Mathematik für Biologen 2

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Mathematik für Biologen 2
Dr. Maria Neuss-Radu
Universität Heidelberg
Sommersemester 2007
Inhaltsverzeichnis
1 Diskrete Modelle
1.1 Lineare Rekursionsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.1 Graphische Methode für die Darstellung der Lösung .
1.2 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2.1 Die komplexe Struktur auf R2 . . . . . . . . . . . . .
1.2.2 Zusammenhang zwischen den komplexen Zahlen und
metrischen Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.3 Nichtlineare Rekursionsgleichungen . . . . . . . . . . . . . .
1.3.1 Kriterien für die Stabilität von Fixpunkten . . . . . .
1.3.2 Die (diskrete) logistische Gleichung . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
den trigono. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
2 Lineare Gleichungssysteme
2.1 Berechnen von Konzentrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Matrizen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Motivation und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2 Definition und Rechenregeln für Matrizen . . . . . . . . . . . . .
2.3 Grundbegriffe für lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4 Die Gauß’sche Eliminationsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5 Lösungstheorie linearer Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.1 Lösungstheorie homogener linearer Gleichungssysteme . . . . . . .
2.5.2 Lösungstheorie inhomogener linearer Gleichungssysteme . . . . . .
2.6 Cramer’sche Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6.1 Determinante einer Matrix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.6.2 Die Cramer’sche Regel zur Lösung von quadratischen linearen Gleichungssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.7 Eigenwerte und Eigenvektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 Kontinuierliche Prozesse
3.1 Wachstumsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Gewöhnliche Differentialgleichungen. Grundbegriffe .
3.3 Differentialgleichungen der Form y 0 = ay + b . . . . .
3.3.1 Die Elektrische Aufladung einer Zellmembran.
Frings, IZ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Systeme von linearen Differentialgleichungen . . . . .
3.5 Systeme von nichtlinearen Differentialgleichungen . .
3.5.1 Herleitung der Michaelis-Menten-Kinetik . . .
2
. . . .
. . . .
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(Prof.
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Dr.
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3
3
4
9
9
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12
17
18
19
.
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.
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25
25
27
27
30
32
35
37
37
39
41
41
. 43
. 45
50
. . . . . . 50
. . . . . . 52
. . . . . . 53
Stephan
. . . . . . 57
. . . . . . 58
. . . . . . 69
. . . . . . 75
Kapitel 1
Diskrete Modelle für die Dynamik
biologischer Systeme
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit mathematischen Modellen für Populationen,
deren zeitliche Entwicklung durch Messwerte zu bestimmten (diskreten) Zeitpunkten gegeben ist. Als Beispiele könnte man hier die Bevölkerungszahl eines Gebiets, jeweils zu
Zeiten, zu denen diese aus historischen Quellen bestimmt werden kann, die Anzahl der
in vitro gezüchteten Epithelzellen, täglich gemessen, oder die Größe eines wachsenden
Kristalls, stündlich gemessen, nennen.
In dem ersten Teil der Vorlesung haben wir solche biologischen Systeme mit den Methoden der Stochastik analysiert. Nun werden wir uns mit deterministischen Beschreibungen
befassen.
Sei (xj )j=0,1,2,... die Folge der Messwerte zu den Zeitpunkten (tj )j=0,1,2,... . Oft ist es
möglich diese Messwerte mithilfe von Rekursionsgleichungen mathematisch zu beschreiben. Diese sind Gleichungen der Gestalt
xn+1 = f (xn , xn−1 , . . .).
Sie erlauben es, ausgehend von ein oder mehreren Anfangsglieder, das Folgeglied xn+1 aus
seinen Vorgängern xn , xn−1 , . . . zu berechnen.
1.1
Lineare Rekursionsgleichungen
Die einfachste Art von Rekursionsgleichungen ist in den folgenden zwei Beispielen gegeben.
Beispiel 1 Wir betrachten eine Zellkolonie, von der wir annehmen, dass sich alle Zellen
gleichzeitig teilen und jede Zelle im Schnitt a > 0 Tochterzellen produziert. Sei xn die
Anzahl der Zellen in der n−ten Generation. Dann ist
xn+1 = axn .
(1.1)
Wenn wir annehmen, dass anfangs x0 Zellen existieren, so können wir die Evolution der
Zellpopulation einfach berechnen:
xn+1 = axn = a(axn−1 ) = . . . = an+1 x0 ,
3
4
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
also für die n−te Generation
x n = an x 0 .
(1.2)
xn gegeben durch (1.2) heißt Lösung der Rekursionsgleichung (1.1) zum Anfangswert x0 .
Wir bemerken, dass der Wert von a für das langfristige Verhalten der Population bestimmend ist, d.h. wir erhalten für
• a>1
exponentielles Wachstum
• a<1
Aussterben
• a=1
konstante Population.
1.1.1
Graphische Methode für die Darstellung der Lösung
Rekursionsgleichungen der Form
xn+1 = f (xn ),
bei denen zur Berechnung von xn+1 nur der unmittelbare Vorgänger xn nötig ist, heißen Rekursionsgleichungen erster Ordnung. Für solche Rekursionsgleichungen kann
folgende graphische Methode für die Darstellung der Lösung benutzt werden: In ein Koordinatensystem werden auf der horizontalen Achse die Werte von xn und auf der vertikalen
Achse die von xn+1 aufgetragen. In diesem Koordinatensystem zeichnet man den Graph
der Funktion
y = f (x)
sowie die Diagonale y = x ein. Diese zwei Kurven werden nun benutzt, um die aufeinanderfolgenden Werte von xn , n = 0, 1, 2, . . . graphisch darzustellen. Wie dies funktioniert,
veranschaulichen wir anhand der Gleichung (1.1) aus dem Beispiel 1, siehe Abb.1.1 und
Abb.1.2. In diesem Beispiel ist
f (xn ) = axn .
Aus der graphischen Darstellung ist der Zusammenhang zwischen den Werten des Parameters a und der Evolution der Lösung sehr anschaulich zu erkennen.
Beispiel 2 Wir betrachten eine Insektenpopulation mit folgenden Eigenschaften: Jedes
erwachsene Weibchen produziert Nachkommen. Ein Teil dieser Nachkommen überlebt und
erlangt das Reifestadium. Es seien also
an − Anzahl der erwachsenen Weibchen in der n-ten Generation,
kn − Anzahl der Nachkommen in der n-ten Generation,
µ − Mortalitätsrate der Nachkommen,
β − Reproduktionsrate der Weibchen,
ρ − Anteil der Weibchen an der Gesamtpopulation.
Es gelten also folgende Beziehungen
kn+1 = β · an
an+1 = ρ(1 − µ)kn+1
1.1. LINEARE REKURSIONSGLEICHUNGEN
5
Xn
y
=
x
y=
ax
Xn+1
X2
X2
X1
X1
11
00
1
0
0
1
X0 0
1
X0
X1
Xn
0
1
2
3
n
Abbildung 1.1: Graphische Darstellung für xn+1 = axn mit a > 1.
Xn+1
Xn
11
00
X0
00
11
=
x
111111111111
000000000000
x
000000000000
111111111111
=a
y
000000000000
111111111111
1111111
1111
0000
0
1
X1 0000000
000000000000
111111111111
0 1
1
0
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
X2 111111111111
0
1
0
1
0
1
111
000
0
1
000000000000
0
1
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
111
000
0
1
11
00
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
X3 111111111111
0
1
0
1
000000000000
0
1
1
0
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0
1
0
1
000000000000
111111111111
0X0 Xn
1
X2
X1
y
1
0
0
1
X1
11
00
00
11
00
11
00
11
X2
X3
0
1
2
3
n
