I� I�������� 6 „Aus evolutionärer Sicht ist Bewegung der Normalzustand für unseren Körper“ Prof. Dr. Detlev Ganten, Vorsitzender des Stiftungsrats der Stiftung Charité, Präsident des World Health Summit und Buchautor im persönlichen Gespräch H eidelberg, 27. Juni 2014, Institut für Sport und Sportwissenschaft, Kongress „Vision Bewegungskinder“: Über 600 Kongressteilnehmer verbindet die Überzeugung, dass Bewegung ein wesentlicher Faktor für eine nachhaltig hohe Lebensqualität ist – und dass die Weichen für Gesundheit, Wohlbefinden und Glück bereits im frühen Kindesalter gestellt werden. Ein Verfechter dieser Theorie ist Prof. Detlev Ganten. Sein Buch „Die Steinzeit steckt uns in den Knochen“ ist eine gut lesbare, auf Evolution basierende Begründung dafür, dass körperliche Aktivität in der heutigen Zivilisation mehr Bedeutung hat denn je. Mit einem eindrucksvollen Vortrag eröffnet der renommierte Berliner Wissenschaftler den zweitägigen Kongress am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Heidelberg – eine gute Gelegenheit, den Buchautor persönlich zu befragen. Lieber Herr Prof. Ganten, ist dieser Kongress als Beleg dafür zu werten, dass in der Gesellschaft das Bewusstsein für den Nutzen und die Notwendigkeit von Bewegung steigt? GANTEN: Die Resonanz auf diese Veranstaltung lässt das in der Tat vermuten. Pädagogen aus Kindergärten und Schulen scheinen von der „Vision Bewegungskinder“ angetan. So wird es in den beiden Kongresstagen primär darum gehen, Wege aufzuzeigen und zu diskutieren, wie diese Vision Realität werden kann – also inhaltliche, pädagogisch-methodische und organisatorische Wirklichkeit. Ich hoffe natürlich, dass ich mit meinem evolutionären Ansatz der dringenden 6 heiten zu. Wenn man sehen muss, dass Kinder zum Beispiel Altersdiabetes entwickeln, tut mir das schon fast weh. Trägheit ist ein massiver Risikofaktor. Bewegungsarmut bedeutet Verlust von Funktionen. Auch die Gene werden träge. Kinder in ihrem natürlichen Bewegungsdrang zu beschränken, ist ein fahrlässiges Vergehen an der Zukunft des Individuums und der Gesellschaft als Ganzem. Prof. Dr. Detlev Ganten Notwendigkeit einer „Bewegungsgesellschaft“ zur Anerkennung verhelfen, das Bewusstsein schärfen und erste Hinweise zur Umsetzung geben konnte. Wenn man die Titelgeschichten vieler Wochenmagazine, also z.B. DER SPIEGEL, Focus oder auch populär-wissenschaftlicher Fachblätter, z.B. GEO, ZEIT Wissen oder PM, ansieht, hat das Thema „Bewegung“ in den letzten Jahren großen Stellenwert erfahren. GANTEN: Wie gesagt: Das Bewusstsein kommt in Bewegung. Umso schlimmer die Tatsache, dass der Body Mass Index unserer Bevölkerung im Durchschnitt nach wie vor zunimmt. In dessen Folge nehmen sogenannte Zivilisationskrank- Wenn das Bewusstsein wächst, steigt beim Einzelnen auch die Bereitschaft, der persönlichen Gewichtszunahme entgegenzuwirken. „Ich weiß ja, ich muss was tun“. Dennoch bleiben bei dem Versuch, abzunehmen, viele Menschen frustriert zurück. Woran liegt das? GANTEN: Dafür gibt es mehrere Gründe. Die genetische Disposition ist sicherlich ein Grund, den man nicht übersehen darf. Jeder Mensch ist einzigartig und verfügt über eine einzigartige Biologie. Auch die Umwelt spielt eine wichtige Rolle. Wir leben nun mal in einem historisch bislang ungekannten Überfluss. Dennoch erachte ich die persönliche Lebensführung als den entscheidenden Faktor in diesem Zusammenspiel: Biologie, Umwelt und Lebensführung formen das Individuum. So schmerzt es zu sehen, wie Menschen noch immer durch Mode-Diäten auf die falsche Fährte gesetzt werden. Gehören Diäten in das Reich der Mythen? GANTEN: In den meisten Fällen, ja. Generell gilt der Grundsatz: „Wissen wirkt“. Wenn Menschen Kenntnis über ihre Biologie, also ihr Menschsein im Lichte der Evolution haben, wirken die Versuche zur I� I�������� 7 Änderung des Lebensstils besser. Erfolgreich im Sinne der Körpergewichtsregulierung, vor