„Zukunft und Krisen waren immer“. Wirtschaftsregion - H-Soz-Kult

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„Zukunft und Krisen waren immer“. Wirtschaftsregion Pfalz vom 19. bis zur Mitte des 20.
Jahrhunderts
„Zukunft und Krisen waren immer“.
Wirtschaftsregion Pfalz vom 19. bis zur
Mitte des 20. Jahrhunderts
Veranstalter: Historischer Verein der Pfalz
Datum, Ort: 28.10.2016, Ludwigshafen
Bericht von: Carla Thiel, SFB 1095 „Schwächediskurse und Ressourcenregime“, GoetheUniversität Frankfurt am Main
Die Jahrestagung 2016 des Historischen Vereins der Pfalz machte es sich zur Aufgabe,
unter dem Titel „Zukunft und Krisen waren
immer“ unterschiedliche Bereiche der Wirtschaftsregion Pfalz vom 19. bis zur Mitte des
20. Jahrhunderts zu beleuchten. In seinen einleitenden Worten bemerkte HENNING TÜRK
(Potsdam), dass sich der Wirtschaftsstandort
Pfalz vor allem durch seine Vielfalt von anderen Regionen abhebe. Diese besagte Diversität
kam auch in dem zusammengestellten Programm der Tagung zur Geltung.
Zunächst gab HANS-WERNER HAHN (Jena) in seinem Einführungsvortrag einen umfangreichen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung des deutschen Südwestens
im 19. Jahrhundert, in dem auf die Besonderheiten der Pfalz und deren Rolle als „Spätentwickler“ innerhalb der Industrialisierung hingewiesen wurden. Erst ab der Mitte des 19.
Jahrhunderts gelang der Region ein allmählicher Umbruch von einem Agrarstaat hin zu
einer industriell geprägten Wirtschaftsregion.
Die Industrie fasste zunächst in der Pfalz nur
sehr schwer Fuß, da anfangs vom Agrarsektor der Region keinerlei Impulse für die Entwicklung von Gewerbe und Industrie ausgingen und die geographische Lage der Region mit verschiedenen Zollgrenzen die Belieferung überregionaler Märkte erschwerte. Einen ersten Entwicklungsschub brachten erst
die Gründung des Zollvereins und der Eisenbahnbau. Der eigentliche Durchbruch erfolgte
jedoch in den 1850er/1860er-Jahren, in denen
sich neue Industrien wie die Chemieindustrie, der Maschinenbau und das Eisenhüttengewerbe in der Region ansiedelten. Mit Hilfe
dieser neuartigen Wirtschaftszweige, die die
zweite Phase der Industrialisierung dominierten, gelang es der Pfalz, in wirtschaftlicher
Hinsicht bis zur Reichsgründung zu anderen
Wirtschaftsregionen aufzuschließen.
MICHAEL MARTIN (Landau) eröffnete
mit seinem Vortrag die erste Sektion der Tagung, bei der vornehmlich die Transformation der Pfalz von der Agrar- zur Industrieregion im Zentrum stand. Mit seinem Beitrag
über die pfälzische Wirtschaft in den napoleonischen Jahren gab er einen umfangreichen
Einblick in die Quellenlage für diese Zeit und
wies damit auf interessante Forschungsfelder
und Fragestellungen für die zukünftige Forschung hin.
In dem Beitrag über den Verlauf der Frühindustrialisierung präsentierte ROLAND PAUL
(Kaiserslautern) anhand von Fallbeispielen
einzelner Manufakturen die vielfältige Gewerbelandschaft der Pfalz in der Phase der
Protoindustrialisierung. So existierten in der
Pfalz des 18. Jahrhunderts zahlreiche Manufakturen, unter anderem im Keramik- und
Porzellangewerbe, der Textilproduktion sowie als mechanische Werkstätten. Noch verbreiteter war das Mühlengewerbe, z.B. als
Getreide-, Säge-, Walk-, Loh-, Öl- und Papiermühlen, aus denen sich gelegentlich große
Handwerksbetriebe wie Papier- oder Schuhfabriken entwickelten. Obwohl zahlreichen
Manufakturen die Entwicklung hin zu einem
Industriebetrieb misslang, wurde durch deren Auflösung vielfach Kapital frei, das anschließend in neue Industrieunternehmen investiert wurde.