Abbildung 1.2: Graphische Darstellung für xn+1 = axn mit a < 1.
Wir fassen diese zwei Beziehungen in eine Rekurrenzgleichung, für die Anzahl der erwachsenen Weibchen zusammen:
an+1 = [ρ(1 − µ)β]an .
(1.3)
Analog zum Beispiel (1) erhalten wir im Falle einer Anfangspopulation von a0 Weibchen,
die Lösung:
an = [ρ(1 − µ)β]n · a0 .
Die in den zwei Beispielen betrachteten Rekursionsgleichungen (1.1) und (1.3) sind lineare Rekursionsgleichungen erster Ordnung, denn die in ihnen auftretenden Folgenglieder kommen nur in der 1. Potenz (d.h. linear) vor und zur Berechnung von xn+1 ist
nur der unmittelbare Vorgänger xn nötig. Als nächstes werden wir ein Beispiel betrachten,
in welchem lineare Rekursionsgleichungen zweiter Ordnung die Evolution der Population
beschreiben.
6
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
Beispiel 3 (Kaninchenpopulation, Fibonacci - Zahlen)
Leonardo Pisano (ca. 1170 - 1230, genannt Fibonacci) stellte einmal seinen Schülern folgende Aufgabe:
Gewisse Kaninchen werden mit einem Monat erwachsen, d.h. geschlechtsreif. Wenn ein
Pärchen erwachsen wird, dann bekommt es einen Monat später ein Pärchen als Nachwuchs und nach jedem weiteren Monat wieder ein Pärchen. Zum Zeitpunkt t = 0 kommt
ein erwachsenes Pärchen in eine bisher noch nicht von Kaninchen bevölkerte Gegend.
Zum Zeitpunkt t = 1 (nach einem Monat) sind es also zwei Pärchen (das alte und ein
neugeborenes). Wie geht es weiter, d.h. wieviele Pärchen sind es nach 2, 3, 4, . . . Monaten,
vorausgesetzt, dass keine Kaninchen sterben?
Sei nun an die Anzahl der Pärchen nach n Monaten. Da keine Kaninchen sterben, sind
die an Pärchen, die zum Zeitpunkt n da sind, auch zum Zeitpunkt n+1 noch da. Außerdem
haben sich diejenigen vermehrt, die zum Zeitpunkt n erwachsen waren, und das sind die
an−1 Pärchen, die zum Zeitpunkt n − 1 lebten. Also erhalten wir die Rekursionsgleichung:
an+1 = an + an−1 ,
(1.4)
mit Anfangsbedingungen a0 = 1, a1 = 2.
Diese Gleichung kann auch als System geschrieben werden
an+1 = an + bn
bn+1 = an ,
(1.5)
Die Matrix-Vektor-Form ist:
an+1
bn+1
=
1
1
1
0
an
bn
.
(1.6)
Wie kann man nun die Anzahl der Kaninchenpaare zum Zeitpunkt n als Funktion der
Anfangswerte berechnen?
Wir suchen eine Lösung für das System (1.5) unter der Form, wie wir sie bei den
Gleichungen 1.Ordnung schon angetroffen haben, d.h.
an = Aλn
(1.7)
bn = Bλn .
Einsetzen in (1.5) ergibt
Aλn+1 = Aλn + Bλn
Bλn+1 = Aλn .
Wir kürzen nun durch λn und schreiben dann das System in Matrix-Vektor-Form um.
(1 − λ)
1
A
0
=
(1.8)
1
−λ
B
0
Dies ist nun ein lineares Gleichungssystem in den Unbekannten A und B. Eine Lösung
dieses Systems ist A = B = 0, doch diese ist trivial, denn sie führt zu
an = 0
bn = 0.
1.1. LINEARE REKURSIONSGLEICHUNGEN
7
Um eine nichttriviale Lösung für A und B zu erhalten, muss die Determinante des Systems
Null sein;
1−λ
1
det
= 0
1
−λ
Dies führt zu
−(1 − λ)λ − 1 = 0
λ2 − λ − 1 = 0
π(λ) = λ2 − λ − 1 heißt charakteristisches Polynom der Matrix
1 1
1 0
(1.9)
des Systems (1.6) und die Nullstellen von π(λ) heißen Eigenwerte der Matrix (1.9). Es
stellt sich nun die Frage der Existenz reeller Eigenwerte. In unserem Fall sind die Eigenwerte λ1 und λ2 reell und λ1 6= λ2 , nämlich
√
√
1± 1+4
1± 5
=
λ1,2 =
2
2
Zu den Werten λ1 , λ2 besitzt das System (1.8) die nichttrivialen Lösungen
1
A1
= α
, α∈R
B1
λ1 − 1
A2
1
= β
, β ∈ R.
B2
λ2 − 1
A1
A2
Die Lösungen B
bzw.
heißen Eigenvektoren der Matrix (1.9) zu den Eigenwerten λ1
B2
1
bzw. λ2 . Wir werden in einer späteren Vorlesung sehen, dass sich die Eigenvektoren in der
obigen Form darstellen lassen. Aus (1.7) und wegen der Linearität der Rekursionsgleichung
ist die allgemeine Form der Lösung von (1.4)
√ !n
√ !n
5
1
−
5
1
+
+β
.
an = α(λ1 )n + β(λ2 )n = α
2
2
Die Koeffizienten α und β erhält man nun aus den Anfangsbedingungen
a0 = 1 ⇒ α + β = 1
√
⇔
β =1−α
√
a1 = 2 ⇒ α · 1+2 5 + (1 − α) 1−2
√
√
2 5α + 1 − 5 = 4
√
3
5
α = 12 + 10
√
1
3
β = 2 − 10 5
5
=2
Die zu unseren Anfangswerten gehörende Lösung lautet also
√ !n √ !n
1
3√
1+ 5
1
3√
1− 5
an =
+
5
+
−
5
, n = 0, 1, 2, . . .
2 10
2
2 10
2
8
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
Dies ist die explizite Formel für die Folge der Fibonacci-Zahlen:
1,
2,
3,
5,
8,
13,
21,
34, . . .
Die explizite Formel erlaubt uns nun, zu untersuchen, wie sich die Kaninchenpopulation
langfristig verhält. Da
lim an = ∞
n→∞
(siehe Übungsaufgabe)
folgt daraus die Explosion“ der Kaninchenpopulation.
”
Bemerkung 1 Die Fibonacci-Zahlen treten nicht nur bei den Kaninchen, sondern in vielen anderen Bereichen in der Biologie auf. Beim Studium der Anordnung von Blättern
(Phyllotaxis) stößt man z.B. auch auf Fibonacci-Zahlen. Bezeichnet man mit r die Anzahl der Umläufe, die die Blätter um einen Stengel ausführen, bis wieder ein Blatt in
derselben Richtung wie das erste vom Stengel wegweist, dann ist r bei vielen Pflanzen
eine solche Fibonacci-Zahl und die Anzahl der Blätter einer solchen Periode ist dann oft
die übernächste Fibonacci-Zahl. In der Abb.1.3 ist α = 144◦ . Die Anzahl r der Umläufe
B1
1
0
B4
B2
0
1
000
111
0
1
000
111
0
1
000
111
α1
0
000
111
0
1
000
111
00
000
111
B11
6
00
11
000
111
00
11
000
111
B5
00
11
000
00111
11
Blätter
B3
Stengel
Abbildung 1.3: Schraubenförmige Anordnung von Blättern um einen Stengel (Ansicht von
oben)
ist a2 = 2 und die Anzahl der Blätter während dieser Periode ist a4 = 5. Dies ist z.B. bei
Rosen, Kirschen und Weiden der Fall.
Das Studium der Rekursionsgleichung (1.4) hat folgende Fragestellungen aufgeworfen:
• Lösbarkeit von Gleichungssystemen, insbesondere Bestimmen von Eigenwerten und
Eigenvektoren. Diese Thematik werden wir im nächsten Kapitel behandeln.
• Lösbarkeit der charakteristischen Gleichung, oder allgemeiner, von polynomialen
Gleichungen. Diese Fragestellung führt zur Erweiterung des Zahlenkörpers R und
ist Thema des nächsten Paragraphen.
1.2. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN
1.2
9
Die komplexen Zahlen
Wir haben im vorigen Paragraphen gesehen, dass Eigenwerte von Matrizen für die Berechnung von expliziten Lösungen von Rekursionsgleichungen wichtig sind. Diese Eigenwerte
sind Nullstellen von polynomialen Gleichungen:
πm (λ) =
m
X
aj λj = 0.
j=0
Diese Gleichungen sind im Allgemeinen in R nicht lösbar. Ein Beispiel dafür ist
λ2 + 1 = 0.
Um Lösungen zu finden, muss der Zahlenbegriff so erweitert werden, dass folgende Zerlegung möglich ist:
πm (λ) = (λ − λ1 )(λ − λ2 ) . . . (λ − λm )
1.2.1
Die komplexe Struktur auf R2
Um den Zahlenkörper R zu erweitern, betten wir ihn zuerst nach R2 , der Menge aller
Zahlenpaare (x, y), x, y ∈ R, ein, mittels der Abbildung
R 3 x 7−→ (x, 0) ∈ R2
(1.10)
Nun definieren wir in R2 eine Addition und eine Multiplikation durch:
(x, y) + (x0 , y 0 ) = (x + x0 , y + y 0 )
(x, y) · (x0 , y 0 ) = (xx0 − yy 0 , x0 y + xy 0 ).
Die Addition entspricht hierbei gerade der Vektoraddition in R2 , siehe Abb.1.4. Die geometrische Interpretation der Multiplikation werden wir später noch angeben. Bezüglich
y
(x + x , y + y )
(x , y )
(x , y )
x
Abbildung 1.4: Geometrische Interpretation der Addition in R2
dieser Operationen kann man nach denselben Regeln rechnen, wie bei reellen Zahlen. Es
gelten:
10
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
• Assoziativgesetz der Addition und Multiplikation
(z + z 0 ) + z 00 = z + (z 0 + z 00 )
