Neutrinoastronomie Christian Ziemann 16.11.2010 Neutrinos Das erstmals 1930 von Wolfgang Pauli vorgeschlagene Neutrino ist ein ungeladenes Elementarteilchen aus der Gruppe der Leptonen. Neutrinos sind Spin- 12 Teilchen und werden nur von der Gravitation und der schwachen Wechselwirkung betroffen. Nach dem Standardmodell existieren drei Generationen (Flavours) von Neutrinos, nämlich Elektron-Neutrinos (νe ), Myon-Neutrinos (νµ ) und Tau-Neutrinos (ντ ). νe entstehen beim Betazerfall anderen Kernreaktionen, insbesondere in sehr großer Zahl in der Sonne. Auf die Erde trifft so ein solarer Neutrinofluss von etwa 6.5 · 1010 m−2 s−1 . Im Widerspruch zu früheren Modellen besitzen Neutrinos eine von Null verschiedene Ruhemasse, die bis heute aber nur nach oben abgeschätzt werden kann. So ist die Masse des νe kleiner als 2 eV /c2 , Messungen an β-Strahlern versprechen in den nächsten Jahren genauere Zahlen. Mangels elektrischer und Farbladung finden Reaktionen von Neutrinos mit Materie grundsätzlich nur über die schwache Wechselwirkung statt, dabei ist zu unterscheiden zwischen neutralen Strömen unter Austausch von Z 0 -Bosonen und geladenen Strömen, die von W ± -Bosonen vermittelt werden. Während erstere in der Regel elastische Streuprozesse sind, finden bei letzteren grundsätzlich Umwandlungen von Teilchen statt. Der Wirkungsquerschnitt solcher Reaktio- Abbildung 1: Beispiele für elastische (links) und inelastische (rechts) Streuprozesse druch die schwache Wechselwirkung. Bildquelle: Wikipedia nen ist wegen der hohen Masse der Austauschbosonen sehr klein und liegt z.B. für Neutrino-Nukleon-Streuung in der Größenordnung σ ≈ 10−47 m2 . Neutrinos dringen deswegen fast ungehindert durch Materie, die mittlere freie Weglänge in Wasser beträgt einige Lichtjahre. 1 Nachweis Aufgrund der Seltenheit von Neutrinoreaktionen müssen Detektoren sehr groß ausgelegt sein und Hintergründe effektiv abschirmen. Letzteres erreicht man in der Regel dadurch, dass man die Experimente in ausgedienten Bergwerken oder tief unter Wasser durchführt, so dass der Großteil der kosmischen und atmosphärischen Strahlung absorbiert wird. Lediglich Neutrinos dringen in so große Tiefen vor und werden dann durch elastische oder inelastische Streuprozesse nachgewiesen. Hierbei stehen verschiedene Techniken zur Verfügung: • Szintillationszähler beobachten die Leuchterscheinungen beim Durchgang ionisierender Strahlung durch bestimmte Medien. Dies können Gammastrahlen aus dem inversen Betazerfall (ν e +p → n+e+ nebst e+ +e− → γγ) oder auch schnelle Elektronen nach elastischen Stößen sein. Der erste direkte Existenznachweis für Antineutrinos wurde 1956 von C. Cowan und F. Reines mit einem solchen Detektor geführt (Nobelpreis 1995). Ein aktuelleres Beispiel ist der Borexino-Detektor für niederenergetische (> 250keV) Sonnenneutrinos. • Radiochemische Detektoren messen die Produkte von neutrinoinduzier37 − ten Kernreaktionen wie z.B. νe + 37 17 Cl −→ 18 Ar + e . Beispiele sind das Homestake-Experiment, das mit einem 380000l-Tank mit C2 Cl4 erstmals solare Neutrinos nachweisen konnte, oder der Galliumdetektor GALLEX. Dieser Detektortyp hat eine recht niedrige Schwellenenergie (233 keV für Gallium), misst aber nur Elektronneutrinos. • Cherenkov-Detektoren messen die Cherenkovstrahlung, die schnelle geladene Teilchen (meist e oder µ) nach