote aus. Zudem versendet der BVR regelmäßig Rundschreiben mit Handlungsempfehlungen an alle Banken. Hierbei wird insbesondere zu aktuellen Themen wie zum Beispiel geänderten Gesetzesnormen Stellung genommen. Aus dieser Arbeitsweise resultiert eine derart umfangreiche Sammlung an Initiativen, Konzepten und Empfehlungen, dass eine genaue Bezifferung nicht möglich ist. Was nun jedoch potenziell als eine willkürliche Ansammlung von Konzepten interpretiert werden könnte, lässt sich aus einer gesamtorganisationalen Perspektive etwas differenzierter beobachten. Dieses Vorgehen harmoniert ideal mit den Prinzipien der Subsidiarität und des Shared Entrepreneurship, die bereits zuvor erwähnt wurden. Denn es ist in der VR-Organisation nicht der BVR, der eine strategische Stoßrichtung für alle Banken bestimmen kann und will. Diese Aufgabe 274 Int-06 221 obliegt den 1.100 autonomen VR-Banken selbst. Sie haben die vollkommene Entscheidungsfreiheit bezüglich der Definition ihrer strategischen Ausrichtung, was auch in vielen Fällen von Vorteil ist, weil sich die regionalen Gegebenheiten und die aktuelle Geschäftssituation der Banken sehr stark voneinander unterscheiden können. Auf dieser Basis operiert der BVR deshalb opportunistisch, und stellt Banken dort Konzepte und Empfehlungen zur Verfügung, wo er davon ausgeht, dass sie zumindest bei einer gewissen Anzahl der Banken auf Interesse stoßen könnten. Hierbei ist insbesondere an die zuvor erwähnten Themen zu denken, die mit Unsicherheit behaftet sind, oder für die den Banken selbst keine hinreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen. Diese Arbeitsweise ist bereits im Begriff des „strategischen Kompetenzzentrums“ 275 mitangelegt: Der BVR stellt strategische Kompetenz bereit, bestimmt damit aber nicht die jeweilige Strategie der einzelnen Ortsbanken, da dies die unternehmerische Eigenverantwortung jeder einzelnen Bank bleibt. Damit ist die strategische Arbeitsweise der Banken in der Regel dennoch ein Gemeinschaftsprodukt der Banken und des BVR, da die VR-Banken sich für die Auswahl und Bearbeitung strategischer Fragestellungen wiederholt auf Konzepte und Empfehlungen des BVR stützen. Diese eingespielte Form der Zusammenarbeit zwischen BVR und Banken lässt sich auch aus verschiedentlichen Interviewquellen erschließen. So meinte ein Vorstand einer Volksbank in Bezug auf die unterschiedlichen Angebote und Konzepte des BVR: „Die Fachratskonzepte gehen sicherlich in einzelne Projektthemen bei uns ein, die bei uns aktuell sind. Nehmen wir das bei uns gerade aktuelle Thema der Online-Geschäftsstelle […]. Das ist sicherlich so, dass wir natürlich auch in Zukunft diese Themen und diese unterstützenden Handbücher für unsere Projektarbeit mit einsetzen. Das wäre ja töricht, wenn wir das nicht tun würden. Aber es ist natürlich eine Vielzahl an Themen, die da [von Seiten des BVR] hochkochen und nicht alles immer für uns gerade zum passenden Zeitpunkt. Das muss man sehen. Aber es sind auf jeden Fall immer wieder wichtige Anregungen dabei, die wir aufgreifen.“276 Stellvertretend für eine Vielzahl vergleichbarer Aussagen verdeutlicht dieses Zitat, dass VR-Banken generell gerne unterstützende Angebote annehmen – dies jedoch vorzugsweise dann, wenn diese sich ihren aktuellen Bedürfnissen anpassen. Themen, die nicht zum passenden Zeitpunkt erscheinen, werden geflissentlich übergangen. 275 276 Vgl. Dok-03 Int-09 222 Da in der heterogenen Gruppe der VR-Banken jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr unterschiedliche Interessen bei den einzelnen Banken vorherrschen können, kann der BVR hier nur mit einem breiten Angebot an strategischen Konzepten und Empfehlungen Anklang finden. Das Bewusstsein, dass ein derartig diverses Portfolio an Konzepten und Initiativen besteht, führt dazu, dass Banken sich zunehmend auch aktiv an den BVR wenden, um zu prüfen, ob für ihre aktuellen Bedürfnisse bereits passende Unterstützungsangebote verfügbar sind. So meinte ein Bankvorstand: „Bei größeren Sachen, wie dem Eigenanlagemanagement, da schauen wir zunächst einmal, was macht denn der BVR gerade. Da schauen wir in die Portale rein, rufen dort an, lassen uns berichten. Und teilweise gibt es dann auch Vorlagen zu den Themen Treasury und Produkte; teilweise sind die in der Entwicklung. Dann warten wir drauf, bis das Ergebnis des BVR vorliegt und nehmen das als Grundlage für das eigene Weiterdenken.“277 Darüber hinaus kann dem vorgängigen Zitat entnommen werden, dass die einzelnen Konzepte bewusst nicht so konzipiert sind, dass sie nur als Ganzes umgesetzt werden können, sondern auch als Impulse für eigene Weiterentwicklungen der Banken dienen können. Banken nutzen gezielt die Bestandteile von Konzepten, die für sie wertvoll erscheinen: „Man kann dann auch mal ein paar Dinge rausholen und sagen: Ja, das [Übrige] gefällt mir jetzt doch nicht so gut, dass ich es einsetzte. […] Ich hole mir Elemente raus.“ 278 Der BVR wird dieser Haltung der Banken gerecht, indem er seine Konzepte und Leitfäden gezielt modular aufbaut. Die internen Publikationen zentraler BVR-Konzepte, wie z.B. das Handbuch Privatkundengeschäft oder Kompass, umfassen deshalb teilweise über 100 Seiten. 279 Ein solches umfangreiches, modulares Angebot schafft es immer wieder, einen respektablen Anklang bei einer größeren Zahl der einzelnen VR-Banken zu finden. Selbstverständlich besteht dennoch eine gewisse Fokussierung der Konzepte, insbesondere auf der Basis der beiden zuvor beschriebenen Interventionspraktiken, und die Qualität der einzelnen strategischen Konzepte wird nicht zugunsten der Quantität vernachlässigt. Denn in erster Linie müssen die Banken immer wieder davon überzeugt werden, dass es sich grundsätzlich lohnt mit Empfehlungen, Leitfäden und Konzepten des BVR zu arbeiten. Ein Bankmanager bemerkte lakonisch: „Also es lebt auch von der Qualität der Angebote. Also wenn da jetzt irgendwas kommt, was einem eigentlich gar nicht passt, dann muss man auch nicht mitmachen – was vielleicht auch manchmal ganz gut ist.“ 280 277 Int-34 Int-11 279 Vgl. Dok-06; Dok-30 280 Int-14 278 223 Wie ein anderer Vorstand beschreibt, liegt der Kern des Vorgehens des BVR deshalb darin, so zu operieren, dass jede einzelne Bank für sich einen Nutzen in der Anwendung bestimmter Konzepte identifizieren kann: „Ja gut, dadurch, dass es ja keine hierarchisch disziplinarische Einflussnahme geben kann, muss ich es sehr, sehr stark – was natürlich schwieriger ist – Überzeugungsarbeit leisten. Und sprich ich muss mit meinen Konzepten überzeugen, ich muss den Nutzen transportieren und sagen: Ok, was haben wir davon, was hat die einzelne Bank davon, wenn sie da dabei ist, wenn sie sich da eingliedert, wenn sie sich an Konzepte, an Themen anhängt, oder die mitträgt? Ich denke, das funktioniert in vielen Ecken auch. Es lässt auch genügend Spielraum für, für Individualität.“281 Ein breites, zum Teil opportunistisch zusammengestelltes Angebot an strategischen Konzepten und Empfehlungen ermöglicht es somit, verschiedene Banken dort abzuholen, wo sie sich aktuell befinden. Es erlaubt die Generierung eines individuellen Nutzens für jede einzelne Bank, da es den Banken die Möglichkeit offenlässt, selbst zu entscheiden, welche strategischen Fragestellungen sie bearbeiten wollen. Dem Grundsatz nach operiert der BVR hierbei zur ständigen Aufrechterhaltung seiner Führungslegitimität ähnlich, wie dies in einigen Publikationen für die Aufrechterhaltung organisationaler Legitimität in Bezug auf relevante Umwelten beschrieben wird. So beschreibt Suchmann (1995), dass Organisationen Legitimität oft dadurch gewinnen, dass sie sich Anspruchsgruppen suchen, die ihren Anliegen gewogen sind, und nicht immer darauf setzen, Anspruchsgruppen von ihren Anliegen zu überzeugen (vgl. auch Ashforth und Gibbs, 1990). Eine Gefahr für organisationale Legitimität sieht Suchmann unter Verweis auf Hannan (1986) und Powell (1991) immer dann, wenn Organisationen in einer heterogenen Umwelt sich zunehmend homogen verhalten. Ähnlich verhält es sich auch innerhalb der VR-Organisation. Es ist dem BVR nicht möglich, alle Banken von der gleichförmigen Umsetzung einzelner strategischer Konzepte zu überzeugen – ganz im Gegenteil würde der BVR bei einem solchen Versuch sogar erheblich an Legitimität einbüßen, weil offensichtlich würde, dass er eine Vielzahl der Banken auf diese Weise nicht erreichen kann. Der BVR kann jedoch eruieren, welche strategischen Konzepte grundsätzlich auf Anklang stoßen könnten und durch ein diverses Portfolio solcher Konzepte eine Vielzahl heterogener Banken erreichen. Um seine Führungslegitimität kontinuierlich wiederherstellen zu können, muss der BVR somit die Heterogenität der VR-Banken durch eine entsprechende interne 281 Int-35 224 Heterogenität spiegeln. Diese drückt sich organisational in der weitgehend unabhängigen Arbeit von sieben unterschiedlichen Fachräten und inhaltlich in dem diversifizierten Angebot an Konzepten aus. Das Angebot eines breiten Portfolios modular aufgebauter strategischer Konzepte ist deshalb eine entscheidende Interventionspraktik des BVR, um auf die Entscheidungsprämissen lokaler Banken einwirken zu können. Dabei ist es nicht entscheidend, dass jedes Konzept einen breiten Anklang findet, sondern dass das Gesamtangebot so gestaltet ist, dass die meisten VR-Banken regelmäßig darauf zurückgreifen und ihre lokalen Entscheidungen zumindest partiell darauf abstützen. 282 7.1.6 Unterstützung strategischer Konzepte durch praktische Werkzeuge Im Laufe von ESPrit wurde sichtbar, dass im Zusammenhang mit den meisten der diversen angesprochenen Themen jeweils auf praktische Werkzeuge hingewiesen wurde, die der BVR zur Unterstützung der Banken erarbeitet hatte. So wurde zum Beispiel zu Beginn von ESPrit über die Durchführung von Mitarbeiter- und Kundenbefragungen gesprochen. Hierzu konnte der BVR online gestützte und automatisch auswertbare Fragebögen anbieten, mit deren Hilfe die Durchführung solcher Befragungen für die Volksbanken deutlich vereinfacht wurde. 283 Auch als im zweiten Modul das Thema Marketing besprochen wurde, bestand für die Banken die Möglichkeit, ihre eigenen Marketingaktivitäten mithilfe einer standardisierten Auswertungssystematik in verschiedene Kategorien einzuteilen und zu bewerten. Auf weitere Werkzeuge wurde auch im vierten Modul mit dem Schwerpunkt Personal hingewiesen. Hier ging es insbesondere um Möglichkeiten, den Erfolg von Personalabteilungen innerhalb von Banken zu messen. 284 Ähnliche Werkzeuge wurden auch in den meisten übrigen Modulen erwähnt und es wurde regelmäßig mit Checklisten und sonstigen Kategorisierungen des BVR gearbeitet. Dieses wiederholte Aufkommen von diversen praktischen Werkzeugen zur Umsetzungsunterstützung von Ideen und Konzepten war insbesondere deshalb auffallend, weil das ESPrit-Projekt selbst als ein Projekt zur strategischen Reflexion mit dem Schwerpunkt Privatkundengeschäft positioniert war. Dennoch wurden die meisten diskutierten Themen nach Möglichkeit sehr stark konkretisiert und durch direkt nutzbare Werkzeuge für die einzelnen Banken greifbar gemacht. 282 Eine zulässige Überlegung in diesem Zusammenhang könnte es auch sein, dass die Vielzahl der Angebote schon allein deshalb wertvoll ist, weil ein großer Teil von ihnen abgelehnt werden kann. Es ist denkbar, dass das Autonomie-Gefühl der Banken durch das Bewusstsein gestärkt wird, dass ein Großteil der zentral erarbeiteten Vorschläge und Konzepte von ihnen abgelehnt wird. Dies könnte die Wahrscheinlichkeit der Annahme einiger weniger Konzepte erhöhen. Es ist jedoch auf der Basis der vorliegenden empirischen Daten nicht seriös möglich, diesen Punkt zu vertiefen oder als eine eindeutige Erkenntnis der vorliegenden Arbeit zu werten. 283 Vgl. Dok-23 284 Vgl. FTB-009, FTB-012 225 Bei der anschließenden empirischen Beobachtung diverser VR-Banken wurde dann sichtbar, dass die im Rahmen von ESPrit beobachteten Werkzeuge nur einen kleinen Teil eines äußerst umfangreichen Angebots an praktischen Unterstützungsangeboten für diverse Konzepte darstellten. Wenn in einer Bank beobachtet werden konnte, dass ein strategisches Konzept des BVR ganz oder teilweise genutzt wurde, konnte in nahezu jedem Fall auch festgestellt werden, dass die Banken unterstützende Werkzeuge des BVR oder der mit dem BVR abgestimmten Verbundunternehmen einsetzten. Wo sich Banken an Marketingkampagnen beteiligten, nutzten sie vom BVR entworfene Flyer, Vordrucke und weitere Angebote zur Kommunikationsunterstützung. Eine Bank, die der BVRInitiative zur Etablierung von Mitgliedermehrwertprogrammen folgte, nutzte vorgefertigte Projektpläne. Banken, die der Initiative VR-Finanzplan zur Etablierung einer ganzheitlichen Kundenberatung folgten, nutzten hierzu die mit den Rechenzentren des Verbunds abgestimmten Software-Lösungen. Und für die Durchführung von Kunden- und Mitarbeiterbefragungen wurde auf die bereits zuvor erwähnten Standard-Fragebögen des BVR zurückgegriffen, die – wie bei den meisten Werkzeugen üblich – flexibel auf individuelle Bedürfnisse der Banken angepasst werden konnten. Diese beispielhaft dargestellten empirischen Beobachtungen stehen stellvertretend für eine Reihe anderer Beobachtungen, in denen ebenfalls festgestellt werden konnte, dass strategische Konzepte des BVR tendenziell mit praktischen Werkzeugen in diverser Art und Weise unterstützt werden. Eine hohe Praxisorientierung des BVR konnte auch etlichen Interviews entnommen werden. So meinte ein BVR-Verantwortlicher, „unsere Projekte sind dann gut, wenn unsere Banken da einen Nutzen drin finden und sich entwickeln“ 285, während ein anderer betonte: „Das schlimmste wäre […]: Dass wir hier so ein bisschen im Elfenbeinturm sitzen, dass wir uns hochtheoretische Dinge ausdenken, die kein Mensch braucht, der mit den Kunden vor Ort zu tun hat, und von daher eben hier eher eine Hochreckübung stattfindet.“286 Diese pragmatische Orientierung des BVR an der konkreten Nutzenstiftung für Banken findet insbesondere in der beschriebenen Vielfalt von praktischen Werkzeugen ihren Ausdruck, die einen Großteil aller Konzepte und Initiativen begleiten. Dies deckt sich auch mit der Wahrnehmung aus der Perspektive der Banken. So meinte ein Bankmanager: „Der BVR ist immer bemerkbar – ich komme mal aus dem Operativen [Blickwinkel] – [bei Dingen] wie Gestaltung, Layout, Entwicklung von Vorlagen, die bundesweiten Werbemaßnahmen, die stattfinden…“ 287 Ein anderer Bankmanager meinte, eine entscheidende Tätigkeit des 285 Int-01 Int-03 287 Int-16 286 226 BVR liege darin, „Hilfsinstrumente zur Verfügung zu stellen, für Planung und Ähnliches.“ 288 Solche Werkzeuge erleichtern es Banken, strategische Konzepte und Empfehlungen des BVR umzusetzen. Ein Bank-Mitarbeiter beschrieb dies zum Beispiel für den Bereich der Regulierung: „Das ist auch die MaRisk-Unterstützung 289 , die wir vom BVR hatten, wo wir Szenarien rechnen können mit dem Kompass zusammen. Da gibt es Tools dazu.“ 290 Auf ähnliche praktische Unterstützung können Banken auch auf der Produktseite zurückgreifen, wie der Vertriebsmanager einer Bank schilderte: „Dann ist natürlich der BVR, was das Thema Produkte angeht, sind sie im Fachrat Markt stark unterwegs. Das heißt, früher hat man […] immer noch selbst seine Verträge geschrieben, zum Beispiel. Und jetzt ist alles, was vom BVR kommt formulargesichert. Da kann man die Sachen auch einwandfrei nutzen. […] Also auf dieser Seite ist das schon hilfreich.“ 291 Im Laufe der empirischen Forschung verdichtete sich zunehmend der Eindruck, dass diese praktische Unterstützung ein zentraler Bestandteil für den Erfolg von Konzepten des BVR war, oder zum Teil sogar die Verfügbarkeit von Werkzeugen überhaupt erst dazu führte, dass ein strategisches Konzept von einigen Banken erwägt wurde. Wenn der BVR die VR-Banken zum Beispiel für eine Werbekampagne gewinnen will, legt er äußersten Wert auf die Bereitstellung von Werbematerialien, Poster, Prospekten, Flyern, Möglichkeiten für Banken Werbung auf ihren Internetplattformen zu schalten etc. Zwar steht es jeder Bank frei, eigene Werbekampagnen zu entwickeln; da die praktischen Hilfestellungen des BVR die Teilnahme an seinen Werbekampagnen jedoch sehr stark vereinfacht, besteht ein starker Anreiz, sich diesen zentral konzipierten Kampagnen anzuschließen. Hierbei arbeitet der BVR insbesondere auch stark mit Verbundunternehmen und Rechenzentralen zusammen, so dass die Banken ein möglichst umfassendes Paket an Unterstützung in Anspruch nehmen können. Wie schwierig es ist, im zunehmend komplexer werdenden Bankgeschäft auf dieses abgestimmte Unterstützungsangebot zu verzichten, lässt sich aus folgender Beschreibung erschließen: „Der Vorteil ist dass alles, was der BVR im Passivbereich hat, mit der Fiducia 292 abgestimmt ist, und damit konform ist. Wenn man eigene Sachen hat, dann ist es manchmal schwierig, es dem Rechenzentrum entsprechend mitzuteilen, dass es sich abbilden lässt.“ 293 Weiter konkretisieren lässt sich diese Interventionspraktik am Beispiel des bereits erwähnten VR-Finanzplans, der auf die Umsetzung eines ganzheitlichen Beratungskonzepts in Banken abzielt. Ein solches Vorgehen ist für Banken eine 288 Int-27 Bei MaRisk handelt es sich für die von der BaFin für Banken aufgestellten Mindestanforderungen für Risikomanagement, denen Banken verpflichtend nachkommen müssen. 