1 Ethische Probleme am Lebensende Von Ulrich H.J. Körtner 1

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RECHT AUF LEBEN, RECHT AUF STERBEN
Ethische Probleme am Lebensende 1
Von
Ulrich H.J. Körtner
1. Sterben heute
Das durch medizinische Interventionen begleitete Sterben ist heute in der westlichen Welt der
Regelfall. Daher wäre es völlig verfehlt, in den Debatten über Sterbehilfe und Euthanasie nur
Indizien eines Verfalls kultureller Standards und moralischer Werte erblicken zu wollen. Es
ist vielmehr notwendig zu prüfen, wie weit die Anwendung des heutigen Potentials
medizinischer Möglichkeiten in bestimmten Situationen überhaupt sinnvoll ist, und wo die
humanen Grenzen der modernen Medizin liegen.
Zu widersprechen ist aber der häufig geäußerten Ansicht, die Fortschritte der modernen
Medizin, insbesondere der Intensivmedizin, machten das Problem der Euthanasie besonders
drängend. Etliche Hauptargumente ihrer Befürworter sind seit der Antike hinlänglich bekannt
und resultieren nicht aus neuen medizinisch-technischen Entwicklungen, sondern aus einem
Menschenbild und Autonomieverständnis, das nicht selten in ausdrücklicher Abgrenzung von
einem christlichen Menschenbild formuliert wird.
Allerdings führen die steigende Lebenserwartung und der medizinische Fortschritt zu
neuen Erscheinungsformen des Sterbens, die auch ethisch vor neue Probleme stellen. Die
Zahl der Hochbetagten nimmt beständig zu. Dem Tod geht oftmals eine längere Phase der
Multimorbidität und schwerer Pflegebedürftigkeit voraus. In Ländern wie Deutschland stirbt
eine große Zahl an Menschen im Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung, obwohl sich
weiterhin die meisten Menschen wünschen, in der eigenen Wohnung im Kreis der
Angehörigen oder nahestehender Personen zu sterben. Mit der höheren Lebensdauer steigt die
Zahl der Menschen, die an einer fortschreitenden Demenzerkrankung mit starker
Persönlichkeitsveränderung leiden. Nicht nur, dass die Phase des Sterbens sich gegenüber
früheren Epochen immer mehr in die Länge ziehen kann, sondern es schiebt sich zwischen die
Lebensabschnitte von weitgehender körperlicher und geistiger Gesundheit und die
1
Vortrag vor dem Lainzer Kreis am 17.5.2015, Kardinal-König-Haus, Wien.
1
Sterbephase eine eigene Lebensphase, welche grundlegende Fragen nach unserer Identität im
Leben und im Sterben, nach Integrität, Kontinuität und Diskontinuität menschlicher
Biographien aufwirft. Solche existentiellen Fragen sind freilich ebenso wie diejenige, welches
Leiden als sinnlos oder sinnvoll empfunden wird, keine rein medizinischen Probleme, sondern
Fragen
der
religiösen
oder
weltanschaulichen
Einstellung
und
der
persönlichen
Lebensumstände.
2. Sterbehilfedebatte und Palliativmedizin
Daher möchte ich nun auch der Ansicht widersprechen, ein umfassender Ausbau der
Palliativmedizin sei eine hinreichende Antwort auf die Forderung nach Legalisierung der
Suizidbeihilfe oder der Tötung auf Verlangen. Laut der bekannten Definition der WHO aus
dem Jahr 1990 ist Palliative Care die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit
einer
progredienten,
weit
fortgeschrittenen
Erkrankung
und
einer
begrenzten
Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung
anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden,
psychologischen die erfolgreiche Behandlung der Schmerzen und weiterer Symptome sowie
die Hilfe bei psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt.
Die neue Definition der WHO aus dem Jahr 2002 versteht unter Palliative Care einen „Ansatz
zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und deren Familien, die mit Problemen
konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen: durch
Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung
und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher,
psychosozialer und spiritueller Art“ 2. Das Konzept von Palliative Care wäre missverstanden,
wollte man es auf das Problem der Schmerztherapie reduzieren, die in den letzten Jahren
große Fortschritte gemacht hat, so als würde dem Wunsch nach Selbsttötung im Fall einer
schweren und tödlichen Krankheit schon durch wirksame Schmerztherapie die ethische
Berechtigung entzogen. Eine gute palliativmedizinische sowie psychosoziale und spirituelle
Begleitung von Patienten kann vielleicht in vielen Fällen den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe
oder nach Suizidbeihilfe zum Verschwinden bringen. Es ist aber anzuerkennen, dass es
Menschen
2
gibt,
Englische Fassung
22.9.2014).
die
ihrem
Leben
trotz
unter
http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/
2
umfänglicher
palliativmedizinischer
(zuletzt
abgerufen
am
Versorgungsangebote selbstbestimmt ein Ende setzen wollen, weil sie einen bestimmten
Krankheitszustand mit ihrem Selbstbild und ihrer Auffassung von einem würdigen Leben und
Sterben nicht in Einklang bringen können. Der unbedingt begrüßenswerte Einsatz der Kirchen
für den weiteren Ausbau der Palliativmedizin im stationären und ambulanten Bereich ist keine
ausreichende Antwort auf die Forderung nach Legalisierung der Tötung auf Verlangen oder
des ärztlich assistierten Suizids sowie auf die steigende Zahl von Alterssuiziden.
3. Autonomie, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit
In der Diskussion um die Grenzen der Selbstbestimmung am Lebensende und die
unterschiedlichen Formen von Sterbehilfe sind Menschenwürde und Autonomie die
Schlüsselbegriffe . Strittig ist nicht allein die Terminologie, mit der verschiedene Arten des
Tuns, des Lassens und Unterlassens am Lebensende bezeichnet werden – wobei die
Beschreibungskategorien immer auch schon moralische und rechtliche Werturteile enthalten.
Strittig sind auch Sinn und Bedeutung von Autonomie und Menschenwürde sowie das
Begründungsverhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten. Die Menschenwürde
kann als Inbegriff der Menschenrechte verstanden werden, der diese in ihrer Gesamtheit
benennt, oder sie wird als Bezeichnung für einen Kernbestand elementarer Menschenrechte
wie des Rechts auf Leben, des Rechts auf Selbstbestimmung und
des Folterverbots
verstanden. Menschenwürde kann als Kriterium für die Auslegung der Menschenrechte
begriffen werden, als ein mittleres Axiom oder Prinzip neben anderen, oder aber als
Letztbegründung der Menschenrechte.
