Tethered Vagina Syndrome „Tethered vagina syndrome“ ist ein von Petros (Perth, AUS) geprägter Begriff, der auf der Integraltheorie als Grundlage für das Verständnis der Blasenfunktion basiert. Petros schätzt die Inzidenz unter den urogynäkologischen Patientinnen auf ca. 5%. Die wesentliche Aussage der Integraltheorie besteht darin, dass Kontinenz sichergestellt wird durch ein Kräftegleichgewicht Beckenbodensystem: verschiedene Muskeln sind daran beteiligt, Im Wesentlichen sind dies 3 muskuläre Strukturen, nämlich M. pubococygeus M. levator ani M. longitudinalis pararectalis zum Anus Öffnung und Verschluss der Blase/des Blasenhalses können so korrekt ablaufen die Kraftvektoren nur in der vorgesehenen Art wirken können, wenn das periurethrale und perivaginale Bindegwebe intakt und an Ort und Stelle ist. Dazu gehören vor allem die ligamentären Strukturen Lig. pubourethrale Lig. sacrouterinum Arcus tendineus fasciae pelvis die Scheide die verschiedenen Kräfte und ihre Wirkrichtungen koordiniert. Dazu muss sie an bestimmten Stellen elastisch sein. im Die sog. Trampolinanalogie führt das wesentliche Wirkprinzip vor Augen. Die Biomechanik der dynamischen Scheidenaufhängung beinhaltet, dass suburethrale Spannungsarmut zum Ausbleiben der Annäherung von Cresta urethralis (CU) und dem periurethralen quergestreiften Muskel (PUSM) führt — ein wasserdichter Blasenverschluss bleibt aus, verstärkt durch verminderte Vaskularisation oder hormonmangelbedingter Atrophie dieser Funktionseinheit. Elastizitätsverlust im Bereich der suburethralen Scheide kann hier die gleiche Folge haben. Blasenhalselevation (z.B. Burch-, Cowan-OP) streckt die Hängematte und ZKE durch Verlagerung nach ventrocranial, vaginale Korrekturen (Plastiken) strecken sie durch Resektion „überschüssigen“ Gewebes. Beides kann diesen sog. „ersten“ Verschlussmechanismus stören. Die Entlastung der Pressorezeptoren ist abhängig ist von: der Elastizität der suburethralen Scheidenwand der Anbindung der Hängematte an die Mm. pubococcygei (aus zwei Gründen: erstens, damit die Kontraktion effektiv sein kann, zweitens, weil durch schlechte Anbindung und Laxität der Hängematte die Effektivität der Kontraktion abnimmt) der Kontraktionskraft der Beckenbodenmuskulatur. Damit wird deutlich, welche Bedeutung die Integrität der suburethralen Scheide und der Beckenbodenmuskulatur auch für die Entstehung von Urge-Symptomen hat. Es zeigt sich hieran auch, dass bei entsprechend gelagerten Fällen eine Urge-Problematik durchaus chirurgisch angegangen werden muss, um die Symptomatik zu beherrschen. Es wird auch deutlich, warum in solchen Fällen die pharmakologische Behandlung mit Parasympatholytika nur geringe Erfolgsaussichten mit sich bringt. In der Anfangsphase der klinischen Erprobung der transvaginalen Schlingentechnik hat die Arbeitsgruppe von Petros zur Justierung der Schlingenspannung die suprapubisch ausgestochenen Bänder lang belassen. Damit konnte deren „Spannung“ justiert werden. In diesem Kollektiv konnten die folgenden graduellen Unterschiede der Verschluss- und Öffnungsfunktion der Urethra festgestellt werden, die klinisch aus den verschiedenen Graden der Überkorrektur nach Blasenhalssuspensionen bekannt sind: I.°: Stakkatomiktion/abgeschwächter Harnstrahl II.°: Restharnbildung III.