allem der Einflussnahme auf den relevanten Körperfettanteil, ist nur die behutsame und nachhaltige Lebensstiländerung. Das beinhaltet die Ernährung und – allen voran – die Bewegung. Folgt man von klein an seiner Natur – Bewegung, wann immer einem danach ist, Essen nur, wenn man Hunger hat und aufhören, wenn er gestillt ist – sollte niemand in die Verlegenheit geraten, seinen Lebensstil ändern zu müssen. Immer mehr Menschen aber müssen im fortgeschrittenen Alter erkennen, dass „sich was ändern muss“. Dabei tut sich derjenige leichter, der an frühere Bewegungserfahrungen anknüpfen kann und sich in eine qualifizierte Betreuung begibt – also zum Beispiel an gezielten Programmen teilnimmt. Womit Sie wiederum ganz klar dafür plädieren, bei den Kindern anzusetzen. Wie sehr prägen die Jahre der frühen Kindheit die spätere – wenn Sie so wollen – „Gesundheitskarriere“? GANTEN: Tatsächlich wird das Kind schon im Mutterleib geprägt. Bei Müttern, die rauchen oder besonders in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten Alkohol trinken, ist die Prägung offensichtlich und tragisch. Als problematisch erweist sich auch ein Übermaß an Zucker. Schwangerschaftsdiabetes und -bluthochdruck können in ihrer Entstehung mit dem evolutionär entstandenen Verteilungskampf zwischen Mutter und Kind erklärt werden. In Zeiten des Überflusses aber stellt sich dieser Verteilungskampf nicht mehr. Durch „Überernährung“ der Schwangeren beeinflusst sie das Risiko für ihr Baby, als Erwachsener zuckerkrank zu werden. Andererseits sind auch Mangelphänomene für die – wie sie es nennen – „Gesundheitskarriere“ prägend: Zum Beispiel ein Mangel an Vitamin D oder an Folsäure. Da man dies weiß, wird Mehl häufig mit Folsäure angereichert, um Entwicklungsrisiken zu minimieren. Eher unbekannt ist die Tatsache, dass Babys, die mit sehr niedrigem Geburtsgewicht auf die Welt kommen, ein erhöhtes Risiko haben, übergewichtig zu werden. Prof. Dr. Detlev Ganten beim Vortrag Das wiederum hat aber damit zu tun, dass diese Neugeborenen über Maßen „gepäppelt“ werden. Wobei wir bei der Frage nach der frühkindlichen Erziehung und Prägung angelangt sind… GANTEN: Richtig. Der Mensch wird komplett unreif geboren und durchläuft im Vergleich zu anderen Lebewesen eine extrem lange Kindheit, in der er auf Fürsorge unabdingbar angewiesen ist. Dagegen ist die Adaptationsfähigkeit des Kleinkindes unvergleichbar hoch. Diese Zeit müssen Kinder für ihre Entwicklung nutzen, vielfältige und starke Reize erleben, um Körper und Gehirn auszubilden. Motorische Fähigkeiten, aber auch das Konzentrationsvermögen und die räumliche Vorstellungsfähigkeit entwickeln sich. Sport bewirkt einen Anstieg von Nervenwachstumsfaktoren, verbessert die Lern- und Gedächtnisleistung und trägt auch zur Stärkung des Immunsystems bei. Nun aber führt die notwendige Fürsorge vielfach zur einer Form von Überbehütung, die vordergründig unmittelbare Verletzungs- oder Erkrankungsrisiken vermeiden soll, tatsächlich aber das Gegenteil bewirkt: Die Grundsteinlegung für die Entwicklung von Risikofaktoren – insbesondere Übergewicht – die das Kind ein Leben lang begleiten wird. Dabei verfügen Kinder über einen natürlichen Bewegungsdrang, dem die Eltern eigentlich nur nachgeben müssen. Tatsächlich kann ich sagen, dass aus evolutionärer Sicht die Bewegung der Normalzustand für unseren Körper ist. Wie war das zu der Zeit, als Sie Ihre Kindheit erlebten? GANTEN: Die Kindheit meiner Generation zu Kriegszeiten war entbehrungsreich – aber gleichermaßen reich an Erfahrungen, die wir selbstständig gemacht haben, bzw. auch machen mussten. Das erlernen eines Musikinstruments war so gesehen ein Privileg. Besonders genoss ich das Leben und die Arbeit auf dem Land. Ich mochte Tiere gerne und erlebte Natur in ihrer ganzen Fülle. Später wollte ich sogar einen Hof übernehmen und machte eine Landwirtschaftslehre. Da habe ich dann auch Abende erlebt, an denen ich nach vollbrachtem Tagwerk im Bett vor Erschöpfung geweint habe. Sie können sich auch vorstellen, wie meine Hände – mit denen ich viel und gerne Geige gespielt habe – abends ausgesehen haben. Aber es gehört auch dazu, sich durchzubeißen, um eine Widerstandskraft zu entwickeln, die einem im Leben in ganz unterschiedlichen Situationen prinzipiell weiterhilft. 