(z · z 0 ) · z 00 = z · (z 0 · z 00 ).
Dies bedeutet gerade, dass Summen und Produkte von der Klammerung unabhängig
sind.
• Kommutativgesetz der Addition und Multiplikation
z + z0 = z0 + z
z · z0 = z0 · z
• Distributivgesetz
z(z 0 + z 00 ) = z · z 0 + z · z 00
• Die Null bezglich der Addition ist (0, 0), denn: (x, y) + (0, 0) = (x, y)
• Das Negative von (x, y) ist −(x, y) = (−x, −y), denn: (x, y)+(−x, −y) = (x−x, y −
y) = (0, 0)
• Die Eins bezüglich der Multiplikation ist (1, 0), denn: (x, y) · (1, 0) = (x · 1 − y · 0, x ·
0 + y · 1) = (x, y)
−y
x
,
, für (x, y) 6= (0, 0), denn:
• Die Inverse von (x, y) ist (x, y)−1 = x2 +y
2 x2 +y 2
(x, y) ·
x
−y
, 2
2
2
x + y x + y2
= (1, 0)
Die oben eingeführten Operationen definieren auf R2 eine komplexe Struktur. Wir nennen das so definierte Zahlensystem das System der komplexen Zahlen und bezeichnen
es mit C. Die Elemente von C nennt man komplexe Zahlen und bezeichnet sie meist
mit z, also z = (x, y).
Im
z
Im z
Re z
Re
Abbildung 1.5: Komplexe Zahlenebene
Die obigen Rechenregeln zeigen, dass C alle Eigenschaften von R, mit Ausnahme der
Ordnung, besitzt. Mittels Abbildung (1.10) ist R eine Teilmenge von C und man kann
leicht nachweisen, dass reelle Zahlen in R genauso addiert und multipliziert werden wie
in C.
1.2. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN
11
Eine Besonderheit von C ist die Existenz der sogenannten imaginären Einheit,
i = (0, 1),
mit der Eigenschaft, dass
(0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −(1, 0).
Die imaginäre Einheit, die von Euler eingeführt wurde, erlaubt uns nun jede komplexe
Zahl z = (x, y) in der Form
z = (x, y) = (x, 0) + (0, y) = (x, 0) + (0, 1)(y, 0) = x + iy
(1.11)
zu schreiben. Dabei haben wir noch (x, 0) bzw. (y, 0) durch x bzw. y ersetzt. Mit dieser
Schreibweise gilt dann
i2 = −1.
(1.12)
Es sei hier noch daran erinnert, dass bei reellen Zahlen x stets x2 ≥ 0. Schreibt man also
z = (x, y) = x + iy,
so nennt man x den Realteil von z, x = Re z, und y den Imaginärteil von z, y = Im z,
und hat somit
z = Re z + i Im z.
(1.13)
Dies führt dann auf die Darstellung komplexer Zahlen in der komplexen Zahlenebene,
siehe Abb.1.5.
Für eine komplexe Zahl z definiert man nun noch die komplex konjugierte Zahl z̄
durch
z̄ = Re z − i Im z.
In der Zahlenebene erhält man z̄ durch Spiegeln an der reellen Achse. Das komplexe Kon-
Im
z
z’
Re
z’
z
Abbildung 1.6: Darstellung der komplex konjugierten Zahl.
jugieren hat folgende Eigenschaften:
12
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
z + z 0 = z̄ + z¯0 ,
z · z 0 = z̄ · z¯0
ī = −i
dann und nur dann, wenn z reell ist.
(z̄) = z,
z̄ = z
(1.14)
Schließlich kann man noch den Absolutbetrag oder Betrag der komplexen Zahl z durch
1
1
|z| = (x2 + y 2 ) 2 = ((Re z)2 + (Im z)2 ) 2
(1.15)
definieren. |z| gibt also genau die Länge des Vektors z = Re z + i Im z an. Für den Betrag
gilt
z · z̄ = |z|2 ,
|z · z 0 | = |z| |z 0 |
|z̄| = |z|,
|z + z 0 | ≤ |z| + |z 0 |
(1.16)
z −1 = |z|z̄ 2 .
1.2.2
Zusammenhang zwischen den komplexen Zahlen und den
trigonometrischen Funktionen
Um den Zusammenhang zwischen komplexen Zahlen und trigonometrischen Funktionen
zu untersuchen, stellen wir z wieder in der komplexen Zahlenebene dar. Sei ϕ der Winkel
des Vektors z mit der reellen Achse. Dieser Winkel heißt Argument der komplexen Zahl
z. Der Betrag und das Argument von z heißen Polarkoordinaten. Mit deren Hilfe kann
eine komplexe Zahl z folgendermaen dargestellt werden:
Im
z
|z| sin ϕ
Re z = |z| · cos ϕ
Im z = |z| · sin ϕ
|z|
ϕ
|z| cos ϕ
(1.17)
Re
und folglich
z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) =: |z|eiϕ
(1.18)
(1.18) heißt Polardarstellung von z. Dabei gilt
1
| cos ϕ + i sin ϕ| = (cos2 ϕ + sin2 ϕ) 2 =
√
1 = 1.
Mit dieser Polardarstellung läßt sich die Multiplikation von komplexen Zahlen geometrisch
deuten. Ist nämlich z 0 = |z 0 |(cos ϕ0 + sin ϕ0 ), so sehen wir
z · z0 =
=
=
=
|z||z 0 |(cos ϕ + i sin ϕ)(cos ϕ0 + i sin ϕ0 )
|z · z 0 |(cos ϕ cos ϕ0 − sin ϕ sin ϕ0 + i cos ϕ sin ϕ0 + i sin ϕ cos ϕ0 )
|z · z 0 |(cos(ϕ + ϕ0 ) + i sin(ϕ + ϕ0 ))
|z · z 0 |ei(ϕ+ϕ0)
1.2. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN
13
Bei der Multiplikation werden also die Beträge multipliziert und die Winkel (Argumente)
addiert. Dies zeigt sofort
z n = |z|n (cos nϕ + i sin nϕ).
(1.19)
Man kann nun (1.19) umgekehrt verwenden, um die n−te Wurzel
aus komplexen
√
5
Zahlen zu ziehen. Wir wollen uns dies zunächst an dem Beispiel 1 + i verdeutlichen.
Wir wollen also die Gleichung
√
√ !
√
√
2
2
+i
= 2(cos 45◦ + i sin 45◦ )
z5 = 1 + i = 2
2
2
lösen. Dafür stellen wir z als z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) dar und suchen |z| ∈ R+ und ϕ ∈
[0, 2π[. Es gilt also
√
|z|5 (cos 5ϕ + i sin 5ϕ) = 2(cos 45◦ + i sin 45◦ ).
Vergleicht man beide Seiten, erhält man
√
|z|5 = 2,
cos 5ϕ = cos 45◦ ,
Dies gibt
|z| =
√
10
sin 5ϕ = sin 45◦ .
ϕ = 9◦ .
2
Dies ist aber nicht die einzige Lösung. Da der Sinus und Cosinus 2π-periodische Funkz2
z3
1
z1
9o
210
z4
z5
Abbildung 1.7: Geometrische Darstellung der Lösungen von z 5 = 1 + i.
tionen sind, kommen die Winkel
k · 360◦
ϕk = 9 +
= 9◦ + k · 72◦ ,
5
◦
k = 1, 2, 3, 4
ebenfalls in Frage. Die Lösungen sind also in diesem Fall
1
zk = 2 10 (cos ϕk + i sin ϕk ),
k = 0, 1, 2, 3, 4,
14
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
siehe auch Abb. 1.7. Geometrisch bilden diese 5 Lösungen
gerade die Eckpunkte eines
√
regelmäßigen Fünfecks, das dem Kreis mit Radius 10 2 eingeschrieben ist.
Will man allgemeiner die Gleichung
z n = c = r(cos ψ + i sin ψ)
(1.20)
lösen, so erhält man als Lösungen
1
ψ 360 · k
ψ 360 · k
n
zk = r
cos
+
+ i sin
+
k = 0, 1, . . . , n − 1.
n
n
n
n
(1.21)
In diesem Fall bilden die n Lösungen gerade die Eckpunkte
eines regelmäßigen n-Ecks,
√
n
das dem Kreis mit Mittelpunkt (0, 0) und Radius r einbeschrieben ist.
Wir haben also gesehen, dass für eine gegebene komplexe Zahl c ∈ C die Gleichung
zn = c
genau n komplexe Lösungen hat. Viel allgemeiner gilt nun der
Fundamentalsatz der Algebra
Ein komplexes Polynom vom Grade n, p(z) = a0 + a1 z + . . . + an z n , an 6= 0, hat eine
Darstellung der Form
p(z) = an (z − z1 )(z − z2 ) . . . (z − zn ).
(1.22)
Spezielle Werte der trigonometrischen Funktionen
0
0◦
sin x
cos x
tan x
cot x
π
6
π
3
√
√
30◦ 45◦ 60◦
2
√2
2
2
1
0
√2
3
1
√2
3
0
√3
±∞
3
7π
6
π
4
1
1
5π
4
π
2
90◦
3
2
1
√2
2π
3
120◦
√
sin x
cos x
tan x
cot x
135◦
√
5π
6
π
150◦ 180◦
3
2
1
1
0
2
2√
2√
2
3
1
0
− 2 − 2 − √2
−1
√
3
3 ±∞ − √ 3 −1 − 3
0
√
√
3
3
0
−3
−1 − 3 ±∞
3
4π
3
3π
2
5π
3
210◦ 225◦ 240◦ 270◦ 300◦
√
3π
4
√
√
7π
4
315◦
√
11π
6
◦
330
2π
360◦
1
−√12 − √22 − 23 −1 − 23 −√ 22 −
0
√2
3
2
2
3
1
1
−√ 2 − 2
−2
0
1
2
2
2√
√
√
3
3
1
3 ±∞ − √ 3 −1 − 3
0
√
√3
√
3
3
3
1
0
−3
−1 − 3 ±∞
3
Nun wollen wir ein Beispiel betrachten, bei dem das charakteristische Polynom komplexe Wurzeln hat.
1.2. DIE KOMPLEXEN ZAHLEN
15
Beispiel 4 Wir betrachten eine Population, deren Entwicklung folgenden Gesetzen folgt:
In jedem Jahr werden zwei Junge geboren, und von den zum Zeitpunkt n vorhandenen
Individuen sterben bis zum Zeitpunkt n + 1 so viele, wie zum Zeitpunkt n − 1 vorhanden waren. Es seien die Anfangswerte x0 = 2, x1 = 3 gegeben. Wie entwickelt sich die
Population weiter?
Sei xn die Anzahl der Individuen zum Zeitpunkt n. Dann wird xn durch folgende Rekursionsgleichung bestimmt:
xn+1 = xn − xn−1 + 2.
(1.23)