Im dritten Beitrag der Sektion vermittelte
RABEA LIMBACH (Baden-Baden) einen detaillierten Einblick in die geschäftlichen Erfolgsstrategien der beiden größten Speyrer
Handelshäusern Joh. Hein. Scharpff und Lichtenberg & Co. in der Zeit vor dem industriellen Durchbruch der Pfalz. Beide Häuser passten sich zahlreichen Einflüssen ihrer Umwelt
an, wobei jedoch die Politik ihnen enge Grenzen für ihr wirtschaftliches Handeln setzte.
Die Referentin arbeitete vier strategische Regeln heraus, mit denen die Handlungsspielräume und das Überleben der Unternehmen
gesichert wurden. Zum einen beschränkten
beide Handelshäuser ihr Portfolio auf Produkte, die aus der pfälzischen Landwirtschaft
kamen. Zusätzlich investierten sie in den Ausbau der regionalen Infrastruktur, was ebenfalls zur Stärkung der Region führte. Zum anderen achtete man stets darauf, möglichst flexibel auf die Einflüsse der Märkte zu reagie-
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ren um sich anpassen zu können. Drittens legten sie Wert auf eine intensive Kommunikation mit anderen Handelshäusern, um sich Geschäftschancen zu eröffnen und neue Absatzmärkte zu erschließen. Schließlich wurde –
im Gegensatz zur geläufigen Meinung – auch
stark auf die Kooperationen mit anderen Unternehmen gesetzt, wohingegen familiäre Verbindungen für die geschäftliche Entwicklung
von weniger großer Bedeutung waren.
Der Wirtschaftsliberalismus und Wirtschaftsnationalismus
der
pfälzischen
Handels- und Gewerbekammer im Vorfeld der Reichsgründung (1846-1879) war
Thema des Vortrages von HENNIG TÜRK.
Im Zentrum von Türks Beitrag stand die
Entwicklung der wirtschaftspolitischen Einstellung der IHK Pfalz von einer zunächst
dem Schutzzoll zugewandten Gesellschaft
hin zu einer ab den 1850er-Jahren den Freihandel befürwortenden Institution. Durch
die industriellen Fortschritte ab der Mitte des
Jahrhunderts richteten die immer selbstbewussteren Mitglieder der IHK Pfalz ihren
Blick zunehmend auf nationale und internationale Märkte. Für den Wettbewerb auf
umkämpften Märkten wurde eine hemmende
Schutzzollpolitik nun als hinderlich empfunden, was sich anhand der Diskussionen
über den Handelsvertrag zwischen Zollverein und Frankreich in den 1860er-Jahren
deutlich zeigte. Auch in der Frage nach der
Ausgestaltung des deutschen Kaiserreiches
nahm die IHK Pfalz eine eindeutige Position
ein. So plädierte sie dafür, dass Deutschland
wirtschaftlich wieder zu alter Stärke zurückfinde und hierfür ein stabiles Fundament
geschaffen werden sollte, damit man nach
dem Vorbild der mittelalterlichen Hanse
abermals eine machtvolle Position in der
Weltwirtschaft einnehmen könne. Da man
Österreich als Hemmnis für die deutsche
Wirtschaft ansah, bildete die kleindeutsche
Lösung nach Meinung der IHK Pfalz hierbei
die beste Voraussetzung, weshalb sie im Vorfeld der Reichsgründung für ein Deutschland
ohne Österreich eindeutig Stellung bezog
und Werbung machte.
