Das Körnchen Hoffnung

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23.07.2006, Nr. 29, S. 55
Das Körnchen Hoffnung
Fünftausend Sorten Bier gibt es bei uns. Trotzdem entwickeln Pflanzenzüchter immer neue
Sorten Braugerste. Die Kunst liegt dabei im Wegwerfen.
VON SABINE LÖHR
BÖHNSHAUSEN. Eine glückliche Frau stapft durch ihr Feld. Mit gerstenblonden Haaren und
etwas Erde an den lackierten Fußnägeln singt Lissy Kuntze unter der brütenden Julisonne
munter das Hohelied ihres Lieblingsgetreides. Die weniger munteren Besucher auf dem
Böhnshausener Versuchsfeld des mittelständischen Züchtungsbetriebs Nordsaat sterben
derweil beinahe den Hitzetod und schleichen der Agrarwissenschaftlerin matt durch die
wogenden Ährenreihen hinterher. Kaum registrieren sie noch, wie die langen Grannen ihre
Beine streicheln.
Gut, daß wir keine Gersten sind. Deutschlands einzige Braugerstenzüchterin hätte uns sofort
als untauglich aussortiert. Dennoch gelingt es Lissy Kuntze, uns an einem heißen Nachmittag
subtil davon zu überzeugen, daß wir der Braugerste bisher viel zuwenig Aufmerksamkeit
gewidmet haben. Was wäre schon ein Sommer ohne Feierabendbier? Und wer ist die Seele des
Biers?
"Als ich vor acht Jahren als Züchterin anfing, wußte ich überhaupt nicht, worauf ich mich da
einlasse, ich habe erst hinterher gemerkt, wie aufregend das alles ist", sagt Lissy Kuntze. "Und
wie schön, wie hart, wie spannend, wie erdnah." Pflanzenzucht ist eigentlich eine
Männerdomäne. Frauen züchten allerhöchstens Gemüse oder Zierpflanzen. Hier in
Böhnshausen ist das anders, da fahren Frauen Mähdrescher, und zwei Zuchtassistentinnen
helfen ihrer Chefin bei den tausend gewissenhaften Handgriffen, die zur Züchtung einer neuen
Braugerstensorte nötig sind. Bis zu 450 Überstunden häufen die Mitarbeiterinnen in den
Sommerphasen auf dem Feld an. Die lassen sich erst im Winter abbauen, wenn weniger
Personal ausreicht, um die Ausbeute im Labor zu analysieren.
Gerste (Hordeum vulgare) gehört zu den ältesten Kulturpflanzen überhaupt. Schon früh
scheint klugen Leuten klargewesen zu sein, daß man mit ihr Sinnvolleres anstellen kann, als sie
zu Grütze, Graupen oder Schweinefutter zu verarbeiten. 6000 Jahre alt sind die kleinen
Tontafeln, beschrieben von den Sumerern, auf denen erstmals demonstriert wird, wie man
Gerstenbier braut. Zweitausend Jahre später konnten babylonische Gaumen bereits zwischen
20 Biersorten wählen, acht aus Gerste, acht aus Emmer und vier aus Getreidemischungen
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gebraut. Wer schlechtes Bier verkaufte, sollte gefälligst darin ertränkt werden, verfügte der
Herrscher Hammurabi.
Deutschland mit seinen gegenwärtig etwa 5000 Biersorten ist da laxer. Warum aber züchtet
man überhaupt noch neue Gerste? "Es geht immer noch besser. Eine neue Sorte wird ja nur
zugelassen, wenn sie Eigenschaften etablierter Sorten im Test des Bundessortenamts
übertrifft", erklärt Lissy Kuntze. Das müssen nicht alle Eigenschaften zusammen sein, aber
vielleicht ist die neue Pflanze krankheitsresistenter, etwa gegen Mehltau oder Netzflecken.
Oder sie liefert höheren Malzertrag. Oder sie besitzt eine bessere Keimfähigkeit (über 95
Prozent), nur dann entstehen stärkeabbauende Enzyme, die man beim Brauvorgang braucht.
Das normale Sortenleben beträgt dank immer erfolgreicherer Züchtungen gerade mal zehn bis
13 Jahre, dann wachsen auf den Feldern nur noch die erfolgreicheren Nachfolgegenerationen.
Für Bier kommt hauptsächlich zweizeilige Sommergerste infrage, bei der jeweils zwei Körner
einander gegenüber aus dem Halm treten. Ihr Stärkegehalt ist höher als der der pralleren,
sechszeiligen Wintergerste - schließlich soll daraus beim Maischen Maltose und später Alkohol
werden. Dafür liegt ihr Eiweißgehalt niedriger. Bier würde durch zuviel Eiweiß trüb.