Anhand der Rekursionsgleichung können wir nun weitere Werte von xn berechnen:
x2 = 3, x3 = 2, x4 = 1, x5 = 1, x6 = 2, x7 = 3, x8 = 3, . . .
Aus der graphischen Darstellung, siehe Abb.1.8, erkennen wir, dass wir eine periodische
3
2
1
0 1 2 3 4 5 6 7 8
n
Abbildung 1.8: Darstellung der ersten 9 Folgeglieder von (1.23).
Lösung erhalten (da x6 = x0 , x7 = x1 ) mit der Periodenlänge 6, d.h. für alle n gilt
xn+6 = xn .
Frage: Ist diese Beobachtung richtig und gilt sie für beliebige Anfangswerte?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir nun die explizite Darstellung der Lösung von
(1.23) bestimmen. Wir werden versuchen, nach dem gleichen Muster wie in Beispiel 3
vorzugehen. Dafür werden wir zuerst eine ganz spezielle Lösung zu (1.23) suchen, nämlich
eine konstante
yn = α.
Diese muss also erfüllen
α = α − α + 2.
(1.24)
yn = 2 ist also die konstante Lösung zu (1.23). Sie ist allerdings keine Lösung für unser
Problem, da sie die Anfangswerte x0 = 2, x1 = 3 nicht erfüllt! Ist nun xn eine beliebige
Lösung zu (1.23), d.h.
xn+1 = xn − xn−1 + 2
(1.25)
so folgt durch Substraktion von (1.25) und (1.24):
xn+1 − α = (xn − α) − (xn−1 − α).
16
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
Die Differenz zn = xn − α ist also eine Lösung von
zn+1 = zn − zn−1 .
(1.26)
Für das Lösen von (1.26) benutzen wir nun den gleichen Ansatz wie für die Rekursionsgleichung (1.4). Sei also
zn+1 = zn − hn
hn+1 = zn
die Umformung von (1.26) zu einem System. Der Ansatz
zn = A · λn
hn = B · λn
führt zu folgendem Gleichungssystem für (A, B):
(1 − λ)A − B = 0
A − λB = 0,
oder in der Matrix-Vektor Form
1−λ
1
−1
−λ
A
B
=
0
0
.
(1.27)
Dieses System besitzt nichttriviale Lösungen genau dann wenn die Determinante seiner
Matrix gleich Null ist, d.h.
(1 − λ)(−λ) + 1 = 0
λ2 − λ + 1 = 0
Diese Gleichung können wir nun in C lösen und erhalten
√
√
1+ 1−4
1±i 3
λ1,2 =
=
.
2
2
Die Lösungen der Rekursionsgleichung (1.23) sind dann
xn = 2 + zn = 2 + A1 λn1 + A2 λn2 = 2 + A1
√ !n
1+i 3
+ A2
2
√ !n
1−i 3
.
2
A1 und A2 können wir nun aus den Anfangsbedingungen berechnen:
n = 0 ⇒ x 0 = 2 + A1
+ A2
n = 1 ⇒ x 1 = 2 + A 1 λ 1 + A2 λ 2
(1.28)
Das System (1.28) müssen wir nun in C lösen und erhalten:
A1 =
A2 =
x0 −2
2
x0 −2
2
−
+
√
(2x1 −x0 −2) 3
6
√
(2x1 −x0 −2) 3
6
i
i
(1.29)
1.3. NICHTLINEARE REKURSIONSGLEICHUNGEN
17
A1 und A2 sind also konjugiert komplexe Zahlen, und da λ1 und λ2 konjugiert komplex
sind, folgt, dass A1 λn1 und A2 λn2 auch zueinander konjugiert komplexe Zahlen sind. D.h.
ihre Summe ist dann stets reell, was ja bei reellen Anfangswerten x0 und x1 auch erfüllt
sein muss!
Nun wollen wir sehen, woher die Oszillationen kommen. Dafür schreiben wir λ1 und
λ2 in Polarkoordinaten um und erhalten
xn = 2 + A1 rn (cos nϕ + i sin nϕ) + A2 rn (cos nϕ − i sin nϕ)
= 2 + (A1 + A2 ) rn cos nϕ + i (A1 − A2 ) rn sin nϕ
| {z }
| {z }
2ReA1
n
2iImA1
= 2 + 2 · r (Re A1 cos nϕ − Im A1 sin nϕ).
Da Sinus und Cosinus periodische Funktionen sind, folgt aus dieser Darstellung, dass
xn Oszillationen aufweist, welche für |r| > 1 wachsende Amplitude, für |r| < 1 fallende
Amplitude und für |r| = 1 konstante Amplitude haben.
1.3
Nichtlineare Rekursionsgleichungen
Eine nichtlineare Rekursionsgleichung ist eine Gleichung der Form
xn+1 = f (xn , xn−1 , . . .),
(1.30)
wobei die Funktion f eine nichtlineare Funktion, z.B. ein Polynom, die Exponentialfunktion usw. ist. In sehr wenigen Fällen kann man für nichtlineare Gleichungen eine
explizite Lösung ausrechnen. Was man im Allgemeinen tun kann, ist mithilfe mathematischer Techniken Eigenschaften der Lösung herauszufinden oder mithilfe des Computers
das Verhalten der Lösung zu verfolgen.
In dieser Vorlesung wollen wir uns auf das Studium nichtlinearer Rekursionsgleichungen erster Ordnung, d.h. von Gleichungen der Gestalt
xn+1 = f (xn )
(1.31)
beschränken. Die einfachsten Lösungen von (1.31) sind die konstanten Lösungen oder
Gleichgewichtszustände
xn = x̄.
Diese erfüllen die Beziehung
x̄ = f (x̄)
(1.32)
und werden deswegen auch Fixpunkte von f genannt. Ein Gleichgewichts- zustand x̄
heißt stabil, wenn Lösungen, die in der Nachbarschaft von x̄ starten, gegen x̄ konvergieren.
Sie heißt instabil, falls das Gegenteil gilt. Untersuchungen zur Stabilität von Fixpunkten
geben uns also Information über das Verhalten von nichtkonstanten Lösungen.
18
1.3.1
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
Kriterien für die Stabilität von Fixpunkten
In diesem Abschnitt werden wir für unsere Argumentation den Begriff der Ableitung einer
Funktion benötigen. Deswegen wiederholen wir kurz:
Definition: Es sei f : (a, b) → R eine reellwertige Funktion. f heißt differenzierbar in
x0 ∈ (a, b), wenn
f (x) − f (x0 )
= f 0 (x0 )
(1.33)
lim
x→x0
x − x0
existiert. In diesem Fall nennt man f 0 (x0 ) die erste Ableitung von f an der Stelle x0 .
f heißt in (a, b) differenzierbar, wenn f in jedem Punkt aus (a, b) differenzierbar ist.
Aus (1.33) folgt, dass
f (x) − f (x0 )
= f 0 (x0 ) + A(x, x0 )
x − x0
oder
f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + A(x, x0 )(x − x0 ),
(1.34)
wobei die Abweichung A(x, x0 ) sehr klein ist und für x → x0 gegen 0 konvergiert. Die
Relation (1.34) bedeutet, dass in unmittelbarer Nähe von x0 der Funktionsverlauf von f,
bis auf einen kleinen Fehler, durch die Gerade fapp (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) gegeben
ist. Dies ist aber gerade die Tangente im Punkt x0 an den Graph von f ! Eine in x0 differenzierbare Funktion lässt sich also in der Nachbarschaft von x0 gut durch die Tangente
im Punkt x0 approximieren, siehe auch Abb. 1.9. Sei nun x̄ ein Fixpunkt der nichtlinearen
y
fapp(x)
f(x)
f(x0)
x − x0
x0
x
x
Abbildung 1.9: Approximation von f durch die Tangente
Gleichung
xn+1 = f (xn ),
(1.35)
d.h. x̄ ist eine Lösung von (1.32).
Wir wollen folgende Frage beantworten: Wenn für ein gegebenes n das Folgeglied xn
nahe bei x̄ liegt, konvergiert dann die Lösung (xn )n≥0 gegen x̄ oder nicht? Dafür schreiben
wir
xn = x̄ + zn ,
(1.36)
1.3. NICHTLINEARE REKURSIONSGLEICHUNGEN
19
wobei zn klein ist. Wir nennen ein solches zn eine Störung von x̄. Dann gilt
zn+1 := xn+1 − x̄ = f (xn ) − x̄ = f (x̄ + zn ) − x̄
= f (x̄) + f 0 (x̄)zn + A(zn + x̄, x̄)zn −x̄
{z
}
|
sehr kleiner T erm
0
≈ f (x̄) − x̄ +f (x̄)zn .
| {z }
=0
Wir erhalten also eine lineare Rekursionsgleichung für die Störung zn ,
zn+1 = azn ,
wobei a = f 0 (x̄). Im Beispiel 1 haben wir aber gesehen, dass zn → 0, falls |a| < 1. Aus
(1.36) folgt dann aber, dass xn → x̄, falls |a| < 1. Wir haben also folgendes Kriterium
für die Stabilität:
x̄ ist ein stabiler Fixpunkt von (1.35) ⇔ |f 0 (x̄)| < 1.
1.3.2
Die (diskrete) logistische Gleichung
Eine der einfachsten nichtlinearen Rekursionsgleichungen, auch als (diskrete) logistische Gleichung bekannt, ist die folgende
xn+1 = rxn (1 − xn ),
r ∈ [1, 4].
(1.37)
(1.37) könnte eine Population beschreiben, deren Reproduktionsrate von der Population
selbst abhängt.
Wir wollen nun das Verhalten der Lösungen von (1.37) untersuchen. Dazu bestimmen
wir zuerst die Fixpunkte x̄ als Lösungen von
x̄ = rx̄(1 − x̄)
und erhalten
1
r
Der nichttriviale Fixpunkt x̄2 hängt vom Parameter r ab, und das obige Kriterium liefert,
dass dieser Fixpunkt für 1 < r < 3 stabil ist (siehe Übungsaufgabe).
Wir werden nun mithilfe der graphischen Methode das Verhalten der nichtkonstanten