Den Abschluss der ersten Sektion bildete der Vortrag von CHRISTIAN DECKER
(Kaiserslautern) über die „Soziale Frage“ in
der Industrialisierung. Hier wies der Refe-
rent vor allem auf die Schattenseite der Industrialisierung hin. Der Alltag der damaligen Arbeiterschaft war geprägt von Hungerlöhnen, überlangen Arbeitszeiten, Kinderarbeit und mangelnder Sicherheit am Arbeitsplatz. Die Bedingungen waren zunehmend
untragbar für die Arbeiter und führten zu
zahlreichen Streiks. Die Darstellung der ambivalenten Reaktionen unterschiedlicher pfälzischen Fabrikherren auf die soziale Frage
und die frühen Arbeiterbewegungen stand im
Zentrum des Vortrages. Dabei wurde deutlich, dass die Zugeständnisse der Fabrikherren als Reaktion auf einen ausgebrochenen
Streik oder zur Prävention eines solchen vor
allem pragmatisch waren. Die betrieblichen
Maßnahmen dienten insbesondere dazu, dass
sich die Arbeiter mit dem Unternehmen identifizierten und der Verhinderung weiterer Arbeiterstreiks, die einer reibungslosen Produktion im Wege standen.
Die zweite Sektion über einzelne Wirtschaftssektoren der pfälzischen Industrie
wurde von WERNER SCHREINER (Neustadt
an der Weinstraße) mit einem Beitrag über
die Entwicklung der Eisenbahnen in der
Pfalz und deren Einfluss auf die dortige Wirtschaft eingeleitet. Nachdem 1829 erstmals
über den Bau einer Eisenbahnstrecke in der
Pfalz diskutiert wurde, erhofften sich die
Gewerbetreibenden der Region vor allem
einen Ausbau der Handelsroute in Ost-West
Richtung, da hierfür kein schiffbarer Wasserweg zur Verfügung stand. Erst knapp
zwei Jahrzehnte später nahm dann die erste
private Eisenbahnlinie den Betrieb auf. Durch
weitere Verbindungen entwickelte sich das
rechtsrheinische Ludwigshafen zu einem
Knotenpunkt für den Verkehr mit Frankreich.
Vor allem wurden die neuen Bahnstrecken
für den Güterverkehr, insbesondere den
Transport von Saarkohle, genutzt. Nutznießer dieser Entwicklung war vornehmlich die
BASF, die ihren umfangreichen Bedarf an
Kohle so kostengünstig decken konnte.
Der anschließende Beitrag von HEIKE
WITTMER (Pirmasens) rückte dann die Entwicklung der Schuhindustrie und deren Bedeutung für Pirmasens in den Mittelpunkt
der Betrachtung. Die im 18. Jahrhundert aus
wirtschaftlicher Not heraus betriebene Produktion von Schuhen in Heimarbeit entwi-
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„Zukunft und Krisen waren immer“. Wirtschaftsregion Pfalz vom 19. bis zur Mitte des 20.
Jahrhunderts
ckelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend zu einer ernstzunehmenden Industrie, die schließlich die wirtschaftlichen Strukturen der pfälzischen Stadt dominierte. Am
Beispiel der im Jahre 1838 gegründeten und
damit ältesten Schuhfabrik Deutschlands, Peter Kaiser, verdeutlichte Wittmer detailliert
das enge Zusammenspiel zwischen Stadtentwicklung und Schuhindustrie, die bis in die
zweite Hälfte des 20. Jahrhundert die wirtschaftliche Entwicklung von Pirmasens dominierte.
MARIO AULENBACHER (Kaiserslautern)
schilderte im dritten Vortrag der Sektion über
die einzelnen Wirtschaftszweige der Pfalz die
Chancen und Probleme der Baubranche während der französischen Besatzung Kaiserslauterns in den 1920er-Jahren. Anhand einiger
Bauprojekte und Kurzporträts ausgewählter
Bauunternehmen der Region Kaiserslauterns
beschrieb Aulenbacher die durch die eklatante Wohnungsnot hervorgerufene Hausse, die
nach 1919 zu zahlreichen Bauvorhaben führte.
Aufgrund der fortschreitenden Inflation wurden jedoch private Hausbauten verschoben,
u.a. weil sich auch die Beschaffung von Baustoffen sehr schwierig gestaltete. Mit der Einführung der Rentenmark stabilisierte sich die
wirtschaftliche Situation, die auch die Bautätigkeit ab der Mitte der 1920er-Jahre wieder
deutlich belebte.