In jedem Fall wird man sagen können, dass der Begriff der Menschenwürde für die
Menschenrechte eine integrative Funktion hat. Dass der Mensch eine angeborene und
unverlierbare Würde hat, zeigt sich darin, dass er grundlegende Menschenrechte besitzt. Diese
wiederum lassen sich zusammenfassend auf den Begriff der Menschenwürde bringen. Es sind
im wesentlichen vier Elemente, die den Kern der Menschenwürde ausmachen: 3 1. das Recht
auf Leben und damit verbunden der Schutz von Leben, körperlicher Unversehrtheit und
Gesundheit, 2.
das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, 3. die Gleichheit aller
Menschen und 4. die Voraussetzungslosigkeit der Geltung von Menschenwürde und damit
auch ihre Unverlierbarkeit.
3
Vgl. H. Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik,
Stuttgart 2012, S. 149.
3
In der ethischen und juristischen Diskussion steht außer Frage, dass Menschenwürde und
Autonomie aufs engste miteinander zusammenhängen. Strittig ist allerdings, ob Autonomie
den inneren Kern der Menschenwürde ausmacht, sodass Menschenwürde und Autonomie
geradezu synonym sind. Der Verlust der Autonomie kann in diesem Fall als Verlust der
Menschenwürde gedeutet werden, was für die Frage, ob und unter welchen Umständen das
Leben eines Menschen – z.B. im irreversiblen Wachkoma – beendet werden darf, oder für das
Problem des Hirntodes erhebliche Konsequenzen hat.
Die Bibel bringt die besondere Würde des Menschen durch den Gedanken der
Gottebenbildlichkeit zum Ausdruck. Gottebenbildlichkeit, von der die Genesis spricht, ist ein
Beziehungsbegriff. Sie bestimmt den Menschen zum Gegenüber und Partner Gottes. Im
Neuen Testament lesen wir bei Paulus, dass streng genommen einzig Jesus Christus das
Ebenbild des lebendigen Gottes ist, 4 während die übrigen Menschen dazu bestimmt sind,
durch die Beziehung zu Christus seinem Bild gleichgestaltet zu werden. 5 Folgt man Paulus, so
ist
die
Gottebenbildlichkeit
nicht
allein
schöpfungstheologisch,
sondern
auch
rechtfertigungstheologisch begründet. Daran erinnert die Orientierungshilfe der Gemeinschaft
Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) zu ethischen Fragen am Lebensende, die 2011
unter dem Titel „Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit“ veröffentlicht worden ist. 6 Wie
das Dokument ausführt, unterstreicht die biblische Lehre von der Rechtfertigung durch den
Glauben, „dass die Stellung menschlichen Lebens als gerechtfertigt in Bezug zu Gott ein
Status ist, den Gott aus seiner Liebe heraus verleiht und der in Tod und Auferstehung Christi
begründet ist. Er ist nicht etwas, das sich aus der menschlichen Verantwortung oder
menschlicher, moralischer Leistung ergibt“ 7. Das gilt es, auch bei medizinethischen
Entscheidungen am Lebensende zu beherzigen.
Nun wird in der Diskussion um ein selbstbestimmtes Sterben häufig mit einem sehr
verengten Autonomiebegriff argumentiert, der Autonomie mit Selbstbestimmung gleichsetzt.
Diese Auffassung herrscht in der Medizin vor, wenn unter Autonomie die aktuelle Einsichtsund Urteilsfähigkeit sowie die Fähigkeit verstanden wird, seinen Willen zu äußern. Informed
Consent – die freiwillige Einwilligung eines Patienten in eine Behandlung oder ihre
4
5
6
7
Vgl. II Kor 4,4.
Vgl. II Kor 3,18.
Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit. Eine Orientierungshilfe des Rates des GEKE zu
lebensverkürzenden
Maßnahmen
und
zur
Sorge
um
Sterbende,
Wien
2011
Der
(http://www.evang.at/fileadmin/evang.at/doc_reden/110509_GEKE_Leben_hat_seine_Zeit.pdf).
Originaltext ist auf Englisch veröffentlich worden und liegt auch in französischer Übersetzung vor.
A.a.O. (Anm. 6), S. 34.
4
Ablehnung nach eingehender Aufklärung – und Patientenverfügungen sind dann die
praktischen Instrumente, um das Selbstbestimmungsrecht auszuüben.
Folgt man Immanuel Kant, so ist allerdings zwischen Selbstbestimmung und Autonomie
zu unterscheiden. Kant setzt die Autonomie mit der eigenen Gesetzgebung des Willens gleich,
unterscheidet diese aber von der Willkür, die meint tun und lassen zu können, was man wolle.
Unter der eigenen Gesetzgebung des Willens versteht Kant die freiwillige und auf Einsicht
beruhende Anerkennung eines allgemeinen Sittengesetzes, durch das sich der Mensch ebenso
frei wie sittlich gebunden weiß. Nicht jede Form der Selbstbestimmung genügt daher dem
Kriterium der sittlichen Vernunft.
Autonomie im Sinne Kants lässt sich als wesentlicher Ausdruck der Menschenwürde
interpretieren, diese ist aber – zumindest nach einem biblisch begründeten theologischen
Verständnis – von der Autonomie nochmals zu unterscheiden. Die biblische Tradition spricht
an dieser Stelle von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die sich nicht auf seine
Moralfähigkeit reduzieren lässt, so gewiss der Mensch seinem Wesen nach zu einem
selbstbestimmten und bewussten Leben bestimmt ist. Unser Personsein ist vielmehr mit
unserer leiblichen Existenz gegeben. An dieser Stelle denkt selbst Kant zu eng. Auch
Menschen im sogenannten Wachkoma, auch Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz
sind ebenso wie ungeborene Kinder Personen, weil Gott sich dazu bestimmt, auch mit ihnen
in einer von Liebe getragenen personalen Beziehung zu stehen und weil auch wir sie als
Personen in unsere menschliche Kommunikationsgemeinschaft einbeziehen sollen.
So verstanden besteht auch kein notwendiger Gegensatz zwischen Autonomie und
Abhängigkeit, wie sie in gewisser Weise jede Arzt-Patienten-Beziehung kennzeichnet.
Überhaupt ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, auch für einen
erfolgreichen Pflegeprozess, das Vorhandensein von Vertrauen. Vertrauen aber, so der
Medizinethiker und Theologe Dietrich Rössler, ist akzeptierte Abhängigkeit. 8 Die faktische
Abhängigkeit des hilfsbedürftigen Menschen darf freilich nicht zur Entmündigung des
Patienten führen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielmehr so zu gestalten, dass
die Selbstbestimmung des Patienten im Rahmen seiner akzeptierten Abhängigkeit gestärkt
wird. Insoweit ist Patientenautonomie ein sinnvolles Prinzip heutiger Medizin- und
Pflegeethik, auch wenn man sich am Begriff der Autonomie in diesem Zusammenhang stoßen
mag.
8
Vgl. D. Rössler, Der Arzt zwischen Technik und Humanität. Religiöse und ethische Aspekte der Krise im
Gesundheitswesen, München 1977; siehe auch G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei
des gelingenden Lebens, Göttingen 2002, S. 95.
