Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir Cobicistat und Elvitegravir (Stribild ) Mit Stribild steht eine neue Fixkombination zur Behandlung der HIV-Infektion zur Verfügung. Die Filmtabletten enthalten insgesamt vier Arzneistoffe: die beiden nukleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren (NRTIs) Emtricitabin und Tenofovir-Disoproxil sind bereits aus Monopräparaten bekannt (Emtricitabin: Emtriva; Tenofovir-Disoproxil: Viread), während die ebenfalls in Stribild enthaltenen Elvitegravir und Cobicistat neue Arzneistoffe mit bekannten Wirkmechanismen darstellen (Strukturformeln s. Abbildung 1). Elvitegravir ist neben Raltegravir (ISENTRESS) der nunmehr zweite in Deutschland in einem FAM zugelassene HIV-Integrase-Inhibitor, Cobicistat besitzt keine eigene virustatische Aktivität, ist stattdessen aber ein Inhibitor von CYP3A, ein Cytochrom-P450Isoenzym, das wesentlich an der Biotransformation bzw. Inaktivierung von Elvitegravir beteiligt ist. Eine Hemmung des CYP3A-vermittelten Metabolismus führt dementsprechend zu einer erhöhten Bioverfügbarkeit und einer verlängerten Halbwertszeit des CYP3A-Substrates Elvitegravir. Dieser Einsatz als BoosterSubstanz ist bereits vom HIV-Therapeutikum Ritonavir (Norvir) bekannt, das zwar als Protease-Hemmer eine gute antivirale Wirksamkeit zeigt, wegen seiner schlechten Verträglichkeit aber in HIV-Therapie-Regimen nur noch als CYP3A4Hemmer und damit Wirkverstärker für andere antiretrovirale Arzneistoffe eingesetzt wird. Im FAM Kaletra liegt beispielsweise eine Fixkombination des Boosters Ritonavir mit dem Protease-Inhibitor Lopinavir vor (u.a. Taylor et al. 2012, Fachinformation Kaletra 2013). O F O N O Cl OH O N O O N S H N H H H O H H N O N H N N S OH Elvitegravir Cobicistat Abbildung 1 Stribild-Filmtabletten sind zugelassen für Erwachsene zur Therapie der HIV-1Infektion, sofern diese nicht antiretroviral vorbehandelt sind und auch keine Resistenzen gegen einen der drei antiretroviralen Wirkstoffe in dem Arzneimittel aufweisen. Stribild ist das erste Single-Tablet-Regime, in dem ein IntegraseInhibitor (Elvitegravir) enthalten ist, dementsprechend werden die Tabletten nur einmal täglich zum Essen eingenommen (Fachinformation Stribild 2013). Cobicistat Cobicistat wurde in klinischen Studien erfolgreich als Booster für Elvitegravir getestet (Shah et al. 2013). Es ist ein Analogon und eine Weiterentwicklung des HIV1 CA 14.7.2013 Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir Protease-Inhibitors Ritonavir, welches zwar in einer Dosierung von 600 - 1200 mg/d eine potente Protease-Hemmung zeigt, heutzutage aber in wesentlich niedrigerer Dosierung (200 mg/d) vorzugsweise als pharmakokinetischer Booster für andere antiretrovirale Therapeutika eingesetzt wird (s.o.). Protease-Inhibitoren unterliegen einem First-Pass-Metabolismus über CYP3A4. Insbesondere das Ritonavir qualifizierte sich als Booster-Substanz, weil es innerhalb seiner Substanzklasse CYP3A4 am stärksten hemmt. Ritonavir ist wie die meisten übrigen ProteaseHemmer (u.a. Saquinavir, Nelfinavir, Indinavir, Amprenavir, Darunavir) ein Peptidomimetikum. Anstelle der hydrolisierbaren Peptidbindung des viralen Polypeptid-Substrates der Protease enthalten die meisten therapeutisch eingesetzten Inhibitoren eine bioisostere, nicht spaltbare (S)-HydroxyethylenPartialstruktur, die den tetraedrischen Übergangszustand im aktiven Zentrum der Protease imitieren kann (s. Abbildung 