Auf die Ertragshöhe muß man bei der Zucht von Braugerste achten, denn der Bauer legt darauf
natürlich großen Wert. Man muß aber gleichzeitig an die weiterverarbeitenden Mälzer denken,
die eine für den Bauern im Anbau ideale Gerstensorte auch einfach ablehnen können, weil
beispielsweise die aus den Körnern resultierende spezifische Gelbfärbung des Bieres nicht
ihrem Farbempfinden entspricht. Oder die Schaumstabilität zu wünschen übrigläßt. Die
komplexen Qualitätsvorstellungen von Bauern, Mälzern und Sortenprüfern umfassen
insgesamt etwa 200 Merkmale.
Mehr als drei oder vier Sorten verlangt der Markt zwar nicht. Weil aber von einer erfolgreichen
Kreuzung bis zur Zulassung beim Bundessortenamt im Schnitt acht Jahre vergehen, wird ohne
Pause gezüchtet. "Wenn es wirklich gut läuft, entwickelt man alle fünf Jahre eine tolle Sorte",
sagt Kuntze.
Alles beginnt mit einem Kreuzungsplan: "Ich suche zwei potentielle Eltern aus und hoffe, ihre
positiven Eigenschaften in ihren Nachkommen zu verbinden", sagt die promovierte
Gerstenkupplerin. 200 Paare bringt sie pro Jahr aus eigenen Sorten und Linien aus Genbanken
zusammen. "Manchmal sehe ich auch auf Reisen eine gute Sorte und besorge sie mir." Einige
lassen sich in der Praxis schlecht kombinieren, obwohl sie eigentlich gut zusammenpassen
müßten.
Gezüchtet wird, was auf den Böden und im Klima Europas gedeiht. Man kann also hierzulande
maximal Europasortenmeister werden. Im Gesamtgerstenanbau belegt Deutschland den
dritten Platz, knapp hinter Rußland und Kanada. Allerdings trinken die Deutschen mittlerweile
einfach zu wenig Bier. Dabei ist alles, was in Gerste enthalten ist, gesund: Vitamine,
Aminosäuren, Mineralstoffe, Kohlehydrate. Alte volksmedizinische Rezepte sehen Gerste unter
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anderem gegen Magengeschwüre, Cholera, Schwachsinn, Verbrennungen und Tumore hinter
den Ohren vor. Und fragt nicht ein altiranisches Sprichwort zu Recht: Was hat Krankheit mit
Männern zu tun, die von Gerstenbrot und Buttermilch leben?
Eindeutschend müßte man wohl Butterbrot und Gerstensaft sagen, denn etwa im 16.
Jahrhundert avancierte Weizen zum Standardbrotgetreide, und das Bierbrauen wurde insofern
professionalisiert, als die Phase der Experimente mit harmlosen Gewürzkräutern, teilweise
halluzinogenen (etwa Stechapfel) oder sogar giftigen Zusatzstoffen (unter dem Sammelbegriff
"Grut" ins Bier gemischt) mit dem Reinheitsgebot von 1516 endlich ausgestanden war. Die
letzte "Bierhexe", die angeblich frisches Gebräu verdorben hatte, wurde 1591 verbrannt.
Seit 1992 wird in Deutschland wieder mehr Weizen als Gerste angebaut. Letztere wird zu über
60 Prozent verfüttert, nur dreißig Prozent werden gemälzt. Der Malzabsatz sinkt seit Jahren,
damit gehen auch die Einkünfte der Braugerstenanbauer zurück - dieses Jahr sollen sie etwa
zehn Prozent weniger als im letzten Jahr gesät haben. Die Trockenheit könnte nochmal zehn
Prozent Ernteausfall bedeuten. 7,5 Millionen Tonnen verbraucht Europa, im Frühling wurde
ein Erntevolumen von 8,5 Millionen geschätzt, mit dem Export in Malzmangelländer wie China
oder Osteuropa wird es vielleicht nichts werden. Ein Minitrend geht daher zu speziellen
Winterbraugersten. Die könnten den Rückgang im Sommeranbau auffangen und zur
Rohstoffsicherung der Mälzer dienen.