5
Gegen die Abstraktion eines solipstistischen Autonomieverständnisses wendet sich das
Konzept der relationalen Autonomie, das in der feministischen Ethik entwickelt worden ist. 9
Der Mensch ist ein Beziehungswesen, wie besonders die Philosophie des dialogischen
Personalismus bewusst gemacht hat. Diese Sicht des Menschen entspricht, wie schon
gesehen, auch der biblischen Tradition. Ein Ich kann nicht ohne ein Du existieren. Auch die
moderne Entwicklungspsychologie und die Psychoanalyse weisen nach, dass das menschliche
Selbst in seiner Individualität immer auch ein soziales Selbst ist. Der Begriff der relationalen
Autonomie besagt, dass das Selbst auch in seiner Selbstbestimmtheit auf andere verwiesen
und angewiesen ist.
Das gilt auch für die Bereiche von Medizin und Pflege. Das Konzept der relationalen
Autonomie stimmt in der medizinischen und pflegerischen Praxis mit dem Modell der
partizipativen Entscheidungsfindung (shared decision making) überein. 10 Der Patient trifft in
der Regel keine einsamen Entscheidungen, sondern er berät sich mit Menschen seines
Vertrauens, mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin ebenso wie mit Angehörigen oder
ihm sonst nahestehende Personen, vielleicht auch mit einem Psychologen oder einem
Seelsorger, einer Seelsorgerin.
Oftmals besteht allerdings die Gefahr, dass von einem abstrakten Autonomiebegriff
ausgegangen wird, welcher der tatsächlichen Hilfs- und Schutzbedürftigkeit kranker
Menschen nicht gerecht wird. Es ist philosophisch wie theologisch betrachtet problematisch,
die Würde des Menschen an ein Autonomiekonzept zu binden, das Individualität mit Autarkie
und völliger Unabhängigkeit verwechselt und umgekehrt jede Form der Abhängigkeit, der
Hilfsbedürftigkeit und Angewiesenheit auf andere als narzisstische Kränkung erlebt. Ein
solches Autonomieverständnis aber führt dazu, Leiden und Schwäche als menschenunwürdig
zu betrachten und nur ein abstrakt selbstbestimmtes Sterben als menschenwürdig zu
akzeptieren.
Weiterführend sind die Ausführungen Farideh Akashe-Böhmes und ihres Mannes Gernot
Böhme zum Autonomiebegriff. Gehört Krankheit zum Leben dazu, ist, wie das Ehepaar
Böhme
9
10
argumentiert,
nicht
Autonomie,
sondern
Souveränität
das
angemessene
Vgl. C. Mackenzie/N. Stoljar (Hg.), Relational Autonomy. Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and
the Social Self, Oxford 2000. Das Konzept der relationalen Autonomie wurde laut Mackenzie und Stolja
erstmals von Jennifer Nedelsky aus feministischer Sicht formuliert. Vgl. C. Mackenzie/N.Stoljar,
Introduction: Autonomy Refigured, in: dies. (Hg.), a.a.O., S. 3-34, hier S. 26, Anm. 1.
Vgl. M. Butzlaff/B. Floer/J. Isfort, „Shared Decision Making“: Der Patient im Mittelpunkt von
Gesundheitswesen und Praxisalltag, in: J. Böcken/B. Braun/M. Schnee (Hg.), Gesundheitsmonitor 2003,
Gütersloh 2003, S. 41-55.
6
Persönlichkeitsideal. „Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und
Abhängigkeiten hinnehmen kann.“ 11
„Autonomie bis zuletzt“ ist nicht selten eine Fiktion. Selbst eine noch so ausgefeilte
Patientenverfügung ändert nichts an dem Umstand, dass der Patient „der verantwortlichen
Entscheidung Dritter anheimgegeben ist“ 12. Die deutsche Juristin Margot v. Renesse gibt zu
bedenken: „‚Patientenautonomie‘ ist die goldene Seite einer Medaille, deren Nachtseite die
schiere Angst ist, dass niemand ‚seines Bruders Hüter‘ sein will.“ 13
4. Das Recht zu leben und das Recht zu sterben
Das Recht auf Leben gilt uneingeschränkt in allen Phasen des Lebens, auch in der Phase des
Sterbens, gehört doch das Sterben, das vom Tod zu unterscheiden ist, noch zum Leben.
Sterbende sind nicht Halbtote, sondern Lebende – bis zum letzten Atemzug.
Das Recht auf Leben ist ein unveräußerliches Menschenrecht. Das elementarste Recht des
Menschen, nämlich Rechte zu haben – wie Hannah Arendt gesagt hat 14 – setzt die physische
Existenz des Menschen voraus. So gilt der ethische Grundsatz: Im Zweifelsfall für das Leben
– in dubio pro vita. Das Recht auf Leben bedeutet freilich keine Pflicht zum Leben. Weder
aus rechtlicher, noch – nach meinem Verständnis – aus christlicher Sicht haben wir das Recht,
andere Menschen zum Leben oder Weiterleben zu zwingen, auch wenn wir alles dafür tun
sollen, ihren Lebenswillen zu stärken und ihnen helfen sollen, die kostbare und einmalige
Gabe ihres Lebens zu achten.
Dass es keine Lebenspflicht gibt, erkennt die Rechtsordnung dadurch an, dass es das Recht
auf Verweigerung medizinischer Behandlung gibt. Das Verbot der eigenmächtigen
Heilbehandlung ist z.B. im österreichischen Strafrecht verankert (§ 110 StGB).
Therapieverzicht und Therapieabbruch können in einer Patientenverfügung verbindlich
festgelegt werden. Zu medizinischen Maßnahmen, die jeder einsichts- und urteilsfähige
Mensch nach deutschem wie nach österreichischem Recht verweigern darf, gehört übrigens
u.a. auch die Sondenernährung. Ihre Verweigerung kann daher auch Gegenstand einer
Patientenverfügung sein.
11
12
13
14
F. Akashe-Böhme/G. Böhme, Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen
(Beck’sche Reihe 1620), München 2005, S. 62; vgl. S. 85.
M. v. Renesse, Die Patientenverfügung – „Autonomie bis zuletzt?“, ZEE 49, 2005, S. 144-146, hier S. 146.
Ebd.
H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955, S. 614.
7
Der Grundsatz des Lebensschutzes legitimiert weder ethisch noch rechtlich die
Bevormundung und Entmündigung von Patienten. Sofern die Grenzen geachtet werden, die
das österreichische und das deutsche Strafrecht gegenüber aktiver Sterbehilfe ziehen – in
Österreich steht auch die Suizidbeihilfe unter Strafe –, ist die Freiheit der Menschen zu
achten. Wer glaubt, mündige Bürger vor sich selbst schützen zu müssen, gibt letztlich der
Forderung nach einer Liberalisierung der Euthanasie neue Nahrung.