Lösungen untersuchen. Dazu stellen wir in einem Koordinatensystem die Funktionen
x̄1 = 0,
x̄2 = 1 −
y = x und y = fr (x) = rx(1 − x)
dar. Die Parabel y = fr (x) ist vom Parameter r abhängig. Für r = 1 ist sie tangent an die
Diagonale y = x. Die Fixpunkte x̄1 und x̄2 fallen zusammen. Mit wachsenden Werten von
r wird die Parabel immer steiler, und der nichttriviale Fixpunkt x̄2 wandert entlang der
x-Achse von 0 bis 43 . Die Abhängigkeit vom Parameter r wird das Verhalten der Lösung
sehr stark beeinflussen.
In den folgenden Abbildungen werden wir für verschiedene Werte von r ∈ [1, 4] den
Verlauf der Lösung graphisch verfolgen. Wir werden feststellen, dass für 1 < r < 3 die
20
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
y
=
x
x n+1= f(x n )
0
x2 x2
1
xn
y = x(1−x)
y = 2x(1−x)
y = 3x(1−x)
Abbildung 1.10: Die Parabel y = rx(1 − x) für r = 1, r = 2, r = 3.
Lösungen, die in einer Umbebung des Fixpunktes starten, gegen den Fixpunkt konvergieren (was mit der Stabilität des Fixpunktes übereinstimmt). Für r = 1 konvergieren die
Lösungen zu positiven Anfangswerten gegen den Fixpunkt. Die Lösungen zu negativen
Anfangswerten konvergieren aber gegen −∞. Daher ist der Fixpunkt x̄1 = x̄2 = 0 nicht
stabil. Auch für r ≥ 3 geht die Lösung weg vom Fixpunkt und oszilliert zwischen verschiedenen Zuständen. Die Anzahl dieser Zustände wächst mit wachsenden Werten des
Parameters r.
1.3. NICHTLINEARE REKURSIONSGLEICHUNGEN
21
0.2
0.15
0.1
0.05
0
0
0.05
0.1
0.15
0.2
Abbildung 1.11: r = 1. Die Fixpunkte fallen zusammen. Die Lösung zum Anfangswert
x0 = 0, 1 konvergiert gegen den Fixpunkt x̄2 = 0 monoton von oben. Würde man aber in
x0 = −0, 1 starten, so würde die Lösung gegen −∞ konvergieren.
0.2
0.15
0.1
0.05
0
0
0.05
0.1
0.15
0.2
Abbildung 1.12: r = 1, 07. Die Lösung zum Anfangswert x0 = 0, 1 konvergiert gegen den
1
Fixpunkt x̄2 = 1 − 1,07
= 0, 0654 monoton von oben.
22
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
0.4
0.35
0.3
0.25
0.2
0.15
0.1
0.05
0
0
0.05
0.1
0.15
0.2
0.25
0.3
0.35
0.4
Abbildung 1.13: r = 1, 5. Die Lösung zum Anfangswert x0 = 0, 1 konvergiert gegen den
1
Fixpunkt x̄2 = 1 − 1,5
= 0, 3333 monoton von unten
0.6
0.5
0.4
0.3
0.2
0.1
0
0
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
Abbildung 1.14: r = 2. Die Lösung zum Anfangswert x0 = 0, 1 konvergiert gegen den
Fixpunkt x̄2 = 0, 5 monoton von unten.
1.3. NICHTLINEARE REKURSIONSGLEICHUNGEN
23
0.7
0.6
0.5
0.4
0.3
0.2
0.1
0
0
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
Abbildung 1.15: r = 2, 5. Die Lösung zum Anfangswert x0 = 0, 1 spiralt gegen den
Fixpunkt x̄2 = 0, 6.
0.7
0.6
0.5
0.4
0.3
0.2
0.1
0
0
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
0.6
0.7
Abbildung 1.16: r = 2, 8. Die Lösung zum Anfangswert x0 = 0, 1 spiralt gegen den
1
Fixpunkt x̄2 = 1 − 2,8
= 0, 6428.
24
KAPITEL 1. DISKRETE MODELLE
0.9
0.8
0.7
0.6
0.5
0.4
0.3
0.2
0.1
0
0
0.1
0.2
0.3
0.4
0.5
Abbildung 1.17: r = 3, 3. Der Fixpunkt x̄2 = 1 −
springt zwischen zwei Werten hin und her.
0.6
1
3,3
0.7
0.8
0.9
= 0, 6969 ist instabil. Die Lösung
1
0.8
0.6
0.4
0.2
0
0
0.2
0.4
Abbildung 1.18: r = 3, 8. Der Fixpunkt x̄2 = 1 −
weist ein chaotisches Verhalten auf.
0.6
1
3,8
0.8
1
= 0, 7368 ist instabil. Die Lösung
Kapitel 2
Lineare Gleichungssysteme
2.1
Berechnen von Konzentrationen
Beispiel 5 Es sind zwei Lösungen vorhanden. In der ersten Lösung sind 40% Methanol
und 20% Formaldehyd enthalten. In der zweiten Lösung sind 30% Methanol und 10%
Formaldehyd enthalten. Welche Mengen der beiden Lösungen und Wasser müssen zusammengemischt werden, um 1 Liter Endlösung mit 15% Methanol und 6% Formaldehyd zu
erhalten?
Um diese Frage zu beantworten, bezeichnen wir mit
x − Menge [in Liter] der ersten Lösung
y − Menge [in Liter] der zweiten Lösung
z − Menge [in Liter] Wasser
die nötig sind, um 1 Liter Endlösung mit der verlangten Zusammensetzung zu erhalten.
Diese drei Mengen sollen sich zu 1 Liter addieren, d. h.
x + y + z = 1.
Die Menge von Methanol in einer Lösung, die durch das Zusammenmischen von x Liter
der ersten Lösung, y Liter der zweiten Lösung und z Liter Wasser entsteht, berechnet sich
zu
x · 40% + y · 30% + z · 0%.
Diese Methanolmenge stellt 15% von 1 Liter Endlösung dar. Wir erhalten also die Gleichung
40x + 30y = 15.
Analog ergibt die Bilanz der Formaldehydmenge in 1 Liter Endlösung die Gleichung:
20x + 10y = 6.
Wir erhalten also das Gleichungssystem
x +
y +
40x + 30y
20x + 10y
25
z
= 1
= 15
= 6
26
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
Um dieses Gleichungssystem zu lösen multiplizieren wir die zweite Gleichung mit
subtrahieren sie von der dritten Gleichung. Wir erhalten
x +
y +
40x + 30y
20
x
3
z
= 1
= 15
= 1
1
3
und
(2.1)
Die Lösung unserer Aufgabe lautet
3
20
3
15 − 40 · 20
6
=
y =
30
20
3
6
11
z = 1−
−
=
20 20
20
x =
3
6
Es müssen also 20
Liter der ersten Lösung, 20
Liter der zweiten Lösung und 11
Liter
20
Wasser zusammengemischt werden. Aus dem Lösungsverfahren des Systems (2.1) ist klar,
dass dies auch die einzige Lösung ist.
Beispiel 6 Wir betrachten nun die gleichen Lösungen wie im Beispiel 5. Welche Mengen
der beiden Lösungen müssen zusammengemischt werden, um 1 Liter Endlösung mit 15%
Methanol und 6% Formaldehyd zu erhalten?
Mit den Bezeichnungen aus Beispiel 5 lautet das Gleichungssystem nun
x +
y = 1
40x + 30y = 15
20x + 10y = 6
(2.2)
Aus den letzten zwei Gleichungen kann man wie oben die Lösung
3
20
6
y =
20
x =
berechnen. Diese erfüllt aber die erste Gleichung nicht. Es ist also nicht möglich, 1 Liter
Endlösung mit der gewünschten Zusammensetzung zu erhalten. Das System (2.2) hat
keine Lösung.
Beispiel 7 Seien nun zwei Lösungen mit den folgenden Zusammensetzungen gegeben:
In der ersten Lösung sind 40% Methanol und 20% Formaldehyd, in der zweiten Lösung
sind 30% Methanol und 15% Formaldehyd enthalten. Welche Mengen der beiden Lösungen müssen zusammengemischt werden, um eine Endlösung mit 36% Methanol und 18%
Formaldehyd zu erhalten?
Wenn wir wieder mit x und y die Mengen der zwei Lösungen, die zusammengemischt
werden, bezeichnen, so müssen diese folgendes Gleichungssystem lösen.
40x
20x
+
+
30y
15y
= 36(x+y)
= 18(x+y)
(2.3)
2.2. MATRIZEN
27
oder äquivalent
4x 2x -
6y
3y
=
=
0
0
, α) als Lösung. Für unsere Anwendung
Das System (2.3) hat alle Zahlenpaare (x, y) = ( 3α
2
kommen natürlich nur positive Lösungen in Frage, d.h. (x, y) = ( 3α
, α), mit α > 0. Eine
2
mögliche Wahl der gesuchten Mengen wäre also, 1,5 Liter der ersten Lösung und 1 Liter
der zweiten Lösung zusammenzumischen.
2.2
Matrizen
2.2.1
Motivation und Beispiele
Beispiel 8 Ein Forscher führe ein Experiment unter verschiedenen Versuchsbedingungen
durch. Die Resultate seiner Messungen trägt er in die folgende Tabelle ein:
Versuchsbed.\Messung
1
2
..
.
m
1
x11
x21
..
.
2
x12
x22
..
.
3
x13
x23
..
.
...
...
...
n
x1n
x2n
..
.
xm1
xm2
xm3
...
xmn
xij stellt also das Resultat der Messung Nummer j unter der Versuchsbedingung Nummer
i dar.
Beispiel 9 (Graphen) Es kommt häufig vor, dass bestimmte Objekte in Beziehung zueinander stehen und wir diese Beziehungen zu untersuchen haben. Ein Beispiel dafür sind
die chemischen Strukturformeln. Wir stellen diese mithilfe von Graphen dar, in denen die
Knoten die Atome und die Kanten die chemischen Bindungen sind.
28
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
2
5






