Diabetes, die immer noch unterschätzte Gefahr Die Diabetes

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Diabetes, die immer noch unterschätzte Gefahr
Die Diabetes-Lawine rollt und was tut Deutschland? Immer noch viel zu wenig, sagen
Fachleute. Vieles läuft nebeneinander, wenig wird evaluiert, wird zerrieben im Mahlstrom
der Partikularinteressen.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache
Die Zahlen schwanken je nach Zählart, aber sie haben
durchweg das Ausmaß einer Epidemie. ©NAFDM
Ist eine nationale Kraftanstrengung überhaupt
notwendig? Neigen Fachleute nicht zur Panikmache?
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die
Stoffwechselkrankheit Diabetes hat die Ausmaße einer
weltweiten Epidemie angenommen.
Sie bedroht nicht nur die Gesundheit, sondern das
soziale Gefüge und Volkswirtschaften.
3,8 Millionen starben nach Angaben der International
Diabetes Foundation (IDF) 2007 an
den Folgen des Diabetes.
80 Prozent der Ausgaben für ärztliche Versorgung
werden in den reichsten Ländernausgegeben, der Rest
verteilt sich auf Länder in der Zweiten und Dritten Welt,
wo aber bald 80 Prozent der Diabetes-Kranken leben werden. Ingesamt steigen die Kosten für
die Diabetes-Behandlung schneller als die Weltbevölkerung.
Eine Wohlstandskrankheit bedroht den Wohlstand.
Durchschnittlich zehn Prozent des hiesigen Gesundheitsbudgets verschlingt Diabetes.
Experten wie Prof. Hans Hauner rechnen mit 60 Mrd. Euro jährlich, wenn auch die indirekten
Kosten miteinbezogen werden. Diabetes und seine Folgekrankheiten werden zunehmend zur
Gefahr für Volkswirtschaften, meint zumindest die International Diabetes Federation. © IDF
In der Europäischen Union (EU) wächst die Zahl der Diabetes-Kranken unvermindert. Die
Prävalenz-Rate für Erwachsene (20 bis 79 Jahre) stieg zwischen 2003 und 2006 von 7,6 auf
8,6 Prozent, das sind 31 Mio. Kranke. Negativer Spitzenreiter mit 11,8 Prozent ist Deutschland.
Erst jetzt bastelt Europa an einer einheitlichen Prävention (IMAGE: Development and
mplementation of a European Guideline and Training Standards for Diabetes Prevention).
Typ-2-Diabetes: teuerste chronische Erkrankung 2006 wurden in Deutschland mehr als sieben
Mio. Bundesbürger wegen eines Diabetes mellitus behandelt, vor allem waren es Typ-2-
Diabetiker, die immer mehr Insulin einnehmen müssen.
Diabetes Typ 2 ist die teuerste chronische Erkrankung, sie (über)belastet die deutschen
Gesundheitskassen jährlich mit 18 Mrd. Euro, andere Quellen sprechen von bis zu 60 Mrd.
(Prof. Hans Hauner), wenn die indirekten Koste einbezogen werden.
Das tödliche Quartett Es sind seine Begleit- und Folgeerkrankungen, die den Diabetes so
gefährlich machen. © Takeda Jeder zweite Herzinfarkt oder Schlaganfall geht auf das Konto
des Diabetes, ebenso wie 30.000 Amputationen. Es sind diese Begleit- und
Folgeerkrankungen, die Diabetes so gefährlich machen. Stete Begleiter sind hoher Blutdruck,
erhöhte Blutfettwerte und Übergewicht, was der Mediziner "Metabolisches Syndromnennt", der
Volksmund „tödliches Quartett“. Seine Folgeerkrankungen schädigen die Gefäße - nicht nur
von Herz, Gehirn oder Bein, sondern auch von Niere und Auge.
Es könnte noch schlimmer werden, denn es erkranken immer mehr junge Erwachsene,
sogar Kinder und Jugendliche. Es besteht überdies ein direkter Zusammenhang zwischen der
steigenden Zahl übergewichtiger Menschen (auch hier ist Deutschland Europameister) und
Diabetes-Erkrankungen. 20 Prozent der europäischen Kinder sind übergewichtig, jedes Jahr
kommen 400.000 Übergewichtige dazu, so die Schätzungen.
Ein unentdeckter auf einen entdeckten Fall. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Fachleute
schätzen, dass jeder dritte Bundesbürger mit Diabetes mellitus konfrontiert ist. Typ-2-Diabetes
– er ist das Hauptproblem und macht mehr als 90 Prozent aller Fälle aus, am Typ-1Diabetessind fünf bis zehn Prozent erkrankt – entwickelt sich über Jahre, bleibt unentdeckt.