Die menschliche Existenz ist nicht nur durch Verantwortung, sondern auch durch Freiheit
bestimmt. Die evangelische Tradition legt auf den Zusammenhang von Freiheit, Liebe und
Verantwortung besonderes Gewicht. Kennzeichen der Sünde ist es, sterben zu müssen und
doch nicht sterben zu können, d.h. das Sterben nicht annehmen zu können. Der Glaube
eröffnet dagegen die Freiheit zum Leben wie zum Sterbenkönnen.
Die Freiheit eines Christenmenschen schließt die Freiheit nicht nur im Sterben, sondern
auch zum Sterben ein. Die Achtung vor der Gewissensfreiheit ist nicht nur ein allgemeiner
ethischer Grundsatz, sondern zutiefst christlich. Nach christlicher Überzeugung ist das Leben
zwar als gute Gabe Gottes zu achten und zu schützen. Der Glaube an die Auferstehung von
den Toten führt im Christentum aber auch zu einer eigentümlichen Relativierung des Lebens.
So gewiss es von Gott kommt, ist es doch nicht das höchste Gut. Nach christlicher Auffassung
wird das natürliche Leben überboten durch das Mit-Christus-Sein, das Leben und Tod
umschließt. Weil nach der Botschaft des Neuen Testaments Liebe stärker ist als der Tod und
uns nichts von der Liebe Gottes scheiden kann (Römer 8), ist das natürliche Dasein kein
absoluter Wert.
Wann für einen Menschen, auch und gerade, wenn er sich Gott als seinem Schöpfer und
Erlöser gegenüber verantwortlich fühlt, der Zeitpunkt gekommen ist, sein Leben loszulassen,
um sich in Gottes Arme fallen zu lassen und in ihn „hineinzusterben“ 15, kann nicht von
Außenstehenden entschieden werden. Zwei Patienten im gleichen Stadium einer weit
fortgeschrittenen Krebserkrankung können – aus Achtung vor dem Leben als guter Gabe
Gottes und in Anerkennung des Lebens als uns gestellter Aufgabe – zu ganz unterschiedlichen
Entscheidungen kommen. Der eine will die Therapie fortsetzen, weil er noch etwas in seinem
Leben zu erledigen und zu regeln hat, der andere glaubt zum Sterben bereit zu sein und
verzichtet auf die weitere Therapie.
Dass der Tod natürlicherweise zum Leben gehört, besagt nicht, dass man aus natürlichen
Sterbeverläufen normative Handlungsanweisungen für die Ethik am Lebensende ableiten
15
H.-J. Rosenstock, Für mich gestorben!? Was hat Jesu Tod mit mir zu tun?, Bielefeld 2010, S. 66.
8
kann. Unser Verhältnis zum natürlichen Leben ist vielmehr, wie Dietrich Bonhoeffer schreibt,
durch die Dialektik von Widerstand und Ergebung bestimmt, 16 und die Grenzen zwischen
beiden lassen sich nicht prinzipiell, sondern nur in der konkreten Situation ziehen. Es kann
dem Willen Gottes ebenso entsprechen, das Sterben zu einem konkreten Zeitpunkt zu
akzeptieren und den Dingen ihren Lauf zu lassen, wie auch, sich Krankheit und Tod unter
Einsatz moderner medizinischer Möglichkeiten zu widersetzen.
5. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht
2006 ist in Österreich das Patientenverfügungsgesetz (PatVG) in Kraft getreten. Im Auftrag
des Gesundheitsministeriums hat das Institut für Ethik und Recht in der Medizin (IERM) der
Universität Wien hat drei Jahre lang untersucht, welche praktischen Erfahrungen mit diesem
Gesetz und mit dem Instrument der Patientenverfügung vorliegen. Im Dezember 2014 wurde
der Abschlussbericht veröffentlicht. 17 Eine erste Untersuchung fand bereits von 2006 bis
2009 statt. Diese Mal hat man aber auch untersucht, wie weit Patientinnen und Patienten von
der Möglichkeit einer Vorsorgevollmacht Gebrauch machen.
Wie die neue Studie zeigt, ist die Möglichkeit einer Patientenverfügung in der
österreichischen Bevölkerung durchaus bekannt. Nur rund vier Prozent haben aber eine
Verfügung errichtet. Gegenüber der Studie von 2009 hat sich die Zahl nicht nennenswert
verändert. Einer der Gründe ist wohl darin zu suchen, dass es aufseiten der Angehörigen der
Gesundheitsberufe immer noch an ausreichender Information über die Patientenverfügung
wie an einem Bewusstsein für ihre Bedeutung mangelt.
Eine Patientenverfügung im Sinne des Gesetzes ist „eine Willenserklärung, mit der ein
Patient eine medizinische Behandlung ablehnt und die dann wirksam werden soll, wenn er im
Zeitpunkt der Behandlung nicht einsichts-, urteils- oder äußerungsfähig ist“ (§ 2 [1]). Sie kann
nur höchstpersönlich errichtet werden. Das österreichische Patientenverfügungsgesetz
unterscheidet zwischen verbindlichen und beachtlichen Patientenverfügungen. Als beachtlich,
16
17
Vgl. D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Chr.
Gremmels, E. Bethge u. R. Bethge in Zusammenarbeit mit I. Tödt (DBW 8), Gütersloh 1998, S. 333f.
U. Körtner/Chr. Kopetzki/M. Kletečka-Pulker/L. Kaelin/S. Dinges/K. Leitner, Rechtliche
Rahmenbedingungen und Erfahrungen bei der Umsetzung von Patientenverfügungen Folgeprojekt zur
Evaluierung des Patientenverfügungsgesetzes (PatVG), unter Mitarbeit von Christine Rebernig, Wien 2014
(online
abrufbar
unter
http://www.bmg.gv.at/cms/home/attachments/4/0/1/CH1464/CMS1418680524597/studie_patientenverfuegu
ng_patvgii_15.12.2014.pdf).
9
d.h. als Orientierungshilfe für den behandelnden Arzt bei der Ermittlung des Patientenwillens,
gelten
alle
Verfügungen,
welche
nicht
die
strengen
Auflagen
für
verbindliche
Patientenverfügungen erfüllen.
Die Errichtung einer verbindlichen, d.h. vom Arzt unbedingt zu befolgenden Verfügung,
ist ein Notariatsakt. Sie hat in jedem Fall schriftlich vor einem Rechtsanwalt, einem Notar
oder einem rechtskundigen Mitarbeiter der Patientenvertretungen (Patientenanwaltschaften)
zu erfolgen (§ 6 PatVG). Dabei ist der Patient – so die durchgängige Bezeichnung des
Gesetzes für die Person, welche die Patientenverfügung errichtet – über die Folgen der
Patientenverfügung sowie über die Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs zu belehren.