290 Int-28 291 Int-14 292 Ein Rechenzentrum und Software-Anbieter der VR-Gruppe 293 Ibid. 289 227 größere Umstellung eines zentralen Geschäftsprozesses. Neben der allgemeinen Argumentation für die Vorteile eines ganzheitlichen Beratungsansatzes wird diesem Schritt durch den BVR auch durch verschiedene Werkzeuge Attraktivität verliehen. So können Banken individualisierbare Werbematerialien nutzen, um ihre ganzheitliche Beratung zu bewerben. Die Produktportfolios der Verbundunternehmen ermöglichen es, das breite Angebotsspektrum abzudecken, das eine ganzheitliche Beratung erfordert. Und die Rechenzentren bieten die passende Software, mit der der Beratungsprozess bis in den Back-Office-Bereich abgebildet werden kann. Somit ist es oft nicht nur der Bedarf für Unterstützung und die Qualität von strategischen Konzepten, sondern die Operationalisierung durch praktische Werkzeuge durch den BVR und weitere Verbundunternehmen, die den Erfolg von strategischen Initiativen ermöglichen. Damit entspricht diese Vorgehensweise des BVR der stereotypen Beschreibung heterarchischer Organisationen von Hedlund und Kogut (1993): „The heterarchical MNC has a bias for action, and all action is specific“ (S. 355). Systemtheoretisch lässt sich an dieser Stelle ein deutlicher Zusammenhang zwischen der beschriebenen Interventionspraxis und dem Potenzial für Führungslegitimität herstellen. Um es zu ermöglichen, dass lokale Entscheidungen in VR-Banken sich auf Entscheidungen des BVR beziehen, muss in jedem Fall eine hinreichende Anschlussfähigkeit sichergestellt sein. Durch praktische Werkzeuge werden strategische Konzepte konkretisiert und ihre potenzielle Umsetzung wird für die Adressaten eher vorstellbar. Mit der Nutzung solcher Werkzeuge beziehen sich Banken in ihren Entscheidungsprozessen bereits automatisch auf vorgängige Entscheidungen des BVR. Da sie in der Art der Nutzung dieser Instrumente jedoch frei sind, handelt es sich nicht um einen simplen Import von externem Ideengut, sondern in der Anwendung von Werkzeugen des BVR durch eine Bank werden in einem gemeinsamen Prozess neue lokale Entscheidungsprämissen erschaffen. Die Teilhabe des BVR an diesem Prämissenbildungsprozess mithilfe der von ihm bereitgestellten praktischen Werkzeuge unterstützt auf diese Weise die Rekreation seiner Führungslegitimität. 7.1.7 Erleichterung der jährlichen Auditing Prozesse Um ihre Geschäft betreiben zu dürfen, sind alle Banken in Deutschland verpflichtet, einen jährlichen Auditing Prozess zu durchlaufen und zu bestehen. Diese Jahresprüfung ist auch für jede einzelne VR-Bank verpflichtend. Die Prüfung ist eines der wichtigsten jährlichen Ereignisse für die diversen Banken. Alle Prüfungen in der VR-Gruppe werden von regionalen Prüfungsgesellschaften durchgeführt, die an die jeweiligen Regionalverbände angehängt sind. Diese halten sich bei ihren Prüfungen selbstverständlich eng an das geltende Bankrecht. 228 Im Wissen um die Bedeutung der jährlichen Auditing Prozesse für die Banken, hat der BVR im Feld der sich regelmäßig verändernden Bankenregulation ein fruchtbares Betätigungsfeld für das strategische Kompetenzzentrum entdeckt. Im Rahmen der Interessenvertretung nimmt die Gesetzgebung im Finanzsektor für den BVR ohnehin bereits eine herausragende Bedeutung ein. Jedoch auch für das strategische Kompetenzzentrum spielt dieser Bereich eine wichtige Rolle. So kümmert sich einer der sieben Fachräte dediziert um die Aufgabe des Bankrechts, aber auch die anderen Fachräte erarbeiten regelmäßig Inhalte im Zusammenhang mit geänderten gesetzlichen Anforderungen. Während der Durchführung von ESPrit konnte beobachtet werden, dass regelmäßig auf die Bankenregulierung verwiesen wurde. Dies geschah nicht nur im Rahmen des Beitrags einer Mitarbeiterin aus der Fachabteilung Bankenrecht, 294 sondern beispielsweise auch im Bereich der strategischen Marktbearbeitung. Hier wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass die aktuellen Veränderungen im Bereich des Verbraucherschutzes von den Banken Anpassungen in den Kundenberatungsprozessen abverlangen. Das volle Ausmaß der Bedeutung des Bereichs Auditing und Bankrecht für den BVR wurde jedoch erst im Rahmen der empirischen Betrachtung unterschiedlicher Volksbanken sichtbar. In einer Mehrzahl der Interviews wurden die regelmäßigen Rundschreiben des BVR als ein entscheidender Beitrag des BVR zur VR-Gruppe charakterisiert. Diese regelmäßigen Rundschreiben können unterschiedlicher Natur sein. Sie können strategische Konzepte vorstellen oder Projekte des BVR beschreiben. Ein großer Teil der Rundschreiben des BVR nimmt jedoch insbesondere Stellung zu aktuellen Entwicklungen im Bankenrecht und der Rechtsprechung. Gerade im Hinblick auf die regelmäßig stattfindenden, gesetzlich vorgeschriebenen Audits nehmen die meisten Banken derartige Rundschreiben äußerst ernst. So beschrieben zwei Interviewpartner unterschiedlicher Banken die Bedeutung der BVR-Rundschreiben für ihre jeweilige Bank wie folgt: „Sowie es eine Änderung gibt, die der BVR [veröffentlicht] – oder es muss nur eine Empfehlung kommen – dann wird das bei uns im Hause sofort umgesetzt. Es wird nicht erst lange getestet, weil wir natürlich auch immer die Sicherheit haben wollen, dass wir gut durch die Prüfungen durchkommen; dass wir auch im Rahmen der Genossenschaftsverbandsprüfung alle Punkte erfüllen.“ 295 „Also wir analysieren jedes Rundschreiben durch unsere entsprechenden Bereichsverantwortlichen. Das heißt unsere ganzen Bereichsleiter – beziehungsweise wenn es um Geldwäsche oder Compliance Richtlinien geht, dann sind es die Beauftragten – sehen sich diese Rundschreiben an 294 295 Vgl. Dok-052 Int-24 229 und schlagen dann für unser Haus vor: Dem Vorschlag des BVR wollen wir ganz oder in Nuancen in der einen oder anderen Abwandlung folgen.“ 296 Es lässt sich somit festhalten, dass das Zusammenspiel aus sich schnell verändernden gesetzlichen Anforderungen und strikten jährlichen Prüfungen der Prüfungsgesellschaften für die VR-Banken eine ernstzunehmende Belastung ist. Deshalb stoßen die „BVR-Rundschreiben, die dort natürlich eine massive Hilfestellung bieten“ 297, grundsätzlich auf eine hohe Akzeptanz. Dabei beschränken sich jedoch die Empfehlungen und Leitlinien im Rahmen der Rundschreiben nicht ausschließlich auf die textgetreue Umsetzung neuer Gesetzesnormen. Wie ein Bankvorstand klarstellte, gibt es unterschiedliche Formen von Rundschreiben: „Man muss ja bei Rundschreiben oder den Hinweisen des BVR immer unterscheiden: Sind es wirklich Gesetze, die umgesetzt werden müssen. Da haben wir wenig Spielraum. Oder sind es Vorschläge, wo der BVR sagt, er würde empfehlen, dass wir uns daran beteiligten. Dann ist es ja immer eine Frage der Geschäftspolitik, ob wir die Vorschläge 1:1 umsetzen, ob wir sie abwandeln oder auch nicht.“298 Entscheidend ist dabei, dass die Abgrenzung zwischen dem einen und dem anderen nicht immer ganz klar zu trennen ist. Denn bereits jede Gesetzesauslegung lässt Spielraum für Interpretationen. Und teilweise ist es dem BVR möglich, auf Gemeinsamkeiten zwischen neuen Gesetzen und strategischen Konzepten hinzuweisen. Somit bestehen durchaus Möglichkeiten, die gesetzliche Normenlage für die Kommunikation strategischer Ideen zu nutzen und es kann betont werden, dass die Umsetzung von BVR-Initiativen, zum Beispiel im Bereich der Marktbearbeitung, in jedem Fall gesetzeskonform ist. Banken können sich deshalb darauf verlassen, dass die Umsetzung strategischer Konzepte des BVR im Rahmen der Auditing Prozesse nicht zu Problemen führen wird. Um dies sicherzustellen, geht der BVR sogar noch einen Schritt weiter. Im Zusammenhang mit der aktiven Einbindung von Regionalverbänden in die eigene Arbeit werden auch regelmäßig die strategischen Konzepte und Initiativen des BVR mit den diversen Prüfungsgesellschaften der VR-Organisation abgestimmt. Da die Prüfgesellschaften die Banken „auf die gleiche Richtung hin prüfen, mit ihren Checklisten“ 299 , ist es für die Banken vorteilhaft, wenn BVR-Konzepte von den Prüfgesellschaften bereits im Voraus für gesetzeskonform befunden wurden, bzw. wenn Initiativen so aufgebaut sind, dass ihre Umsetzung eine problemlose Erfüllung der Prüf-Checklisten ermöglicht. 296 Int-30 Int-27 298 Int-30 299 Int-25 297 230 Wenn Banken bei der Verfolgung strategischer Ideen eigene Prozesse entwerfen und umsetzen, kann es deutlich aufwändiger sein, deren Konformität mit den gesetzlichen Vorschriften im Rahmen der jährlichen Audits hinreichend nachzuweisen. Dies ist zwar durchaus möglich, und Banken nutzen regelmäßig ihre unternehmerische Freiheit, um eigene strategische Initiativen umzusetzen. Dennoch darf die Gewissheit, dass strategische Konzepte des BVR mit allen Prüfgesellschaften abgestimmt wurden, als zusätzlicher Anreiz für Banken betrachtet werden, die Nutzung solcher Konzepte zu erwägen, bevor eine eigene Vorgehensweise entworfen wird, deren Gesetzeskonformität weniger gewiss ist. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Gefahr für die Banken weniger in einem Nicht-Bestehen der Audits liegt, sondern in aufwändigen Diskussionen sowie in Prozessanpassungen, die sie als Auflagen aus dem jährlichen Audit durchführen müssen. Zusammenfassend lässt sich die siebte Interventionspraktik im weitesten Sinne als eine Kombination der bereits beschriebenen Faktoren Unsicherheit, Ressourcenknappheit und praktische Nutzbarkeit verstehen. Da die Entlastung bei der Umsetzung von Gesetzesnormen und des reibungslosen Bestehens der jährlichen Auditing Prozesse jedoch eine sehr gewichtige Rolle für die VR-Banken und damit für die Arbeitsweise des BVR spielt, scheint die Formulierung einer gesonderten Interventionspraktik angebracht. Durch regelmäßige Rundschreiben, die auf die aktuelle Gesetzeslage Bezug nehmen, sowie durch die Abstimmung strategischer Konzepte mit Gesetzesnormen und den diversen Prüfgesellschaften, gelingt es dem BVR die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass VR-Banken sich mit seinen Empfehlungen auseinandersetzen und ihre lokalen Entscheidungen auf diese abstimmen. Damit trägt auch die siebte Interventionspraktik entscheidend zum kontinuierlich ablaufenden Prozess der neuen Herstellung von Führungslegitimität bei. 7.1.8 Förderung von Wissensaustausch und kollektiver Meinungsbildung zwischen den VR-Banken Den Beschreibungen des sechsten Kapitels kann entnommen werden, dass der Wissensaustausch zwischen den verschiedenen ESPrit-Teilnehmerbanken ein entscheidendes Anliegen des ESPrit-Projektes war. Zum einen stand bereits beim Projektdesign die Überlegung im Mittelpunkt, dass die Durchführung von Modulen in Gruppen mehrerer Banken den Austausch von Wissen ermöglichen könne. Dieser Austausch fand ganz automatisch in inoffiziellen Teilen des Programms wie den Pausen oder den Abendessen statt. Der Austausch wurde jedoch auch gezielt gefördert, indem während der ESPrit-Module wiederholt in Kleingruppen zusammengearbeitet wurde und oftmals gemeinsam konkrete Problemstellungen in 231 einzelnen Banken diskutiert wurden, so dass andere Bankmanager ihre Erfahrungen beisteuern konnten. Darüber hinaus wurde jedoch vom BVR explizit Wert auf die Etablierung von Lernpartnerschaften im Rahmen von ESPrit gelegt. Bereits im ersten ESPrit-Modul wurden Gruppen mit Teilnehmern aus jeweils zwei bis drei Banken gebildet. Diese Gruppen wurden fortan als Lernpartnerschaften bezeichnet und es wurde empfohlen, dass diese gegenseitig ihre jeweiligen Banken besuchen sollten und sich regelmäßig innerhalb ihrer Gruppe über Themen ihrer Wahl austauschen sollten. Wie innerhalb der VR-Gruppe üblich, wurden diese Lernpartnerschaften in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. So berichteten manche Banken bereits gegen Ende von ESPrit, dass ihre Lernpartnerschaften nicht mehr aktiv weitergeführt würden. 300 Vorstände anderer Banken trafen sich jedoch auch ein Jahr nach dem Abschluss von ESPrit noch innerhalb ihrer Lerngruppen: „Wir treffen uns regelmäßig mit unserer Lernpartnergruppe und das ist ein sehr fruchtbarer Austausch. Da ist ein Netzwerk entstanden.“301 Dem BVR ging es somit darum, Plattformen für den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Banken zu etablieren. Dabei bestand kein direkter Zusammenhang zwischen ESPrit, dem zentralen Thema des Privatkundengeschäfts und dem offenen Wissensaustausch innerhalb der gebildeten Lernpartnerschaften. Der Austausch von Wissen zwischen Banken wurde somit nicht auf der Basis klar abgrenzbarer Ziele angeregt, sondern an sich als ein Wertbeitrag für die Entwicklung der VR-Gruppe verstanden. Diese Vorgehensweise bedurfte an keinem Punkt während ESPrit einer weiteren Rechtfertigung. Im Einklang mit den genossenschaftlichen Werten der Subsidiarität und der Hilfe zur Selbsthilfe schien diese Art der Vernetzung für alle Beteiligten äußerst selbstverständlich. Für diese Selbstverständlichkeit sprach auch die große Offenheit zwischen den ESPrit-Teilnehmern untereinander, obwohl die meisten sich vor dem Projekt noch nicht begegnet waren. Ebenso ließ sich auch außerhalb von ESPrit beobachten, dass der Wissensaustausch innerhalb der VR-Gruppe vom BVR regelmäßig in unterschiedlichen Formen gefördert wird. So wurde vom BVR aus der PROFIInitiative im Firmenkundengeschäft unter dem Namen PROFI-Club eine Plattform gegründet, die zum Austausch verschiedener Teilnehmer untereinander genutzt werden konnte. Ähnlich wurde bei weiteren BVR-Projekten verfahren. Ziel ist es stets, Banken, die ein gemeinsames Interesse an bestimmten Konzepten oder Initiativen des BVR haben, auch die Gelegenheit zu eröffnen, gegenseitig voneinander lernen zu können. Wie bereits in Kapitel 7.1.2 angedeutet, werden die Vernetzung und der Wissensaustausch zwischen Banken des Weiteren durch die aktive Einbeziehung 300 301 FTB-017 Int-26 232 von Volksbanken in die Entscheidungsprozesse des BVR gefördert. Da innerhalb der Gremien des BVR jeweils einzelne Repräsentanten der Banken vertreten sind, müssen Banken sich vorgängig abstimmen, welche Positionen ihr jeweiliger Repräsentant vertreten sollte. Dies erfolgt über einen mehrstufigen Prozess regelmäßiger Zusammenkünfte lokaler und regionaler Bankenvertreter und wird aktiv gelebt, da Banken wissen, dass sie tatsächlich einen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse zentraler Organisationseinheiten ausüben können. So beschrieb ein Vorstand: „Wir treffen uns regelmäßig vierteljährlich, und auf lokaler Ebene auch. Einmal auf überregionaler Ebene und dann noch hier im [Land]Kreis. Da werden Themen besprochen, die Anliegen, und dann stimmt man sich schon ab und geht dann auch geballt mit einer Meinung auf den anderen Ansprechpartner – sei es Bundesverband oder Verbundunternehmen – zu, um für alle miteinander etwas zu bewirken.“ 302 Dieser Anreiz zur politischen Willensbildung und Beeinflussung der Organisation führt dazu, dass die meisten VR-Banken in ein eng geknüpftes Austausch-Netzwerk mit diversen anderen Banken eingebunden sind, in dem auch auf einer allgemeineren Ebene Wissen ausgetauscht wird. Durch Austauschgruppen wie durch politische Willensbildungsgruppen entsteht somit ein reger Kontakt zwischen vielen VR-Banken. Dieser wird von der Seite der Banken als äußerst wichtig empfunden, wie ein Bankvorstand betont: „Also davon lebt diese Organisation. Also das gibt es natürlich auf der Bankebene, dass unterschiedliche Banken sich austauschen. Da haben wir 2 Arbeitskreise, die regelmäßig tagen. Wenn man dazu noch die Veranstaltungen der Verbundpartner – wie Kongresse, Tagungen und so – dazuzählt, wo Sie immer wieder die gleichen Leute sehen, immer wieder einen Austausch haben, bekannte Gesichter haben, dann wird das natürlich schnell hochmultipliziert. Und dann sind die Facharbeitskreise. Dadurch kommt natürlich ein sehr enges Geflecht auch zustande, was wertvoll ist, was auch solche Dinge wie ESPrit erweitert. Und das [bei ESPrit] war wieder eine Gruppe mehr, in der man sich ausgetauscht hat, auf eine ganz andere Art und Weise. Und davon lebt unsere Organisation glaube ich auch. Und das gibt es nicht nur auf der Vorstandsebene, das gibt es auch in der Fachabteilung. Und das ist der Mehrwert unserer Gruppe.“303 Wichtig ist hierbei zu betonen, dass die Aktivitäten des BVR diese diversen Formen des Wissensaustauschs zwar unterstützt, aber nicht allein maßgeblich für sie sind. 302 303 Int-19 Int-012 233 Auch Verbundunternehmen und insbesondere Regionalverbände fördern den Austausch von Wissen innerhalb der VR-Gruppe: „Und das ist natürlich ganz wichtig, dass man sich da austauscht, sei es bei solchen [regionalen] Veranstaltungen, oder sei es auch bei irgendwelchen anderen Veranstaltungen vom Verband, vom BVR oder Verbundpartnern, wo man sich trifft und immer mal über ein bestimmtes Thema reden kann.“ 304 Oft genügt hierbei ein recht kleiner Anstoß von einem Verband oder Verbundunternehmen, um eine neue Austauschplattform zu etablieren. Eine Bankmitarbeiterin schilderte, dass sich auf einer Personalfachtagung die Personalverantwortlichen etlicher Banken kennenlernten. „Auf Initiative des Verbandes wurde gesagt: Wir [Anm. d. Autors: der Verband] würden das unterstützen, wenn ihr euch mal trefft, um euch auszutauschen. Wir stellen euch Räumlichkeiten und Verpflegung zur Verfügung. Ihr könnt euch 2-3 Mal im Jahr treffen – so bin ich in den Arbeitskreis Personal gekommen.“ 305 Der Wissensaustausch zwischen Volksbanken reicht somit vom spontanen Austausch zwischen Nachbarbanken 306 über die gemeinsame Mitarbeit in Gremien von VR-Organisationen oder Bankenarbeitsgemeinschaften 307 bis hin zu großangelegten „Erfahrungsaustauschgruppen, [in denen] zwischen 10 und 15 in etwa gleich große Banken zusammengefasst [sind und sich] auf verschiedenen Ebenen [austauschen].“ 308 Ein Verantwortlicher des BVR beschrieb die Situation wie folgt: „In einigen Landstrichen Deutschlands, speziell in Baden-Württemberg, [gibt es] Erfa-Gruppen. Die gibt es nicht überall. Es gibt da auf der anderen Seite aber auch Bezirkstagungen und Bezirksarbeitsgemeinschafen, und wo anders, da heißt das eben anders.“309 Wie aus den vorangegangenen Schilderungen hervorgeht, ist der Austausch von Wissen unterstützt durch unterschiedliche Plattformen ein markanter Bestandteil der VR-Organisation und auch der BVR fördert einen solchen Austausch aktiv. Neben dem offensichtlichen Nutzen, dass Banken voneinander lernen können, lässt sich jedoch rekonstruieren, dass diese Förderung der Vernetzung zwischen VR-Banken einen manifesten Einfluss auf die Führungslegitimität des BVR ausübt. Dies geschieht zum einen durch gesteigerte Möglichkeiten der Diffusion strategischer Konzepte und zum anderen durch die autonome Generierung kollektiver organisationaler Entscheidungsprämissen. Die erste dieser beiden Überlegungen lässt sich deutlich anhand diverser Interviewaussagen aufzeigen. So berichtete der Vorstand einer ESPritTeilnehmerbank darüber, wie er von ESPrit erfahren hatte. Er erzählte, dass er in einem Gremium vertreten sei, „und da stoßen wir immer wieder mal auf Dinge, die 304 Int-030 Int-25 306 Vgl. Int-23 307 Vgl. Int-24 308 Int-33 309 Int-03 305 234 beim BVR entwickelt wurden.