Viele Menschen sind schon Diabetiker, ohne dass sie es wissen.
Studien zeigen, dass die Kostenrate linear nach Feststellung des Diabetes ansteigt. Am
meisten zu Buche schlagen vaskuläre Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und
Schlaganfall. Diese Komplikationen durch optimierte Behandlung und Kontrolle
des Diabetes zu vermeiden, gilt unter Fachleuten als Königsweg, um den ungebremsten
Kostenanstieg zu verhindern.
Gesundheit fördern statt Krankheit behandeln
Um der Kostenfalle zu entgehen, wird ein Paradigmenwechsel beschworen: weg vom
krankheitszentrierten heilenden Prinzip hin zum Grundsatz der Gesundheitsförderung.
Allerdings hat eine Kosten-Nutzenanalyse der Gesundheitsökonomen eine „unerwünschte
Nebenwirkung“: Erfolgreiche Prävention steigert die Lebenserwartung und damit auch die
lebenslangen Kosten dieser Menschen für die altersbedingten Erkrankungen.
In Europa fehlende vergleichbare Daten Trotz alarmierender epidemiologischer Zahlen: Es
fehlen nationale Register, Daten, klare Definitionen. Das hat zur Folge, so sieht es die IDF,
dass Diabetes auf nationaler wie europäischer Ebene unterschätzt wird. Diabetes macht rund
ein Zehntel der Gesundheitsausgaben aus, schätzt man. Genaue, vergleichbare Zahlen fehlen.
Hinzu kommt eine „frustrierend langsame“ (IDF) Gesundheitspolitik. Weniger als die Hälfte der
EU-Mitgliedsländer verfügt über einen nationalen Diabetes-Plan oder eine konzertierte Aktion.
Ob Diabetes- (und Adipositas)-Spitzenreiter Deutschland einen solchen 2010 umsetzt, scheint
ungewiss (s. o.).
Medikamente gegen Diabetes: Köcher ist gefüllt
Möglicherweise ist die Diskussion in der wissenschaftlichen Medizin, ob diese Erkrankungen
auf eine Ursache zurückgehen, nur von akademischem Belang. Sollte das „tödliche Quartett“
auf eine Ursache zurückgehen, so sieht sie die Fachwelt nach heutigem Kenntnisstand in der
Nachbarschaft zur Insulinresistenz.
Hoffnungen auf ein einziges Medikament, das Diabetes einschließlich der Begleiterkrankungen
bekämpft, haben sich bislang zerschlagen, ob es nun Glitazone, ACE-Hemmer oder die
„Polypill“ ist (vgl. Scott M. Grundy, Advancing drug therapy of the metabolic syndrome, in:
Nature Reviews, Drug Discovery, Vol. 8. May 2009, S. 341).
Ob mehrere Wirkstoffe in einer Tablette ein Patentrezept sind, müssen wissenschaftliche
Studien zur Compliance zeigen.
Zehn Wirkstoffe in dritter Phase
Von rund 2.500 Forschungs- und Entwicklungsvorhaben (klinische Phasen I bis III)
kleinerer und mittlerer Biotech-Unternehmen in Europa entfallen 64 Projekte auf die
Indikation Diabetes (Novumed Life Science Consulting). Auch Pharmakonzerne arbeitet
an Diabetes-Wirkstoffen.
Besser vorbeugen als heilen
Mehr Sport, bessere Ernährung, maßvoller Medienkonsum – die Rezeptur für DiabetesPrävention klingt einfach und ist doch so schwer. Mag der einzelne Diabetes-Gefährdete sein
Verhalten nachhaltig ändern, die Lebenswelt auf Gesundheitsförderung und Prävention
auszurichten, fordert die gesamte Gesellschaft und umfasst nahezu alles: Landwirtschaft,
Erziehung, Sport, Ernährung, Verbraucherschutz, Gesundheit, Unterhaltung, Marktwirtschaft,
Transport und Verkehr, Umwelt und Medien. Dass diese Ziele auf mehreren Ebenen, von der
Gemeinde bis zur EU und aufeinander abgestimmt und aufbauend ablaufen müssen,
verdeutlicht, wie stark der gemeinsame Wille zur Umkehr sein muss, um widerstreitende
Partikularinteressen zu überwinden.