Außerdem muss die Verfügung alle fünf Jahre erneuert werden (§ 7 PatVG). Vor Errichtung
hat eine umfassende ärztliche Aufklärung zu erfolgen, die schriftlich zu dokumentieren ist.
Dabei hat der Arzt auch das Vorliegen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Patienten zu
bescheinigen (§ 5 PatVG). Auch soll er darlegen, dass und aus welchen Gründen der Patient
die Folgen der Patientenverfügung zutreffend einschätzt. Beispielsweise kann dem Patienten
eine frühere oder aktuelle Erkrankung oder diejenige eines Angehörigen vor Augen stehen.
Auch bei Erneuerung der Patientenverfügung ist eine erneute ärztliche, schriftlich zu
dokumentierende Aufklärung gefordert.
Neben den genannten formalen Anforderungen muss eine verbindliche Patientenverfügung
bestimmte inhaltliche Bedingungen erfüllen. In ihr „müssen die medizinischen Behandlungen
die Gegenstand der Ablehnung sind, konkret beschrieben sein oder eindeutig aus dem
Gesamtzusammenhang der Verfügung hervorgehen. Aus der Patientenverfügung muss zudem
hervorgehen, dass der Patient die Folgen der Patientenverfügung zutreffend einschätzt“ (§ 4
PatVG).
Patientenverfügungen, welche nicht alle genannten Voraussetzungen erfüllen, gelten als
beachtlich. Sie sind bei der Ermittlung des Patientenwillens umso mehr zu beachten, je eher
sie die Voraussetzung einer verbindlichen Verfügung erfüllen (§ 9 PatVG). Unwirksam
werden Patientenverfügungen, wenn sie nicht frei und ernstlich erklärt oder durch Irrtum,
List, Täuschung oder physischen oder psychischen Zwang veranlasst wurden, wenn ihr Inhalt
gegen Bestimmungen des Strafrechts verstößt (Tötung auf Verlangen, Suizidbeihilfe), aber
auch, wenn „der Stand der medizinischen Wissenschaft sich im Hinblick auf den Inhalt der
Patientenverfügung seit ihrer Errichtung wesentlich geändert hat“ (§ 10 [1] PatVG). Ihre
Wirksamkeit verliert eine Patientenverfügung außerdem, wenn sie der Patient selbst widerruft
10
„oder zu erkennen gibt, dass sie nicht mehr wirksam sein soll“ (§ 10 [2] PatVG). Zum Schutz
vor Missbrauch enthält das Gesetz Verwaltungsstrafbestimmungen (§ 15 PatVG).
Die medizinische Notfallversorgung bleibt von diesem Patientenverfügungsgesetz
allerdings unberührt, sofern der mit der Suche nach einer Patientenverfügung verbundene
Zeitaufwand das Leben oder die Gesundheit des Patienten ernstlich gefährden würde (§ 12
PatVG).
Seit dem Abschluss der ersten Studie zum PatVG ist die Debatte über das Recht auf ein
menschenwürdiges Sterben sowie auch über die Rahmenbedingungen für menschenwürdiges
Leben bzw. bestmögliche Lebensqualität als Ergebnis von Behandlungsprozessen
international wie auch in Österreich intensiv fortgeführt worden. Anfang März hat die
Enquete-Kommission des Nationalrates zur Würde am Ende des Lebens ihre Ergebnisse
vorgelegt. Große Übereinstimmung herrscht über den dringend nötigen Ausbau der
Palliativversorgung. Keine Einigkeit konnte die Kommission in der Frage erzielen, ob das
geltende Verbot der Tötung auf Verlangen in der Verfassung festgeschrieben werden soll.
Das geltende Euthanasieverbot in den Verfassungsrang zu heben, könnte unerwünschte
Folgen haben. Vermutlich würde ein solches Verfassungsgesetz nur die unter Ärzten,
Patienten und Pflegepersonen ohnehin schon bestehende Unsicherheit vergrößern, welches
medizinische Tun oder Unterlassen als Verstoß gegen das Euthanasieverbot oder gegen das
Verbot der Suizidbeihilfe zu beurteilen ist. Auf diese Weise könnte womöglich auch das
geltende PatVG ausgehöhlt werden, weil die Angst steigt, durch Befolgung einer
Patientenverfügung gegen das Strafrecht zu verstoßen und die beachtlichen Verfügungen, die
von den verbindlichen unterschieden sind, noch weiter zu entwerten als dies ohnehin schon
die Gefahr ist.
Die Zielvorstellung eines menschenwürdigen Sterbens lässt sich allerdings nicht auf die
Problematik der Selbstbestimmung am Lebensende reduzieren. Hier ist vielmehr ein
mehrdimensionaler Prozess zu beschreiben, in dem einerseits Patientinnen über ihr eigenes
Leben und Sterben nachdenken und anderseits dafür Sorge tragen, dass diese Vorstellungen in
verwandtschaftliche Netzwerke und in medizinisch-pflegerische Behandlungssettings hinein
kommuniziert werden.
In vielen Fällen kann dabei eine Vorsorgevollmacht sinnvoller als eine Patientenverfügung
sein. Durch eine Vorsorgevollmacht bevollmächtigt eine Patientin für den Fall, dass sie selbst
nicht (mehr) entscheidungsfähig ist, ihren Willen verbindlich zu interpretieren. Eine solche
Vollmacht muss, um rechtswirksam zu sein, bei einem Rechtsanwalt oder Notar errichtet
11
werden. In manchen Fällen kann es ratsam sein, sowohl eine Vorsorgevollmacht als auch eine
Patientenverfügung zu errichten.
Die Stärkung des individuellen Willens von Patientinnen für Behandlungsentscheidungen
ist ein wichtiger, unaufgebbarer Schritt im Sinne von Patientenrechten. Die Beobachtungen
der
erwähnten
Studie
des
IERM
zeigen
jedoch
eine
Tendenz
zu
einer
Entscheidungsdelegation an Ärztinnen bzw. Angehörige. Es wäre zu diskutieren, ob das
jetzige Maß an Autonomie respektive Selbstbestimmung bei Behandlungsentscheidungen für
viele Menschen ohne eine entsprechende Unterstützung und Begleitung bereits eine
Überforderung oder gar eine Zumutung bedeutet.
Aus diesem Grund vertritt die Studie des IERM das Konzept der relationalen Autonomie.
Dieses Konzept steht hinter Modellen der partizipativen Entscheidungsfindung, die
keinesfalls die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen abschwächen oder unterlaufen
sollen. Sie führen aber zum Modell des ‚Vorsorgedialogs‘. Patientenverfügung und
Vorsorgevollmacht sind demnach Instrumente, um das Selbstbestimmungsrecht von
Patientinnen und Sterbenden in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Fürsorge im Rahmen
eines umfassenderen strukturierten Kommunikationsgeschehens zu achten und zu stärken, in
das auch die übrigen Entscheidungsträgerinnen eingebunden sind. Hier kommt es auch ganz
entscheidend auf die organisationalen Rahmenbedingungen in einem Krankenhaus, einer
Abteilung oder eine Einrichtung der Pflege an.