“ 310 Zum Teil nutzt der BVR Gremien und Austauschgruppen auch aktiv, um Banken eigene Konzepte vorzustellen, indem Mitarbeiter der Fachbereiche des BVR Vorträge in solchen Gruppen halten. 311 Ebenfalls kommt es in Erfahrungsgruppen teilweise zu Diskussionen darüber, welche Konzepte von regionalen Verbänden oder vom BVR für aktuelle Herausforderungen geeignet oder empfehlenswert seien. Nur so werden Erfolge wie zum Beispiel das PROFI-Projekt des BVR möglich, mit dem bereits einige hundert Banken in unterschiedlicher Weise in Kontakt gekommen sind. Die enge Vernetzung und der ständige Austausch ermöglichen es, dass positiv wahrgenommene Konzepte und Initiativen sich schnell innerhalb der Organisation verbreiten können. Vereinfacht dargestellt, unterstützt der BVR mit der Förderung von Austauschplattformen gleichzeitig auch die Ausbildung organisationaler Strukturen, die es ihm ermöglichen, mehr Banken kommunikativ zu erreichen und damit die Chance zu erhalten, Einfluss auf deren Entscheidungsprämissen auszuüben. Gleichzeitig übt der BVR seine Führungsrolle durch die Förderung der diversen Austauschplattformen auch noch in einer indirekteren Weise aus. Wimmer (2008) beschreibt, dass Organisationen dazu neigen, „in sich selbst eine enorme Vielfalt von auf sich selbst bezogene Wirklichkeitskonstruktionen zu entwickeln, die die Rechtfertigungsbasis für ausgesprochen widersprüchliche Handlungsimpulse abgeben. Führung »stört« diese Neigung durch die Schaffung von allgemein akzeptierten Beobachtungspunkten“ (S. 32). Anders ausgedrückt, ist es eine entscheidende Aufgabe von Führung, dafür zu sorgen, dass eine Organisation nicht völlig auseinander driftet, sondern eine gewisse Kohärenz bezüglich der verwendeten Wirklichkeitskonstruktionen besteht. Organisationale Wirklichkeitskonstruktionen sind dabei als eine Form von Entscheidungsprämissen zu verstehen, da Entscheidungen zwangsläufig an vorliegende Wirklichkeitskonstruktionen anschließen. Solche Wirklichkeitskonstruktionen können zwar innerhalb der VR-Organisation nicht zentral vorgegeben werden. Die enge Vernetzung von Banken kann jedoch eine kollektive Verfertigung von Wirklichkeitskonstruktionen innerhalb diverser Austauschgruppen befördern. Hierbei sind insbesondere die willensbildenden Gremien auf lokaler, regionaler bis hin zu nationaler Ebene von Bedeutung. Grundsätzlich ist der BVR mit einer äußerst heterogenen Gruppe von VR-Banken konfrontiert, die von ihren diversen lokalen Interessen geprägt sind. Das gemeinsame Interesse, die Entscheidungsprozesse zentraler Organisationseinheiten wie des BVR oder der Verbundunternehmen zu beeinflussen, eint die einzelnen Banken zu einem gewissen Grad. Es herrschen jedoch naturgemäß unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Ziele zu verfolgen sind. 310 311 Int-33 Vgl. Int-11 235 An dieser Stelle ist es fruchtbar, auf die Überlegungen von Dermer und Lucas (1986) zu verweisen. Sie argumentieren, “interest groups respond to uncertainty and a lack of consensus through negotiations” (S. 478) und kommen auf dieser Basis zu dem Schluss: “Implementing a multirational conception of control relies upon an image of control systems which bears a resemblance to a political federation” (S. 479). Dieses System einer politischen Föderation hat sich innerhalb der VR-Organisation sehr deutlich entwickelt. Zur Durchsetzung ihrer Interessen treffen sich Bankenvertreter in lokalen und regionalen Gremien, wie ein Bankvorstand beschreibt: „Also ich bin Kreisverbandsvorsitzender, ich organisiere viermal im Jahr Kreisverbandssitzungen, wo wir uns über aktuelle Themen austauschen. Und dasselbe passiert auf Bezirksverbandsebene, wo man sich auch über aktuelle Themen austauscht. Teilweise sind es sehr fachspezifische Themen, aber es sind natürlich auch grundsätzliche Themen, politische Themen und Fragestellungen. […] Der Meinungsbildungsprozess unserer Organisation erfolgt ja im Regelfall von unten nach oben. Da heißt, was wir diskutieren versuchen, wir natürlich dann über Bezirksverband und bayerischen Verband zu bringen.“312 Es findet somit ein ständiger Aushandlungsprozess zwischen Banken statt, welche Themen von Bedeutung sind und in welcher Weise sie auf der Ebene der Verbände einzubringen sind. Auf diese Weise läuft ein kontinuierlicher Prozess des kollektiven Sensemaking (vgl. 1969; 1995) beziehungsweise der Verfertigung von Wirklichkeitskonstruktionen ab. Damit sind die regionalen und lokalen Gremien ein maßgeblicher Mechanismus der VR-Gruppe zur kontinuierlichen Aushandlung zumindest partiell geteilter Wirklichkeitskonstruktionen. Die Vielfalt organisationaler Wirklichkeitskonstruktionen kann auf diese Weise ohne zentrale Vorgaben reduziert werden. Vor diesem Hintergrund ist auch ein aufgeklärteres Verständnis Hedlunds (1986) Beschreibung des heterarchischen Organisationstypus möglich: “A key idea in the conception of a heterarchical MNC is that subsidiary managers are also given a strategic role, not only for their “own” company, but for the MNC as a whole” (S. 22). Die Heterarchie ist nicht lediglich eine Organisation, in der Entscheidungen potenziell an unterschiedlichen Stellen der Organisation getroffen werden können; sondern sie lebt davon, dass die dezentrale Einflussnahme auf strategische Entscheidungen eine realistische Möglichkeit ist. Würde diese Möglichkeit nicht bestehen, bestünde eine erhöhte Gefahr der Isolation einzelner Teile. Einzelne VR-Banken hätten ohne die Möglichkeit zur Beteiligung an regionalen und nationalen strategischen Entscheidungen keinen Anreiz, sich über lokale Gremien zu organisieren. Es stünde zu befürchten, dass die Anschlussfähigkeit der Organisationseinheiten untereinander zunehmend abnähme. Die konkret gegebene 312 Int-99 236 Möglichkeit zur kollektiven Einflussnahme auf strategische Organisationsentscheidungen wirkt jedoch als ein Anreiz zur Mitarbeit in lokalen Gremien und schafft damit die Basis für einen Diskurs zwischen den Banken und einen Prozess der gemeinschaftlichen Erarbeitung von Wirklichkeitskonstruktionen. Der BVR fördert diesen Prozess durch die Offenheit der eigenen Entscheidungen für Impulse von Banken im Rahmen der diversen Fachräte, sowie durch die allgemeine Unterstützung der Vernetzung von Banken in diversen Wissensaustauschgruppen. Zusammenfassend lässt sich deshalb sagen, dass die Förderung von Wissensaustausch und kollektiven Meinungsbildungsprämissen eine Interventionspraktik ist, die vornehmlich auf zwei Weisen zur Führungslegitimität beiträgt. Zum einen schaffen sie die Möglichkeit für die Diffusion strategischer Konzepte innerhalb der VR-Gruppe und steigern damit die potenzielle Prämissenwirkung von Entscheidungen des BVR. Zum anderen fördern sie die Schaffung dessen, was Wimmer (2008) „allgemein akzeptierte Beobachtungspunkte“ (S. 32) nennt. Zwar nimmt der BVR keinen direkten Einfluss auf die kollektive Erarbeitung dieser Wirklichkeitskonstruktionen innerhalb diverser lokaler Gremien, aber die Förderung von Rahmenbedingungen, in denen solche geteilten organisationalen Wirklichkeitskonstruktionen entstehen können, ist an sich bereits als ein entscheidender Führungsbeitrag zum Fortbestehen einer Organisation zu betrachten. 7.1.9 Nutzung sozialer Mobilisierung der VR-Banken untereinander Eng verknüpft mit der gezielten Förderung von Wissensaustausch zwischen den VRBanken ist auch die neunte Interventionspraktik. Es konnte empirisch beobachtet werden, dass der BVR durch unterschiedliche Interventionen versucht, eine soziale Mobilisierung der verschiedenen VR-Banken untereinander zu fördern. Im Rahmen von ESPrit fiel unter anderem auf, dass regelmäßig Benchmarks zu unterschiedlichen Kennzahlen aus dem Personalwesen bis hin zur Marktbearbeitung und Profitabilität diskutiert wurden. Auf diese Weise ist es möglich, jeder Bank Bereiche aufzuzeigen, in der sie im Vergleich zur Gruppe der VR-Banken unter Umständen noch Nachholbedarf hat. Dies kann zum einen dazu führen, dass Banken Verbesserungspotenziale in Bereichen sehen, in denen andere VR-Banken offensichtlich besser abschneiden. Und zum anderen können derartige Benchmarks Banken an ihrem Stolz packen und somit Anstoß für Verbesserungsinitiativen geben. Auch die während ESPrit wiederholt eingesetzte Methode des Friendly Consulting, bei der die anwesenden Bankmanager ihre Kollegen zu deren akuten Problemstellungen berieten, kann eine soziale Mobilisierung bewirken. Oft zeitigt eine Botschaft von Kollegen eine andere Wirkung, als die direkte Kommunikation von 237 Zentraleinheiten an dezentrale Organisationseinheiten. Auf ein ähnliches Prinzip setzte auch der Abendvortrag des dritten Moduls. 313 Der BVR lud den Marktvorstand einer im Privatkundengeschäft erfolgreich operierenden Bank ein, der seinen Bankerkollegen einige der eigenen Arbeitsansätze vorstellte. Hierbei zeigte sich jedoch auch, dass der BVR sensibel und umsichtig mit dieser Interventionspraktik umgehen muss. Oftmals wurde es von ESPrit Teilnehmern als positiv und wertvoll beurteilt, Anregungen von Kollegen zu erhalten und es konnte teilweise auch die gewünschte mobilisierende Wirkung beobachtet werden. So meinte ein Bankvorstand im Rahmen des zweiten Moduls, dass er aufgrund der Diskussion mit Kollegen zu der Einsicht gekommen sei, dass er die Bedeutung der Strategie in der eigenen Bank mit seinen Vorstandskollegen nochmals abstimmen müsste, weil bisher – ähnlich wie in anderen Banken – lediglich davon ausgegangen wurde, dass alle das gleiche Verständnis der Strategie teilten, dies jedoch nie im Diskurs überprüft worden sei. 314 Auf der anderen Seite waren diese Formen der Mobilisierung durch Kollegen nur dann von Erfolg gekrönt, wenn großer Wert darauf gelegt wurde, dass eine Kommunikation auf Augenhöhe stattfand. Der beschriebene Abendvortrag eines Vorstands wurde zum Teil von Banken negativ aufgefasst, weil sie das Gefühl hatten, dass eine Volksbank durch den BVR als Musterbank inszeniert und somit in gewisser Weise als überlegen dargestellt würde. Dies führte bei einigen ESPrit-Teilnehmern zu eher verhaltenen Reaktionen bezüglich der Fragestellung, welche Anregungen sie konkret für ihre Bank aus dem Vortrag mitnehmen könnten. 315 Und einige Bankvorstände blieben dem Gastvortrag sogar demonstrativ fern. Dennoch lässt sich deutlich feststellen, dass die Interventionspraktik der Nutzung von sozialer Mobilisierung der Banken untereinander vom BVR auch außerhalb von ESPrit regelmäßig eingesetzt wird. Sie ist insbesondere mit dem genossenschaftlichen Grundprinzip der Hilfe zur Selbsthilfe vereinbar, da Banken keine Vorgaben gemacht werden, sondern eher die Voraussetzungen für eine Selbsterkenntnis geschaffen werden, indem Manager von VR-Banken regelmäßig mit Kollegen anderer Banken in Kontakt gebracht werden, wie dies in der vorangegangenen Interventionspraktik beschrieben wurde. Dieser Kontakt an sich kann in etlichen Fällen bereits dafür sorgen, dass Banken sich gegenseitig mobilisieren. Wie ein Bankmitarbeiter erwähnte, neigen insbesondere „Nachbarbanken […] dazu, irgendwie miteinander zu arbeiten, sich auszutauschen von dem einen vielleicht was zu übernehmen, was gut läuft.“ 316 Ein Bankvorstand sprach in diesem Zusammenhang von einem „soziologischen Gruppendruck“. Er führte aus: 313 FTB-005 FTB-002 315 Vgl. FTB-006 316 Int-25 314 238 „Wir sind alle als Vorstände in entsprechenden Austauschgruppen dabei und da möchten die wenigsten, die wenigsten wollen da extrem vor allem noch negativ auffallen, als Spinner gelten, oder als Extremisten. Da gibt es schon einen gewissen Herdentrieb.“ 317 Dieser Prozess der „Disziplinierung untereinander“ 318 ist in der VR-Gruppe zwar bereits ohne die Tätigkeit des BVR angelegt, wird jedoch durch die Förderung des Austausches in Gremien und Austauschgruppen gefördert. Insbesondere wird die soziale Mobilisierung durch den BVR, wie auch durch regionale Verbände, jedoch auch durch ein breites Angebot an Kennzahlen und Benchmarks unterstützt, die den Banken regelmäßig in Rundschreiben oder für die Planungsprozesse im Rahmen von Kompass zur Verfügung gestellt werden, und zum Teil auch in Initiativen und Vorträgen des BVR betont werden. Es gibt detaillierte Auswertungen zu Marktanteilen, der Profitabilität unterschiedlicher Geschäftsbereiche bis hin zu Prozesskennzahlen wie der durchschnittlichen Dauer der Bearbeitung einer Kreditbewilligung. In all diesen Bereichen können Banken sich jeweils mit dem Bundesdurchschnitt oder einem regionalen Durchschnitt der Volksbanken vergleichen und hierdurch mögliches Handlungspotenzial identifizieren. Solche Kennzahlen dienen oft auch als Grundlage für Diskussionen in Erfahrungsund Austauschgruppen der Banken. Außerdem nimmt die Anzahl der möglichen Vergleichszahlen weiter zu, weil standardisierte Softwarelösungen für Bankprozesse wie auch für Kunden- und Mitarbeiterbefragungen die bundesweite Generierung und Vergleichbarkeit von Kennzahlen und Benchmarks fördern. Ein Bankmanager meinte zur Vielzahl solcher Vergleiche und Kennzahlen: „Schauen Sie, die Benchmarking-Vergleiche, die haben wir ja noch und nöcher. Die laufen auch über meinen Schreibtisch, die kriegen wir auch vom BVR.“ 319 Ein anderer Manager nannte die „Unterstützung zur eigenen Standortbestimmung durch Betriebsvergleiche, durch Datenlieferungen“ als einen der zentralen Wertbeiträge des BVR. 320 Und ein weiterer Bankvorstand konstatierte, dass „die Bereitschaft größer ist, sich auszutauschen, weil man sich erhofft Anregungen für sein eigenes Tun – also der Erfahrungsaustausch und auch dieses Benchmarking, das ist allen sehr, sehr wichtig.“ 321 Die Kennzahlen und Benchmarkings des BVR sind somit als ein zentraler Referenzpunkt für Banken zu betrachten, der ihnen eine Orientierung bezüglich der eigenen Performance im Vergleich mit anderen VR-Banken geben kann. Wie Pfeffer und Salancik (1978) betonten, besteht eine entscheidende Aufgabe von Organisationen darin, mithilfe von Informationssystemen und Controlling-Daten einen 317 Int-34 Int-35 319 Int-27 320 Int-19 321 Int-09 318 239 Einfluss darauf zu nehmen „what is measured and how the world is analyzed and viewed“ (S. 16). Die zentral erstellten Kennzahlen und Benchmarkings sind demnach ein Beitrag zur Schaffung gemeinsamer Vorstellungen innerhalb der VR-Gruppe, was als wichtig zu betrachten ist und ab welcher Leistung von einem Erfolg gesprochen werden kann. Dabei ist das Ziel nicht die Schaffung einer Einheitsmeinung innerhalb der diversen Bankengruppe, sondern eine ständige Auseinandersetzung der Banken mit ihrer eigenen Leistung im Vergleich zu der Leistung anderer Banken in unterschiedlichen Bereichen. Es liegt im Ermessen jeder Bank, wie sie selbst mit den zur Verfügung gestellten Informationen umgehen möchte, aber bereits dieser Reflexionsprozess an sich kann zu einer sozialen Mobilisierung führen. Wie Neuberger (2007) beschreibt, geht es bei derartigen Anstößen zur Entwicklung gemeinsamer Vorstellungen, wie in diesem Fall zum Beispiel der Definition, Messung und Vergleichbarkeit von Erfolg, um einen kontinuierlichen Prozess, der um seiner selbst willen am Laufen gehalten werden sollte, da er einen positiven Einfluss auf Organisationen ausüben kann: „Vergemeinschaftung ist ein unabgeschlossenes Projekt, das unter der ständigen Drohung seines Scheiterns steht. […] In jeder lebendigen, sich entwickelnden Gemeinschaft ist mit Diversität – und damit Kontroversen […] zu rechnen. […] Weit entfernt davon, dies als schnellstmöglich zu beseitigendes Defizit zu sehen, stimmen moderne Ökonomie und Politik darin überein, dass Konkurrenz und Opposition die fundamentalen Voraussetzungen dafür sind, im Wettbewerb des (nahezu) Gleichstarken vorhandene Potenziale zu stimulieren und zu entfalten.“ (Neuberger, 2007; S. 289) In diesem Sinne strebt auch die VR-Organisation nicht nach einer Homogenisierung der VR-Banken, sondern profitiert von dynamischen Debatten. Jede VR-Bank wird bei einigen Kennzahlen überdurchschnittlich und bei anderen unterdurchschnittlich abschneiden und kann dies in gemeinsame Diskurse mit anderen Banken einbringen. Dies bietet Anstoß für kontinuierliche Reflexionen darüber, welche Benchmarks relevant sind und wo innerhalb einer Bank Handlungsbedarf besteht. Hierdurch trägt die neunte Interventionspraxis zur Führungslegitimität des BVR bei: „Versteht man Führung als die Beförderung der Selbststeuerung eines autopoietischen Systems, dann wird die Bereitstellung von Selbstreflexionsmöglichkeiten in diesem eine zentrale Systemleistung“ (Wimmer, 1989; S. 149). Mit Benchmarks, Kennzahlen und Lerngruppen wird eine kollektive Reflexion gefördert, die innerhalb der VR-Banken zu einer sozialen Mobilisierung führen kann. Auf diese Weise kann der BVR dort, wo seine Legitimitätsressourcen begrenzt sind, davon absehen, Banken durch direkte Interventionen zu bestimmten Handlungen bewegen zu wollen. Vielmehr schafft er die Bedingungen zur Selbsterkenntnis von Handlungsbedarfen innerhalb der einzelnen Banken. Wo ein 240 solcher Handlungsbedarf von einer Bank identifiziert ist, steigt dann zudem die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bank sich aus dem Fundus der vorhandenen strategischen Konzepte und Initiativen des BVR nach Unterstützungsangeboten umsieht. 