Interview-Hoffmann

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medizin
Klartext: aggressive Parodontitis –
im Gespräch mit Prof. Dr. Hoffmann
Wer ist von der aggressiven Parodontitis (AgP) betroffen? Inwieweit spielt die Genetik eine Rolle? Wie sieht die optimale Therapie aus? Kommt eine Implantation bei den betroffenenen Patienten überhaupt infrage? Dr. med. Thomas
Hoffmann, Spezialist auf dem Gebiet der Parodontologie, steht zu dem Thema AgP Rede und Antwort.
Marcel Zöllner: Herr Professor Hoffmann, was sind die klinischen, röntgenologischen und mikrobiologischen Merkmale einer AgP?
▶ P rof. Dr. med. Hoffmann: Im Jahr 1999 wurde auf dem
World Workshop der American Academy of Periodontology
(AAP) eine neue Klassifikation der Parodontalerkrankungen erarbeitet (Armitage 1999), mit der die AgP als eine spezifische Kategorie durch eindeutig identifizierbare klinische
und paraklinische Befunde von der chronischen Parodontitis
abgegrenzt werden kann. Zu den primären Merkmalen der
AgP gehören, dass die zumeist jungen Patienten mit Ausnahme der vorhandenen Parodontitis klinisch gesund sind, es zu
einem raschen Attachment- und Knochenverlust gekommen
ist und ­Par­o­d­ontalerkrankungen in der Familie der Betroffenen gehäuft auftreten. Daneben gibt es sekundäre Merkmale,
die nicht bei allen Patienten beobachtet werden können. Dazu
gehören beispielsweise, dass die Menge der bakteriellen Beläge
nicht mit der Schwere der parodontalen Gewebsdestruktion
korreliert. Es finden sich erhöhte Anteile von Aggregatibacter actinomycetemcomitans und zum Teil auch Porphyromonas gingivalis in der subgingivalen Mikroflora. Funktionsstörungen der neutrophilen Granulozyten beziehungsweise eine
überschießende Makrophagenaktivität sowie eine Selbstlimitation des Attachment- und Knochenverlusts können ebenfalls auftreten.
Zur Person
Prof. Dr. med. Thomas Hoffmann
P
rof. Hoffmann ist seit 2010 Direktor an der Poliklinik
für Parodontologie in Dresden und seit 2001 Vorsitzender der Gesellschaft für ZMK Dresden. Von 2002 bis 2006
war Prof. Hoffmann Präsident der DGP. Von 2007 bis 2010
war er Präsident der DGZMK. Seit 2011 ist Prof. Hoffmann
Geschäftsführender Direktor der Universitätszahnmedizin
(UZM) Dresden.
Seine Schwerpunkte der wissenschaftlichen Tätigkeit
umfassen Epidemiologie, klinisch kontrollierte Studien zur
Therapieeffektivität und zu oralen Antiseptika, tierexperimentelle Untersuchungen zur Pathogenese der Parodontitis und zur Regeneration des Parodonts, Risikoscreening
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Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die Genetik im Rahmen einer
AgP? Gibt es ein verantwortliches Gen?
▶ Der Anteil eines genetischen Hintergrunds der Anfälligkeit für die AgP wird auf etwa 50 Prozent geschätzt. Es handelt sich aber mit Sicherheit nicht um eine monogenetische
Erkrankung, sondern um eine Vielzahl von Genen, die Einfluss haben. Bisher sind viele Fragen offen. So ist zum Beispiel
ungeklärt, warum bei der lokalen Erkrankungsform Schneidezähne und erste Molaren schwere parodontale Destruktionen
zeigen und dabei neben parodontal völlig gesunden Zähnen
stehen können. Genetische Einflüsse wie überschießende Makrophagenaktivität oder Funktionsstörungen der Leukozyten
müssten sich eigentlich an allen Parodontien auswirken.
Wie sieht nach derzeitigem Stand das aktuelle Wissen über
die Immunpathologie bei einer AgP aus?
▶ Bisher gibt es nur begrenzte Erkenntnisse darüber, inwieweit
sich die Pathogenese der AgP von der der chronischen Erkrankungsform unterscheidet. Eine bedeutende Rolle in der Ätiopathogenese der AgP, vor allem der lokalisierten Form, kommt
der lokalen, bakteriell induzierten Entzündungsantwort, die
durch eine ausgeprägte Ansammlung von polymorphkernigen
neutrophilen Leukozyten (PMNL) in der parodontalen Läsion
charakterisiert ist, zu. Nicht nur eine Unter- oder Mangelfunktion, sondern auch chronische Hyperaktivierung dieser
Abwehrzellen spielt eine Rolle. Daneben scheinen veränderte
Antikörperreaktionen auf Parodontitis-assoziierte Mikroorganismen wie A. actinomycetemcomitans und P. gingivalis
von Bedeutung für die generalisierte Form der AgP zu sein.