Die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Sterbenden, die ein zentrales Anliegen des
Patientenverfügungsgesetzes ist, benötigt schließlich das Wissen über die gesetzlichen
Möglichkeiten, dieses Recht zu wahren und zudem ein möglichst offenes Sich-Einlassen auf
mit Tod und Sterben verbundenen (gesellschaftlichen) Fragen. Zur Zeit besteht sowohl in den
Gesundheitsberufen als auch bei den Patientinnen noch eine große Unsicherheit bezüglich der
Patientenverfügung, welche ihren sinnvollen Einsatz zum selbstbestimmten Sterben
erschwert. Ein verbessertes Wissen, eine enttabuisierte Kommunikation darüber und eine
Einbettung in Organisationsstrukturen der Gesundheitseinrichtungen sind vonnöten, damit
sich Patientenverfügungen in der medizinischen Praxis verwurzeln können.
12
6. Suizid, Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen
Weil der Tod zum Leben gehört, impliziert das Recht auf Leben recht verstanden auch das
Recht auf Sterben. 18 In seinem Stundenbuch (1903) schrieb Rainer Maria Rilke die folgenden
Gedichtzeilen:
O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
Die Frage lautet aber, ob das Recht auf den eigenen Tod mit dem Recht gleichzusetzen ist,
sich zu töten oder sich auf eigenen Wunsch töten zu lassen. Ist mein Leben mein Besitz, über
den ich frei verfügen kann wie über mein sonstiges Eigentum? Rechtlich betrachtet stellt sich
die Frage nach der Reichweite des Rechtes auf Leben, wie es in Artikel 2 des Grundgesetzes
und Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention kodifiziert ist, und seinem
Verhältnis zum Recht auf Selbstbestimmung und auf Privatsphäre, das in Artikel 8 der
Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert wird. Im christlichen Kontext lautet die
Frage, ob ich selbst der Herr über mein Leben und Sterben bin, oder ob das Leben und der
Leib eine Leihgabe Gottes sind, der Rechenschaft von uns fordert, wie wir mit dieser Gabe
umgehen.
Verbreitet ist die Rede vom Leben als Geschenk. Wir sprechen davon, dass eine Mutter
ihrem Kind das Leben geschenkt hat und davon, dass Gott uns allen das Leben aus lauter Güte
schenkt. Die Geschenkmetapher ist allerdings nicht unproblematisch. Geschenkt ist
geschenkt, so heißt es. Wer etwas verschenkt, kann dem Beschenkten keine weitere Vorschrift
machen, wie er mit diesem umgeht. Er kann es weiter verschenken oder auch zerstören. Wir
können biblisch wohl vom Leben als Gabe sprechen, wobei die Logik der Gabe nicht mit der
Logik des Tausches verwechselt werden darf. Aber mit der Gabe ist uns das leibliche Leben
auch als Aufgabe gegeben. Wir stehen in grundlegenden Verantwortungsverhältnissen,
sowohl Gott als auch unseren Mitmenschen gegenüber. Auch die Frage, wie wir mit dem
eigenen und fremden Sterben umgehen, ist eine Frage der Verantwortungsethik.
Ein theologischer Begriff von Verantwortung transzendiert freilich den ethischen oder
juristischen Begriff von Verantwortung. Sich Gott gegenüber verantwortlich wissen, heißt
18
Zum folgenden vgl. auch U. Körtner, Beihilfe zur Selbsttötung – eine Herausforderung an eine christliche
Ethik, ZEE 59, 2015, S. 89-10.
13
auch, sich ihm zu überantworten, hingeben und ausliefern. Das gilt gerade auch für das
Sterben.
Eine christliche Ethik hat sich immer auch am biblischen Zeugnis zu orientieren, auch
wenn biblische Aussagen und Weisungen nicht umstandslos mit Gottes Gebot gleichzusetzen
sind. Die Bezugnahme jeder Ethik auf das biblische Zeugnis erfordert eine solide
Bibelhermeneutik. 19 Das gilt auch im Fall der biblischen Aussagen, die für die
Suizidproblematik relevant sind oder sein könnten. Die in der christlich-theologischen
Tradition lange Zeit vorherrschende Auffassung, der Suizid sei in jedem Fall eine in sich
schlechte Handlung und als schwere Sünde zu verwerfen, kann jedenfalls aus dem biblischen
Gesamtzeugnis nicht hinreichend begründet werden.
Die scharfe Verurteilung der Selbsttötung ist vor allem von Augustin und Thomas von
Aquin geprägt worden. Luther hat den Suizid als Zeichen der Anfechtung des Glaubens
interpretiert. 20 In der neueren evangelischen Theologie haben Karl Barth und Dietrich
Bonhoeffer die Auffassung vertreten, nicht die Verkündigung des Gesetzes, sondern allein
die Predigt des Evangeliums sei das theologisch gebotene Mittel zur Verhinderung der
Selbsttötung, 21 die von beiden Theologen allerdings grundsätzlich abgelehnt wird. Im
Einzelfall verbiete sich aber das moralische Urteil von Außenstehenden. Auch hat Bonhoeffer
die Möglichkeit erwogen, dass der Suizid als Selbstopfer vollzogen werden könnte, z.B. um
zu verhindern, dass jemand unter Folter die Namen von Widerstandskämpfern im Kampf
gegen Hitler preisgibt. Bonhoeffer dachte auch über die unter Umständen prekäre Situation
von Schwerkranken und ihrer Angehörigen nach. In seiner nachgelassenen Ethik liest man:
„Wenn ein unheilbar Kranker sehen muß, daß seine Pflege den materiellen und seelischen
Zusammenbruch seiner Familie zur Folge hat und durch eigenen Entschluß die Seinen von
dieser Last befreit, so mögen gewiß manche Bedenken gegen so eigenmächtiges Handeln
bestehen, dennoch wird eine Verurteilung auch hier nicht möglich sein.“ 22 Wie schon
Bonhoeffer feststellt, wird die Selbsttötung nirgendwo in der Bibel ausdrücklich verboten. Er
19
20
21
22
Vgl. dazu Th. Krüger, „Wer weiß denn, was gut ist für den Menschen?“. Zur Bedeutung des Alten
Testaments für die evangelische Ethik, ZEE 55, 2011, S. 248-261; J. Fischer, Die Bedeutung der Bibel für
die Theologische Ethik, ZEE 55, 2011, S. 262-273; M. Konradt, Neutestamentliche Wissenschaft und
Theologische Ethik, ZEE 55, 2011, S. 274-286; U. Körtner, Das Neue Testament als Quelle theologischer
Ethik. Anmerkungen zum Verhältnis von theologischer Ethik und neutestamentlicher Wissenschaft aus
systematisch-theologischer Sicht, ZEE 55, 2011, S. 287-300.