7.1.10 Kommunikation jenseits der formalen Bank-Hierarchien Eine letzte entscheidende Interventionspraktik des BVR ist die Kommunikation jenseits der formalen Hierarchien der VR-Banken. Diese Interventionspraktik konnte nicht im Rahmen von ESPrit selbst beobachtet werden, da mit dem ESPrit-Projekt direkt die Vorstände der einzelnen Banken angesprochen worden waren und von jeder Teilnehmerbank mindestens ein Mitglied des Bankvorstands vertreten war. Jedoch fiel in den Beobachtungen und Interviews innerhalb der sieben Banken, die als Forschungspartner zur Verfügung standen, deutlich auf, dass der BVR nicht nur auf der Vorstandsebene der Banken spürbar war. Die Arbeit des BVR erschöpft sich somit nicht darin, lokale Vorstände von den Mehrwerten strategischer Konzepte und Leitfäden zu überzeugen und sie zu einer Berücksichtigung der Ideen des BVR in ihren Banken zu bewegen. Klassische Beispiele für ein Wirksamwerden des BVR unterhalb der Vorstandsebene waren unterschiedliche Projektgruppen innerhalb der beobachteten Banken. So hatte eine Bank ein Projektteam zur Durchführung und Auswertung einer Mitarbeiterbefragung gegründet. Diese kommunizierte immer wieder mit der Fachabteilung Personal des BVR, um Anregungen für ein bestmögliches Vorgehen zu erhalten. Ebenso stimmte sich in einer anderen Bank eine Projektgruppe für die Gestaltung eines Mitglieder-Mehrwert-Programms teilweise mit Mitarbeitern der Fachabteilung Markt ab. Entscheidend bei dieser Beobachtung ist, dass der BVR den direkten Kontakt in einzelne Projektgruppen innerhalb der Banken sucht oder zumindest ermöglicht. Damit kann der BVR nicht nur auf der Basis formaler Vorstandsentscheidungen Impulse innerhalb von Banken setzen, sondern eine gewisse Führungsrolle auch in direktem Kontakt mit mittlerem Bankmanagement oder operativen Mitarbeitern ausüben. Diese Kontakte beschränken sich dabei nicht auf Projektarbeiten, sondern können auch das operative Tagesgeschäft von Banken betreffen. So meinte ein interviewter Bankmitarbeiter: „Ich spüre den BVR in der Kreditabteilung durch all die neuen Arbeitsanweisungen und Richtlinien, die geändert werden oder die komplett neu geschaffen werden. Also, in meiner Tätigkeit als Sachbearbeiter in der Kreditabteilung, da spüre ich den BVR.“ 322 322 Int-24 241 Ebenso beschrieb ein Bankmanager: „Wenn ich dann da mal ein Anliegen habe, [beispielsweise zur Steuerung und Ähnlichem], dann nehme ich Kontakt zum BVR auf und habe dann auch in der Regel eine gute Hilfestellung.“ Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass Ideen und Vorschläge des BVR nicht nur mittels formaler Entscheidungsprozesse von Bankvorständen einen Einfluss auf die Operationen einer Bank ausüben können, sondern dass auch eine Vielzahl von direkten Interaktionen des BVR mit operativen Mitarbeitern oder mittlerem Management existieren, wodurch der BVR auch an der Gestaltung operativer Entscheidungsprämissen beteiligt sein kann. Dabei kann der BVR mit den erwähnten operativen Richtlinien eine sehr große Reichweite innerhalb der VR Banken erzielen. Die direkten Kontakte von BVRPersonal in Banken hinein können nicht denselben Umfang haben und sind eher sporadisch. Eine enge Betreuung von 1.100 Banken könnte der BVR schon aufgrund seiner Größe nicht stemmen und darüber hinaus widerspräche sie der genossenschaftlichen Arbeitsteilung zwischen dem BVR und den regionalen Verbänden. Hier baut der BVR jedoch insbesondere auch auf eine enge Kooperation mit den Regionalverbänden. Ein Beispiel für diese enge Zusammenarbeit ist die Involvierung der Regionalverbände im Rahmen des Beraterpools von ESPrit. Zwar waren die Verbände selbst nicht direkt an ESPrit beteiligt, aber durch die enge Einbindung innerhalb des Beraterpools gelang es, den beteiligten Personen zu vermitteln, welche zentralen Ideen ESPrit zugrunde lagen und wie die Banken diese aufnahmen. Ein ähnlich intensiver Austausch wird auch in anderen BVR-Projekten sowie durch die Vertretung der Regionalverbände in den Fachrats-Gremien gepflegt. So kann es gelingen, dass in einer engen Kooperation die Regionalverbände an der Arbeit des BVR beteiligt sind und sich in diese einbringen können und im Gegenzug die Rolle eines Multiplikators einnehmen, der insbesondere auch bei operativen Fragestellungen, Banken im Sinne der konzeptuellen Ideen des BVR berät. So beschrieb ein Bankvorstand seine Wahrnehmung des Zusammenspiels zwischen Regionalverband und BVR wie folgt: „Ja gut, den Regionalverband, spüren wir eigentlich direkter als den BVR weil da auch die Kontakte direkter sind. Sprich Beispiel, der BVR bringt ein Konzept zur Risikotragfähigkeit heraus. Dann gibt es dazu natürlich, wie zu jedem Konzept, noch offene Fragen. Oder es gibt Auslegungstatbestände. Oder man hat irgendeine Sondersituation, wo jetzt noch zu klären ist, wie ist denn das jetzt gemeint in unserer Situation. Kann man das so anwenden, oder gibt es da eine Problematik. In solchen Fällen wenden wir uns dann ja an unseren Verband, der dann oft auch zusätzlich zu irgendwelchen Leitlinien des BVR noch ergänzende Maßgaben oder Empfehlungen rausbringt. Das heißt, dort wird dann oft 242 noch ein Stück weiter konkretisiert, so dass uns das dann an der Stelle natürlich nochmal ein Stück weiterhilft.“ 323 Es ist für den BVR somit von entscheidender Bedeutung, dass die Regionalverbände seine Konzepte und Empfehlungen unterstützen und bei Nachfragen lokaler Banken entsprechende Hilfestellungen für deren Umsetzung anbieten. Denn wo lokale Banken mit Fragen oder Problemen nicht weiterkommen, wenden Sie sie in erster Linie an ihren Regionalverband. Dies geschieht insbesondere auch auf operativer Ebene. So führte ein Bankmitarbeiter an: „Wenn wir gewisse Fragen haben, über was ganz Spezielles, und wir wissen nicht weiter, dann wenden wir uns an [unseren Regionalverband] und klären das vor Ort ab, um auf der sicheren Seite zu sein.“324 Damit erweist sich die letzte Interventionspraktik insbesondere deshalb als wirkmächtig, weil sie Konzepte und Ideen des BVR nicht der Möglichkeit der Ablehnung in formellen Entscheidungsprozessen aussetzt. Der BVR selbst bietet dem mittleren Management sowie operativen Mitarbeitern von Banken die Möglichkeiten, sich mit Fragen direkt an ihn zu wenden; und noch entscheidender gelingt es dem BVR oftmals, dass seine Konzepte und Leitfäden die Grundlage für operative Empfehlungen und Unterstützungsleistungen der Regionalverbände an ihre Mitgliedsbanken bilden. Selbst Banken, die selbst ein distanziertes Verhältnis zum BVR haben, orientieren sich auf der Basis dieser zehnten Interventionspraktik zum Teil unbewusst in ihren operativen Tätigkeiten an Ideen des BVR. So zeigt sich an dieser Stelle sehr deutlich der Mehrwert von einem prozessualen, organisationalen Legitimitätsverständnis, das Führungslegitimität über die Fähigkeit zur Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen definiert. Oftmals wird Legitimität auf der Basis der Perzeption von Anspruchsgruppen definiert (vgl. insbesondere Suchmann, 1995; S. 574). Es ist jedoch möglich, dass Führung organisationale Entscheidungsprämissen beeinflusst, ohne dass dies innerhalb der Organisation spürbar wahrgenommen wird. Es spielt jedoch nicht unbedingt eine Rolle, ob Entscheidungsprämissen kaskadenhaft die Hierarchieebenen hinuntergereicht werden und damit eine Organisation sich bewusst für die Nutzung solcher Prämissen entscheidet, oder ob operative Entscheidungsprämissen eher indirekt mitgestaltet werden, ohne dass dieser Prozess von den Organisationsmitgliedern bewusst wahrgenommen wird. Der BVR nutzt diese Überlegung vor allem in Zusammenarbeit mit den Regionalverbänden. Anstatt ausschließlich darauf zu setzen, Bankvorstände vom Nutzen verschiedener Konzepte zu überzeugen, werden Entscheidungsprämissen in den VR-Banken auch auf eine Art und Weise mitgestaltet, die primär auf die operative Unterstützung von operativem Personal und Projektgruppen in den Banken setzt. Dabei ist jedoch zu betonen, dass der BVR diese Arbeitsweise als eine Form 323 324 Int-15 Int-24 243 der Unterstützung von Banken betrachtet und auf der Basis der empirischen Beobachtungen davon auszugehen ist, dass es dem BVR nicht bewusst darum geht, die Hierarchien innerhalb der Volksbanken zu umgehen. Der beschriebene Mechanismus, Entscheidungsprämissen in VR-Banken ohne die Einbeziehung von Führung mitgestalten zu können, scheint dem BVR vielmehr über weitere Strecken nicht bewusst zu sein. Dennoch handelt es sich hierbei um eine wichtige Form der Führungsausübung des BVR. Die Legitimität des BVR ergibt sich schlussfolgernd nicht allein aus seiner Akzeptanz durch die Führungsebenen der verschiedenen Volksbanken, sondern zusätzlich auch aus der Arbeitsweise der Bankangestellten selbst. Wenn diese positive Erfahrungen mit den Konzepten des BVR gemacht haben und sich bei zukünftigen Entscheidungen wieder direkt auf dessen Konzepte – oder auf die Unterstützung von Mitarbeitern der Regionalverbände, die mit dem BVR zusammenarbeiten – stützen, kann der BVR einen Teil seiner Führungsaufgabe wahrnehmen, ohne den politisch riskanteren Weg über die Führungsetage der einzelnen Ortsbanken zu gehen. Konzepte werden also nicht in einen formalen Entscheidungsprozess eingebracht, womit sie auch keiner Gelegenheit zur Ablehnung ausgesetzt werden. 7.2 Das Zusammenspiel der legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken Als Zwischenfazit lässt sich nochmals festhalten, dass die Schilderungen des vorangegangenen Teilkapitels auf empirischen Beobachtungen aufbauen, aus denen eine spürbare Mitwirkung des BVR an Entscheidungsprämissen unterschiedlicher VR-Banken erschlossen werden konnte. Diese Mitwirkung ist dabei im Sinne einer Ko-Kreation zu verstehen: Es gelingt dem BVR wiederholt, dass VR-Banken seine Ideen, Konzepte und Anregungen nutzen und für den eigenen Kontext konkretisieren. Somit werden lokale Entscheidungsprämissen kollektiv erarbeitet. Da der BVR keine hierarchisch-organisationale Legitimation besitzt, die seinen Einfluss auf Banken formal festlegt, kann argumentiert werden, dass die Legitimität des BVR in einem ständigen Prozess kontinuierlich neu erarbeitet werden muss. Auf dieser Basis konnten gestützt auf empirische Beobachtungen und Interviews die dargestellten zehn legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken identifiziert werden. Diese leisten aus Sicht der vorliegenden Arbeit einen entscheidenden Beitrag zur kontinuierlichen Wiederherstellung der Führungslegitimität des BVR. Hierbei wird eine Handschrift der Arbeitsweise des BVR sichtbar, die der Logik des Eingangszitats zu diesem Kapitel folgt. Eine Vielzahl von Interventionspraktiken, die in sich wiederum auf unterschiedlichen Vorgehensweisen aufbauen, ermöglicht es dem BVR, sich gegenüber der heterogenen Gruppe der VR-Banken so zu 244 positionieren, dass die meisten Banken sich in irgendeiner Weise auf den BVR stützen und seine Impulse in die Entstehung ihrer Entscheidungsprämissen einbezogen werden. Indem er „Vieles bringt“, bringt der BVR den meisten VRBanken etwas. Eine zusammenfassende Übersicht über die verschiedenen Interventionspraktiken bietet die nachfolgende Tabelle. Dabei wird in der letzten Spalte nochmals ein grober Überblick gegeben, wie die Interventionspraktiken es dem BVR wiederholt ermöglichen, dass seine Ideen und Konzepte einen Beitrag zur Gestaltung von Entscheidungsprämissen der lokalen Beiträge leisten können. Interventionspraktik Beschreibung Beteiligung des BVR an der Gestaltung lokaler Entscheidungsprämissen 1. Betonung der lokalen Autonomie aller Volks- und Raiffeisenbanken Der BVR betont in seinen Interaktionen mit Banken deren Unabhängigkeit und Autonomie. Strategische Konzepte werden stets als Vorschläge positioniert, die die Banken nach ihrem eigenen Ermessen nutzen können. - Basis für den Erfolg der übrigen Interventionspraktiken wird gelegt. - Banken sind eher dazu geneigt, Vorschläge des BVR anzunehmen, wenn sie in ihrer Autonomie bestärkt werden. - Bewusste Freiwilligkeit kann erhöhtes Engagement erzeugen. - Stärkt internes Rollenverständnis; BVR-Mitarbeitern ist bewusst, dass sie Banken von Ideen überzeugen müssen. 2. Aktive Involvierung von lokalen Banken, Verbänden und Verbundunternehmen 3. Gezielte Nutzung von RessourcenLimitationen auf der Seite der VRBanken Gemäß genossenschaftl. Werte bezieht der BVR Banken und Verbände im Rahmen der Fachräte und diverser Projektgruppen aktiv in Entscheidungsprozesse ein. Die einzelnen VR-Banken verfügen nicht über die Ressourcen, um auf sich allein gestellt im komplexen Bankgeschäft bestehen zu können. Eine partielle Kollaboration ist unumgänglich. 4. Steigerung und Bearbeitung von Unsicherheiten Der BVR scheut sich nicht, mit Unsicherheit behaftete Themenbereiche zu betonen. Initiativen und Konzepte konzentrieren sich oft auf diese Bereiche. 5. Bereitstellung eines breiten Portfolios modular Der BVR offeriert Banken eine breite Auswahl von Konzepten, Leitfäden und - Ideen des BVR werden stärker auf die Bedürfnisse der Banken abgestimmt. - Ideen, die unter eigener Beteiligung oder unter Beteiligung von Kollegen entstanden sind, stoßen auf höhere Akzeptanz. - Involvierte Banken und insbesondere Verbände werden oft zu Multiplikatoren. - Wo Banken keine eigenen Ressourcen zur Verfügung stehen, kann der BVR entlastend wirken. - Entscheidungsprämissen der Banken sind hier weniger tief verankert; es besteht eine gesteigerte Möglichkeit für den BVR, an ihrer Erarbeitung mitwirken zu können ohne auf Widerstände zu treffen. - Vorhandene Unsicherheiten legen nahe, dass bestehende Entscheidungsprämissen diese nicht ausreichend absorbieren. - Banken sind am ehesten dort bereit, externe Unterstützung zu berücksichtigen, wo sie sich bezüglich ihrer eigenen Kompetenzen unsicher sind. - Unterstützung des BVR ist je nach Bank in unterschiedlichen Bereichen willkommen. - Jede Bank hat lokale Bedürfnisse und eine 245 aufgebauter strategischer Konzepte und Methoden 6. Unterstützung strategischer Konzepte durch praktische Werkzeuge Initiativen. Ein modularer Aufbau ermöglicht meist die Umsetzung einzelner Teile und Anpassungen an lokale Bedürfnisse. Konzepte und Ideen des BVR werden in der Regel durch leicht einsetzbare Werkzeuge unterstützt. Hierzu zählen Projektpläne, Software, Marketingmaterialien, Monitoring-Werkzeuge etc. 7. Erleichterung der jährlichen Auditing Prozesse Banken sind zur Durchführung jährlicher Auditierungen verpflichtet. Der BVR erarbeitet Konzepte auf der Basis der aktuellen Gesetzeslage und stimmt sich mit den Prüfgesellschaften ab. 8. Förderung von Wissensaustausch und kollektiver Meinungsbildung zwischen den VRBanken Der BVR unterstützt regelmäßig die Entstehung lokaler, regionaler oder nationaler Gruppen zum Austausch von Wissen zwischen Banken. 9. Nutzung sozialer Mobilisierung der VR-Banken untereinander 10. Kommunikation jenseits der formalen BankHierarchien Benchmarkings und Kennzahlen des BVR ermöglichen einen ständigen PerformanceVergleich zwischen den Banken. Der BVR nutzt in Zusammenarbeit mit regionalen Verbänden die Möglichkeit, Bankmitarbeitern direkte Unterstützung für operative Fragen anzubieten. individuelle strategische Ausgangsposition. - Das beschriebene Vorgehen ermöglicht es dem BVR, bei einer Vielzahl von Banken auf jeweils unterschiedliche Entscheidungsprämissen einzuwirken. - Werkzeuge erleichtern die Umsetzung von Konzepten und steigern deren Anschlussfähigkeit. - Attraktive Werkzeuge können dazu führen, dass Banken BVR-Ideen erwägen. - Werkzeuge stammen oft von Verbänden oder Verbundpartnern. Diese fördern die Verbreitung zugrundeliegender Konzepte. - Nutzung von BVR-Konzepten schafft Rechtssicherheit. - Auditierungsprozesse laufen reibungslos ab, wo Banken sich auf BVR-Konzepte stützen. - Individuelle Vorgehensweisen können die Jahresprüfung erschweren. Somit ergibt sich ein zusätzlicher Anreiz für Banken, Vorschläge des BVR zu berücksichtigen. - Austauschgruppen eignen sich, um Ideen des BVR zwischen Banken zu verbreiten und damit deren Reichweite zu erhöhen. - Austauschgruppen ermöglichen ein kollektives Sensemaking der Banken; Entstehung geteilter organisationaler Wirklichkeitskonstruktionen wird gefördert. - Schaffung der Voraussetzungen für eine Reflexion und Selbsterkenntnis der Banken. - Gruppendynamiken können Handlungsbedarf für Banken aufzeigen; Unterstützung steht in Form der Angebote des BVR zur Verfügung. - Mitwirkung an der Entscheidung über Entscheidungsprämissen, ohne formale Einbeziehung der Banken-Hierarchien. - Unterstützungsangebote werden damit nicht dem Risiko der Ablehnung durch Führungsentscheidungen ausgesetzt. Tabelle 1: 10 legitimitätsstiftende Interventionspraktiken des BVR Wichtig ist zu beachten, dass die vorgestellten Interventionspraktiken nicht für sich als isolierte Prozesse zu betrachten sind, sondern dass sie es dem BVR erst in ihrem Zusammenspiel ermöglichen, seine Führungslegitimität unablässig wiederherzustellen. Dies wird bereits aus den Schilderungen zu ESPrit in Kapitel 6 246 deutlich, in denen Hinweise auf zumindest neun der zehn Praktiken gefunden werden können. Deshalb gilt es im Folgenden, die Art und das Zusammenspiel der verschiedenen Interventionspraktiken noch eingehender herauszuarbeiten. Hierzu wurden die Interventionspraktiken in einem Diskurs des Forscherteams325 anhand verschiedener Kriterien gruppiert. Wie in Kapitel 7.2.1 gezeigt wird, lassen sich die Interventionspraktiken zum einen danach unterscheiden, ob sie eher günstige Bedingungen für zukünftige Interventionen schaffen, oder ob sie darauf abzielen, Unterschiede zu kreieren. Anschließend wird die Frage gestellt, wie die jeweilige Interaktion zwischen BVR und den Banken stattfindet. In Kapitel 7.2.2 wird beschrieben, dass sich insbesondere zwischen indirekter und direkter Kommunikation unterscheiden lässt. Abschließend wird analysiert, was kommuniziert wird, bzw. welchem thematischen Schwerpunkt unterschiedliche Interventionspraktiken folgen. Wie in Kapitel 7.2.3 dargestellt, setzt der BVR neben der Kommunikation von Inhalten auch auf die Mitgestaltung der Beziehungsarchitektur innerhalb der VR-Gruppe und insbesondere der Relationen zwischen den einzelnen VR-Banken. Zusammengenommen erlauben diese eingeführten Unterscheidungen zwischen den Interventionspraktiken ein umfassenderes Verständnis für deren Zusammenspiel bei der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität. 7.2.1 Förderung von Kooperation und Einführung von Unterschieden Wie beschrieben, unterstützen die identifizierten Interventionspraktiken den BVR bei der kontinuierlichen Wiederherstellung seiner Führungslegitimität, indem sie es ihm ermöglichen, bei der Gestaltung von Entscheidungsprämissen in den einzelnen VRBanken mitzuwirken. Eine genauere Betrachtung zeigt hierbei, dass die jeweils beobachteten Auswirkungen der Interventionspraktiken sich grob in zwei Kategorien einteilen lassen: die Förderung von Kooperation und die Einführung von Unterschieden. Interventionspraktiken der ersten Kategorie konzentrieren sich vermehrt darauf, eine Atmosphäre und Basis der Zusammenarbeit des BVR mit den einzelnen VR-Banken zu schaffen. Somit wird der Boden für die Interventionspraktiken bereitetet, die stärker auf die Einführung von Unterschieden abzielen. Diese zweite Kategorie von Interventionspraktiken ist in ihrer Formulierung angelehnt an Bateson (1983), der Information definiert als „Unterschied, der einen Unterschied macht“ (S. 582). 