1
4
3
0
1
1
1
1
1
0
0
0
0
1
0
0
0
0
1
0
0
0
0
1
0
0
0
0

0
1
0
0
1
1
0
1
0
0
0
1
0
1
0
0
0
1
0
1
1
0
0
1
0






1
5
2






3





4
Abbildung 2.1: Adjazenzmatrizen von Graphen
Die Information über die bestehenden Bindungen kann mithilfe eines quadratischen Zahlenfeldes wiedergegeben werden: Die Atome werden in beliebiger Reihenfolge nummeriert.
Falls zwei Atome miteinander verbunden sind, setzen wir die Zahl Eins, sonst die Zahl
Null, siehe Abb. (2.1).
Beispiel 10 (Nahrungskette) (Thrall et al. 1967)
Es ist bekannt, dass giftige Schadstoffe in Nahrungsketten angereichert werden. Wir betrachten folgende Nahrungskette aus drei Gliedern:
1. Die Vegetation liefert Nahrung für Pflanzenfresser. Die verschiedenen Pflanzenarten
seien mit p1 , p2 , . . . , pr bezeichnet.
2. Pflanzenfresser ernähren sich von den Pflanzen des ersten Gliedes. Die verschiedenen Arten von Pflanzenfressern seien mit a1 , a2 , . . . , as bezeichnet.
3. Fleischfressende Tiere leben von den in Glied 2 beschriebenen Pflanzenfressern und
werden mit c1 , c2 , . . . , ct bezeichnet.
Wir können nun fragen: Welche Menge an Pflanzen der Art p1 wird indirekt von den
Fleischfressern der Art c2 aufgenommen? (Oder allgemeint: Welche Menge an Pflanzen
der Art pi wird indirekt von den Fleischfressern der Art cj aufgenommen?) Um diese Frage zu beantworten stellen wir mithilfe zweier Zahlenfelder die Information, die wir haben,
übersichtlich dar.
2.2. MATRIZEN
29
p1
p2
..
.
a1
x11
x21
..
.
a2
x12
x22
..
.
. . . as
. . . x1s
. . . x2s
..
.
pr
xr1
xr2
...
xrs
a1
a2
..
.
c1
y11
y21
..
.
c2
y12
y22
..
.
...
...
...
ct
y1t
y2t
..
.
as
ys1
ys2
...
yst
Abbildung 2.2: Nahrungsketten
In Abb.(2.2) ist im ersten Tableau xik die Menge der Pflanzenart pi , die von jedem Individuum der Art ak gefressen wurde. ykj stellt die Anzahl der Individuen der Art ak dar,
die von allen Individuen der Art cj gefressen wurden. Die Antwort auf unsere Frage ist
nun folgende: Die gesuchte Menge an Pflanzen der Art p1 welche von den Fleischfressern
der Art c2 aufgenommen wird ist
x11 · y12 + x12 · y22 + . . . + x1s · ys2
und wird erhalten in dem wir sozusagen die erste Zeile aus dem ersten Tableau mit der
zweiten Spalte aus dem zweiten Tableau multiplizieren.
Beispiel 11 (Metabolische Netzwerke) Ein wichtiges Merkmal biochemischer Reaktionsnetzwerke ist ihre Stöchiometrie. Sie gibt an, in welchen molekularen Verhältnissen die
Reaktanten und die Produkte in die Reaktionen eingehen. Für die Katalase-Reaktion
2H2 O2 −→ 2H2 O + O2
haben Wasserstoffperoxid, Wasser und Sauerstoff die stöchiometrischen Koeffezienten
−2, 2 beziehungsweise 1. Das Vorzeichen der stöchiometrischen Koeffizienten ist positiv
für die Produkte und negativ für die Reaktanten.
Für die Analyse der Netzwerke werden die stöchiometrischen Koeffizienten in die
stöchiometrische Matrix angeordnet. Dabei entsprechen die Zeilen den Substanzen und
die Spalten den Reaktionen. Zum Beispiel entspricht dem Reaktionssystem:
(1)
Glukose + AT P −→ Glukose − 6 − P hosphat + ADP
(2)
Glukose − 6 − P hosphat −→ Glukose − 1 − P hosphat
folgende stöchiometrische Matrix:
 (1) (2) 
−1
0
 1 −1 


 0
1 


 −1
0 
1
0
Glukose
G−6−P
G−1−P
AT P
ADP
30
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
2.2.2
Definition und Rechenregeln für Matrizen
Eine m × n Matrix, m, n ∈ N, ist ein geordnetes Zahlenschema der Form


a11 a12 . . . a1n
 a21 a22 . . . a2n 


A = (aij ) i=1,...,m =  ..

j=1,...,n
 .

am1 am2 . . . amn
(ai1 ai2 . . . ain ) heißt die i−te Zeile von A.


a1j
 a..2j  heißt die j−te Spalte von A.
.
amj
aij heißt (i, j)−tes Element von A. Die Menge der m × n Matrizen mit reellen Elementen bezeichnen wir mit Rm×n . Matrizen bestehend aus einer Zeile bzw. einer Spalte
werden Zeilenvektoren bzw. Spaltenvektoren genannt.
Rechenoperationen
Für Matrizen können, wie auch für Zahlen, Rechenoperationen definiert werden.
• Addition von Matrizen
Seien A, B zwei Matrizen mit der gleichen Zeilen- und Spaltenzahl, d.h. A, B ∈
Rm×n . Dann ist die Summe von A und B definiert durch
A + B = (aij + bij ) i=1,...,m
j=1,...,n
Beispiel 12 Häufigkeitstafeln
Bei einer statistischen Erhebung werden die Körperlänge und das Körpergewicht von Personen ermittelt. aij sei nun die absolute Häufigkeit von Personen mit dem Gewicht bi und
der Körperlänge aj . Diese Häufigkeiten werden in folgende Häufigkeitstafel eingetragen:
150 cm 160 cm 170 cm
90 kg
0
0
0
=A.
80 kg
0
1
1
70 kg
3
12
18
Ist (bij ) i=1,...,m die Häufigkeitstafel bei einer anderen Zählstelle über die gleichen Merkmale,
j=1,...,n


0 0 1
 0 2 1 =B
4 11 17
so ergibt sich für beide Zählstellen zusammen die Häufigkeitstafel


0 0 1
 0 3 2  = A + B.
7 23 35
2.2. MATRIZEN
31
• Multiplikation einer Matrix mit einer rellen Zahl.
Sei α ∈ R, dann wird bei der Multiplikation einer Matrix A mit der rellen Zahl α
jedes Element der Matrix mit dieser Zahl multipliziert, d.h.
αA = (αaij ) i=1,...,m
j=1,...,n
• Multiplikation von Matrizen
Seien A = (aik ) i=1,...,m , B = (bkj ) k=1,...,s zwei Matrizen mit der Eigenschaft, dass die
k=1,...,s
j=1,...,n
Spaltenzahl von A gleich der Zeilenzahl von B ist, d.h. A ∈ Rm×s , B ∈ Rs×n . Das
Produkt von A · B ∈ Rm×n ist definiert als
!
s
X
A·B =
aik bkj
.
k=1
i=1,...,m
j=1,...,n
Als Beispiel betrachten wir die Anwendung aus Beispiel 10. Dort sollte bestimmt werden, welche Menge an Pflanzen der Art pi indirekt von den Fleischfressern der Art cj
aufgenommen wird. Wir bezeichnen nun die gesuchte Menge mit zij und berechnen sie als
zij = xi1 · y1j + xi2 · y2j + . . . + xis · ysj =
s
X
xik ykj .
k=1
Das heißt, die Matrix Z = (zij ) i=1,...,r ist gegeben durch das Matrizenprodukt zwischen
j=1,...,t
den zwei Matrizen der Nahrungskette: Z = X · Y.
Achtung: Die Multiplikation von Matrizen ist nicht kommutativ! Ein Gegenbeispiel für
die Kommutativität ist folgendes:




0 −1 0
1 0 0
A= 1 0 0 
B =  0 0 −1 
0 0 1
0 1 0


0 0 1
A·B = 1 0 0 
0 1 0


0 −1 0
B · A =  0 0 −1 
1 0
0
Rechenregeln für Matrizen:
• Assoziativgesetz der Addition und Multiplikation
A + (B + C) = (A + B) + C
A · (B · C) = (A · B) · C
• Kommutativgesetz der Addition (nicht für Multiplikation!)
A+B =B+A
A · B 6= B · A
• Distributivgesetz A · (B + C) = A · B + A · C
32
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
• Die Null bezüglich der Addition ist die Nullmatrix


0 ... 0


..
O=
.
.
0 ... 0
• Das Negative von A = (aij ) i=1,...,m ist −A = (−aij ) i=1,...,m .
j=1,...,n
j=1,...,n
• Die Eins (d.h. das neutrale Element) bezüglich der Multiplikation von quadratischen
Matrizen ist die sogenannte Einheitsmatrix, deren Diagonalelemente Einsen sind,
während außerhalb der Diagonalen lauter Nullen stehen. Diese Matrix wird mit I
bezeichnet:


1 0 ... 0
 0 1 ... 0 


I=
 ∈ Rn×n
.
.


.
0 0 ... 1
Sie erfüllt für jede Matrix A ∈ Rn×n die Beziehung:
I ·A=A·I =A
• Die inverse Matrix A−1 einer quadratischen Matrix A kann für bestimmte Matrizen berechnet werden. Wir werden in einem der nächsten Paragraphen sehen, für
welche Matrizen sie existiert. A−1 ist diejenige Matrix, für welche gilt:
A−1 · A = A · A−1 = I.
• Die transponierte Matrix AT erhält man, wenn man
einer Matrix vertauscht, d.h.



a11 a12 . . . a1n
a11
 a21 a22 . . . a2n 
 a12



A =  ..
AT =  ..

 .

 .
am1 am2 . . . amn
a1n
2.3
die Zeilen und die Spalten

a21 . . . am1
a22 . . . am2 

.

a2n . . . amn
Grundbegriffe für lineare Gleichungssysteme
Wir betrachten ein lineares Gleichungssystem
a11 x1 + a12 x2 + . . . + a1n xn = b1
a21 x1 + a22 x2 + . . . + a2n xn = b2
..................................
am1 x1 + am2 x2 + . . . + amn xn = bm
(2.4)
von m Gleichungen in den n Unbekannten x1 , x2 , . . . xn . Die aij (i = 1, . . . , m; j =
2.3. GRUNDBEGRIFFE FÜR LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
33
1, 2, . . . , n) bezeichnet man als die Koeffizienten des Gleichungssystems. Die Koeffizienten
des Gleichungssystems (2.4) ordnet man zweckmäßig in der m × n Matrix


a11 a12 . . . a1n
 a21 a22 . . . a2n 


A =  ..