Und letztendlich muss, wie bereits erwähnt, davon ausgegangen werden, dass die Wirtsabwehrreaktionen, das heißt die
Qualität und die Quantität der lokalen Entzündungs- und
Immunantwort bei der AgP zu einem nichtunbedeutenden
Anteil genetisch bestimmt sind.
Welchen Einfluss haben nach Ihrem Kenntnisstand virale
Infektionen und Dysstress bei einer AgP?
▶ B ei Patienten mit AgP lassen sich auch Herpesviren, einschließlich Epstein-Barr-Virus und Zytomegalievirus, nachweisen, die möglicherweise in der Ätiologie dieser Erkrankung synergistisch mit parodontopathogenen Mikroorganismen wirken. Herpesviren bei aktiven parodontalen Infektionen können die lokale Immunabwehr hemmen und so die
Aggressivität der vorhandenen Parodontopathogene erhöhen.
Umgekehrt ist auch eine Virulenzsteigerung der Herpesviren
durch die parodontopathogene Mikroflora denkbar. Der Einfluss von Herpesviren könnte zu einem Paradigmenwechsel
in der Pathogenese der Erkrankung mit entsprechenden KonDER JUNGE ZAHNARZT 1 | 2012
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sequenzen für das klinische Vorgehen führen. Ähnlich sieht
es mit dem Einfluss von Dysstress aus, der einerseits direkt
die Immunabwehr schwächen kann und andererseits indirekt Rauchen und Alkoholabusus fördert, die selbst wiederum
Risikofaktoren in der Progression der Erkrankung darstellen.
Wie sollte nach Ihrer Auffassung die unterstützende Parodontitistherapie einer AgP aussehen?
▶ Die unterstützende Parodontitistherapie unterscheidet sich
nicht zwischen chronischer und aggressiver Parodontitis. Die
Recall-Frequenz kann für jeden Patienten zum Beispiel aus
dem Risikoprofil nach Lang und Tonetti 2003 abgeleitet werden. Entscheidend für den langfristigen Erfolg jeder Parodontaltherapie sind die suffiziente häusliche und professionelle
Plaquekontrolle sowie das rechtzeitige Erkennen von weiteren
Attachment-Verlusten und ihre frühzeitige Therapie.
Ein Markerkeim der AgP ist der A. actinomycetemcomitans. Gibt es
Hinweise aus der Wissenschaft, ob der Keim durch chirurgische
Parodontaltherapie oder mit subgingivalem Scaling besser entfernt werden kann?
▶ Aggregatibacter actinomycetemcomitans invadiert in das subepitheliale Granulations- und Bindegewebe und lässt sich mit
subgingivalem Scaling allein nicht sicher eradizieren. Eine
Reihe von Studien wie die Metaanalyse von Sqolastra und
Mitarbeiter 2011 konnte überlegene Therapieergebnisse bei
der Kombination von subgingivalem Scaling und adjunktiver
Antibiose mit Metronidazol und Amoxicillin zeigen. Dieses
Therapieprotokoll ist heute als Standard anerkannt und reduziert den Bedarf an chirurgischer Therapie, die dann eine weitere Option im Vorgehen ist.
Gibt es in der Literatur Hinweise, ob „full-mouth disinfection“,
fotodynamische Therapie oder Laseranwendungen bei AgP zu
einem besseren Ergebnis gelangen?
▶ Nach wie vor ist die mechanische Entfernung des subgingivalen Biofilms mit Schall-/Ultraschallgeräten und Handinstrumenten (Scaling und Root Planing, SRP) in einem Fullmouth-disinfection-Design oder im quadrantenweisen Vorgehen State of the art bei der Therapie auch der AgP. Neuere
Untersuchungen von Noaves und Mitarbeitern 2011 zeigen
aber in Abhängigkeit der Therapiemodalitäten Unterschiede
in der Keimreduktion. So werden die Mikroorganismen des
roten Komplexes besser durch SRP entfernt, während fotodynamische Therapie besonders wirksam gegen A. actinomycetemcomitans war. Daraus lässt sich ableiten, dass möglicherweise die Kombination von SRP mit fotodynamischer
Therapie bessere Behandlungsergebnisse besonders bei der
lokalen Erkrankungsform erwarten lässt. Dies ist in weiteren
klinisch kontrollierten Studien zu prüfen. Zum Er:YAG-Laser
finden sich kaum klinische Studien, die dessen Effizienz mit
der von Küretten, Schall- und Ultraschall-Scalers verglichen
haben. Die Datenlage ist zu gering, um eine Empfehlung für
die alleinige klinische Anwendung des Lasers zu geben.
Können Biomarkertests zur Ermittlung der Konzentration der
Matrixmetalloproteinase 8 (aMMP8) die Therapie/die frühzeitige Erkennung und Diagnose einer AgP unterstützen?
▶ Es wäre sehr wünschenswert, über einen Test zu verfügen, der
bereits vor dem Auftreten von klinisch relevanten AttachmentDER JUNGE ZAHNARZT 1 | 2012
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Verlusten und radiographisch sichtbarem Knochenabbau eine
AgP sicher detektiert. Aus meiner Sicht können Biomarkertests
wie der aMMP8-Test dies noch nicht leisten.