325 Vgl. Kapitel 4 247 In ähnlicher Weise kann legitime Führung im hier beschriebenen Kontext als die Einführung von Unterschieden beschrieben werden, die einen Unterschied für die jeweils genutzten organisationalen Entscheidungsprämissen machen. Diese Formulierung vermeidet es, auf mechanistische Begriffe wie „Implementierung“ oder „Umsetzung“ zurückgreifen zu müssen. Vielmehr wird das Vorgehen des BVR besser beschrieben als die Einführung von Unterschieden in VR-Banken, wobei dann das Verhalten der einzelnen VR-Banken entscheidet, ob diese Unterschiede für ihre Entscheidungsprämissen tatsächlich einen Unterschied machen. Zusammengefasst lässt sich somit sagen, dass ein Teil der Interventionspraktiken des BVR darauf abzielt, eine fruchtbare Kooperationsbasis mit den VR-Banken zu erarbeiten, während andere Interventionspraktiken die Einführung von Unterschieden in Bankenkontexte bewirken, die einen Einfluss auf deren Entscheidungsprämissen ausüben können. Eine Übersicht über die Unterteilung der Interventionspraktiken bezüglich ihrer organisationalen Auswirkungen in die zwei genannten Kategorien lässt sich der Abbildung 5 entnehmen: Abbildung 5: Auswirkungen der verschiedenen Interventionspraktiken Es soll nun für jede der zehn Interventionspraktiken etwas eingehender beschrieben werden, wie ihre Einteilung in die obenstehende Grafik zu interpretieren ist. Wichtig ist dabei erneut zu beachten, dass die Einteilung aus der Perspektive der forschenden Beobachter erfolgte und es sich nicht um eine bereits bestehende Unterscheidung handelt, die innerhalb der VR-Organisation verwendet wird. Die Gruppierung der Interventionspraktiken auf der Basis der Kriterien in diesem und den beiden folgenden Teilkapiteln ermöglicht es jedoch, ein besseres Verständnis für die einzelnen Interventionspraktiken sowie für deren Zusammenspiel zu erarbeiten und damit noch präziser aufzuzeigen, wie es dem BVR gelingt, seine Führungslegitimität kontinuierlich wiederherzustellen. 248 Interventionspraktiken 1-4: Förderung von Kooperation Die Gruppe der Interventionspraktiken, die auf eine Förderung von Kooperation abzielen, beginnt mit der regelmäßigen Betonung der lokalen Autonomie aller Banken und VR-Organisationseinheiten durch den BVR. Diese formale Anerkennung von Autonomie kann dazu beitragen, dass Banken offener auf Interventionen des BVR reagieren. Ebenso hilft die aktive Involvierung von Banken, Verbänden und Verbundunternehmen dabei, dass später eingeführte Unterschiede eher auf Akzeptanz stoßen, weil sie auf Anregungen und Impulsen dieser unterschiedlichen VR-Organisationseinheiten basieren. Die Nutzung von Ressourcen-Limitationen und der Fokus des BVR auf Unsicherheiten innerhalb der Banken ist eine weitere Form der Intervention, die auf die Förderung von Kooperation abzielt. Es geht an dieser Stelle noch nicht um konkrete Konzepte und Werkzeuge, sondern um die generelle Ausrichtung der Arbeit des BVR sowie die Setzung von Arbeitsschwerpunkten, bevor solche Konzepte erarbeitet werden. Durch die Konzentration auf Bereiche, in denen Unsicherheiten und Ressourcen-Limitationen in Banken vermutet werden, kann erreicht werden, dass Banken später eher dazu gewillt sind, resultierende Vorschläge und Leitfäden des BVR zu nutzen oder zumindest eine partielle Nutzung zu erwägen. Interventionspraktiken 5 und 7: Förderung von Kooperation und Einführung von Unterschieden Die fünfte beschriebene Interventionspraktik liegt auf beiden Seiten der hier getroffenen Unterscheidung. Zum einen lässt sich die Arbeitsweise des BVR mit einem breiten Portfolio modular aufgebauter Konzepte als eine Intervention zur Förderung von Kooperation betrachten. Erst ein solch breites Portfolio ermöglicht es, auf die heterogenen Bedürfnisse der einzelnen VR-Banken einzugehen und somit deren Bereitschaft zur Kooperation zu fördern. Auf der anderen Seite sind die Konzepte an sich bereits Interventionen, die klar darauf abzielen, Unterschiede bei den Rezipienten einzuführen. Ähnlich verhält es sich mit der siebten Interventionspraktik. Hier gibt es zum einen eine klar auf die Erzeugung von Unterschieden abgestimmte Komponente. Rechtliche Empfehlungen und Leitfäden des BVR werden an Banken versendet, damit diese ihr Verhalten an diesen orientieren können und rechtliche Anforderungen umsetzen. Auf der anderen Seite handelt es sich bei dieser Interventionspraktik auch um ein allgemeines Vorgehen, das sich durch die gesamte Arbeit des BVR zieht und auf die Förderung von Kooperation abzielt. Banken können davon ausgehen, dass alle Empfehlungen, Werkzeuge und Konzepte des BVR auf die aktuelle Rechtslage abgestimmt sind und somit den jährlichen Audits standhalten, respektive den Auditierungsprozess erleichtern. Dieser Umstand fördert die allgemeine Neigung der 249 Banken, Vorschläge des BVR kooperationsfördernd zu betrachten. zu berücksichtigen und ist darum als Interventionspraktiken 6, 8, 9 und 10: Einführung von Unterschieden Die verbleibenden vier Interventionspraktiken zielen hingegen eindeutig auf die Einführung von Unterschieden, nicht mehr vornehmlich auf den Aufbau einer Kooperationsbasis zwischen dem BVR und den VR-Banken ab. Hierbei ist zuvorderst die sechste Interventionspraktik zu nennen. Der BVR erarbeitet im Rahmen seiner Konzepte praktische Werkzeuge, die die Umsetzung dieser Konzepte erleichtern sollen und eine Orientierung der Banken an den Vorschlägen des BVR fördert. Ebenso geht es bei der zehnten Interventionspraktik um die direkte Einführung von Unterschieden in die Banken, in Form von Empfehlungen und Ratschlägen, die direkt auf Sachbearbeiter- und mittlerer Managementebene erteilt werden – oftmals in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regionalverbänden. Erklärungsbedürftig ist insbesondere die Einordnung der achten Interventionspraktik, da hier die Kooperation der Banken durch die Förderung von WissensaustauschPlattformen gestärkt wird. Es geht hierbei jedoch nicht um den Aufbau einer Kooperationsbasis zwischen BVR und Banken. Vielmehr ist es das Ziel des BVR im Rahmen dieser Interventionspraktik Unterschiede in die Banken einzuführen, die auf einer ersten Ebene deren Kooperationsverhalten mit anderen Banken beeinflussen können und, darauf aufbauend, auf einer zweiten Ebene die Arbeitsweise der Banken durch die Impulse aus den Austauschbeziehungen verändern können. Auch die neunte Interventionspraktik setzt auf die Einführung von Unterschieden: Die Mobilisierung der Banken untereinander wird mit Benchmarks und Kennzahlenvergleichen stimuliert. Gemein ist beiden Interventionspraktiken, dass der BVR nicht steuern kann, welche Impulse letztlich für die einzelnen VR-Banken generiert werden. Es geht somit nicht darum, durch die Einführung klar definierter Unterschiede konkrete inhaltliche Veränderungen zu bewirken. Die eingeführten Unterschiede liegen in der Bereitstellung von Lernchancen und sozialen Mobilisierungsimpulsen, deren finale Auswirkungen sich dem Einfluss und der Kenntnis des BVR entziehen. Fazit Die aufgeworfene Unterscheidung zwischen der Förderung von Kooperation und der Einführung von Unterschieden ermöglicht verschiedene Erkenntnisgewinne in Bezug auf die Betrachtung der identifizierten Interventionspraktiken. Zum einen zeigt sich, wenig überraschend, dass Führungslegitimität im vorliegenden Fall nicht allein dadurch gewonnen wird, dass der BVR versucht, konkrete Veränderungen zu bewirken. Vielmehr ist er in einem ersten Schritt sehr stark darum bemüht, 250 Kooperation aufzubauen. Auffallend ist hierbei, dass die Hälfte der beschriebenen Interventionspraktiken tendenziell dieser unterstützenden Kategorie zugeschrieben werden kann. Hieraus lässt sich auch erschließen, dass Führungslegitimität nicht allein vom Inhalt von Führungsentscheidungen (Was?) abhängt, sondern der Prozess der kollektiven Entscheidungsfindung (Wie?) eine entscheidende Rolle bei der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität spielt. Wie dargestellt, sind die Entscheidungsprozesse des BVR von einem hohen Respekt gegenüber der Eigenständigkeit aller VR-Organisationen sowie von einer ständigen Partizipation diverser Anspruchsgruppen geprägt. Darüber hinaus hat der BVR eine Arbeitsweise und ein Gespür für die Setzung von Arbeitsschwerpunkten entwickelt, die dafür sorgen, dass die sich anschließenden Interventionen eine deutlich erhöhte Akzeptanzchance innerhalb der Banken genießen. Zum anderen ist jedoch auch die Einführung von Unterschieden innerhalb der Organisation entscheidend, damit Führung tatsächlich einen Unterschied machen kann und somit ihre Führungsrolle legitimieren kann. Auch hierbei kommt es stark darauf an, wie diese Unterschiede erzeugt werden. Es stellte sich im vorliegenden Fall als eine wichtige Strategie des BVR heraus, auch zur Einführung von Unterschieden auf verschiedene Formen von Interventionen zu setzen. Unterschiede werden zum einen durch konkrete Empfehlungen, Werkzeuge, Konzepte und Leitfäden erzeugt. Zum anderen bieten die Interventionspraktiken 8 und 9 dem BVR jedoch die Möglichkeiten, Unterschiede über lose, nicht näher spezifizierte Impulse zu generieren. Auf diese Weise können zusätzliche Banken erreicht werden, bzw. besteht zum Teil die Möglichkeit, Banken in Bereichen zu erreichen, in denen sie direkten BVR-Interventionen skeptisch gegenüberstehen. Damit nutzt der BVR die Möglichkeit, in unterschiedlicher Weise zur Ko-Kreation lokaler Entscheidungsprämissen in VR-Banken beitragen zu können und auf diese Weise seinen Führungsanspruch zu legitimieren. 7.2.2 Direkte und indirekte Kommunikation Nachdem die verschiedenen Interventionspraktiken gemäß ihrer Auswirkung unterschieden wurden, soll nun eine zweite Unterscheidung eingeführt werden. Es soll danach gefragt werden, wie von Seiten des BVR kommuniziert wird, bzw. nach der Art der Kommunikation. Hierbei lässt sich zwischen direkter und indirekter Kommunikation unterscheiden. Auch diese Unterscheidung ist aus der Perspektive der Beobachter, also des Forscherteams 326 , zu verstehen. Unter direkter Kommunikation wird verstanden, wenn der Kern einer Interventionspraktik selbst zum Teil der Kommunikation 326 Vgl. Kapitel 4.3.1 251 zwischen BVR und VR-Banken wird. Damit werden bei der direkten Kommunikation das Kalkül und die Zielsetzung einer Interventionspraktik für die Beteiligten deutlich sichtbar. Von indirekter Kommunikation wird hingegen dann gesprochen, wenn in der Kommunikationsbeziehung zwischen BVR und VR-Banken das zentrale Anliegen einer Interventionspraxis nicht selbst thematisiert wird, sondern es lediglich aus der Kommunikation erschlossen werden kann. Die Form der indirekten Kommunikation darf dabei jedoch nicht als ein Versuch von Seiten des BVR gewertet werden, Banken verdeckt und ohne deren Wissen zu beeinflussen. Wie aus den nachfolgenden Beschreibungen hervorgeht, ist die Kommunikation oft deshalb schon indirekt, weil der Kern der Interventionspraktiken keinem der Beteiligten bewusst ist. Es handelt sich hierbei um Praktiken, die sich im Laufe der VROrganisationsgeschichte herausentwickelt haben und deren Wirkungsweise in vielen Fällen auch innerhalb des BVR nicht thematisiert wird. Die Einteilung der zehn Interventionspraktiken anhand dieser Unterscheidung ist in Abbildung 6 abgebildet. Abbildung 6: Art der Kommunikation Interventionspraktiken 1, 2, 6 und 8: Direkte Kommunikation Bei vier Interventionspraktiken ist die Art der Kommunikation als sehr direkt zu bezeichnen. So wird im Rahmen der ersten beiden Interventionspraktiken in der Kommunikation deutlich betont, wie die Kooperation zwischen Banken und BVR gefördert wird. Die Autonomie der Banken wird regelmäßig offen angesprochen und als ein Grundpfeiler der Zusammenarbeit innerhalb der VR-Organisation akzentuiert. Der BVR hebt damit hervor, dass sein Rollenverständnis im Einklang mit dem 252 zentralen genossenschaftlichen Wert der Subsidiarität steht und nimmt Banken aktiv die Sorge einer zu umfassenden Einmischung des BVR in ihre Angelegenheiten. Ähnlich verhält es sich bei der zweiten Interventionspraktik. Es konnte wiederholt beobachtet werden, dass im Zusammenhang mit Konzepten und Vorschlägen des BVR darauf hingewiesen wird, dass diese unter Beteiligung, Mitwirkung und Zustimmung von diversen Vertretern der VR-Organisation, insbesondere auch von Bankvertretern, zustande gekommen sind. Mitarbeiter des BVR nutzten dieses Argument gegenüber den VR-Banken sowie gegenüber anderen VROrganisationseinheiten, um zu betonen, dass die Arbeit des BVR eng mit Vertretern aus der VR-Organisation abgestimmt und damit an den Bedürfnissen der VR-Banken orientiert ist. Dies ist ein zentrales Verkaufsargument, weil es zum einen dem Selbstverständnis der autonomen VR-Organisationseinheiten entspricht, bei wichtigen Entscheidungen ein Mitspracherecht zu besitzen, und weil zum anderen die Struktur der VR-Organisation eine Durchsetzung von BVR-Vorschlägen unmöglich macht, wenn diese nicht deren Bedürfnisse treffen. Somit wird die aktive Involvierung von Bankenvertretern immer wieder offen betont, um die Kooperationsbereitschaft von Banken sowie von anderen VR-Organisationseinheiten gegenüber dem BVR zu erhöhen, resp. die Akzeptanz seiner Arbeit zu steigern. Auch bei der Einführung von Unterschieden greift der BVR zum Teil auf sehr direkte Kommunikationsformen zurück. So wird im Zusammenhang mit den entworfenen Werkzeugen deutlich kommuniziert, dass diese dazu dienen, Konzepte des BVR zu konkretisieren und deren Umsetzung in Banken zu erleichtern und zu fördern. Und auch bei der Vernetzung der Banken im Rahmen von Projekten oder Austauschplattformen wird vonseiten des BVR unmissverständlich klargestellt, dass es ihm ein Anliegen ist, den Wissensaustausch zwischen den einzelnen VR-Banken zu fördern. Somit handelt es sich hier jeweils um direkte Formen der Kommunikation, in denen das Kalkül hinter den Interventionspraktiken für alle Beteiligten offen erkennbar ist und somit auch jeweils einer Entscheidung über deren Annahme oder Ablehnung ausgesetzt ist. Interventionspraktiken 3-5, 7, 9 und 10: Indirekte Kommunikation Die Mehrheit der Interventionspraktiken kann der Kategorie indirekter Kommunikation zugeordnet werden. So stehen die Interventionspraktiken 3 und 4 wie beschrieben für eine Arbeitsweise des BVR, mit der ein fruchtbarer Boden für die Zusammenarbeit zwischen BVR und VR-Banken geschaffen wird, indem der BVR sich vornehmlich auf Bereiche konzentriert, die für Banken durch Unsicherheiten oder mangelnde eigene Ressourcen gekennzeichnet sind. Dieses Kalkül wird jedoch in aller Regel nicht offen in die Kommunikation eingebracht. Zwar wird teilweise davon gesprochen, dass Banken durch die Arbeit des BVR unterstützt oder entlastet werden; die sehr wertschätzende Kommunikation zwischen BVR und VR-Banken 253 vermeidet jedoch direkte Hinweise auf unzureichende Ressourcen oder vermutete Unsicherheiten innerhalb von Banken. Gerade vom Begriff der Unsicherheit wird auch innerhalb des BVRs meist nicht gesprochen. Üblich ist, dass bei der Konzeption und Ausarbeitung von Vorschlägen oder Konzepten darauf verwiesen wird, dass Banken in gewissen Bereichen häufig nach Unterstützung fragen, oder Konzepte des BVR wünschen. Der Umstand, dass dahinter Unsicherheiten auf der Seite der Banken stehen, wird in der Regel nicht thematisiert. Ähnlich verhält es sich auch mit dem breiten Angebot unterschiedlicher strategischer Konzepte des BVR. Zwar werden diese gegenüber den Banken beworben und es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der BVR Unterstützungsangebote in sehr unterschiedlichen Bereichen anbietet; dem BVR selbst ist jedoch die große Anzahl unterschiedlicher Konzepte zuweilen suspekt. So war eine der wichtigen Überlegungen des ESPrit Konzepts, dass innerhalb der Banken-Workshops mit bestehenden BVR-Konzepten gearbeitet werden sollte, weil der BVR bereits eine Vielzahl dieser Konzepte erarbeitet habe, diese jedoch teilweise nur wenig genutzt würden. Somit lässt sich im BVR ein gewisses ambivalentes Verhältnis gegenüber der Konzeptvielfalt feststellen. Auf der einen Seite besteht der Wunsch, wenige zentrale strategische Konzepte zu definieren, an denen sich eine Vielzahl von Banken orientiert. Die Vorstellung, dass jede Bank an völlig anderen Themen arbeitet, widerspricht zu einem gewissen Grad auch der integrierenden Rolle des BVR. Auf der anderen Seite besteht das Bewusstsein, dass auf die Heterogenität der VR-Banken eingegangen werden muss und dass sich die Arbeit mit einer Vielzahl unterschiedlicher strategischer Konzepte über weite Teile bewährt hat. In gewisser Weise handelt es sich hierbei jedoch auch um eine emergent entstandene Arbeitsweise, die sich im Laufe der Geschichte der VR-Organisation entwickelt hat, so dass das Vorgehen mit seinen Vor- und Nachteilen in der Regel auch nicht in Frage gestellt wird. In jedem Fall wird in der Kommunikation zwischen Banken und dem BVR nicht darauf verwiesen, dass die Vielzahl der strategischen Konzepte vor allem deshalb wichtig für die Arbeit des BVR ist, weil es keine Möglichkeit gibt, die Banken dazu zu motivieren, sich alle gemeinsam auf ein paar wenige Konzepte einzulassen. Bei den Interventionspraktiken 7 und 9 konnte relativ deutlich beobachtet werden, dass der BVR sich den beschriebenen Mechanismen bewusst ist, und diese gezielt einsetzt. Es wird aktiv darauf gesetzt, dass die Prüfungskonformität aller BVRKonzepte deren Attraktivität erhöht und dass in Austauschgruppen auf der Basis von Benchmarks und Vergleichszahlen eine gewisse soziale Mobilisierung der Banken untereinander erfolgt. Für beide Interventionspraktiken gilt jedoch, dass es nicht nötig und unter Umständen den Zielen des BVR sogar abträglich ist, das ihnen zugrundeliegende Kalkül in die Kommunikation mit den Banken