°: Restharnbildung + Verlust des Harndrangs IV.°: Restharnbildung + Verlust des Harndranges + Verlust des Gefühls für den Füllungszustand der Blase V.°: kompletter Harnverhalt. Auch diese Symptome, vor allem Grad III und IV, treten beim tethered vagina syndrome auf. Die Anamnese der Patientin ist typisch und allgemein bekannt. Es handelt sich um eine Frau, die ein oder mehrere Kinder geboren hat. Wegen eines Uterus myomatosus wurde sie gegen Ende der 4. Lebensdekade beim Frauenarzt auffällig. Sie beklagt zu diesem Zeitpunkt eine leichte Stressinkontinenz und weist neben der leichten Senkung des myomatösen Uterus eine mehr oder weniger ausgeprägte (Pulsions-)Zystocele sowie eine Rectocele auf. Der Uterus wird entfernt, Plastiken werden „mitgemacht“. Etwa 6 Monate danach sind die Inkontinenzsymptome ausgeprägter als zuvor. Die Patientin verschweigt es dem Frauenarzt. Die Raffung der Blasenfaszie in der Mittellinie hat deren laterale Fixierung geschwächt, es kommt zur Ausbildung einer (Traktions)Zystocele. Dieser Befund sowie die von der Patientin nun nicht mehr zu verschweigende Stressinkontinenz werden in unmittelbaren Zusammenhang gebracht. Eine vordere „Re-Plastik“ wird indiziert. Am Blasenhals wird mit Kelly-Nähten dem Rezidiv begegnet. Ist die Wundheilung abgeschlossen, bemerkt die Patientin, dass sie jetzt nicht nur beim Treppabgehen Urin verliert, sondern auch beim Treppaufgehen und Aufstehen aus dem Sitzen. Der Gynäkologe überweist die Patientin weiter. Die „schwere“ Stressinkontinenz, als Rezidiv interpretiert, wird nun von einem Bauchschnitt aus saniert mit einer Kolposuspension nach Burch (in einer ihrer vielen Modifikationen). Nach anfänglicher Restharnproblematik kann die Patientin nach einigen Tagen, von ihrem suprapubischen Blasenkatheter befreit, im Halbstehen wieder die Blase entleeren. Nach einer gewissen Zeit (oder mit einer Latenz nach einer nach einer gewissen Zeit durchgeführten Faszienzügeloperation wegen eines weiteren Rezidivs) mit zunehmendem Alter (und schlechter werdendem Kollagen sowie schrumpfendem Narbengewebe) (10) schließlich stellt sich eine absolut inkontinente Frau vor, der bereits bei kleinsten Bewegungen der Urin im Schwall in die Vorlage läuft, obwohl sie alle 30 Minuten zur Toilette geht, um den Blaseninhalt rechtzeitig zu entleeren. Östrogene (lokal oder systemisch) kamen aus welchen Gründen auch immer nicht zum Einsatz. Urodynamisch zeigt sich in der Regel keine pathologische Detrusorkontraktion, weil sich bei 80 ml Füllungsvolumen der Blaseninhalt bereits ohne Detrusoraktivität praktisch komplett entleert. Beim Aufstehen entleert sich dann auch dieser Rest. Das Urethraruheprofil zeigt eine sog. atone Urethra und in der bildgebenden Diagnostik bewegt sich die Urethra beim Valsalva-Manöver nicht (mehr), nur der Blasenhals klafft noch ein wenig weiter auseinander als er dies schon in Ruhe tut. Der Blasenhals liegt über dem Niveau der Symphysenunterkante und bei der Zystoskopie ist der Detrusor trabekuliert und die Schleimhaut atroph gerötet. Resignation, artefizieller Sphinkter), Silikon, Kollagen, Zuidex® — wofür soll man sich entscheiden? Wozu der Patientin raten? Die Integraltheorie besagt, dass Kontinenz Beckenbodensystem sichergestellt wird: durch ein Kräftegleichgewicht im Im Fall des