 .

am1 am2 . . . amn
an. Ordnen
wir die Unbekannten x1 , x2 , . . . , xn in den Spaltenvektor




x1
b1
x
b
x =  ..2  , und die rechten Seiten b1 , b2 , . . . , bm in den Spaltenvektor b =  ..2 
.
.
xn
bm
an, so können wir aufgrund der Matrizenmultiplikation das System (2.4) in der MatrixVektor-Form


 
b1
a11 a12 . . . a1n
x1
 a21 a22 . . . a2n   x2   b2 



 
 ..
  ..  =  .. 
(2.5)
 .
 .   . 
bm
am1 am2 . . . amn
xn
oder kürzer
Ax = b
schreiben. Bezeichnet man die Spalten von A mit






a11
a12
a1n
a
a
a 
..
v1 =  ..21  , v2 =  ..22  , . . . , vn =  2n
.
.
.
am1
am2
amn
und benutzt die Definition der Addition von Matrizen (in unserem Fall m × 1 Matrizen)
und die Multiplikation einer Matrix mit einer Zahl, so können wir dem System (2.4)
folgende übersichtliche Form geben
x1 v1 + x2 v2 + . . . + xn vn = b.
(2.6)

x1
x
Wir nennen ein x =  ..2  , für welches (2.4) bzw. (2.5) bzw. (2.6) gilt, eine Lösung
.
xn
des linearen Gleichungssystems. Die linearen Gleichungssysteme, bei welchen auf der
rechten Seite nur Nullen stehen, nennt man homogene lineare Gleichungssysteme.
Das zugehörige homogene Gleichungssystem zu (2.4) ist also

a11 x1 + a12 x2 + . . . + a1n xn = 0
a21 x1 + a22 x2 + . . . + a2n xn = 0
................................
am1 x1 + am2 x2 + . . . + amn xn = 0
(2.7)
oder in Matrix-Vektor-Form
Ax = O,
(2.8)
34
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
oder
x1 v1 + x2 v2 + . . . + xn vn = O,
(2.9)
0
0 

..
mit O =
.
.
0
Ein beliebiges (nicht von vornherein als homogen vorausgesetztes) lineares Gleichungssystem nennt man ein inhomogenes lineares Gleichungssystem.


Bemerkung 2 Ein homogenes Gleichungssystem besitzt immer die Lösung x = O. Diese
Lösung nennt man triviale Lösung.
Die Fragen, die wir uns nun stellen, sind folgende: Wann ist ein lineares Gleichungssystem lösbar und wie sieht die Lösungsmenge aus? Die Beispiele aus Paragraph 2.1 zeigen,
dass lineare Gleichungssysteme nicht immer eindeutig lösbar sind. Mit der allgemeinen
Lösungstheorie linearer Gleichungssysteme werden wir uns in den nächsten Paragraphen
befassen. An dieser Stelle halten wir noch folgendes fest:
Satz 1 Man erhält alle Lösungen eines inhomogenen linearen Gleichungssystems, indem
man zu einer speziellen Lösung dieses Gleichungssystems alle Lösungen des zugehörigen
homogenen Systems addiert. In Formeln wird das folgendermaßen ausgedrückt: Wir bezeichnen mit L die Gesamtheit der Lösungen von (2.4) und mit L0 die Gesamtheit aller
Lösungen des zugehörigen homogenen Systems. Ist dann x0 eine Lösung von (2.4), so gilt
L = x 0 + L0 .
Beweis: Nehmen wir an, dass (2.4) lösbar ist, und sei x0 = (x01 , x02 , . . . , x0n ) eine Lösung.
Dann gilt für jede beliebige Lösung x = (x1 , x2 , . . . , xn ) von (2.4) und für x0 die Beziehung
(2.6), d.h.:
x1 v1 + x2 v2 + . . . + xn vn = b,
x01 v1 + x02 v2 + . . . + x0n vn = b.
Zieht man diese beiden Identitäten voneinander ab, so erhält man:
(x1 − x01 ) v1 + (x2 − x02 ) v2 + . . . + (xn − x0n ) vn = O.
Dies besagt aber, dass der Vektor

x1 − x010
x −x
y = x − x0 =  2 .. 2 
.
xn − x0n

eine Lösung des zu (2.4) gehörigen homogenen Systems ist. Also ist jede Lösung x des
Systems (2.4) von der behaupteten Gestalt
x = x0 + y.
(2.10)
y1
y2 

..
Ist umgekehrt y =
eine beliebige Lösung des zugehörigen homogenen Systems,
.
yn
so ist jedes x der Gestalt (2.10) eine Lösung von (2.6) (siehe Übungsaufgabe).


Folgerung 1 Ein lösbares inhomogenes Gleichungssystem ist genau dann eindeutig lösbar,
falls das zugehörige homogene System nur die triviale Lösung besitzt.
2.4. DIE GAUSS’SCHE ELIMINATIONSMETHODE
2.4
35
Die Gauß’sche Eliminationsmethode
Die Gauß’sche Eliminationsmethode besteht darin, dass man ein Gleichungssystem durch
geeignete Umformungen in ein äquivalentes, sogenanntes gestaffeltes System, überführt.
Für dieses System kann dann die Frage nach der Existenz von Lösungen und der Struktur
des Lösungsraumes beantwortet werden. Es werden folgende elementare Umformungen
erlaubt:
I Addition eines Vielfachen einer Gleichung zu einer anderen Gleichung
II Vertauschung zweier Gleichungen
Nun ist das gesamte System (2.4) durch die Angabe seiner sogenannten erweiterten
Koeffizientenmatrix


a11 a12 . . . a1n b1
 a21 a22 . . . a2n b2 


(2.11)
C =  ..

 .

am1 am2 . . . amn bm
bestimmt. Die Umformungen von Typ I und II spiegeln sich in entsprechende Umformungen der Zeilen von (2.11) wider. Um die Unbekannten xi nicht immer mitzuschleppen,
betrachten wir daher allgemein elementare Zeilenumformungen von Matrizen. Der größeren Übersichtlichkeit halber und um unsere Ergebnisse bequemer aufschreiben zu können,
lassen wir im folgenden gegebenenfalls auch noch Spaltenvertauschungen, welche die Spalte der bi nicht betreffen, als erlaubte Umformungen zu. Spaltenvertauschungen der Matrix
(2.11), welche nicht die Spalte aus den bi betreffen, entsprechen einfach einer Umbenennung (Umnummerierung) der Unbekannten x1 , x2 , . . . , xn des Gleichungssystems (2.4).
Durch mehrfache Anwendung geeigneter elementarer Zeilenumformungen sowie geeigneter Spaltenvertauschungen lässt sich die Matrix C in eine Matrix D der Gestalt


. . . d1n
b01
d11 d12 d13 . . . d1r
 0 d22 d23 . . . d2r
. . . d2n
b02 


 0
. . . d3n
b03 
0 d33 . . . d3r





 .
..
..
..
.. . .
 .

.
.
.
.
.
(2.12)
D= .



. . . drn
b0r 
0
0 . . . drr
 0


b0r+1 



..


O
O
.
0
bm
bringen. Das Verfahren funktioniert folgendermaßen: Wir setzen voraus
a11 6= 0.
(Falls diese Bedingung nicht erfüllt ist, vertauschen wir die erste Zeile mit einer Zeile aus
der Matrix C, für welche ai1 6= 0 ist. Falls dies nicht möglich ist, vertauschen wir die erste
Zeile mit einer Zeile in der Matrix C, in der ein Element verschieden von Null existiert,
36
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
und dann die erste Spalte mit einer Spalte aus der Matrix C, so dass schließlich in der
erhaltenen Matrix das Element a11 6= 0 ist.) Um den Term ai1 in der Zeile i (i = 2, . . . , m)
zu eliminieren, subtrahieren wir von der Zeile i ein Vielfaches der unveränderten Zeile 1
und erhalten für i = 2, . . . , m die Zeilen
(ai2 − li1 a12 )
{z
}
|
(ai1 − li1 a11 )
{z
}
|
=a0i2
=0
...
(a − l a )
| in {zi1 1n}
=a0in
bi − li1 bi
| {z }
=b0i
i1
Aus ai1 − li1 a11 = 0 folgt sofort li1 = aa11
, i = 2, . . . , m. Damit ist der erste Eliminationsschritt unter der Annahme a11 6= 0 ausführbar. Nach diesem ersten Schritt bleibt in
den Zeilen 2 bis m und in den Spalten 2 bis n + 1 eine (m − 1, n)- Restmatrix“ stehen.
”
Auf diese Matrix wenden wir nun die Eliminationsvorschrift erneut an. (Dabei werden
beim Vertauschen von Zeilen und Spalten immer die ganzen Zeilen bzw. Spalten aus der
(m, n + 1)-Matrix vertauscht und nicht nur die Zeilen und Spalten aus der Restmatrix!)
Wir wiederholen diese Prozedur so lange, bis wir in der Restmatrix kein von Null verschiedenes aij mehr finden. Die Anzahl der durchgeführten Eliminationsschritten bezeichnen
wir mit r − 1, wobei 0 ≤ r ≤ m, n.
Mit Hilfe von Umformungen vom Typ I können wir dann in der Matrix (dij ) i=1,...,r
j=1,...,r
oberhalb der Diagonalen Nullen erzeugen. Lassen wir nun auch Umformungen vom Typ
III Multiplikation einer Zeile mit einer Zahl, die nicht Null ist
zu, so kann die Matrix D in die Form

1
0
0
..
.
0
1
0
..
.
0
0
1
..
.
... 0
... 0
... 0
..
.






0
D = 
 0 0 0 ... 1




O
d01,r+1 . . . d01,n
d02,r+1 . . . d02,n
d03,r+1 . . . d03,n
..
.
b001
b002
b003
..
.
d0r,r+1 . . . d0r,n
b00r
O
b00r+1
..
.













