Vorwort - Ch. Links Verlag

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Vorwort
Gehört die Türkei zu Europa? Schon die Frage ist eigentlich
falsch gestellt. Wer sich die europäischen Gründungsmythen vergegenwärtigt, wird schnell feststellen, dass Zeus seine Europa
auf türkischer Erde, an der Küste der Ägäis, fand, dass Homer
in der heutigen Türkei lebte und Troja schon vor 7000 Jahren
über die Dardanellen wachte. Auch mit dem so genannten christlichen Erbe Europas ist die Türkei eng verbunden. Im früheren
Antiochia, dem heutigen Antakya nahe der syrischen Grenze,
entstand die erste christliche Gemeinde außerhalb Israels. Paulus war zwar kein Türke, entfaltete seine Wirkung als erster
Missionar des Christentums aber in Anatolien, der heutigen Türkei. Auch als der römische Kaiser Konstantin den Mittelpunkt
des Reiches von Rom nach Byzanz verlegte und das heutige
Istanbul den Namen Konstantinopel bekam, bezweifelte niemand, dass diese Stadt eine europäische Metropole war. Was
denn sonst, eine asiatische Niederlassung der Römer etwa? Dasselbe gilt für das byzantinische Kaiserreich insgesamt. Konstantinopel war der Mittelpunkt des orthodoxen Christentums, noch
heute gilt der Patriarch von Istanbul als spirituelles Oberhaupt
der gesamten Orthodoxie.
Stellen wir uns einmal vor, in Istanbul säße nach wie vor eine
wie auch immer geartete Nachfolgeregierung des byzantinischen
Kaiserreiches. Würde irgendjemand ernsthaft bezweifeln, dass
dieses Land zu Europa gehört? Die Frage stellt sich erst seit der
Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453.
Richtig lautet die Frage also, gehören die Türken zu Europa?
Zweifellos waren die türkischen Nomaden, die um die erste
Jahrtausendwende herum nach Anatolien einwanderten, kein
europäisches Volk. Das lässt sich aber schon von den Osmanen,
die knapp 500 Jahre später Byzanz endgültig besiegten, so nicht
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mehr sagen. Wie immer und überall, haben sich Einwanderer
mit der bereits vorhandenen Bevölkerung vermischt. Längst lebten die Osmanen nicht mehr nur in Anatolien, sondern auch
auf dem Balkan. Selbst zwischen dem Reich der Osmanen und
den Byzantinern gab es bereits mehr als hundert Jahre vor der
endgültigen Eroberung der Metropole enge, selbst familiäre Beziehungen. Es gab Osmanen in der belagerten Stadt und Griechen, die an der Seite der Osmanen fochten. Für Sultan Mehmed II., unter dessen Befehl die Stadt eingenommen wurde, war
klar, dass er mit der Eroberung das Erbe des byzantinischen
Kaiserreiches antrat.
Das Buch beginnt deshalb mit der Geschichte des jüngsten Sohnes von Mehmed II., Cem Sultan, der im Streit um die Nachfolge
auf dem Sultansthron unterlag und nach Westeuropa, in den
römisch-katholischen Herrschaftsbereich flüchtete. Die Flucht
Cems markierte den Beginn intensiver diplomatischer Beziehungen zwischen dem osmanischen Hof, dem Papst und verschiedenen anderen Herrschern im Westen Europas, die seitdem
auch nicht mehr abrissen.
Der zweite Teil des Buches beschreibt die Entwicklung der
modernen Türkei seit Gründung der Republik 1923 und den
Reformen Kemal Atatürks. Es geht um die Nachfolger Atatürks,
die Kemalisten und ihre Gegner, die Islamisten, und die Vorstellungen der beiden verfeindeten Lager von ihrem Verhältnis zu
Europa. Dabei wird auch die Frage behandelt, welche Rollen
Frauen in der türkischen Gesellschaft spielen oder spielen sollen. Es geht um die Kurden nach dem Ende des Bürgerkrieges
und um die modernen Nomaden, die zwischen Istanbul, Berlin
und Wien pendeln und denen gegenüber sich die Frage nach
ihrer Zugehörigkeit zu Europa eigentlich von selbst verbietet.
Die Geschichte des türkischen Automobilclubs und seines
langjährigen Vorsitzenden Celik Gülersoy wird zeigen, dass Kemalismus im türkischen Alltag immer noch mehr bedeutet als
nur die Gängelung durch das Militär.
Ein Porträt des amtierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan beschreibt Wandlungen, denen dieser als Mensch,
aber auch die Bewegung des politischen Islam allgemein in den
letzten 20 Jahren in der Türkei unterworfen waren.
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Wie starke Frauen heute die Menschenrechtsbewegung der
Türkei prägen, wird im Gespräch mit Eren Keskin deutlich, die
mit dem Menschenrechtspreis von amnesty international ausgezeichnet wurde. Allen Repressalien zum Trotz hat sie sich,
wie viele andere Frauen auch, nie davon abhalten lassen, für
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einzutreten.
Senol Ince ist einer der jungen Unternehmer türkischer Herkunft, der mit seinen Ideen aus Deutschland in der Türkei ins
Geschäft kommen will und sich dabei überall in Europa wie ein
Fisch im Wasser bewegt.
Zuletzt geht es um einen großen Clan in den kurdischen Bergen, der wie alle Bewohner des Südostens unter dem Krieg gelitten hat und nun, wie die überwältigende Mehrheit der Kurden in der Türkei, seine Hoffnungen auf Europa richtet.
Ein Abriss der europäischen Debatte um eine Integration der
Türkei in die EU und eine Chronologie zur Annäherung der
Türken an Europa liefern den Hintergrund zu den Porträts und
Reportagen.
Für das Zustandekommen dieses Buches bin ich vielen Menschen in der Türkei, in Deutschland und Brüssel zu Dank verpflichtet. Ausdrücklich danken möchte ich aber den beiden
Fotografen Murat Türemis und Mehmed Gülbiz, die mich auf
vielen Reisen begleitet haben und deren Fotos das Buch erst zu
dem gemacht haben, was es jetzt ist. Eine große Hilfe für mich
war auch Oguz Kurtlutepe, der meine Arbeit um Übersetzungen und Anregungen ergänzt hat. Vor allem aber danke ich meiner Lebensgefährtin Dilek Zaptcioglu, ohne deren Verständnis
und tätige Mithilfe dieses Buch kaum entstanden wäre.
Istanbul im April 2004
Jürgen Gottschlich
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