2). Dies geschieht durch Wechselwirkungen mit zwei Aspartat-Resten der Protease entsprechend zum physiologischen Substrat – nur eben mit der Ausnahme, dass die Hydroxyethylen-Struktur im Gegensatz zur Peptidbindung nicht gespalten werden kann. H N O OH (S)-Hydroxyethylen Peptidbindung Ritonavir O O N N H S O O H N H N N S O O Asp O H N O O Asp Abbildung 2: Bioisosterer Austausch der Peptidbindung durch eine (S)-Hydroxyethylen-Einheit bei den HIV-Protease-Inhibitoren und Bindung des Ritonavirs mit der HydroxyethylenGruppe an zwei Aspartat-Reste im aktiven Zentrum der Protease Die neue Booster-Substanz Cobicistat weist im Vergleich zu Ritonavir nur zwei strukturelle Modifikationen auf (Xu et al. 2010, Shah et al. 2013) (s. Abbildung 3). Eine Änderung betrifft die Aminosäure Valin des Ritonavirs. Die Isopropyl-Seitenkette ist beim Cobicistat durch eine Morpholinoethylen-Seitenkette ersetzt. Diese Änderung ist wahrscheinlich rein pharmakokinetisch bedingt. Cobicistat zeigt eine gute Wasserlöslichkeit und Absorption aus dem GI-Trakt (German et al. 2010). Die weitaus entscheidendere Änderung betrifft aber die für Protease-Inhibitoren essentielle Hydroxyethylen-Struktur. Beim Cobicistat fehlt einfach die HydroxylGruppe an dieser Position. Somit wird auch klar, weshalb Cobicistat anders als Ritonavir keinerlei Protease-Hemmung aufweist: es ist keine funktionelle Gruppe 2 CA 14.7.2013 Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir mehr vorhanden, die im aktiven Zentrum den tetraedrischen Zwischenzustand des physiologischen Substrates imitieren kann. Die fehlende Protease-Hemmung des Cobicistats stellt möglicherweise einen Vorteil gegenüber Ritonavir da, denn dadurch sollten gefürchtete Resistenzentwicklungen vermieden werden können (Xu et al. 2010, Saag 2012, Shah et al. 2013). O 4-MorpholinoethylenSeitenkette N Cobicistat O O N N H S O H N O N H N N S EthylenPartialstruktur Isopropyl-Seitenkette Ritonavir O O N S N H O H N OH O N H N N S (S)-HydroxyethylenPartialstruktur Abbildung 3: Struktureller Vergleich und Unterschiede zwischen Cobicistat und Ritonavir Elvitegravir Der zweite, neue Arzneistoff neben Cobicistat ist Elvitegravir, nach Raltegravir in 2007 der zweite in Deutschland zugelassene HIV-Integrase-Inhibitor. Wenn das HI-Virus in die Zielzelle eingedrungen ist, wird das virale RNS-Genom umgeschrieben in eine lineare, doppelsträngige DNS. Die HIV-Integrase nun katalysiert anschließend den Einbau dieser viralen DNS in das Genom des Wirtes. Dieser Prozess besteht aus zwei aufeinanderfolgenden Reaktionen. Zunächst spaltet die Integrase noch im Zytoplasma ein GT-Dinukleotid von den 3’-Enden der viralen DNS ab, was zur Bildung reaktiver CpA-3’-Hydroxyl-Enden führt (endonukleolytische Prozessierung). Nach der Translokation in den Zellkern wird die prozessierte, virale DNS anschließend kovalent mit der zuvor gespaltenen Wirts-DNS verknüpft. Diese Integrase-Reaktion wird als Strangtransfer („strand transfer“) bezeichnet. Die HIVIntegrase besteht aus drei Domänen (N- und C-terminale Domäne + aktives Zentrum). Das aktive Zentrum beinhaltet u.a. drei Aminosäuren (Asp-64, Asp-116, 3 CA 14.7.2013 Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir Glu-152) (das sogenannte „DDE-Motiv“), die zweiwertige Metall-Kationen (vorzugsweise Mg2+ und Mn2+) koordinativ binden. Diese drei Aminosäuren sind für die endonukleolytische Prozessierung und den Strangtransfer essentiell (Delelis et al. 2008, Craigie