Im Prinzip ideal zur Vorbeugung
Ideal für primäre Prävention ist der Typ-2-Diabetes. Wer sich deutlich mehr bewegt, auch ohne
massiven Gewichtsverlust, bringt seinen Stoffwechsel auf Trab und vermindert damit die
Insulinresistenz. Internationale Studien zeigten, dass sechs von zehn Betroffenen den
Ausbruch von Diabetes erfolgreich verhinderten oder hinauszögerten, wenn sie im Frühstadium
der Erkrankung ihren Lebensstil änderten. Nachgewiesen ist dies bei Personen mit erhöhtem
Risiko (gestörte Glucosetoleranz oder erhöhte Nüchternblutglucose).
Aus Kostengründen halten Fachleute den geänderten Lebensstil als geeignetes Mittel zur
bevölkerungsweiten Prävention, die kontinuierlich begleitet und überprüft werden muss.
Bisher lässt sich noch nicht genau vorhersagen, welchen Personen die Lebensstil-Intervention
besonders nützt und welchen nicht. Erste Studien, auch in Tübingen (TULIP)
zeigen, dass eine Prognose möglich ist.
Lücken in Diagnose und Versorgung
Klinische Studien haben gezeigt, dass die multifaktorielle Therapie sowie die optimale
Blutzucker-Einstellung die Prognose der Kranken deutlich verbessert. Die Versorgung der
Diabetes-Kranken hat sich in den vergangenen Jahren verbessert, doch es gibt Defizite in der
Versorgung: bei alten Menschen, Migranten, sozial Benachteiligten, Schwangeren mit
Gestationsdiabetes, Menschen mit seltenen Diabetes-Formen, Kleinkindern mit Diabetes,
diabetischen Jugendliche in der Pubertät. Mittelmäßig sind die Behandlungsergebnisse in
Deutschland. Im aktuellen europäischen Vergleich belegt Deutschland Platz 19 (Euro
Consumer Diabetes Index 2008).
Typ 1 lässt sich gut vorhersagen
Der meist genetisch vermittelte Typ-1-Diabetes mit oft langer präklinischer Phase lässt sich
ziemlich genau vorhersagen. Bei dieser organspezifischen Autoimmunerkrankung lassen sich
Autoantikörper von ß-Zellantigenen und genetischen Markern (HLA-Antigene) messen.
Fachleute hoffen, dass sich die Zerstörung der Beta-Zellen mittelfristig modulieren lässt und
damit eine Primärprävention dieses Diabetes ermöglicht.
Mitunter leidet die Diagnostik unter unzureichenden Messverfahren, Blutproben, oder es
wird nur die Nüchternplasmaglucose gemessen. Als Goldstandard gilt der orale
Glucosetoleranztest (OGTT), vor allem in der frühen Phase der Erkrankung, den aber die
Kassen nur bei erhöhten Nüchternplasmaglucosewerten erstatten. Die Liste der
Versorgungslücken ist nach Ansicht von Fachleuten lang, es fehlt beispielsweise an
egelmäßigen Check-ups oder am Screenen von Hochrisikopersonen.
Differenzialdiagnostik noch verbesserungsfähig Verbesserungsfähig ist auch die
Differentialdiagnostik des Diabetes, der sehr heterogen ist und viele Mischformen kennt.
Die Hoffnungen ruhen auf molekulargenetischen Tests, die die Art des Diabetes und den
Grad der Insulinsekretionsstörung und der Insulinresistenz genauer bestimmen.
Allmählich wird europäische Forschung abgestimmt
Ein besseres Verständnis der Ursachen und der Pathogenese der Diabetes-Formen sowie
deren Komplikationen erfordert nach dem Urteil der Experten die Weiterentwicklung einer
individualisierten Prävention, Diagnostik und Therapie. Die EU-Kommission unterstützt seit April
2008 mit DIAMAP (Roadmap for DiabetesResearch in Europe) die koordinierte
Forschungsförderung. Medizinische Fachgesellschaften und Arzneimittelhersteller sollen
binnen zwei Jahren eine europaweite Forschungsstrategie erarbeiten.
Bedarf in allen Forschungsfeldern beträchtlich. Gefragt sind in Deutschland weitere
Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung, der epidemiologischen und der patientennahen
Forschung. Bezeichnend für die deutsche Situation: Auch die Forschungsförderung ist nicht
abgestimmt zwischen Forschungs- und Gesundheitsministerium. Immerhin verfügt seit kurzem
die TU Dresden über den ersten europäischen Lehrstuhl für Prävention und Versorgung des
Diabetes, den der Insulinhersteller Sanofi-Aventis gestiftet hat.