Vgl. die Literaturhinweise bei D. Bonhoeffer, Ethik, hg. v. I. Tödt, H.E. Tödt, E. Feil u. Cl. Green (DBW 6),
Gütersloh 21998, S. 199, Anm. 103.
Vgl. D. Bonhoeffer, a.a.O. (Anm. 20), S. 195f.
D. Bonhoeffer, a.a.O. (Anm. 20), S. 197.
14
werde aber wiederholt als „Folge schwerster Sünde“ 23 geschildert, so im Fall der Verräter
Ahitophel (II Sam 17,23) und Judas (Mt 27,5; Act 1,16-20).
Tatsächlich urteilt die Bibel nicht einhellig. 24 Das Tötungsverbot des Dekalog lässt sich
nicht ohne weiteres auf den Suizid beziehen, weil es sinngemäß nur das Töten eines anderen
in den Blick nimmt, wobei dem ursprünglichen Sinne nach weder das Töten im Krieg noch
der Vollzug der Todesstrafe ausgeschlossen ist. Narrative Texte im Alten und Neuen
Testament ergeben ein widersprüchliches Bild. Einerseits finden sich negative Beispiele wie
dasjenige Sauls (I Sam 31,3-6) oder die erwähnten Erzählungen von Ahitophel und Judas.
Andererseits wird die Selbsttötung Simsons, der seine Feinde gleich mit in den Tod reißt,
verherrlicht (Ri 16,21-31; vgl. Hebr 11,32).
Die erwähnte Orientierungshilfe der GEKE vertritt die Auffassung, dass sich ein Recht auf
Suizid und Suizidbeihilfe ebensowenig wie ein Recht auf Tötung auf Verlangen christlich
rechtfertigen lässt. Gleichwohl erkennt sie die Aufgabe, suizidwillige Menschen und ihre
Angehörigen selbst dann nicht seelsorgerlich allein zu lassen, wenn diese sich zu Handlungen
entscheiden, welche von den Positionen, die die Kirchen der GEKE vertreten, abweichen.
Wörtlich heißt es dazu: Es kommt
„wesentlich darauf an, dass Kirchen und Gemeinden – unabhängig von jeglicher ethischer
Bewertung dieser Frage – niemanden in Kontexten verlassen, wo Beihilfe zu Selbsttötung
legalisiert worden ist und regelmäßig durchgeführt wird, sondern dass sie fortfahren den
Patienten zu begleiten, zu ermutigen und zu unterstützen, auch wenn es die feste
Entscheidung des Patienten ist, die unterstützte Selbsttötung zu Ende zu führen. Die
dienende Anwesenheit von Gemeindemitarbeitern und Ehrenamtlichen mit Seelsorge, dem
Wort Gottes und Gebeten soll nicht als Mittäterschaft bei der Selbsttötung abgelehnt
werden, sondern viel mehr unterstützt werden, als eine Weise, der Berufung von Kirche
und Christen gerecht zu werden.“ 25
Die Orientierungshilfe sieht zwischen der grundsätzlich abgelehnten Tötung auf Verlangen
und dem assistierten Suizid ethische Unterschiede. Schließlich bleibt es im Fall der
Suizidbeihilfe noch immer der Suizident, der den Tod aktiv herbeiführt und nicht die Beihilfe
leistende Person. Dennoch sind die bestehenden Unterschiede nicht derart, dass sie die
Einwände gegen die Tötung auf Verlangen, auf die Suizidbeihilfe bezogen, zerstreuen
würden. Die von der Orientierungshilfe gegen die Tötung auf Verlangen vorgetragenen
Hauptargumente gelten vielmehr auch für die Beihilfe zur Selbsttötung.
Die gegen die Tötung auf Verlangen vorgebrachten Argumente lauten zusammengefasst:
23
24
25
D. Bonhoeffer, a.a.O. (Anm. 20), S. 195.
Vgl. M. Honecker, Art. Suizid V. Ethisch, RGG4 VII. Tübingen 2004, Sp. 1855-1857.
A.a.O. (Anm.6), S. 98f.
15
„Sie widerspricht tiefverwurzelten moralischen Überzeugungen, nicht nur einer spezifisch
christlichen Tradition, sondern eines breiteren, gemeinsamen Erbes, nämlich dem Ideal,
nicht unschuldiges Leben zu nehmen und der Pflicht, Leben zu schützen, besonders jenes,
das verletzlich und gebrechlich ist. Und die üblicherweise vorgebrachten Argumente zur
Entkräftung dieser grundlegenden moralischen Überzeugung, nämlich Autonomie und
Wohltätigkeit/Benefizienz, besitzen als ethische Rechtfertigung von Tötung auf Verlangen
kein Gewicht. Tötung auf Verlangen ist schwer vereinbar mit einer der wesentlichsten und
beständigsten Überzeugungen und Glaubensaussagen der christlichen Tradition, nämlich
dass die fundamentale und unabdingbare Würde menschlichen Lebens nicht auf seiner
Fähigkeit zu unabhängiger Selbstbestimmung und seinem Tätigsein beruht, sondern in der
schöpferischen und rechtfertigenden Liebe, die der Mensch von Gott in Christus empfängt.
Dies kann nicht rein als Angelegenheit des individuellen Gewissens angesehen werden,
die der Staat legalisieren sollte. Eine Legalisierung würde eine Art von Normalisierung
und Bewilligung von Tötung auf Verlangen implizieren, was sie zu einem gewöhnlichen
und etablierten Element medizinischer und klinischer Praxis machen würde. Dem
Umstand, dass moralische Tragödien vorkommen können, z.B. Situationen in denen es
keinen Weg zur Vermeidung einer schweren Beeinträchtigung eines wesentlichen und
zentralen moralischen Gutes gibt, könnte eher durch den rechtlichen Ausweg entsprochen
werden – wie es tatsächlich in einigen Ländern der Fall ist –, seltene und extreme Fälle
strafrechtlich nicht zu verfolgen und daher die fälligen Rechtswege nicht zu befolgen.“ 26
Wie lassen sich diese allgemeinen Ausführungen weiter konkretisieren? Fragen wir zunächst
grundsätzlich nach der ethischen Beurteilung der Suizidbeihilfe. Wenn es Fälle der
Selbsttötung geben kann, in denen sich ein moralisches und erst recht ein theologisches Urteil
verbietet, so gilt dies entsprechend auch für Fälle der Suizidbeihilfe. Es kann Situationen
geben, in denen ein Mensch – auch wenn er sein Gewissen vor Gott prüft – für sich keinen
anderen Weg sieht, als einem anderen Menschen bei der Selbsttötung zu helfen oder zur Seite
zu stehen. Solche Fälle können als Grenzfälle vorkommen, als tragische Situation oder als
ethisches Dilemma, in der sich die Betroffenen vor die unmögliche Wahl einer tragic choice
gestellt sehen. Es entspricht der grundlegenden evangelischen Sichtweise von Sünde, Glaube
und Rechtfertigung, von Freiheit, Liebe und Verantwortung vor Gott und den Menschen
sowie den Grenzen der Ethik und des Ethischen, wenn eine solche Handlungsweise im
konkreten Einzelfall dem göttlichen Urteil überlassen bleibt. Die Orientierungshilfe der
GEKE unterscheidet freilich noch einmal zwischen aktiver Suizidbeihilfe und der Begleitung
eines Suizidenten im Sterbeprozess. Das mag im konkreten Einzelfall nur einen sehr feinen
Unterschied machen; dieser bleibt aber aus meiner Sicht ethisch relevant.