einzubringen. Demzufolge spricht der BVR zwar zum Teil von der Rechtskonformität seiner Konzepte und von Impulsen, die die Banken sich untereinander geben könnten, aber es wird nicht aktiv kommuniziert, wie die beschriebenen Interventionspraktiken dazu 254 beitragen können, dass der BVR inhaltliche Veränderungen innerhalb der VRGruppe anstoßen kann. Die letzte der indirekten Interventionspraktiken ist die Kommunikation jenseits der formalen Hierarchien von VR-Banken. Hier ist es wichtig zu betonen, dass der BVR nicht deshalb eine direkte Kommunikation des Wirkmechanismus dieser Interventionspraktik vermeidet, um Banken ohne deren Wissen beeinflussen zu können. Vielmehr sieht der BVR seine Rolle als Dienstleister darin, den lokalen VRBanken in Zusammenarbeit mit den Regionalverbänden Ansprechpunkte für konkrete Sachfragen zu bieten. Dass auf diese Weise im Rahmen der 10. Interventionspraktik kontinuierlich Empfehlungen von BVR und Regionalverbänden jenseits der formalen Hierarchien in die VR-Banken eingebracht werden, ist – soweit sich dies aus den Forschungsbeobachtungen erschließen lässt – kein bewusstes Interventionsvorgehen. Es handelt sich hierbei lediglich um eine externe Beschreibung der Arbeitsweise des BVR aus der Perspektive des Forscherteams. Da diese Form der Kontribution des BVR zu den lokalen Entscheidungsprämissen von VR-Banken somit eher unbewusst abläuft, ist die 10. Interventionspraktik ebenfalls dem Typ der indirekten Kommunikation zuzurechnen. Fazit Durch den Beobachtungsfokus auf die Art der Kommunikation zwischen BVR und VR-Banken in Bezug auf die verschiedenen Interventionspraktiken lässt sich erneut eine wichtige Unterscheidung treffen. Es kann gezeigt werden, dass die legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken des BVR auf eine Kombination direkter und indirekter Kommunikation gründen. Dabei mutet es keineswegs überraschend an, dass der Anteil der Praktiken indirekter Kommunikation überwiegt. Das sensible heterarchische Gebilde der VR-Organisation scheint es zu erfordern, dass zu direkte Interventionen in vielen Fällen vermieden werden. Die identifizierten indirekten Interventionspraktiken zeigen, auf welch unterschiedliche Weise dies dem BVR immer wieder gelingt. Dabei wurde festgestellt, dass die Kalküle hinter den Interventionspraktiken oft auch innerhalb des BVR nicht Bestandteil der Kommunikation sind und auch in Interviewsituationen nicht erwähnt wurden. Hieraus lässt sich schließen, dass sich einige der charakteristischen Interventionspraktiken des BVR in der Organisationsgeschichte der VR-Gruppe entwickelt haben, ohne dass die Wirkungszusammenhänge den beteiligten Akteuren zu jedem Zeitpunkt bekannt sind. Auf diese Weise bleiben einige der Einflussmöglichkeiten, die der BVR auf die Entscheidungsprämissen der VRBanken besitzt, im Verborgenen. Dies lässt sich durchaus als ein Vorteil für die Führungslegitimität des BVR interpretieren. Banken orientieren sich in vielen Fällen stärker an den Vorgaben und Empfehlungen des BVR, als es ihnen bewusst ist. Auf diese Weise wird die Gefahr gemindert, dass Banken sich in einem für sie 255 unvertretbaren Maße als vom BVR abhängig empfinden und sich aus diesem Grund vor weiteren Anregungen von zentraler Stelle verschließen. Dennoch spielen auch einige Interventionspraktiken eine bedeutsame Rolle, die deutlich auf direkte Formen der Kommunikation setzen. Die Vorteile dieser direkten Interventionspraktiken mögen zum einen in ihrer Effizienz liegen. Wo es nicht nötig ist, auf direkte Kommunikation zu verzichten, kann diese einfacher und effizienter sein. So ist es ein probates Mittel des BVR, immer wieder direkt darauf hinzuweisen, dass Vertreter von Banken und VR-Organisationen an wichtigen Entscheidungsfindungen beteiligt werden. Auch im Bereich des Wissensaustauschs kann die Förderung von Austauschplattformen sehr direkt betrieben werden, da die meisten Banken ohnehin eine gewisse Zusammenarbeit innerhalb der VR-Gruppe unterstützen. Zum anderen ist davon auszugehen, dass ein gewisser Anteil an direkter Kommunikation für den BVR auch deshalb wichtig ist, damit für die Banken deutlicher ersichtlich wird, welchen Beitrag der BVR zum Gruppenerfolg leistet. Zwar liegt Führungslegitimität gemäß der Definition dieser Arbeit immer dann vor, wenn Führung zur Generierung von organisationalen Entscheidungsprämissen beiträgt – und dies unabhängig davon, ob andere Organisationsmitglieder sich dessen bewusst sind. Wenn jedoch das Wirken einer Führungsinstanz wie des BVR ausschließlich mittels indirekter Kommunikation erfolgt, besteht das Risiko, dass dieser Führungsinstanz mit der Zeit von anderen Organisationsmitgliedern ihre Berechtigung abgesprochen wird. Auf diese Weise kann die Fähigkeit zur Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen abnehmen. Dies kann im vorliegenden Fall zum Beispiel durch die Interventionspraktik 6 umgangen werden. Die meisten VR-Banken nutzen diverse Werkzeuge des BVR, wie Umfrageinstrumente, Marketingmaterialien, etc. Hier wird für die Banken ein direkter Mehrwert der Arbeit des BVR spürbar, was dem BVR den Freiraum verschafft, ebenfalls mit Interventionspraktiken zu arbeiten, deren Einfluss für die VR-Banken weniger direkt spürbar oder nachvollziehbar ist. 7.2.3 Inhaltsbezogene und beziehungsorientierte Kommunikation Nachdem im letzten Abschnitt differenziert wurde, wie von Seiten des BVR mit den Banken kommuniziert wird, soll in diesem Abschnitt eine Unterscheidung bezüglich des Fokus der Kommunikation (Was?) getroffen werden. Es kann nachvollzogen werden, dass die Interventionspraktiken sich aufteilen in eher inhaltsbezogene Kommunikation auf der einen Seite und vornehmlich beziehungsorientierte Kommunikation auf der anderen Seite (vgl. Abbildung 7). Erstere Interventionspraktiken zeichnen sich durch ihren Fokus auf Sachthemen aus, 256 während letztere sich auf die Beziehungsarchitektur innerhalb der VR-Gruppe konzentrieren. Abbildung 7: Fokus der Kommunikation Interventionspraktiken 4-7 und 10: Inhaltsbezogene Kommunikation Die vierte Interventionspraktik beschreibt die Arbeitsweise des BVR, sich tendenziell auf Gebiete zu konzentrieren, in denen Banken mit Unsicherheiten zu kämpfen haben. Diesen Unsicherheiten begegnet der BVR in der Regel durch inhaltliche Vorschläge in Formen von Konzepten oder Leitfäden. Ähnlich verhält es sich auch bei der siebten Interventionspraktik: Ob die Unterstützung des BVR in Form von Leitfäden für konkrete Gesetzesänderungen oder in der allgemeinen prüfungskonformen Ausgestaltung von strategischen Konzepten liegt, der Fokus liegt auf inhaltlicher Kommunikation. Auch die strategischen Konzepte und die praktischen Werkzeuge des BVR sind deutlich inhaltlich ausgerichtet. Es geht stets um konkrete Vorschläge und Anregungen zu klar abgegrenzten Themengebieten. Ebenso ist die zehnte Interventionspraxis der inhaltlichen Kommunikation zuzuordnen. Die Möglichkeiten der Mitarbeiter von VR-Banken, sich an Ansprechpartner des BVR oder des zuständigen Regionalverbandes zu wenden, werden vornehmlich für die Klärung von Sachfragen genutzt, insbesondere wenn es um Spezialfälle oder gesetzliche Neuregelungen geht. Somit dienen die genannten fünf Interventionspraktiken dem BVR in klassischer Weise dazu, mittels inhaltlicher Kommunikation an der KoKreation von Entscheidungsprämissen mitzuwirken. 257 Interventionspraktiken 1-3, 8 und 9: Beziehungsorientierte Kommunikation Neben der beschriebenen inhaltlichen Einflussnahme, ist ein wichtiger Bestandteil der Führungsaufgabe des BVR auch die Mitgestaltung der Beziehungsarchitektur innerhalb der VR-Organisation. Mittels verschiedener Interventionspraktiken trägt der BVR zu Entscheidungsprämissen bei, die die Zusammenarbeit der verschiedenen VR-Organisationseinheiten beeinflussen. Bei der dritten Interventionspraktik handelt es sich dabei noch um eine Mischform. Ähnlich wie bei der bereits erläuterten vierten Interventionspraktik wird der BVR in Feldern knapper Ressourcen der Banken tätig, indem er sie inhaltlich unterstützt. Dies geht jedoch so weit, dass sich oftmals auch manifeste Konsequenzen für die Beziehungsarchitektur der VR-Organisation ergeben. Denn je mehr zentrale Einheiten die Banken in Gebieten wie Lobbying, speziellen Rechtsthematiken oder Marketingkampagnen unterstützen, desto weniger besteht die Notwendigkeit für Banken, in diesen Bereichen eigene Ressourcen bereitzustellen. Somit unterhalten die meisten Banken keine Rechtsabteilungen und sind im Bereich Lobbying wenig aktiv. Auch bei der Erstellung von Marketingmaterialien stützen sich viele Banken weitgehend auf BVR und Verbundunternehmen und im Bereich nationaler Werbekampagnen liegt die Federführung mittlerweile klar beim BVR. Somit verstärkt die dritte Interventionspraktik die genossenschaftliche Arbeitsteilung und grenzt die Aufgaben der unterschiedlichen VR-Organisationseinheiten im Sinne eines shared Entrepreneurships voneinander ab. Damit handelt es sich hierbei deutlich auch um eine beziehungsorientierte Interventionspraktik. Auch die ersten beiden Interventionspraktiken sind sehr stark beziehungsorientiert. Der BVR fördert die Kooperation mit den Banken, indem mithilfe dieser Interventionspraktiken die Form der Zusammenarbeit und die gegenseitige Beziehung zwischen VR-Banken und BVR immer wieder aufs Neue verfestigt werden. Ziel ist es dabei, durch die Beteiligung von unterschiedlichen Bankenvertretern die VR-Banken so nahe wie möglich an zentralen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und auf der anderen Seite dennoch ihre Autonomie und Unabhängigkeit kontinuierlich hervorzuheben und abzusichern. Auf der Seite der Einführung von Unterschieden sind die achte und neunte Interventionspraktik als eindeutig beziehungsorientiert zu betrachten. In beiden Fällen zielt der BVR nicht darauf ab, konkrete inhaltliche Botschaften an Banken zu vermitteln. Das zentrale Anliegen dieser Interventionspraktiken ist es, dass Banken sich gegenseitig austauschen und vergleichen, damit sie auf diese Weise mögliche Entwicklungsimpulse und Verbesserungsvorschläge aufnehmen. Der BVR sucht somit, den Banken Plattformen und Vergleichsmöglichkeiten zu bieten, von denen diese jeweils nach ihrem eigenen Gutdünken Gebrauch machen können. Damit steht auch hierbei die Arbeit an einer Beziehungsarchitektur der VR-Organisation im Vordergrund, die den Banken verbesserte Entwicklungsmöglichkeiten bietet. 258 Fazit Auch die Unterscheidung der zehn Interventionspraktiken bezüglich ihres Kommunikationsfokus illustriert, dass der BVR stets unterschiedliche Arten von Vorgehensweisen nutzt, um seine Führungslegitimität wiederherzustellen. So greift er direkt auf inhaltlich orientierte Interventionspraktiken zurück, um Führung im klassischen Sinne auszuüben. Ziel ist es, den Banken inhaltliche Vorschläge zu unterbreiten, Konzepte bereitzustellen oder Empfehlungen abzugeben und hierdurch lokale Entscheidungsprämissen mitzugestalten. Diese Möglichkeiten sind jedoch im vorliegenden Organisationskontext stets gewissen Limitationen unterworfen, da die letzte Entscheidungshoheit stets bei den Banken selbst liegt. Somit kommt es regelmäßig vor, dass gewisse inhaltliche Anregungen abgelehnt werden oder einzelne Banken sich inhaltlichen Vorschlägen komplett verschließen. Deshalb komplementiert der BVR sein Vorgehen durch eine Reihe von Interventionspraktiken, die stärker auf eine beziehungsorientierte Kommunikation setzen. Diese sprechen Banken auf eine andere Weise an als die eher inhaltsorientierten Ansätze. Der Fokus der beziehungsorientierten Interventionen liegt auf der langfristigen Gestaltung der genossenschaftlichen Arbeitsteilung sowie auf der Schaffung von Entwicklungsmöglichkeiten durch den Kontakt der Banken untereinander. Da solche Interventionen inhaltlich weitgehend offen sind, kann durch sie eine extreme Bandbreite an Bedürfnissen aus unterschiedlichen Banken abgedeckt werden. Auf diese Weise erweitern sie die Wirkmöglichkeiten des BVR auf eine Breite, die mit einer ausschließlich inhaltsorientierten Kommunikation unerreichbar bleiben müsste. 7.2.4 Zusammenfassung In Kapitel 7.1 wurde dargestellt, dass der BVR seine Führungslegitimität mithilfe der Nutzung von zehn charakteristischen Interventionspraktiken kontinuierlich wiederherstellt. Es wurde argumentiert, dass erst diese Vielheit von Interventionspraktiken es dem BVR ermöglicht, an der Gestaltung von Entscheidungsprämissen in den äußerst heterogenen VR-Banken mitzuwirken. Darauf aufbauend, wurden in Kapitel 7.2 drei Unterscheidungen eingeführt, die es erlaubten, das Zusammenspiel der einzelnen Interventionspraktiken näher zu betrachten. Auf dieser Basis konnte veranschaulicht werden, dass der BVR zwar auf ein „Ragout“ unterschiedlicher Vorgehensweisen setzt, um – wie im Eingangszitat des Kapitels beschrieben – jedem etwas bieten können. Die Komponenten dieses Ragouts sind jedoch so aufeinander abgestimmt, dass sie sich gegenseitig komplementieren. Es handelt sich um eine differenzierte Mischung von 259 Interventionspraktiken in Bezug auf alle drei getroffenen Unterscheidungen. Auf diese Weise können die Interventionspraktiken in der Praxis in vielfältiger Weise miteinander kombiniert werden und sich gegenseitig ergänzen. Interessanter Weise ist dabei davon auszugehen, dass die Ausgestaltung und Kombination der unterschiedlichen Interventionspraktiken nicht immer bewusst abläuft. In einigen Fällten scheint es sich um evolutionär entwickelte Arbeitsweisen der Organisation der Deutschen Genossenschaftsbanken zu handeln, deren Entstehung zum Teil auch auf eine Zeit vor dem BVR selbst zurückgeht. In jedem Fall konnte bei der Identifikation und Benennung der 10 Interventionspraktiken nicht auf bestehende begriffliche Kategorien der VR-Organisation zurückgegriffen werden. Außerdem konnte immer wieder beobachtet werden, dass unterschiedliche Verbundunternehmen zum Teil mit ähnlichen Interventionspraktiken wie der BVR arbeiten. Anders beschrieben, verfügt der BVR somit über ein historisch gewachsenes Repertoire von sich gegenseitig ergänzenden Interventionspraktiken 327 , das er je nach Bedarf selektiv abrufen kann und die die ihm die ständige Wiederherstellung seiner Führungslegitimität ermöglichen. Dabei besteht keine fixe Ordnung, dass spezielle Interventionspraktiken stets gemeinsam oder aufeinanderfolgend einzusetzen wären. Die zehn Interventionspraktiken sind vielmehr als lose gekoppelte Handlungsmuster des BVR zu verstehen, die immer wieder in unterschiedlicher Weise aktualisiert werden können. Welche Interventionspraktiken zum Einsatz kommen und wie stark ihre Rolle im Rahmen von unterschiedlichen BVR-Projekten ist, ist dabei äußerst unterschiedlich. Als ein mögliches Beispiel kann ein kooperationsschaffendes Vorgehen die Akzeptanz für die Einführung von Unterschieden durch den BVR fördern. Inhaltsorientierte Interventionspraktiken können für sich alleine stehen und von Banken mit entsprechenden Bedürfnissen aufgegriffen werden. In anderen Fällen werden Banken jedoch eher über beziehungsorientierte Interventionspraktiken wie die Förderung von Wissensaustausch und sozialer Mobilisierung dazu angeregt, sich mit inhaltlichen Konzepten des BVR auseinanderzusetzen. Auch der indirekte Kommunikationscharakter einiger Interventionspraktiken erwies sich im beobachteten heterogenen Kontext als äußerst wirkmächtig, kann jedoch nicht für sich alleine stehen. Denn ohne die entsprechende Komplementierung durch direkte Interventionspraktiken bestünde die Gefahr, dass andere VR- 327 Die Vorstellung eines Repertoires von Interventionspraktiken steht dabei in enger Anlehnung ans die Beschreibungen von Rüegg-Stürm und Grand (2014) bezüglich eines Repertoires von Management-Praktiken in Organisationen. Hierunter verstehen die Autoren „kollektiv eingespielte Reflexions-, Kommunikations- und Handlungsmuster, die Methoden, Verfahren und Instrumente bündeln, mit deren Hilfe sich die Management-Praxis mit unternehmerischen Herausforderungen auseinandersetzten kann“ (S. 132). 260 Organisationseinheiten das Wirken des BVR zu wenig spüren würden und auf dieser Basis seine Existenzberechtigung in Zweifel ziehen könnten. Der Schlüssel zur kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität unter den anspruchsvollen Rahmenbedingungen eines stark heterarchischen Organisationskontexts liegt somit nicht in einem einzelnen, bestimmten und immer gleich bleibenden Vorgehen. Aus den empirischen Beobachtungen kann geschlossen werden, dass die entscheidende Kompetenz des BVR darin liegt, die Diversität seines Vorgehens aufrecht zu erhalten. Diese Diversität konnte insbesondere durch die Einführung der drei Unterscheidungspaare in Kapitel 7.2 veranschaulicht werden. Gleichzeitig muss der BVR darauf achten, dass in der Diversität seiner Interventionspraktiken dennoch eine hinreichende Fokussierung stattfindet, damit seine Ressourcen nicht zu breit verteilt werden, wodurch keine Wirkung mehr erzielt werden könnte. Aus diesem Grund scheint die ausgewogene und komplementäre Mischung von sich ergänzenden Interventionspraktiken von entscheidender Bedeutung. Der Erfolg der beschriebenen Arbeitsweise des BVR definiert sich dabei aus der Fähigkeit des BVR, in einem Prozess der Ko-Kreation wiederholt an der Gestaltung von Entscheidungsprämissen lokaler VR-Banken mitzuwirken. Diese Fähigkeit konnte im Rahmen der vorliegenden empirischen Arbeit deutlich beobachtet werden. Zu Beginn dieser Arbeit wurde Führungslegitimität als ein Prozess definiert, der es organisationaler Führung wiederholt erlaubt, organisationale Entscheidungsprämissen mitzugestalten. Auf dieser Basis kann die immer wieder beobachtete selektive Re-Kombination der zehn beschriebenen Interventionspraktiken durch den BVR eindeutig als legitimitätsstiftend bezeichnet werden. 