Komplexes Wechselspiel ergründen
Ansätze, die das komplexe Wechselspiel von Empfindlichkeitsgenen mit der Umwelt,
sychosozialem Kontext, Nahrung und körperlicher Aktivität berücksichtigen, sind nach heutigem
Wissensstand von zentraler Bedeutung. Hoffnungen ruhen auch auf Fortschritten beim
Imaging, der Mess-Sensorik, der Nutzung adulter Stammzellen und der Regeneration
insulinproduzierender Zellen.
Diabetes mellitus ist ein Sammelbegriff für verschiedene Störungen des Stoffwechsels, dessen
Leitbefund die chronische Hyperglykämie (erhöhter Blutzuckerspiegel) ist. Ursache ist eine
gestörte Insulinfreisetzung oder eine gestörte Insulinwirkung oder beides zusammen.
Diabetes mellitus Typ 1
Autoimmunerkrankung, in deren Verlauf die insulinproduzierenden Betazellen in der
Bauchspeicheldrüse zerstört werden. Nach Stand der Forschung gilt die Krankheit als
genetisch vermittelt, es werden mehrere Gene damit in Verbindung gebracht.
Diabetes mellitus Typ 1 muss mit (heute üblicherweise künstlich hergestelltem) Insulin
behandelt werden.
Diabetes mellitus Typ 2
Der mit Abstand häufigste Diabetes (neun von zehn Diabetikern leiden an dieser Form).
Es liegt eine Insulinresistenz vor: Das vorhandene Insulin kann seine Wirkung an den
Zellmembranen nicht richtig entfalten. Die Bauchspeicheldrüse versucht dies mit einer
Insulinüberproduktion auszugleichen und erschöpft dabei mit der Folge, dass das
produzierte Insulin den Blutzuckerspiegel nicht mehr kontrollieren kann.
Dieser Diabetes gilt als typische Wohlstandskrankheit und lässt sich mit geändertem Verhalten
verhindern oder hinauszögern. Die Krankheit hat viele Ursachen, mehr als ein Dutzend Gene
werden mit ihr in engen Zusammenhang gebracht, auch die Fettleibigkeit (Adipositas) gilt als
Risikofaktor. Typ-2-Diabetes gilt als Modell für das komplexe Zusammenspiel von Genen,
Umwelt, psychosozialem Umfeld, Ernährung und Bewegung.
Quellen/Literatur:
HelmholtzZentrum München, FLUGS-Fachinformationsdienst, Diabetes mellitus Typ 2 –
Lebensstil und Gene entscheiden, München, 28.05.2008 International Diabetes Foundation
(IDF): www.idf.org
Gesundheitsziele.de, Forum Gesundheitsziele Deutschland, AG Diabetes mellitus Typ
2: www.gesundheitsziele.de
Robert Koch Institut/Statistisches Bundesamt: Diabetes mellitus.
Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 24, 2005
Robert Koch Institut/Statistisches Bundesamt: Gesundheit in Deutschland, Juli 2006.
Nationales Aktionsforum Diabetes mellitus (NAFDM): 2. Entwurf Nationaler
Aktionsplan Metabolisches Syndrom, Adipositas, Diabetes mellitus: PräventionVersorgung-Forschung, Mai 2008
Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung: Health Technology
Assessment, www.inno-hta.eu, www.metaforum-innovation.de
Forster, Thomas: Krankheitskostenrechnung für Deutschland, Statistisches Bundesamt,
Wirtschaft und Statistik 12/2004;
VFA Bio: Medizinische Biotechnologie in Deutschland 2009
Federation of European Nurses in Diabetes/International Diabetes Foundation
Europe: Diabetes. The Policy Puzzle: Is Europe Making Progress? 2nd edition,
Euradia (Alliance for European Diabetes Research) www.euradia.org
Deutsche Diabetes-Union/Nationales Aktionsforum Diabetes mellitus, Diabetes 2009.
Deutscher Gesundheitsbericht, Mainz 2008 (November)
Boehringer Ingelheim, R & D Press Conference, 17.10.2008.
Über F & E-Projekte für Diabetes-induzierte Folgeerkrankungen: Calcutt, Nigel/Cooper,
Mark et. al, in: Nature Reviews Drug Discovery, Vo. 8, May 2009, S. 417ff.
Deutscher Gesundheitsbericht. Diabetes 2009, vorgelegt von Deutsche Diabetes-Union u.
NAFDM, November 2008.
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