Sind Implantate hinsichtlich ihrer Periimplantitisgefahr bei
einer AgP indiziert?
▶ Implantate können auch bei Patienten mit AgP unter der Voraussetzung einer erfolgreich durchgeführten Parodontitistherapie, regelmäßiger Nachsorge und einem complianten Patienten, der die häusliche Plaquekontrolle beherrscht, indiziert
sein. Mengel und Mitarbeiter 2007 zeigten Überlebensraten
von Implantaten nach zehn Jahren bei Patienten mit generalisierter AgP von zirka 83 Prozent im Vergleich zu 100 Prozent
bei parodontal gesunden Patienten. Allerdings ist trotz adäquater Therapie die Implantat- und Knochenverlustrate höher als
bei parodontal gesunden Patienten und übrigens auch höher
im Vergleich zu Patienten mit chronischer Parodontitis.
Was verstehen Sie unter der Bezeichnung „parodontale Medizin“?
▶ Der Begriff „Periomedizin“ wurde Mitte der 1990er Jahre in
den Vereinigten Staaten geprägt und soll die Brücke zwischen
Parodontitis und Allgemeinmedizin schlagen, da nachweislich enge Wechselwirkungen zwischen Parodontitis und systemischen Erkrankungen sowie Konditionen bestehen. Inzwischen wurden nicht nur assoziative Zusammenhänge gezeigt,
sondern bei zum Beispiel Diabetes mellitus auch kausale Verbindungen nachgewiesen. Effektive Parodontitistherapie verbessert die klinischen Parameter wie HbA1c bei Diabetikern.
Ein gut eingestellter Diabetiker scheint kein erhöhtes Parodontitisrisiko im Vergleich zu einem Nichtdiabetiker aufzuweisen, was den kausalen Zusammenhang zwischen beiden
Erkrankungen nahelegt. Die enge Zusammenarbeit zwischen
Medizin und Zahnmedizin ist somit für die Zukunft unverzichtbar und Voraussetzung, um dem scheinbar unaufhaltsam
steigenden Auftreten chronischer Erkrankungen einschließlich
Parodontitis wirksam entgegentreten zu können. Damit erhält
die zahnmedizinische Diagnostik und Therapie via Parodontologie eine medizinische Bedeutung.
Ist aus Ihrer Sicht bei Patienten mit AgP nach einem gewissen
zeitlichen Abstand (zwei bis drei Jahre) eine erneute Parodontalbehandlung (Kürettage) notwendig?
▶ Das kann man so zwingend nicht formulieren. Selbstverständlich bedürfen Patienten mit AgP einer engmaschigen
Betreuung (Unterstützende Parodontaltherapie, UPT, siehe
oben). Ein Rezidiv jedoch muss nicht auftreten. Dies belegen Studien der internationalen Literatur ebenso wie eigene
Therapieergebnisse.
Bei Parodontitispatienten kann auch sehr oft Mundgeruch identifiziert werden. Sehen Sie eine Perspektive, dass in der Zukunft
Mundgeruch als diagnostischer Marker für eine Parodontitis
genutzt werden kann?
▶ Mundgeruch oder Halitosis findet sich eher bei chronischer als
bei AgP, wobei die häufigste Ursache Bakterien sind, die flüchtige Schwefelverbindungen („volatile sulphur compounds“,
VSC) durch enzymatische Aufspaltung schwefelhaltiger Aminosäuren wie Methionin oder Homocystein produzieren und
vor allem den Zungenrücken besiedeln. Als diagnostischer
Marker für Parodontitis tritt Halitosis zu selten auf und ist
deshalb eher nicht geeignet.
Nach der Empfehlung der Gesellschaft für Parodontologie (DGP)
sollte bei diagnostizierter AgP eine begleitende Antibiose eingesetzt werden. Erstellen Sie hierzu einen Markerkeimtest oder
wenden Sie sofort eine Antibiotikakombination (Van Winkelhoff
Cocktail, VWC) an?
▶ Tatsächlich muss über den Nutzen eines zusätzlichen Markerkeimtests vor adjunktiver systemischer Antibiotikatherapie neu nachgedacht werden. Untersuchungen von Rooney
und Mitarbeitern 2002 zeigten unabhängig vom vorliegenden
Keimspektrum die Überlegenheit der Antibiotikakombination
Amoxicillin und Metronidazol im Vergleich zur Monotherapie
mit Amoxicillin oder Metronidazol. Interessanterweise wurden die keimreduzierenden Effekte mit deutlich niedrigeren
Dosierungen, als von der DGP empfohlen, erreicht. Hier liegt
noch einiges Forschungspotenzial. Wichtiger scheint mir, nach
der aktiven Parodontitistherapie einen mikrobiologischen
Test durchzuführen, um die Wirksamkeit von antimikrobieller mechanischer und antibiotischer Therapie nachzuweisen.
Herr Professor Hoffmann, herzlichen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Marcel Zöllner, Stuttgart.
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