261 8 Schlussbetrachtung Auf die Darstellung einer Theorie folgt heutzutage fast automatisch, jedenfalls unreflektiert die Frage: Was nützt das in der Praxis? - Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung 328 Auch wenn Luhmann zu Recht darauf hinweist, dass es keine zwangsläufige Begründung gibt, den Wert theoretischer Überlegungen allein aus ihrem Nutzen für die Praxis zu bestimmen, möchte sich die vorliegende Arbeit dieser Frage nicht verschließen. Deshalb soll in diesem abschließenden Kapitel im Detail beschrieben werden, welche Beiträge die vorangegangen Überlegungen sowohl zur betriebswirtschaftlichen Forschungspraxis als auch zur unternehmerischen Praxis leisten können. Darüber hinaus sollen mögliche Ansatzpunkte für weitere Forschungsthemen in Bezug auf Führungslegitimität diskutiert werden, die auf der vorliegenden Arbeit aufbauen können. Forschungsbeiträge zur betriebswirtschaftlichen Theorie Bereits der Titel der Arbeit weist mit der Betonung der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität darauf hin, dass der Kern dieser Arbeit in einer Prozessperspektive auf das Phänomen der Führungslegitimität liegt. Die skizzierte betriebswirtschaftliche Debatte im Feld der Leadership Legitimacy liefert bereits erste Anstoßpunkte für ein Verständnis von Führungslegitimität, das komplexer und fragiler ist, als dies klassische Legitimitätsverständnisse nahelegen. Führungslegitimität wird als eine zunehmend anspruchsvollere Herausforderung für Führung thematisiert, die keinesfalls aufgrund hierarchischer Strukturen als gegeben angesehen werden darf. Es gab bislang jedoch keinen Versuch, den Begriff der Führungslegitimität aus der Perspektive einer Prozesstheorie konzeptionell neu zu hinterfragen und ihn auf eine Weise zu definieren, die eine Beobachtung der anspruchsvollen Legitimierungsprozesse von Führung in der unternehmerischen Praxis ermöglicht. 328 Luhmann 2006, S. 473 262 Hier wird der erste konzeptionelle Forschungsbeitrag der vorliegenden Arbeit gesehen. Es wurde eine Prozessdefinition von Führungslegitimität herausgearbeitet, die es ermöglicht, Legitimität nicht mehr entitativ, sondern als einen Prozess zu verstehen und zu beobachten. Damit baut diese Arbeit auf dem Fundament eines nicht-entitativen, nicht-strukturellen und nicht-individualistischen Verständnisses von Führungslegitimität auf und platziert auf diese Weise ein neuartiges konzeptionelles Verständnis von Führungslegitimität in der Leadership Legitimacy Debatte. Der zweite Forschungsbeitrag der vorangegangenen Überlegungen liegt in der empirischen Operationalisierung von Führungslegitimität. Wie beschrieben wurde, setzen die meisten Studien über Führungslegitimität auf die Befragung von Geführten und stützen sich somit in erster Linie auf deren Legitimitätsglauben (Knopp und Müller, 1980). Die vorliegende Arbeit beschreibt eine alternative Möglichkeit der Untersuchung von Führungslegitimität. Mithilfe eines systemtheoretisch geprägten Führungsverständnisses wurde das Prozessverständnis von Führungslegitimität weiterentwickelt und präzisiert. Es wurde argumentiert, dass Führungslegitimität ein Prozess ist, der die Möglichkeit zur Mitgestaltung organisationaler Entscheidungsprämissen durch Führung kontinuierlich neu erschafft. Diese Einführung der luhmannschen Konzeption von Entscheidungsprämissen in die Leadership Legitimacy Debatte versorgt zukünftige Forschungsprojekte mit einer alternativen Möglichkeit zur empirischen Beobachtung von Führungslegitimität und macht die Forschung somit unabhängiger vom Legitimitätsglauben, den Mitarbeiter von Organisationen in Interviews und Fragebögen angeben. Studien zu Führungslegitimität müssen sich damit nicht länger ausschließlich auf die Perzeption von Geführten stützen, sondern können die Fähigkeit von Führung zur Mitgestaltung organisationaler Entscheidungsprämissen auf der Basis empirischer Beobachtungen erschließen. Ein dritter Beitrag dieser Arbeit liegt in den empirischen Ausführungen, die Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext beschreiben. Hierdurch wird zum einen aufgezeigt, welchen empirischen Erkenntnisgewinn die beschriebene Prozessdefinition von Führungslegitimität mit sich bringen kann. Insbesondere war es möglich, im dargestellten Extremkontext, Führung tatsächlich als einen kontinuierlich ablaufenden und immer wieder neu verfertigten Prozess zu beschreiben. Zum anderen konnten in diesem Rahmen 10 legitimitätsstiftende Interventionspraktiken identifiziert werden. Diese ermöglichen es, den kontinuierlichen Prozess der Führungslegitimität besser greifbar zu machen und in einem Praxiskontext zu veranschaulichen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die dargestellten Interventionspraktiken sowohl als Anstoß für weitere Forschungsvorhaben wie auch als Reflexionsmöglichkeiten für die unternehmerische Praxis eignen. Aufbauend auf den identifizierten 10 Interventionspraktiken, konnten als vierter Forschungsbeitrag zudem Unterscheidungen eingeführt werden, die dazu geeignet 263 sind, ein vertieftes Verständnis für den beobachteten Prozess der kontinuierlichen Wiederherstellung von Führungslegitimität zu schaffen. Betrachtet wurden die 10 Interventionspraktiken dabei entlang der drei Unterscheidungen: Förderung von Kooperation und Einführung von Unterschieden; direkte Kommunikation und indirekte Kommunikation; inhaltsbezogene Kommunikation und beziehungsorientierte Kommunikation. Damit konnte veranschaulicht werden, dass der Prozess der Führungslegitimität im beobachteten Kontext nicht nur auf verschiedenen Interventionspraktiken aufbaut, sondern dass diese selbst sich durch eine komplementäre Diversität auszeichnen und somit auf unterschiedliche Weise zur ständigen Wiederherstellung von Führungslegitimität beitragen können. Hierbei wurde argumentiert, dass gerade die selektive Kombination einzelner Interventionspraktiken die Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen ermöglicht. Diese Erkenntnis kann zukünftiger Forschung dabei helfen, ein angemessen komplexes Bild von Führungslegitimität zu erarbeiten und sich nicht auf monokausale Ursachen von Legitimität zu beschränken. Weiter lässt sich als fünfter Forschungsbeitrag festhalten, dass die Erkenntnisse im Rahmen dieser Arbeit sich nicht allein auf das Feld der Führungslegitimität beschränken, sondern auch zum weiteren Feld der Führungsforschung Erkenntnisse liefern. So trägt das konzeptionell erarbeitete und empirisch beschriebene Wechselverhältnis von Führung und Führungslegitimität 329 dazu bei, Führung selbst stärker als einen kollektiven Prozess zu begreifen. Führung wurde nicht als die Aufgabe von Einzelpersonen dargestellt, sondern als die kollektive Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen, durch die die Legitimität von Führung immer wieder erneuert wird. Deshalb eignet sich die vorgelegte empirische Studie auch dazu, Konzeptionen von Führung als organisationale Funktion (vgl. Ogawa und Bossert, 1995; O’Toole, 2001) zu unterstützen und deren Nutzen für die empirische Beobachtung von Führung zu bestätigen. Auch die klassische Dichotomie zwischen Führern und Geführten kann durch das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Führungslegitimität überwunden werden. Damit werden Betrachtungsweisen wie die von Tourish (2014) unterstützt, die betonen, dass organisationale Realität in einem kollektiven Prozess der KoKreation von Führungskräften und Geführten erschaffen wird. Dieses Verständnis eines Ko-Kreationsprozesses ist auch in der Definition von Führungslegitimität dieser Arbeit mit angelegt. Aus diesem Grund wurde nicht von einer einseitigen Gestaltung von Entscheidungsprämissen durch Führung gesprochen, sondern mithilfe des Begriffs der Mit-Gestaltung darauf hingewiesen, dass Entscheidungsprämissen stets das Ergebnis von Kommunikationsprozessen zwischen Führung und Geführten sind. Insofern lässt sich argumentieren, dass das beschriebene Verständnis von Führungslegitimität die allgemeine Prozessforschung von Führung ergänzt und 329 Vgl. Abb. 1; Kapitel 2.2.2 264 bestärkt, indem es ein Teilgebiet von Führung konzeptionell und empirisch aus einer prozesstheoretischen Sichtweise darstellt. Abschließend leistet die vorliegende Arbeit auch einen Beitrag zum Verständnis heterarchischer Organisationen. Bislang liegen kaum empirische Studien solcher Organisationen vor. Im Rahmen dieser Arbeit konnte eine sehr idealtypische heterarchische Organisation vorgestellt werden. Als zentraler Beitrag in diesem Feld wird die Weiterführung von Hedlunds Gedanken in Bezug auf verteilte Strategiefindungsprozesse in Heterarchien betrachtet: “A key idea in the conception of a heterarchical MNC is that subsidiary managers are also given a strategic role, not only for their “own” company, but for the MNC as a whole” (Hedlund, 1986; S. 22). Die Ausführungen der vorliegenden Arbeit geben Anlass zu der Vermutung, dass diese Möglichkeit der verteilten Kontribution zur Unternehmensstrategie der Gesamtorganisation nicht lediglich ein Erkennungsmerkmal von heterarchischen Organisationen ist, sondern eine entscheidende Funktion für deren organisationale Integration leistet. Wenn eine organisationale Integration nicht über eine hierarchische Struktur von der Spitze her möglich ist, so kann die Möglichkeit aller Einheiten, zur Strategie der Gesamtorganisation beizutragen, ein entscheidender Faktor dafür sein, dass die einzelnen Organisationseinheiten nicht zunehmend auseinanderdriften. Die gezielte Abstimmung einzelner Organisationseinheiten untereinander und die kollektiven Meinungsbildungsprozesse, die eine koordinierte Einflussnahme auf strategische Überlegungen der Gesamtorganisation ermöglichen, können aus der Perspektive dieser Arbeit entscheidend dazu beitragen, eine Isolation und zunehmende Desintegration der einzelnen Organisationseinheiten einer Heterarchie zu verhindern. Forschungsbeiträge zur betriebswirtschaftlichen Praxis Der Anspruch der vorliegenden Arbeit erschöpft sich nicht in den dargestellten Forschungsbeiträgen zur betriebswirtschaftlichen Theorie. Es soll auch ein greifbarer Nutzen für die unternehmerische Praxis gegeben sein. Einfache Handlungsanweisungen oder Rezepte sollen dabei jedoch nicht formuliert werden. Wie bereits im vierten Kapitel dargestellt, gehört es möglicherweise zu den schädlichsten wissenschaftlichen Konzeptionen der Sozialwissenschaften (vgl. von Hayek, 1967), dass wiederholt versucht wird, Gesetzmäßigkeiten in sozialem Handeln zu suchen und auf deren Basis Empfehlungen für zukünftiges Verhalten zu formulieren. An dieser Stelle wird vielmehr die Ansicht von Kubicek (1977) geteilt, dass der Beitrag von Wissenschaft zur Praxis in der Formulierung „verständnisfördernder Perspektiven“ (S. 29) liegt. Die Praxis selbst kann nicht von der Aufgabe entbunden werden, diese Perspektiven im Kontext ihrer jeweiligen Situation zu interpretieren. 265 „Der Text verkörpert lediglich ein Potenzial zur Stimulation aufschlussreicher Reflexionsund Denkprozesse, während die Deutungen in einem Beziehungsprozess zwischen Text und Interpret entstehen.“ (Rüegg-Stürm, 2000; S. 200). In diesem Sinne sind auch die Darstellung der 10 legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken und die Beschreibungen über deren Zusammenspiel zu betrachten. Für Führungskräfte können diese einen Anstoß bieten, die Legitimität der Führung in ihrer eigenen Organisation zu hinterfragen. Dabei können die einzelnen dargestellten Interventionspraktiken Anregungen für Möglichkeiten liefern, wie Führungslegitimität in der unternehmerischen Praxis immer wieder aufs Neue erschaffen werden kann. Auch die Unterscheidungen, die in Kapitel 7.2 eingeführt wurden, können einen Beitrag zur Reflexion liefern. Auf ihrer Basis kann hinterfragt werden, ob Führungshandeln in einer Organisation ausgewogen alle unterschiedlichen Arten von legitimitätsstiftenden Interventionspraktiken einsetzt und ob möglicherweise ein Teilaspekt – zum Beispiel die indirekte Kommunikation, oder die beziehungsorientierte Kommunikation – in noch stärkerem Maße eingesetzt werden sollte. Auch können die Unterscheidungen Praktikern dabei helfen, Interventionspraktiken sichtbar zu machen, die in ihrer Organisation vielleicht bereits bestehen, aber weitgehend unbewusst ablaufen. Insgesamt können die im Verlauf dieser Arbeit dargestellten Überlegungen auch dazu beitragen, ein aufgeklärteres Verständnis von verschiedenen Formen der Führungslegitimität zu gewinnen. Ein einfaches Legitimitätsverständnis, das auf der Möglichkeit zur Anordnung und Durchsetzung von klar definierten Führungsvorstellungen fußt, wird ergänzt durch zahlreiche alternative Möglichkeiten, wie Führung organisationale Entscheidungsprämissen mitgestalten kann und damit in legitimer Weise ihre Führungsfunktion wahrnehmen kann. Insbesondere wird ein Verständnis dafür geschaffen, dass Führung auch gerade dann legitim sein kann, wenn ihr Wirken nicht direkt wahrgenommen wird, oder wenn statt der Setzung inhaltlicher Impulse lediglich Einfluss auf die Beziehungsarchitektur einer Organisation genommen wird. Aus Legitimitätsgesichtspunkten kann es gemäß der Argumentation dieser Arbeit sogar gerade förderlich sein, wenn Führung die eigenen Limitationen in Bezug auf die inhaltlichen Einflussmöglichkeiten innerhalb ihrer Organisation akzeptiert und, statt diese zu erzwingen, alternative Wege sucht, einen Wertbeitrag für den Erfolg der Organisation zu leisten. Dabei ist ein entscheidender Punkt, dass diese Reflexionsanstöße für die Praxis keineswegs nur im Kontext heterarchischer Organisationen von Relevanz sind. Der zentrale heuristische Mehrwert der theoretischen Konzeption des heterarchischen Organisationstyps durch Hedlund liegt in der Behauptung der Einschränkung zentraler Steuerungsmöglichkeiten im Angesicht hoher Komplexität. So betont Hedlund (1986), dass insbesondere MNCs zunehmend als Heterarchien betrachtet werden können. Sie sind zwar formal hierarchisch aufgebaut; dies lässt sich allein 266 aufgrund juristischer Erwägungen kaum vermeiden, da westliche Rechtssysteme stark auf einem Organisationsverständnis aufbauen, das die Verantwortung für organisationales Handeln bei zentralen Organen an der Spitze von Organisationen sieht. Jedoch sieht es Hedlund dennoch als hilfreich an, MNCs trotz ihrer hierarchischen Organisationsstruktur als Heterarchien zu konzipieren. Diese Konzeption kommt aus seiner Sicht der organisationalen Realität der Entscheidungsprozesse in MNCs näher. Auf dieser Basis lässt sich die Vermutung formulieren, dass Organisationen mit steigender Größe, Komplexität und regionaler Verteiltheit zunehmend heterarchische Organisationseigenschaften besitzen – und dies unabhängig von ihrer formalen Organisationsstruktur. Damit können die dargestellten Erkenntnisse für eine Vielzahl von Wirtschaftsorganisationen, aber auch für NGOs, politische Organisationen Krankenhäuser oder Universitäten als relevant erachtet werden. Es soll selbstverständlich nicht die Behauptung aufgestellt werden, dass klassische Überlegungen hierarchischer Führung in diesen Organisationen keine Rolle mehr spielen würden. Entscheidend ist jeweils, dass durch die Wahl einer Beobachtungsperspektive die vorliegenden Verständnisse von Führung und Führungslegitimität von Praktikern sinnvoll erweitert werden können. Und mit zunehmender Komplexität von Organisationen muss auch Führung in hierarchischen Organisationen komplexer gedacht werden, da simple Steuerungslogiken zu kurz greifen und nicht mehr allein dazu geeignet sind, um zu beschreiben, was Führungslegitimität in ihrem Kern ausmacht. Deshalb dürfen die Erkenntnisse aus einem stark hierarchischen Organisationskontext weitgehend auch für komplexe hierarchische Organisationen als relevant erachtet werden. Abschließend sei noch darauf verwiesen, dass die vorgelegten Überlegungen auch für das Praxisfeld der Managemententwicklung und -weiterbildung von Relevanz sein können. Wenn Führungslegitimität als ein kontinuierlicher, kollektiver Prozess betrachtet wird, legt dies nahe, dass es Gründe gibt, den stark individualistischen Charakter vieler Managemententwicklungsprogramme zu hinterfragen. Denn es ist keineswegs als selbstverständlich zu betrachten, dass individuelle Erkenntnisse einzelner Führungskräfte automatisch in den kollektiven organisationalen Prozess der Führung einfließen. Auch im Rahmen des beobachteten ESPrit Projektes wurde immer wieder deutlich, dass die gemeinsame Teilnahme von wenigstens zwei Bankvorständen von Vorteil war: „Wir hatten den Vorteil in der Bank, dass wir zu zweit als Vorstände teilgenommen haben und eine eigene Erfahrung auf diesem beiderseitigen Erlebnis von [meinem Kollegen] und mir mit auf den Weg genommen haben.