7 I� I�������� 8 Prof. Dr. Detlev Ganten Nach einer Ausbildung zum landwirtschaftlichen Gehilfen studierte Detlev Ganten Medizin in Würzburg und Montpellier, arbeitete im Anschluss in der Chirurgie des französischen Krankenhauses in Marrakesch (Marokko) und machte erst danach sein medizinisches Staatsexamen und seine Medizinalassistentenzeit in Tübingen und Emden. Der Promotion im Jahre 1968 schloss sich ein Forschungsaufenthalt am Clinical Research Institute in Montréal an. 1970 erhielt er seine Approbation als Arzt, 1973 den Doctor of Philosophy (PhD) an der McGill University in Montréal. Von 1973 bis 1991 arbeitete er am Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg, habilitierte sich dort im Jahre 1974 und erhielt ein Jahr später eine Professur. Seit 1978 ist Detlev Ganten Facharzt für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie. 1991 war er Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch, einer Einrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. 1993 übernahm er außerdem den Lehrstuhl für klinische Pharmakologie an der Charité, deren Vorstandsvorsitz er von 2004 bis 2008 innehatte. Diese Kindheit und ihre von viel Fleiß gekennzeichnete Karriere könnte bei manchem die Frage aufwerfen: Wieso genießen Sie nicht ihre „fortgeschrittenen Jahre“ und beißen sich stattdessen durch unzählige Literaturquellen, um nach Ihrem jüngsten Bucherfolg schon an einem nächsten Werk zu arbeiten? GANTEN: Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun? Den ganzen Tag Golf spielen? Mir bereitet es eine riesige Freude, mich mit der Idee einer „evolutionären Medizin“ zu beschäftigen. Meine Neugier ist ungebremst und das Gefühl, noch etwas beitragen zu können, ist wie ein Jungbrunnen. In einer der letzten Ausgaben Ihres Magazins stand ein Beitrag zur „Krea(k)tivität“. Ich kann zu diesem Begriffskonstrukt als Prinzip gelingenden Lebens und der schöpferischen Gestaltung des Älterwerdens nur gratulieren und Ihnen beipflichten. Ihr „Krea(k)tivitäts-Quadrat“ aus Ernährung, Kreativität, sozialer Umgebung und körperlicher Aktivität zeichnet wunderbar die Konturen für 8 Im Jahr 2009 rief er den World Health Summit ins Leben und wurde im August 2013 zum Co-Chair des Interacademy Medical Panel (IAMP) gewählt. Die Forschungsgebiete von Detlev Ganten liegen vor allem in der Erforschung der Ursachen des Bluthochdrucks. Zudem setzte er sich mit genomischen und molekularen Mechanismen der Evolution und der Evolutionären Medizin auseinander. Für seine Arbeit erhielt er den „Chavez Award“ der International Society of Hypertension, die „Sechenev Medaille“ der Medizinischen Akademie Moskau und den „Wissenschaftspreis“ der Deutschen Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdruckes, 1990 folgte die „Heilmeyer Medaille“ der Gesellschaft für Fortschritte auf dem Gebiet der Inneren Medizin sowie der Max-Planck-Forschungspreis und der Okamoto-Preis in Japan. 1992 bekam er den CIBA-Preis des Council for High Blood Pressure Research der American Heart Association und seit 1995 ist er Ehrendoktor der Universität Iaşi in Rumänien. 