Weil Gerste zu den Selbstbefruchtern gehört, bringt nur künstliche Befruchtung zuverlässig
neue Sorten hervor. Akkuratesse und eine ruhige Hand sind da wichtig. Mit einer Pinzette
ritzen Kuntzes Assistentinnen jedes künftige Korn einer Ähre auf, pulen vorsichtig und
vollständig die feinen Staubbeutel (Antheren) heraus, in denen die männlichen Erbanlagen
liegen. Drei Tage erholen sich die Ähren unter einer Papiertüte von der Kastration, dann
werden sie mit dem Pollen des Wunschvaters bestäubt. Wieder Tüte drüber, abwarten. In
Block sieben, dreizehntes Beet, Reihe 19 überprüft Kuntze zwei derart behütete Ähren, in jeder
Hülle hat sich ein Korn entwickelt. Aus den so gewonnenen Kreuzungskörnern werden
Pflanzen gezogen, dann entnimmt man ihnen die männlichen Antheren und zieht diese in vitro
heran. Mit kleinen biotechnologischen Tricks lassen sich heute die halben (die Mutter fehlt ja)
Chromosomensätze dieser Pflanzen verdoppeln, es entstehen in einem halben Jahr
gleichermaßen reinerbige wie fortpflanzungsfähige Pflanzen. Auf dem Feld hätte das zwei bis
drei Jahre gedauert, so stehen bereits nach einem Jahr 15 000 Pflanzenkinder von 200
Elternpaaren da.
Gute Etikettierung und genaue Buchführung sind jetzt alles. Jede später einmal zugelassene
Sorte geht schließlich auf eine einzige dieser Pflanzen zurück. Die Selektion ist hart: "Die Kunst
des Züchtens liegt im Wegwerfen", lautet das Credo der Nordsaatmitarbeiter. Fast könnte man
meinen, der Gerstennachwuchs zittert, wenn Lissy Kuntze mit Bambusstock und Zuchtbuch
durch die Reihen ihrer ein-, zwei- und dreijährigen Zöglinge geht. Nachhilfe, etwa
Wassergaben bei extremer Trockenheit wie in diesem Jahr, gibt es nicht, "wir wollen die
ungeschminkten Eigenschaften sehen".
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90 Prozent aller Kreuzungen stehen nur ein Jahr. Selektiert wird nach Augenmaß und
Erfahrung. Wenn der Stock die kleinen, jeweils homogen bepflanzten Parzellen teilt und die
Halme zur Seite drückt, sollten die Ähren eines Sortenaspiranten dicht und gesund aussehen.
Block 3, Reihe 16, Nr. 37 bekommt ein dickes Minus: braune Blätter und nachgeschossene
Halme. Insgesamt zu blaß, die Grannen sehr borstig abstehend. Die Schwestergerste im
angrenzenden Plot besticht dagegen durch das satte Gelb ihrer reifen, dichten Ähren. Die
schwingen ordentlich wieder in Form, wenn man sie mit dem Stock scheitelt, und kommen
eine Züchtungsrunde weiter.
Wer das dritte Jahr übersteht, kommt in die hauseigene Probemälzung. Das Drittel, das dabei
am besten abschneidet, wird an drei Standorten in Europa zur Probe angebaut.
Überraschungen erlebt man als Züchter immer wieder, etwa daß unbedeutende Eltern
vielversprechende Kinder hervorbringen können. Nach langen Prüfzeiten wurde Lissy Kuntzes
"Marthe" jetzt zum Anbau empfohlen. Standfest, wenig anfällig gegen Blattflecken, hoher
Ertrag und bester Malzextraktgehalt. "Dabei waren die Eltern ,Neruda' und ,Rezept' nie
marktbedeutend", freut sich Kuntze über den Erfolg. Benannt werden neue Gerstensorten
normalerweise nach Frauen, sie heißen dann "Scarlett" oder "Vanessa" oder eben "Marthe", so
wie Kuntzes dreijährige Tochter.
Es ist immer noch viel zu sonnig auf dem Feld, Lissy Kuntze rügt gerade ein Bündel schlaffer
Halme, wir sehen dagegen mit glasigem Blick, wie die Gerste sich in der flimmernden Hitze
verflüssigt, und brauchen jetzt dringend ein Bier. Ein großartiger Gedanke: Daß man immer
Bier aus der besten Braugerste aller Zeiten trinkt.
Bildunterschrift: Die Seele des Bieres: Hordeum
vulgare, eine der ältesten Kulturpflanzen.
Fotos Daniel Pilar (2), Dieter Rüchel.
Etikettierung und exakte Buchführung sind das A
und O der Gerstenzucht.
Gegossen wird selbst bei dieser Hitze nicht. "Wir
wollen die ungeschminkten Eigenschaften sehen."
Züchterin Lissy Kuntze.
In Böhnshausen liegen die Versuchsfelder des
Züchtungsbetriebes Nordsaat.
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