tethered vagina syndromes besteht ein anteriores Ungleichgewicht, das durch zu starke Kräfte vorn (multiple Operationen an der gleichen „Seite der Waage“) bei schwachen Kräften hinten (fehlende Sacrouterinligamente [USL], schwache Beckenbodenmuskeln [Geburten, Alter, Levator-Damm-Plastik] eine, wie es scheint, afunktionelle Urethra hervorbringt. Anterior „tethered“ und posterior „loose“ - aus diesem Bild der Waagschalen leitet sich der therapeutische Ansatz ab: — vorn: Lösung der Narben, Mobilisierung von Urethra und Blasenhals, Steigerung von Mobilität und Elastizität (hormonell unterstützt durch lokale Östrogen- und ggf. auch Gestagentherapie) — hinten: Stärkung der posterioren Fixierung der Scheide durch dynamische Fixierung möglichst ohne Verziehung der Achse und Stärkung der Muskulatur (Elektrotherapie [Reizstrom — Biofeedback — Physiotherapie] Kommt es tatsächlich zu einer (Belastungs)Inkontinenz nach Lösen der Narben, so ist nach unserer Einschätzung deren zweizeitige Sanierung durch einen entsprechenden Eingriff (adjustierbare mitturethrale Schlinge (z.B. Remeex) sinnvoll. Zu diesem Vorgehen gibt es in der Literatur kaum auffindbare Quellen. Praktisch immer wird im Rahmen der „frozen urethra“ als Alternative die Harnableitung, der intermittierende Selbstkatheterismus oder auch die Anlage eines artefiziellen Sphinkters diskutiert. Die konsequente Anwendung der Integraltheorie von Petros aber weist hier noch einen anderen Weg. Es geht hierbei nicht, wie Mitte der 90er Jahre von der Arbeitsgruppe McGuire gezeigt, um die Anästhesie der Rezeptoren. Auch steht nicht die urethrale Obstruktion durch Narben im Vordergrund, sondern die Wiederherstellung der Mobilität der Scheide in der Zone kritischer Elastizität. Ist dies geschehen und sind auch sonst die zur Kontinenzerzielung notwendigen Strukturen suffizient (rekonstruiert), kommt es zur Entlastung der Rezeptoren und zu einer suffizienten Übertragung der posterioren Kräfte zum Blasenhalsverschluss. Dies schließt auch aus, dass es sich um den Effekt handelt, der mit der Ingelman-Sundberg-Operation zur Denervierung bei Motorurge Anwendung findet bzw. fand. Es handelt sich hier also um einen Ansatz zu einer echten Heilung der Patientin mit dem von Petros als „tethered vagina syndrome“ bezeichneten Krankheitsbild. Die Ergebnisse sind ermutigend. Es kommt auf die Patientin kein großer operativer Eingriff zu, die Inkontinenzsituation ist ohnehin schon desolat und daher praktisch nicht mehr zu verschlechtern. Die Reduktion von Drangsymptomatik allein wird von den betroffenen Patientinnen bereits als eine Erleichterung wahrgenommen. Kann man ihnen dann noch die Inkontinenzsymptomatik verbessern oder gar nehmen, dann ist dieses Vorgehen ein sicherlich richtiger Schritt im Behandlungskonzept, denn diese Patientinnen erfahren durch medikamentöse Behandlung (Parasympatholytika) keine (nennenswerte) Besserung. Mit der Einführung des adjustierbaren Schlingensystems Remeex® ist die Therapierbarkeit nach erfolgreicher Urethrokolpolyse (vaginal oder abdominal) um ein Weiteres verbessert worden. Umso wichtiger ist die Diagnosestellung und Zuleitung zu einer adäquaten Therapie. nach: Armin Fischer: Praktische Urogynäkologie – spannungsfrei; Verlag Haag & Herchen, Frankfurt 2006; ISBN 3-89846-371-0