“330 Im gleichen Atemzug wurde oft beschrieben, wie schwierig es sei, weitere Vorstände an den gemeinsamen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Auf der Basis dieser Beobachtungen lässt sich die Hypothese formulieren, dass Managemententwicklungsprogramme davon profitieren könnten, wenn nicht nur 330 Int-08 267 einzelne Mitglieder von Organisationen an ihnen teilnehmen, sondern der unternehmerische Handlungskern (Grand und Bartl, 2011) vertreten ist, also die Gruppe von Personen, die innerhalb einer gegebenen Organisation kollektiv einen hohen Einfluss auf Entscheidungsprozesse ausübt. Dieser Handlungskern kann dann im Anschluss an eine derartige Entwicklungsinitiative leichter auf die kollektiven Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser Initiative referenzieren. Dieser Umstand kann auch mithilfe der Beschreibung eines Prozessverständnisses von Führungslegitimität im Rahmen dieser Arbeit zumindest teilweise erklärt werden. Denn Führung und Führungslegitimität wurden gerade nicht als das aufgeklärte Handeln von Einzelpersonen betrachtet. Vielmehr wurde ein Zusammenhang zwischen Führungslegitimität und 10 organisationalen Interventionspraktiken beschrieben, die kollektiv erbracht werden und die nicht einmal zwangsläufig jeder daran beteiligten Führungskraft bewusst sein müssen. Deshalb kann die vorgelegte Arbeit auch einen Beitrag dazu leisten, den Nutzen einer stärkeren Konzentration auf die organisationale Dimension von Managemententwicklung zu illustrieren. Mögliche weiterführende Forschungsansätze Wie zu Beginn dieser Arbeit dargestellt, können wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Legitimität auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das Feld der Führungslegitimität ist jedoch bislang noch nicht sehr tief erschlossen. Gerade Forschungsarbeiten, die Antworten auf die Herausforderungen von Führungslegitimität in heutigen komplexen Organisationen liefern, sind bislang eher spärlich. Die Leadership Legitimacy Debatte, zu der sich auch die vorliegende Arbeit zugehörig sieht, bietet zwar erste interessante Ansätze, es besteht jedoch noch viel unerschlossenes Terrain. Die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellten Überlegungen könnten von zukünftigen Forschungsarbeiten insbesondere in drei Aspekten weiterentwickelt werden. Ein erster naheliegender Punkt ist dabei die empirische Anwendung eines Prozessverständnisses von Führungslegitimität auf einen klassischen hierarchischen Organisationskontext. Der heterarchische Forschungskontext dieser Arbeit eignete sich, um ein solches Prozessverständnis zu veranschaulichen und empirisch zu verdeutlichen. Interessant wäre es jedoch, in Folgestudien zu betrachten, welche Interventionspraktiken in unterschiedlichen hierarchisch strukturierten Organisationen eingesetzt werden und inwieweit diese geeignet sind, um die Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen durch Führung zu ermöglichen. Insbesondere auch Fälle, in denen diese Form von Führungslegitimität trotz der hierarchischen Stellung von Führung nicht gegeben ist, wären interessante Untersuchungskontexte. Statt also – wie in der vorliegenden Arbeit – zu untersuchen, wie Führungslegitimität auch unter Abwesenheit von Hierarchie möglich ist, könnte untersucht werden, wie Führungslegitimität trotz des Vorhandenseins einer Hierarchie nicht zwangsläufig 268 kontinuierlich wiederhergestellt zusammenbrechen kann. werden und unter Umständen sogar Ein zweites spannendes Untersuchungsfeld für weitere Forschungsarbeiten könnte die nähere Betrachtung des Unterschieds zwischen dem Legitimitätsglauben von Geführten und von Führungslegitimität, basierend auf der Definition in dieser Arbeit, sein. Es wurde argumentiert, dass Führungslegitimität aus organisationaler Perspektive als die Fähigkeit von Führung zur Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen verstanden werden kann. Diese Perspektive, so die Argumentation, ermöglicht es der Forschung, unabhängiger vom Legitimitätsglauben von Geführten zu werden. Wie der Legitimitätsglaube von Geführten und dieses Verständnis von Führungslegitimität zusammenhängen und ob zwischen beiden Konzepten schwerwiegende Unterschiede bestehen, wurde jedoch nicht diskutiert. Sollten empirische Untersuchungen nahelegen, dass der Zusammenhang zwischen Führungslegitimität und Legitimitätsglaube nur partiell ist, hätte dies gewichtige Implikationen nicht nur für die Leadership Legitimacy Debatte, sondern insbesondere auch für die empirische Führungsforschung. Gerade im Bereich der transformationalen Führung verlässt diese Forschung sich bislang meist sehr stark auf die Einschätzung von Führung durch Geführte. Eine dritte vielversprechende Fragestellung für zukünftige Forschungsbemühungen könnte sich eingehender damit befassen, welche unterschiedlichen Rollen und Arbeitsweisen von Führung als legitim bezeichnet werden können. Diese Frage wurde in der vorliegenden Arbeit zwar zum Teil betrachtet, aber sie wurde nicht beantwortet. Die Definition der Mitgestaltung von Entscheidungsprämissen selbst ist weitgehend abstrakt. Und die vorgestellten Interventionspraktiken sind lediglich einzelne Beispiele, wie Führungslegitimität im beobachteten Kontext kontinuierlich neu erschaffen werden kann. Es scheint angemessen, die Frage nach den Möglichkeiten legitimer Führung eingehender zu behandeln. Dabei kann die Vermutung aufgestellt werden, dass Führung in komplexen Organisationskontexten sich immer weniger über die Setzung inhaltlicher Vorgaben legitimieren können wird, sondern alternative Einflussmöglichkeiten finden muss, die die Erbringung der integrierenden und koordinierenden Aufgabe von Führung erlauben. Die in der vorliegenden Arbeit vorgestellte Kategorie der beziehungsorientierten Interventionspraktiken könnte dabei an Bedeutung gewinnen. Es muss jedoch anderen Studien überlassen werden, eingehender zu überprüfen, auf welch unterschiedliche Arten und in welchen Rollen sich Führung in einem ständigen Prozess neu legitimieren kann. 269 Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die vorliegende Arbeit der betriebswirtschaftlichen Theorie und Praxis eine neuartige Perspektive auf das Konzept der Führungslegitimität zur Verfügung gestellt hat. Durch die empirische Studie eines dafür prädestinierten heterarchischen Organisationskontexts konnten wertvolle Beiträge und Denkanstöße für Theorie und Praxis geliefert werden. Einige zentrale Fragen im Zusammenhang mit Führungslegitimität konnten jedoch nur angedeutet werden. Deren tiefere Ergründung ist somit auf weitere wissenschaftliche Untersuchungen angewiesen. 270 Anhang A. Übersicht der durchgeführten Interviews Index Organisation des Interviewpartners Funktion des Interviewpartners Datum Int-01 BVR Top-Management 09.11.2010 Int-02 BVR Projektmitarbeiter 10.11.2010 Int-03 BVR Top-Management 19.11.2010 Int-04 BVR Top-Management 19.11.2010 Int-05 BVR Projektmitarbeiter 19.11.2010 Int-06 Beratung Berater 16.08.2011 Int-07 Beratung Berater 15.04.2011 Int-08 Bank Vorstand 14.06.2012 Int-09 Bank Vorstand 14.06.2012 Int-10 Bank Vorstand 10.10.2011 Int-11 Bank Management 06.12.2011 Int-12 Bank Vorstand 06.12.2011 Int-13 Bank Vorstand 06.12.2011 Int-14 Bank Management 06.12.2011 Int-15 Bank Vorstand 02.02.2012 Int-16 Bank Management 02.02.2012 Int-17 Bank Vorstand 02.02.2012 Int-18 Bank Projektmitarbeiter 21.10.2011 Int-19 Bank Vorstand 21.10.2011 Int-20 Bank Management 07.11.2011 Int-21 Bank Vorstand 07.11.2011 Int-22 Bank Projektmitarbeiter 07.11.2011 Int-23 Bank Projektmitarbeiter 07.11.2011 271 Int-24 Bank Projektmitarbeiter 21.02.2012 Int-25 Bank Management 21.02.2012 Int-26 Bank Vorstand 21.02.2012 Int-27 Bank Management 21.02.2012 Int-28 Bank Projektmitarbeiter 21.02.2012 Int-29 Bank Projektmitarbeiter 21.02.2012 Int-30 Bank Vorstand 21.02.2012 Int-31 Bank Management 17.10.2011 Int-32 Bank Management 17.10.2011 Int-33 Bank Vorstand 17.10.2011 Int-34 Bank Vorstand 17.10.2011 Int-35 Bank Vorstand 17.10.2011 Int-99 331 vertraulich vertraulich Vertraulich Tabelle 2: Durchgeführte Interviews in der VR-Organisation 331 Bei einem vorliegenden Bedürfnis nach gesteigerter Anonymität, das zum Teil von Interviewpartnern in Bezug auf bestimmte Zitate angemeldet wurde, oder vom Verfasser selbst als gegeben angenommen wurde, ist es erforderlich, dass der Ursprung einer Aussage nicht direkt auf eines der aufgelisteten Interviews zurückzuführen ist. Dies liegt daran, dass aus den Angaben zu Datum, Organisation und Funktion gewisse Rückschlüsse auf die interviewte Person möglich sein könnten. Der zusätzliche Index „Int-99“ steht somit für eines der oben aufgeführten Interviews, ohne dieses näher spezifizieren zu wollen. 272 B. Feldtagebücher und empirische Beobachtungskontexte Index Typ Anlass Datum FTB-001 Workshop ESPrit-Workshop II, Gruppe A, Tag 1 04.05.2010 FTB-002 Workshop ESPrit-Workshop II, Gruppe A, Tag 2 05.05.2010 FTB-003 Workshop ESPrit-Workshop II, Gruppe A, Tag 3 06.05.2010 FTB-004 Workshop ESPrit-Workshop II, Gruppe A, Tag 4 07.05.2010 FTB-005 Workshop ESPrit-Workshop III, Gruppe B, Tag 1 01.09.2010 FTB-006 Workshop ESPrit-Workshop III, Gruppe B, Tag 2 02.09.2010 FTB-007 Workshop ESPrit-Workshop III, Gruppe B, Tag 3 03.09.2010 FTB-008 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe A, Tag 1 13.10.2010 FTB-009 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe A, Tag 2 14.10.2010 FTB-010 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe A, Tag 3 15.10.2010 FTB-011 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe B, Tag 1 10.11.2010 FTB-012 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe B, Tag 2 11.11.2010 FTB-013 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe B, Tag 3 12.11.2010 FTB-014 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe C, Tag 1 17.11.2010 FTB-015 Workshop ESPrit-Workshop IV, Gruppe C, Tag 2 18.11.2010 273 FTB-016 Workshop ESPrit-Workshop VI, Tag 1 02.02.2011 FTB-017 Workshop ESPrit-Workshop VI, Tag 2 03.02.2011 FTB-018 Workshop ESPrit-Workshop VI, Tag 3 04.02.2011 FTB-019 Workshop ESPrit-Workshop V, Gruppe 1, Tag 1 20.03.2011 FTB-020 Workshop ESPrit-Workshop V, Gruppe 1, Tag 2 21.03.2011 FTB-021 Workshop ESPrit-Workshop V, Gruppe 1, Tag 3 22.03.2011 FTB-022 Workshop ESPrit-Workshop V, Gruppe 2, Tag 1 13.05.2011 FTB-023 Workshop ESPrit-Workshop V, Gruppe 2, Tag 2 14.05.2011 FTB-024 Workshop ESPrit-Workshop V, Gruppe 2, Tag 3 15.05.2011 FTB-025 Workshop Beraterpool Workshop II 25.03.2010 FTB-026 Sitzung Steuerungssitzung ESPrit; BVR, osb 26.03.2010 FTB-027 Sitzung Steuerungssitzung ESPrit; BVR, osb 31.08.2010 FTB-028 Sitzung Sitzung Begleitforschung, BVR 27.09.2010 FTB-029 Sitzung Steuerungssitzung ESPrit; BVR, osb 21.10.2010 FTB-030 Sitzung Steuerungssitzung ESPrit; BVR, osb 13.12.2010 FTB-031 Sitzung Steuerungssitzung ESPrit; BVR, osb 02.03.2011 FTB-032 Sitzung Sitzung Fortführung ESPrit; BVR, osb 10.03.2011 FTB-033 Sitzung Sitzung Begleitforschung, BVR, osb 31.05.2010 FTB-034 Workshop Abschlussveranstaltung ESPrit 15./16.06.2011 FTB-035 Sitzung Sitzung Fortführung ESPrit; BVR, osb 16.08.2011 274 FTB-036 Workshop Reflexionsrunde mit Banken zu ESPrit 29.08.2011 FTB-037 Sitzung Sitzung Begleitforschung, BVR 06.09.2011 FTB-038 Workshop Beraterpool Workshop III 23.09.2011 FTB-039 Sitzung Steuerungssitzung ESPrit; BVR, osb 15.11.2011 FTB-040 Sitzung Abschluss ESPrit – Fachrat Markt 15.03.2012 FTB-041 Workshop Beraterpool Workshop IV, Tag 1 23.04.2012 FTB-042 Workshop Beraterpool Workshop IV, Tag 2 24.04.2012 Tabelle 3: Beobachtungen im Zusammenhang mit ESPrit Index Typ Anlass Datum FTB-043 Sitzung Qualitätszirkel VR-Finanzplan 28.05.2010 FTB-044 Workshop Erfahrungsaustausch VRFinanzplan 31.05.2010 FTB-045 Sitzung Sitzung Kunden- und MABefragung 30.06.2010 FTB-046 Workshop Führungskräfteworkshop 18.08.2010 FTB-047 Workshop Besprechung MA-Befragung 04.10.2010 FTB-048 Workshop Kick-Off Qualitäts-Initiative 11.10.2010 FTB-049 Sitzung Diskussion Ergebnisse MABefragung 25.20.2010 FTB-050 Workshop Besprechung Kundenbefragung 02.11.2010 FTB-051 Sitzung Diskussion Qualitätsverbesserung 24.01.2011 FTB-052 Sitzung Besprechung ESPrit-Projekte 28.07.2010 FTB-053 Sitzung Besprechung ESPrit-Projekte 08.06.2010 FTB-054 Workshop Strategieworkshop 21.06.2010 FTB-055 Workshop Auftakt Projekt Kulturwandel 20.12.2010 275 FTB-056 Sitzung Vorbereitung Mitarbeitermesse 14.06.2011 FTB-057 Workshop Mitarbeitermesse 22.06.2011 FTB-058 Sitzung Ausarbeitung Führungsleitlinien 06.01.2012 FTB-059 Workshop Mitarbeitermesse 15.02.2012 FTB-060 Sitzung Besprechung ESPrit-Projekte 09.12.2010 FTB-061 Workshop Workshop Filialstrategie 14.12.2011 FTB-062 Seminar Führungskräfte-Seminar 18./19.11.2011 FTB-063 Sitzung Diskussion KundenserviceCenter 14.01.2011 FTB-064 Sitzung Besprechung neue Kontomodelle 24.01.2011 FTB-065 Workshop Transparenz-Workshop 22.02.2011 FTB-066 Telefontermin Besprechung ESPrit-Projekte 22.03.2011 FTB-067 Workshop Hausmesse 26.03.2011 FTB-068 Präsentation Vorstellung Kontomodelle an Mitarbeiter 22.07.2011 Tabelle 4: Feldtagebücher: Beobachtungen in Volksbanken 276 C. Dokumente der Forschungspartner Index Typ Titel Dok-001 Veröffentlichung Geschichte des deutschen Raiffeisenverbandes Dok-002 Veröffentlichung Jahresbericht des BVR 2004 Dok-003 Satzung Satzung des BVR Stand 2013 Dok-004 Veröffentlichung Geschäftsentwicklung der VR-Banken 2013 Dok-005 Statuten Die Sicherungseinrichtung des BVR Dok-006 Handbuch Handbuch Erfolgreiches Privatkundengeschäft Dok-007 Info-Material Q&A zu Initiaitve ESPrit Dok-008 Info-Material Entscheidungshilfe Teilnahme ESPrit Dok-009 Vereinbarung Letter of Intent – ESPrit Dok-010 Präsentation Informationsveranstaltung ESPrit für Banken Dok-011 Rundschreiben Einladung zu Informationsveranstaltung ESPrit Dok-012 Anmeldeliste Teilnehmer-Banken ESPrit Dok-014 Präsentation Informationsveranstaltung Beraterpool ESPrit Dok-015 Foto-Protokoll Informationsveranstaltung Beraterpool ESPrit Dok-016 Protokoll Schwerpunktthemen und Zuständigkeiten Beraterpool Dok-017 Info-Material Übersicht und Kontakte Beraterpool Dok-018 Einladung Einladung 1. Beraterpool Sitzung Dok-019 Einladung Einladung 2. Beraterpool Sitzung Dok-020 Protokoll Teilnehmerliste Informationsveranstaltung Beraterpool Dok-021 Präsentation Vortrag Marke im Rahmen von ESPrit Dok-022 Rundschreiben Kundenzufriedenheitsbefragung Dok-023 Info-Material Kundenzufriedenheitsbefragung Dok-024 Handbuch Handbuch zur Kundenzufriedenheitsmessung 277 Dok-025 Foto-Protokoll ESPrit Modul I Gruppe A Dok-026 Foto-Protokoll ESPrit Modul II Gruppe A Dok-027 Foto-Protokoll ESPrit Modul III Gruppe A Dok-028 Foto-Protokoll ESPrit Modul IV Gruppe A Dok-029 Präsentation Workbook Veränderungsmanagement Dok-030 Publikation Kompass 2012 – Analyse, Prognose, Bewertung, … Dok-031 Fragekatalog Feedback Fragebogen Modul IV ESPrit Dok-032 Präsentation Personalmanagement – Konzepte des BVR Dok-033 Präsentation Workbook Personalmanagement Dok-034 Präsentation Entwicklungsvorhaben ESPrit Teilnehmerbank Gruppe A Dok-035 Foto-Protokoll ESPrit Modul I Gruppe B Dok-036 Präsentation Workbook Strategie Dok-037 Präsentation Entwicklungsvorhaben ESPrit Teilnehmerbank Gruppe B Dok-038 Foto-Protokoll ESPrit Modul II Gruppe B Dok-039 Foto-Protokoll ESPrit Modul III Gruppe B Dok-040 Foto-Protokoll ESPrit Modul IV Gruppe B Dok-041 Präsentation Ansätze und Instrumente Personalmanagement Dok-042 Rundschreiben Genossenschaftliche Vertriebskultur Dok-043 Foto-Protokoll ESPrit Modul I Gruppe C Dok-044 Foto-Protokoll ESPrit Modul II Gruppe C Dok-045 Foto-Protokoll ESPrit Modul III Gruppe C Dok-046 Foto-Protokoll ESPrit Modul IV Gruppe C Dok-047 Präsentation Entwicklungsvorhaben ESPrit Teilnehmerbank Gruppe C Dok-048 Foto-Protokoll ESPrit Modul V Dok-049 Präsentation Umgang mit Komplexität Dok-050 Foto-Protokoll ESPrit Modul VI 278 Dok-051 Präsentation Workbook Gestaltung einer kundenorientierten Organisation Dok-052 Präsentation Vortrag Regulatorische Anforderungen Wertpapiergeschäft Dok-053 Protokoll Einschätzung Workshop I Gruppe A durch Beratung Dok-054 Veröffentlichung Jahresprogramm ADG 2013 Dok-055 Veröffentlichung BWGV: Potenziale im Geschäftskundensegment Dok-056 Veröffentlichung Aktivitäten des BVR 2012 Dok-057 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank A 2012 Dok-058 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank B 2012 Dok-059 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank C 2012 Dok-060 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank D 2012 Dok-061 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank E 2012 Dok-062 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank F 2012 Dok-063 Veröffentlichung Geschäftsbericht Volksbank G 2012 Dok-064 Fragebogen Kundenbefragung ESPrit-Teilnehmerbank Dok-065 Fragebogen Mitarbeiterbefragung ESPrit-Teilnehmerbank Dok-066 Satzung Satzung einer ESPrit-Teilnehmberbank Dok-067 Präsentation ESPrit Beraterpool Workshop 1 Dok-068 Foto-Protokoll ESPrit Beraterpool Workshop 1 Dok-069 Email Mitarbeiterbefragung ESPrit Teilnehmerbank Dok-070 Email Protokolle Projektsitzungen ESPrit Teilnehmerbank Dok-071 Email Maßnahmenliste ESPrit Teilnehmerbank Dok-072 Email Eindrücke & Fotoprotokoll ESPrit Beraterpool WS 2 Dok-073 Email Status Entwicklungsvorhaben ESPrit Teilnehmerbank Dok-074 Email Ergebnis WS Unternehmenskultur ESPrit Teilnehmerbank 279 Dok-075 Email Protokoll WS Unternehmenskultur ESPrit Teilnehmerbank Dok-076 Email Protokoll Projektauftaktsitzung ESPrit Teilnehmerbank Dok-077 Email Information Projektfortschritt ESPrit Teilnehmerbank Dok-078 Email Protokoll 2 Workshops ESPrit Entwicklungsvorhaben Dok-079 Email Ergebnisse Kundenbefragung ESPrit Teilnehmerbank Dok-080 Info-Material Gruppeneinteilung ESPrit Dok-081 Info-Material Übersicht Termine ESPrit Gruppe A Dok-082 Info-Material Übersicht Termine ESPrit Gruppe B Dok-083 Info-Material Übersicht Termine ESPrit Gruppe C Dok-084 Veröffentlichung Berichte aus dem BVR 2009 Dok-085 Veröffentlichung Berichte aus dem BVR 2010 Dok-086 Veröffentlichung Berichte aus dem BVR 2011 Dok-087 Bericht Zwischenbericht 1 wissenschaftliche Begleitforschung Dok-088 Bericht Zwischenbericht 2 wissenschaftliche Begleitforschung Dok-089 Bericht Abschlussbericht wissenschaftliche Begleitforschung Dok-090 Veröffentlichung Artikel ESPrit in Zeitschrift Bankeninformation Tabelle 5: Dokumente der Forschungspartner 280 Literaturverzeichnis Aiken, M., Bacharach, S. und French, L. 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CURRICULUM VITAE PERSÖNLICHE DAT EN Name: Marcus Michael Wörner Adresse: Zwyssigstraße 20 CH-9000 St. Gallen Geburtsdatum: 12.10.1984 Nationalität: deutsch Zivilstand: ledig Telefon: 0041 71 5355 720 Mobil: 0041 79 5325 816 Email: [email protected] AUSBILDUNG 03/10 – 09/15 Dissertation Universität St. Gallen Thema: Die kontinuierliche Wiederherstellung von Führungslegitimität in einem heterarchischen Organisationskontext 09/07 – 10/09 Masterstudium Universität St. Gallen (Master in Strategy and International Management) 10/04 – 03/07 Bachelorstudium Universität St. Gallen (Fachrichtung BWL) 09/95 – 10/04 Helfensteingymnasium Geislingen PRAKTIKA/BERUFSERF AHRUNG 01/15 – heute Stadler Altenrhein AG (Tochter der Stadler Rail Group) Projekt Manager 10/12 – 12/14 Stadler Altenrhein AG (Tochter der Stadler Rail Group) CEO Assistent 02/10 – 07/12 Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, Begleitung einer bundesweiten strategischen Beratungsinitiative im Rahmen eines Dissertationsprojektes 11/09 – 02/10 arvato (Tochterunternehmen der Bertelsmann Gruppe) 11/09 – 12/09 Mitarbeit an Restrukturierungsprojekt, Trier 01/10 – 02/10 Abteilung Key Account Management für VW/Audi, Gütersloh 07/09 – 09/09 BASF S.A., Corporate Consulting & Business Opportunities, São Paulo 01/09 – 04/09 BASF S.E., Operatives Controlling, Ludwigshafen 03/07 – 09/07 Audi A.G., Industrial Engineering, Neckarsulm SPRACHKENNTNISSE Deutsch English Französisch Portugiesisch Muttersprache verhandlungssicher fließend fließend