1997 erhielt er den Verdienstorden des Landes Berlin, 2000 das Bundesverdienstkreuz und seit 2003 ist er Ritter der Ehrenlegion der Französischen Republik. ein ganzheitliches Gesundheitskonzept (RC Premium III/2013, S. 6ff). Dr. Matthias Zimmermann und Prof. Dr. Detlev Ganten Dass hinter Ihrem Buch ein fitter Geist steckt, merkt man als Leser schnell. Aber wie steht es denn um Ihre körperliche Fitness? Gehen Sie regelmäßig ins Fitnessstudio? GANTEN: Da muss ich Ihnen „gestehen“, dass ich zu sehr naturverbunden bin. Also lautet meine Antwort: Nein. Ich laufe gerne. Auch den Heidelberger Halbmarathon habe ich schon mal bewältigt. Dann schwimme ich mit großer Leidenschaft und fahre gerne mit dem Rad. Vielseitigkeit macht meine körperliche Aktivität aus. Ich habe zeit meines Lebens Sport gemacht und daher ein ganz gutes Körpergefühl entwickelt, das es mir erlaubt, die Trainingswirkung meiner Bewegungsprogramme aus dem Bauch heraus zu steuern. Ich weiß, was mir gut tut – und dass ich mich anstrengen muss, um fit zu bleiben. Allerdings gebe ich zu, ihr Ansatz eines gezielten gesundheitsorientierten I� I�������� 9 Muskeltrainings – wie Sie das nennen – ist interessant. Insofern schließe ich nicht aus, mich auch irgendwann mal einem Krafttrainingsprogramm zu unterziehen, das nach einem Trainingsplan und unter fachlicher Begleitung stattfindet. Ihr Arbeitspensum, das zeigen Ihre vielfältigen Engagements und Veröffentlichungen deutlich, braucht bestimmt auch ein gehöriges Pensum an Kraftreserven. GANTEN (lacht): Hier argumentieren Sie geschickt, um mich ins Fitnessstudio zu locken. Ein Buchprojekt ist natürlich immer damit verbunden, Ideen zu wälzen, hin und her zu überlegen, über inhaltliche Strukturen und Formulierungen nachzudenken. Das kostet Kraft und manchmal große Widerstandsfähigkeit. Aber ein fertiges Buch in den Händen zu halten, ist ein tolles Gefühl. Bei einem Kongress interessante Menschen zu treffen und sogar die Organisation mitzugestalten (den alljährlich in Berlin stattfindenden World Health Summit, Anm. d. Red.), gibt mir viel Energie. Außerdem erschließe ich mir mit der evolutionären Medizin ein Gebiet, das interdisziplinär ist, komplexes Denkvermögen abverlangt und bestimmt auch hohe praktische Relevanz besitzt. In der Jugendsprache von heute würde man sagen: „Das ist genau mein Ding“. Wir müssen den Gegensatz zwischen kurativer und präventiver Medizin überwinden und Prävention sogar noch stärken. Wir werden älter, ja. Gleichzeitig werden wir aber auch immer kränker. Die Erkenntnisse aus der evolutionären Medizin – also die Erweiterung der molekulargenetischen Betrachtung um eine historische Dimension – werden einen maßgeblichen Beitrag zur Überwindung der benannten Probleme leisten. Liegt darin der Antrieb zu dem Buch, auf das wir uns hier beziehen? GANTEN: Die Motivation zu diesem Buch liegt darin, einen neueren Zugang zur Medizin, nämlich einen aus evolutionärer Sicht, einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Ursprünglich jedoch liegt der Hintergrund dieses Buches in meiner Leidenschaft, meine wissenschaftliche Fachrichtung mit einem interdisziplinären Ansatz zu beleuchten und zu bereichern. Dies führt bisweilen zu einem Umdenken, zu einer offeneren Betrachtung medizinischer Phänomene. So finde ich es schön zu beobachten, dass Themen rund um Bewegung, z.B. der wunderschöne Titel „Wundermittel Bewegung“ in dem Magazin ZEIT WISSEN (Nr. 2/2014) die unsägliche Vielfalt an „Diät-Literatur“ zumindest ein wenig verdrängt haben. Das Thema Ernährung erscheint unter evolutionär-wissenschaftlicher Perspektive in einem anderen Licht und Bewegung erhält eine andere Bedeutung… … die unsere Leser gerne in Ihrem Buch dann ja vertiefen können. Ein weiteres Werk ist in Arbeit und wird bald auf den Markt kommen. Ich bin sehr gespannt und nach unserer Begegnung mehr denn je motiviert, eines der ersten Exemplare zu ergattern. Vielen Dank Herr Prof. Ganten für Ihre Zeit und das spannende Gespräch! Dr. Matthias Zimmermann Anzeige Hörgeräte Hörtests Hörtraining Hörgeräte-Batterien Gut hören, live dabei sein. Moderne Hörgeräte sind klein, chic, mit geschmackvollem Design. Mit hoher Leistungsfähigkeit gleichen sie Hörschwächen aus. Kostenloser Hörtest? Gern. Rufen Sie mich einfach an. 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