Sodann ist meines Erachtens zu unterscheiden, ob die Entscheidung für den Suizid oder die
Suizidbeihilfe in einer schwerwiegenden Leidenssituation getroffen wird, etwa nachdem ein
26
A.a.O. (Anm. 6), S. 86f.
16
unheilbar erkrankter Mensch nach einem langen und schweren Leidensweg für sich keinen
anderen Weg mehr sieht, oder ob die Entscheidung für den Suizid schon getroffen wird, bevor
eine derartige Konfliktsituation überhaupt eingetreten ist. Grenzfälle können nicht
vorweggenommen werden, und sie bleiben auch darin Grenzfälle, dass sich aus ihnen keine
verallgemeinerbare Regel ableiten lässt, die als ethische oder als Rechtsnorm kodifiziert wird.
Eine hypothetische Festlegung nach dem Muster: Sollte ich einmal an dieser oder jener
unheilbaren und fortschreitenden Krankheit erkranken, werde ich mir in jedem Fall das Leben
nehmen und sicherstellen, dass mir dabei jemand hilft, halte ich aus Sicht einer christlichen
Ethik für äußerst problematisch. Insofern besteht aus Sicht einer christlichen Ethik, wie ich sie
vertrete, auch ein erheblicher Unterschied zwischen der individuellen Entscheidung für den
Suizid oder die Suizidbeihilfe in einer konkreten Konfliktlage und der grundsätzlichen
Befürwortung des Suizids und der Beihilfe zur Selbsttötung in der Form einer Mitgliedschaft
bei einer Sterbehilfeorganisation.
Mit Sterbehilfeorganisationen verlagert sich das ethische Problem des Suizids von der
individual- und personalethischen Ebene auf die sozialethische Ebene. Organisierte
Suizidbeihilfe macht aus möglichen Grenzfällen ein regelhaftes, institutionalisiertes Handeln.
Dies ist aber mit jenen ethischen Grundsätzen, die ich bisher entwickelt habe, nicht in
Einklang zu bringen.
Sterbehilfeorganisationen geben sich Regeln, nach denen sie entscheiden, unter welchen
Voraussetzungen sie Sterbewilligen Suizidbeihilfe leisten oder auch verweigern. Ganz
abgesehen davon, wie seriös die Prüfung des Suizidwunsches im Einzelfall erfolgt, wie
ernsthaft überprüft wird, ob der Wunsch zu Sterben auf eine schwere psychische Erkrankung
zurückzuführen ist, so dass man nicht mehr von einer wohlüberlegten und freien
Willensäußerung ausgehen kann, und abgesehen davon, wie würdig oder unwürdig manche
Methoden der Selbsttötung sind, welche von Sterbehilfeorganisationen angeboten und
durchgeführt werden, handelt es sich bei den sogenannten Sterbe- oder Freitodbegleitern um
Personen, die zum Suizidwilligen in der Regel nicht in einem Naheverhältnis stehen, sondern
die eine allgemein gutgeheißene Dienstleistung anbieten. Sozialethisch ist auch zu bedenken,
dass die Legalisierung – und das heißt auch Reglementierung – organisierter Suizidbeihilfe
Auswirkungen auf die gesellschaftliche Einstellung zu Sterben und Tod hat, die wiederum
Rückwirkungen auf den Einzelfall haben, in denen ein schwerkranker Patient und seine
Angehörigen vor der drängenden Frage stehen, wie sie die Situation ertragen können und
welche Hilfe es für sie gibt.
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7. Abschließende Bemerkungen
Das eigene Sterben und der Tod von Angehörigen ist mit erheblichen Ängsten belastet, mit
denen sich die Menschen alleingelassen fühlen: mit der Angst, unerträgliche Schmerzen
erleiden zu müssen; mit der Angst, den Angehörigen und der Gesellschaft zur Last zu fallen;
mit der Angst im Sterben alleingelassen zu werden; mit der Angst, ausgeliefert zu sein und
der Würde beraubt zu werden; mit der Angst, auch gegen den eigenen Willen unnötig lange
am Leben erhalten zu werden, was keiner Lebens-, sondern einer Sterbeverlängerung
gleichkommt; mit der Angst, dass das Leben fahrlässig verkürzt wird durch mangelnde
medizinische und pflegerische Hilfe oder gar durch vorsätzliche Tötung. Die gesellschaftliche
Aufgabe besteht darin, der Einsamkeit der Sterbenden entgegenzuwirken und eine neue
Kultur der Solidarität mit den Sterbenden zu entwickeln. Was Sterbende brauchen, ist unsere
Solidarität, nicht die todbringende Spritze.
In diesem Zusammenhang sollte gesehen werden, wie sehr gerade Ärzte und Pflegende,
wie überhaupt alle, die Sterbende begleiten, auf Unterstützung und öffentliche Solidarität,
aber auch auf qualifizierte medizinethische Aus- und Fortbildung angewiesen sind. 27 Dazu
gehören auch praktische Maßnahmen zur Beseitigung von personellen, räumlichen und
strukturellen Engpässen in der Pflege sowie eine gesellschaftliche, aber auch finanzielle
Aufwertung des Pflegeberufs. Gefordert ist eine Gestaltung der gesellschaftlichen
Verhältnisse, aber auch der Medizin und der Pflege in Krankenanstalten und Pflegeheimen,
welche die Würde des Menschen im Leben wie im Sterben achtet.
Autor
O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner
Vorstand des Instituts für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, EvangelischTheologische Fakultät, Universität Wien, Schenkenstraße 8–10, 1010 Wien;
Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, Spitalgasse 2–4,
Hof 2.8, 1090 Wien
E-Mail: [email protected]
Homepage: http://etfst.univie.ac.at/team/o-univ-prof-dr-dr-hc-ulrich-hj-koertner/
27
Vgl. U. Körtner, Ethik im Krankenhaus. Diakonie – Seelsorge – Medizin, Göttingen 2007.
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