und Bushman 2012, Malet et al. 2012). O-Atom erforderlich, kann Carbonyl sein kann methyliert sein OH erforderlich OH OH N R F H N N p-Fluor-Benzyl optimal O viele, verschiedene Reste möglich nicht unbedingt erforderlich erforderlich Dihydroxypyrimidin-Leitstruktur Diketosäure-Funktion O 6 N N 5 1 H N O OH N O 2 N 4 O F hydrophober Benzyl-Rest HN Raltegravir Mg2+ O Mg2+ O N 5 O N 4 HN Chelatisierung der Mg2+-Ionen im aktiven Zentrum durch Raltegravir Abbildung 4: Entwicklung des Hydroxypyrimidinons Raltegravirs aus Dihydroxypyrimidinen 4 CA 14.7.2013 Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir Die beiden Integrase-Inhibitoren Raltegravir und Elvitegravir binden an das aktive Zentrum der HIV-Integrase und hemmen die Strangtransfer-Reaktion. Für die Suche nach Inhibitoren von Enzymen, die im aktiven Zentrum zweiwertige Metalle aufweisen, werden häufig Diketocarbonsäuren als Startpunkt gewählt. Raltegravir ist solch ein Inhibitor, der eine Diketocarbonsäure-Partialstruktur (eine Keto-Gruppe liegt als Hydroxyl-Gruppe vor) besitzt. Bei Anwesenheit zweiwertiger Metallionen wie etwa Mg2+ wird Raltegravir leicht deprotoniert und kann das Metallion chelatisieren (Liso et al. 2010). Raltegravir war letztendlich das Ergebnis einer Optimierung von Leitstrukturen, die zur Klasse der Dihydroxypyrimidine zählten, bei Merck Pharmaceuticals. Für die Dihydroxypyrimidine wurden umfangreiche StrukturWirkungs-Untersuchungen betrieben, so dass am Ende dieser Entwicklung das 1-NMethyl-5-hydroxypyrimidin-6-on-4-carbonsäure-Derivat Raltegravir stand (s. Abbildung 4) (Hazuda et al. 2000, Rowley 2008). Die Carbonsäure-Funktion an Position 4 des Heterozyklusses von Raltegravir liegt als Amid vor. Dabei sind vor allem zwei strukturelle Elemente hervorzuheben, die für eine Bindung an die HIVIntegrase erforderlich sind: a) natürlich die Diketosäure-Funktion, die nach Deprotonierung zwei Mg2+-Ionen im aktiven Zentrum chelatisieren kann und den Inhibitor quasi im aktiven Zentrum verankert und b) ein hydrophober Benzyl-Rest (beim Raltegravir ist ein p-Fluor-Substituent am aromatischen Ring optimal), der in eine hydrophobe Tasche in unmittelbarer Nähe des aktiven Zentrums hineinragt und diese ausfüllt (Serrao et al. 2009). Auch beim Elvitegravir finden sich diese strukturellen Merkmale - allerdings etwas modifiziert - wieder. Elvitegravir ist ein 4-Chinolon-3-carbonsäure-Derivat (s. Abbildung 5), dessen Ursprünge in Studien zur Modifikation des DiketocarbonsäurePharmakophors bei Japan Tobacco liegen (Sato et al. 2006). Anstelle der Diketosäure-Funktion wie beim Raltegravir enthält Elvitegravir lediglich eine Carbonsäure an Position 3 des Chinolons und zusätzlich nur eine β-Keto-Gruppe an Position 4. Auch diese „abgespeckte“ Variante als β-Ketocarbonsäure zeigt wie die Diketocarbonsäure-Struktur eine Koplanarität von Keto- und Carbonsäure-Funktion, und auch sie ist in der Lage, zweiwertige Metallionen zu chelatisieren. Als hydrophoben aromatischen Rest enthält Elvitegravir an Position 6 des Chinolons einen 4-Chlor-3-fluorbenzyl-Substituenten, der dieselbe hydrophobe Tasche innerhalb der Integrase ausfüllt wie der 4-Fluorbenzyl-Rest des Raltegravirs. koplanare Monoketosäure-Funktion F O Cl 6 4 6 hydrophober Benzyl-Rest O O N 3 1 OH Elvitegravir H OH Abbildung 5: Strukturelle Bausteine des Elvitegravirs, die für die Bindung an die HIVIntegrase wichtig sind 5 CA 14.7.2013 Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir Elvitegravir wird extensiv über CYP3A4/5 metabolisiert, in geringerem Maße erfolgt auch Glucuronidierung mittels der Uridinglucuronyl-Transferasen 1A1 und 1A3. Die Metaboliten (aromatische und aliphatische Hydroxylierungen und Glucuronidierungen) zeigen im Vergleich zum Elvitegravir nur sehr geringe antivirale Aktivität. Insbesondere die Biotransformation über die CYP-Isoenzyme birgt natürlich ein großes Interaktionspotential (Ramanathan et al. 2011, Lee et al. 2012). Andererseits bietet natürlich die Kombination mit einem CYP3A-Inhibitor wie Cobicistat die Chance, die pharmakokinetischen Parameter von Elvitegravir günstig zu beeinflussen. Beispielsweise wurde schon frühzeitig beobachtet, dass die zusätzliche Gabe des Boosters Ritonavir zu Elvitegravir einen 20-fachen Anstieg der AUC und eine Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit von drei auf nahezu zehn Stunden beim Elvitegravir bewirkt (DeJesus et al. 2006, Mathias et al. 2009). Ähnliche Ergebnisse mit Cobicistat anstelle von Ritonavir erlauben dann tatsächlich die einmal tägliche Applikation von Elvitegravir (Raltegravir wird zweimal täglich gegeben). Ein Nachteil des Elvitegravirs scheint aber - trotz der einmal täglichen Gabe - zu sein, dass ähnliche Mutationen der Integrase selektiert werden können wie unter Raltegravir und dass beide Integrase-Inhibitoren eine ausgeprägte Kreuzresistenz zeigen (Quashie et al. 2012, Winters et al. 2012). Weitere Integrase-Inhibitoren befinden sich derzeit in der klinischen Prüfung. Dolutegravir (Strukturformel s. Abbildung 6) ist der bislang am ausführlichsten untersuchte sowie klinisch fortgeschrittenste Integrase-Inhibitor der zweiten Generation, der eventuell dann auch gegen Raltegravir- und Elvitegravir-resistente HI-Viren wirksam ist (Malet et al. 2012, Menéndez-Arias 2013). Zusätzlich zu den hier erwähnten Strangtransfer-Inhibitoren, die im aktiven Zentrum der Integrase binden, wird die Entwicklung von sogenannten allosterischen Integrase-Inhibitoren vorangetrieben, die nicht direkt an der Strangtransfer-Reaktion angreifen sondern in früheren Stadien der Integrase-Reaktion wie der endonucleolytischer Prozessierung (Al-Mawsawi und Neamati 2011, Saag 2012, Karmon und Markowitz 2013). O OH O N O N O H F HN Dolutegravir F Abbildung 6 Literatur: Al-Mawsawi, L.Q. und Neamati, N. ChemMedChem 2011, 6, 228 DeJesus, E. JAIDS 2006, 43, 1 Delelis, O. et al. Retrovirology 2008, 5, 114 Fachinformation Kaletra 2013 AbbVie Ltd Fachinformation Stribild 2013 Gilead Sciences International Limited German, P. et al. J Acquir Immune Defic Syndr 2010, 55, 323 6 CA 14.7.2013 Pharmazeutische Chemie – Cobicistat/Elvitegravir Hazuda, D.J. et al. Science 2000, 287, 646 Karmon, S.L. und Markowitz, M. Drugs 2013, 73, 213 Lee, J.S. et al. HIV AIDS (Auckl.) 2012, 4, 5 Liso, C. et al. Future Med Chem 2010, 2, 1107 Malet, I. et al. Curr Opin Virol 2012, 2, 580 Mathias, A.A. et al. Clin Pharmacol Ther 2009, 85, 64 Menéndez-Arias, L. Antiviral Res 2013, 98, 93 Quashie, P.K. et al. BMC Med 2012, 10,34 Ramanathan, S. et al. Clin Pharmacokinet 2011, 50, 229 Rowley, M. Prog Med Chem 2008, 46, 1 Saag, M.S. Top Antivir Med 2012, 20, 162 Sato, M. et al. J Med Chem 2006, 49, 1506 Serrao, E. et al. Retrovirology 2009, 6, 25 Shah, B.M. et al. Pharmacotherapy 2013 in Druck Taylor, S. et al. J Antimicrob Chemother 2012, 67, 675 Winters, M.A. et al. 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