Neutrino-Elektron-Streuung in Wasser oder Eis abgeben. Die Richtung und der Öffnungswinkel des Lichtkegels lassen auf die Herkunft bzw. die Energie der Neutrinos schließen. Die Schwellenenergie liegt bei etwa 5 MeV. Wichtige Beispiele sind das japanische Super-Kamiokande (ein 50000t-Wassertank) und das Sudbury Neutrino Observatory (SNO, 1000t schweres Wasser) sowie der im Bau befindliche IceCube-Detektor. Motivation Neutrinos als Beobachtungsmedium sind für Astrophysiker sehr interessant, weil sie geradlinig und quasi ungehindert von ihrem Entstehungort bis zur Erde gelangen. Während die anderen Hauptbestandteile der kosmischen Strahlung, Protonen und Photonen, durch Wechselwirkung mit Materie oder elektromagnetischen Feldern absorbiert oder gestreut werden, erlauben Neutrinos einen direkten Blick z.B. in galaktische Kerne oder Supernovae. Insbesondere sind Neutrinos nicht vom GZK-Cutoff betroffen, der die Reichweite hochenergetischer (> 6 · 1019 eV) Protonen stark begrenzt. 2 Abbildung 2: Energiespektrum solarer Neutrinos nach Enstehungsprozess. Bildquelle: www.sns.ias.edu/∼jnb/ Da man davon ausgeht, dass Supernovae den größten Teil ihrer Energie durch Neutrinos abgeben, lässt sich deren Beobachtung unser Verständnis dieser Vorgänge testen. Auch andere Quellen energiereicher kosmischer Strahlung sollten Neutrinos mit Energien auf der TeV-Skala und darüber emittieren – ein Nachweis könnte die gängigen Modelle bestätigen. Eine weiteres Forschungsfeld bieten die solaren Neutrinos, deren Energieverteilung Aufschlüsse über die vorherrschenden Kernprozesse in der Sonne ermöglicht. Vor allem die Frage nach dem Anteil des CNO-Zyklus an der Energieproduktion der Sonne ist hier zu nennen, aber auch die Bestimmung der Kerntemperatur durch die Vermessung des 7 Be-Neutrino-Flusses. Resultate Oszillation solarer Neutrinos Mit der Detektion solarer Neutrinos war erstmals nachgewiesen worden, dass die Sonne ihre Energie tatsächlich aus Kernfusion bezieht. Die durch Homestake und andere Detektoren gemessenen Flüsse lagen jedoch um einen Faktor zwei bis drei unter den Vorhersagen, die die gängigen Modelle der Prozesse im Sonnen- 3 inneren gemacht hatten. Dieser als Solar Neutrino Problem bekannt gewordene Widerspruch wurde erst Ende der Neunzigerjahre eindeutig aufgeklärt. Durch Messungen an atmosphärischen Myon-Neutrinos konnte Super-Kamiokande die Existenz von Neutrinooszillationen nachweisen. Die in der Sonne entstandenen Elektron-Neutrinos wandeln sich also auf dem Weg zur Erde teilweise in Neutrinos der anderen Flavours um. Radiochemische Detektoren sind für diese aber unempfindlich, und auch Cherenkov-Detektoren messen einen kleineren Fluss, weil Myon- und Tau-Neutrinos deutlich schwächer an Elektronen koppeln (d.h. es finden seltener elastische Stöße statt). Daten des SNO, das die flavourunabhängige Neutrino-Nukleon-Streuung untersucht hat, bestätigen diese These: Unter Berücksichtigung aller Flavours stimmt der gemessene Neutrinofluss sehr gut mit den Vorhersagen überein. Diese Entdeckung war außerdem der Nachweis, dass Neutrinos nicht masselos sein können, denn nur Teilchen mit endlicher Ruhemasse können oszillieren. In Zusammenhang mit der Untersuchung solarer Neutrinos wurde der Nobelpreis 2002 unter anderem an R. Davis, den Leiter des Homestake-Experiments, und an M. Koshiba vom Kamiokande-Detektor vergeben. Supernova-Neutrinos Bis jetzt wurde nur eine Quelle von Neutrinos außerhalb unseres Sonnensystems entdeckt, nämlich die Supernova 1987A in der Großen Magellanschen Wolke. Von verschiedenen Neutrinoobservatorien auf der Welt wurden etwa 20 Neutrinos im 10-Mev-Bereich im Zusammenhang mit dieser Supernova gemessen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Neutrinoblitz etwa drei Stunden vor dem optischen Ausbruch gemessen wurde. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Photonen den kollabierenden Sternkern wegen der hohen Dichte nicht verlassen können, während zeitgleich entstehende Neutrinos nur wenige Sekunden aufgehalten werden. Inzwischen haben sich mehrere Neutrinodetektoren zum Supernova Early Warnung System zusammengeschlossen, um im Falle eines weiteren Neutrinoausbruchs die optischen Observatorien rechtzeitig alarmieren zu können. Abbildung 3: SN1987A-Neutrinos, von Kamiokande-II aufgenommen. Auf den Achsen sind Energie in MeV und die Zeit aufgetragen. Bildquelle: (7) 4 Ausblick Noch immer sind viele Fragen offen, so z.B. nach den genauen Neutrinomassen oder den Mischungswinkeln, die die Oszillation bestimmen. Experimente, die diese Parameter ermitteln sollen, sind aktuell in Betrieb oder auch erst in Planung. Vom astrophysikalischen Standpunkt her wird vor allem in zwei Richtungen gesucht: Auf der einen Seite will man niederenergetische Sonnenneutrinos möglichst genau vermessen, um die Gültigkeit des solaren Standardmodells zu bestätigen und es ggf. zu verfeinern. Hierzu werden empfindliche Szintillationszähler wie das aktuell entstehende SNO+ gebaut. Auf der anderen Seite wurden bis heute keine hochenergetischen Neutrinos aus der kosmischen Strahlung beobachtet. Um diese seltenen Ereignisse im TeVBereich zu messen, entstehen sehr große Cherenkov-Detektoren wie IceCube, welcher 1 km3 antarktisches Eis als Detektormaterial nutzen wird. Die Neutrinoastronomie stellt ein völlig neues Fenster ins All dar, welches gerade erst geöffnet wurde. Sie könnte unser Verständnis vom Kosmos ähnlich revolutionieren, wie es die Radio- und Gamma-Astronomie getan haben. Literatur 1. L. Bergström und A. Goobar, Cosmology and Particle Astrophysics, Springer (2006) 2. F. Halzen, Lectures On Neutrino Astronomy: Theory And Experiment, arXiv:astroph/9810368v1 3. J. Bahcall und R. Davis, The Evolution of Neutrino Astronomy, arXiv:astroph/9911486 4. A. Strumia und F. Vissani, Precise quasielastic neutrino/nucleon cross section, arXiv:astro-ph/0302055 5. Q.R. Ahmad et al., Direct Evidence for Neutrino Flavor Transformation from Neutral-Current Interactions in the Sudbury Neutrino Observatory, Phys. Rev. Lett. 89, 011301 (2002) 6. G. T. Zatsepin und V. A. Kuz’min, Upper Limit of the Spectrum of Cosmic Rays, Journal of Experimental and Theoretical Physics Letters. 4, (1966) 7. M. Koshiba et al., Observation in the Kamiokamde-II detector of the neutrino burst from supernova SN1987A, Phys. Rev. D 38, 2 (1988) 8. Y. Fukade et al., Evidence for oscillation of atmospheric neutrinos, arXiv:hepex/9807003v2 9. http://www.astroteilchenphysik.de/topics/neutrino/neutrino.htm 10. Centre for Underground Physics in Pyhäsalmi, http://cupp.oulu.fi/neutrino/ 11. Particle Data Group, http://pdg.lbl.gov/ 12. Super-Kamiokande, http://www-sk.icrr.u-tokyo.ac.jp/sk/index-e.html 5