Der vorgetragene Beitrag von WALTER
RUMMEL (Speyer), welcher leider nicht an
der Veranstaltung teilnehmen konnte, beendete die Sektion. Thema des Vortrages war
die Verdrängung jüdischer Unternehmer aus
der Pfalz zur Zeit des Nationalsozialismus,
welche anschaulich durch die Darstellung
verschiedener Enteignungsverfahren geschildert wurde. Des Weiteren ging er ausführlich auf den Streit zwischen dem Gauleiter
Josef Bürckel und Hermann Göring als Leiter der Vierjahresplanbehörde über die Erlöse aus den „Arisierungen“ ein, der zu massiven Verwerfungen zwischen beiden Protagonisten führte.
Die dritte Sektion mit dem Titel „Wirtschaftsgeschichte erforschen“ gab den Herren PAUL WARMBRUNN (Speyer) und STEFAN MÖRZ (Ludwigshafen) die Gelegenheit, einen detaillierten Überblick über die
für das Thema relevanten Bestände in Stadt-
und Landesarchiven zu geben. Beide machten
hierbei deutlich, welche Bedeutung staatliche
Archive für die Ersatzüberlieferungen verlorengegangener Bestände von Firmenarchiven
innehaben, und gaben so zahlreiche Anstöße
für weitere Forschungsvorhaben zur regionalen Wirtschaftsgeschichte der Pfalz.
Insgesamt ermöglichten die zahlreichen
Beiträge der Konferenz einen kenntnisreichen Einblick in die Entwicklung und Vielfalt
der pfälzischen Wirtschaft und zeigten wichtige Forschungslücken für die bisher eher
oberflächlich behandelte Wirtschaftsgeschichte der Pfalz auf, die es in der Zukunft zu
schließen gilt.
Konferenzübersicht:
Einführung
Hans-Werner Hahn (Jena): Wirtschaftsgeschichte des deutschen Südwestens unter besonderer Berücksichtigung der Pfalz
Sektion 1: Transformation
Michael Martin (Landau): Pfälzische Wirtschaft in den napoleonischen Jahren
Roland Paul (Kaiserslautern): Vorläuferindustrien der Frühindustrialisierung
Rabea Limbach (Baden-Baden): Wirtschaft in
institutioneller Unsicherheit - Die Speyrer
Handelshäuser Joh. Hein. Scharpff und Lichtenberg & Co. (1815-1842)
Hennig Türk (Potsdam): Wirtschaftsliberalismus und Wirtschaftsnationalismus - Die Pfälzische Handels- und Gewerbekammer im
Vorfeld der Reichsgründung (1856-1870)
Christian Decker (Kaiserslautern): Das Patriarchat der „Fabrikherren“
Sektion 2: Sektoren
Werner Schreiner (Neustadt an der Weinstraße): Eisenbahnen und Wirtschaft in der Pfalz.
Aspekte der pfälzischen Transportgeschichte
Heike Wittmer (Pirmasens): „Der Schuh, der
hat uns groß gemacht...“ - Zur Geschichte der
Deutschen Schuhmetropole Pirmasens im 18.20. Jahrhundert
Mario Aulenbacher (Kaiserslautern): Das
Baugewerbe im Raum Kaiserslautern in der
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Zeit der ersten französischen Besatzung
Walter Rummel (Speyer): „Arisierung“ als
Thema der Wirtschaftsgeschichte der Pfalz
Sektion 3: Wirtschaftsgeschichte erforschen
Paul Warmbrunn (Speyer): Wirtschaftsgeschichtliche Überlieferungen im Landesarchiv Speyer
Stefan Mörz (Ludwigshafen): Wirtschaftsgeschichtliche Überlieferungen im Stadtarchiv
Ludwigshafen
Tagungsbericht „Zukunft und Krisen waren immer“. Wirtschaftsregion Pfalz vom 19. bis zur
Mitte des 20. Jahrhunderts. 28.10.2016, Ludwigshafen, in: H-Soz-Kult 11.01.2017.
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