(2.13)
b00m
übergeführt werden.
Es stellt sich nun die Frage nach dem Charakter der auftretenden Zahl r. Hängt diese
allein von der Ausgangsmatrix C ab? Tritt also jedes mal die gleiche Zahl r auf, wenn
man die vorgelegte Matrix C in verschiedener Weise durch elementare Zeilenumformungen
und Spaltenvertauschungen in eine Matrix der Gestalt (2.13) transformiert? Die Antwort
finden wir im folgenden Satz.
Satz 2 Jeder Matrix A ∈ Rm×n kann man auf eindeutige Weise eine ganze Zahl 0 ≤
r ≤ m, n zuordnen, so dass sich diese Zahl bei elementaren Zeilenumformungen nicht
ändert. Diese Zahl wird Rang der Matrix A genannt und ist genau die Zahl r, die in
der transformierten Matrix der Gestalt (2.13) vorkommt. Wir schreiben r = Rang A.
2.5. LÖSUNGSTHEORIE LINEARER GLEICHUNGSSYSTEME
37
Der Matrix D0 entspricht nun - gegebenenfalls nach geeigneter Umnummerierung der
Unbekannten - das zu (2.4) äquivalente System:
x1
x2
x3
..
.
xr
+ d01,r+1 xr+1 + . . . + d01,n xn
+ d02,r+1 xr+1 + . . . + d02,n xn
+ d03,r+1 xr+1 + . . . + d03,n xn
..
..
.
.
0
+ dr,r+1 xr+1 + . . . + d0r,n xn
0
..
.
0
=
=
=
b001
b002
b003
= b00r
= b00r+1
..
.
=
(2.14)
b00m
Die Lösbarkeit dieses Systems können wir nun leichter untersuchen. Wir fangen dabei mit
den homogenen Systemen an.
2.5
2.5.1
Lösungstheorie linearer Gleichungssysteme
Lösungstheorie homogener linearer Gleichungssysteme
Wir untersuchen also das System (2.7). Durch elementare Zeilenumformungen vom Typ
I, II und III sowie Spaltenvertauschungen in der Matrix des Systems, erhalten wir das
äquivalente System der Form (2.14), wobei nun alle b00i gleich Null sind. Dann kann man
aber die letzten m − r trivialen Gleichungen 0 = 0 einfach weglassen, so dass wir auf
folgende Gestalt kommen:
x1
x2
x3
..
.
xr
+ d01,r+1 xr+1 + . . . + d01,n xn
+ d02,r+1 xr+1 + . . . + d02,n xn
+ d03,r+1 xr+1 + . . . + d03,n xn
..
..
.
.
0
+ dr,r+1 xr+1 + . . . + d0r,n xn
= 0
= 0
= 0
(2.15)
= 0
Satz 3 Ist r = n, so ist x = O die einzige Lösung von (2.15) und damit auch von (2.7).
Ist r < n, so kann man aus (2.15) folgendes erkennen: Wählt man beliebige Zahlen
xr+1 = t1 , xr+2 = t2 , . . . , xn = tn−r
und bestimmt x1 , x2 , . . . , xr aus (2.15) durch
xi = −d0i,r+1 t1 − . . . − d0i,n tn−r ,
für i = 1, 2, . . . , r,
so ist

x1
x2
..
.





x =  xr

 xr+1
 .
 ..
xn


 
 
 
 
 
=
 
 
 
 
−d01,r+1 t1 − . . . − d01,n tn−r
−d02,r+1 t1 − . . . − d02,n tn−r
..
.
0
−dr,r+1 t1 − . . . − d0r,n tn−r
t1
..
.
tn−r











(2.16)
38
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
eine Lösung von (2.15). Um die Gestalt der Lösungen von (2.7) noch etwas übersichtlicher
darzustellen, schreiben wir die Formel (2.16) folgendermaßen um: Seien






−d01,r+1
−d01,r+2
−d01,n
 −d0

 −d0

 −d0 
2,r+1
2,r+2




 .2,n 
.
.
..
..




 .. 






0
0
 −d

 −d

 −d0 
r,r+1
r,r+2
r,n






l1 = 
 , l2 = 
 , . . . , ln−r =  0  .
1
0




 0 
0
1










 0 
0
0
..
..




 .. 
.
.
.
0
0
1
Dann ist (2.16) äquivalent zu:
x = t1 l1 + t2 l2 + . . . + tn−r ln−r ,
(2.17)
wobei t1 , . . . , tn−r beliebige reelle Zahlen sind. Wir haben also folgende Charakterisierung
des Lösungsraumes von (2.7) erhalten.
Satz 4 Ist r < n, so gibt es Elemente l1 , l2 , . . . , ln−r aus L0 mit der Eigenschaft, dass sich
jede beliebige Lösung x aus L0 in der Form (2.17) ausdrücken lässt. Umgekehrt ist für
beliebige Zahlen t1 , t2 , . . . , tn−r jeder Ausdruck der Gestalt (2.17) eine Lösung von (2.14).
Ein derartiges System l1 , l2 , . . . , ln−r von Elementen von L0 heißt Basis von L0 .
Beispiel 13 Vorgelegt sei

x1



−x1
2x1



x1
das homogene lineare Gleichungssystem:
+
−
+
+
2x2
2x2
4x2
2x2
+ x3
− 2x3
+ 3x3
+ 2x3
+ x4 + x5
+ 2x4 + x5
− x4
− 2x4 − x5
=
=
=
=
0
0
0
0
von m = 4 Gleichungen in n = 5 Unbekannten. Seine Koeffizientenmatrix transformieren
wir mittels elementarer Umformungen wie folgt:




1
2
1
1
1
1 2
1
1
1
 −1 −2 −2

3
2 
2
1 

 →  0 0 −1
→
 0 0
 2
1 −3 −2 
4
3 −1
0 
1
2
2 −2 −1
0 0
1 −3 −2




2 1 1
1
1
1
1 2
1
1
 0 −1 0

0 3 2 
3
2 
→
 →  0 −1
→
 0
 0
1 0 −3 −2 
0
0 0 0 
0
1 0 −3 −2
0
0
0 0 0




1
0
2 4 3
1 0
2
4
3
0 3 2 → 0 1
0 −3 −2 
→  0 −1
O
O
O
O
In diesem Fall ist r = 2, also r < n. Die Lösungsmenge L0 besitzt also auch nichttriviale
Lösungen. Diese können mithilfe der Basis {l1 , l2 , l3 } dargestellt werden. Beim Bestimmen
2.5. LÖSUNGSTHEORIE LINEARER GLEICHUNGSSYSTEME
39
der Basisvektoren müssen wir nun berücksichtigen, dass wir bei den Umformungen im
zweiten Schritt eine Spaltenvertauschung vorgenommen haben. Man erhält also

−2
 1 

l1 = 
 0 ,
0
0


−4
 0 

l2 = 
 3 ,
1
0


−3
 0 

l3 = 
 2 .
0
1

Die Lösungen haben also die Form:







−3
−4
−2
x1
 0 
 0 
 1 
 x2 
 = t1  0  + t2  3  + t3  2  , t1 , t2 , t3 ∈ R.
x
x=
3








0
1
0
x4
1
0
0
x5

2.5.2
Lösungstheorie inhomogener linearer Gleichungssysteme
Um das allgemeine System (2.4) zu lösen, bringen wir es durch elementare Zeilenumformungen vom Typ I, II und III und eventuell auch Spaltenvertauschungen auf die Gestalt
(2.14).
Das System (2.14) ist also genau dann lösbar, wenn
b00r+1 = b00r+2 = . . . = b00m = 0.
Ist das der Fall, so sieht man, dass speziell






0
x =





b001
b002
..
.
b00r
0
0
..
.
0












(2.18)
eine Lösung von (2.14) ist. Gemäß Satz 1 ist dann die Menge L aller Lösungen von (2.14)
gegeben durch
L = x 0 + L0 ,
wobei L0 die Lösungsmenge des zugehörigen homogenen Systems ist.
Satz 5 Das inhomogene Gleichungssystem (2.4) sei lösbar, und es sei x0 gegeben durch
(2.18) eine spezielle Lösung. Ist dann {l1 , l2 , . . . , ln−r } eine Basis des Lösungsraumes L0 ,
so lässt sich jede Lösung von (2.4) eindeutig darstellen in der Form
x = x0 + t1 l1 + t2 l2 + . . . + tn−r ln−r ,
wobei t1 , t2 , . . . , tn−r ∈ R. Umgekehrt ist jeder solche Ausdruck eine Lösung von (2.4).
40
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
Folgerung 2 (Lösbarkeitskriterien) Es gelten:
(a) Ist r = m, so ist (2.4) stets lösbar.
(b) Ist r = m = n, so ist (2.4) eindeutig lösbar.
Beispiel 14 Gegeben sei das Gleichungssystem

x1 + 3x2 +



3x1 + 9x2 +
2x2 +



2x1 + 8x2 +
Elementare

1
 3

 0
2
5x3
10x3
7x3
12x3
=
=
=
=
1
0
3
1
Zeilenumformungen in der erweiterten Koeffizientenmatrix ergeben




1
1
1
1 3
5
1 3
5
3 5
 0 0 −5

 0 2
0 
−3
−1
2
9 10
→
→
 0 2
 0 2
3 
3 
3
7
7
2 7
1
−1
−3
0 2
2
0 0 −5
8 12

1
 0
→
 0
0
3
5
2
2
0
5
0 −5


1 3
1
 0 2
−1 
→
 0 0
4 
−3
0 0
5
2
5
0





1
−1 
.
4 
1
Wir haben also r = n = 3, das System ist aber nicht lösbar, denn die letzte Gleichung
lautet 0 = 1.
Bemerkung 3 Da r = n, folgt aus Satz 3, dass das zugehörige homogene Gleichungssystem eindeutig lösbar ist. Trotzdem ist das inhomogene System nicht lösbar!
2.6. CRAMER’SCHE REGEL
2.6
2.6.1
41
Lösen von linearen Gleichungssystemen mit der
Cramer’schen Regel
Determinante einer Matrix
In der Folgerung 2 haben wir schon gesehen, dass man mithilfe des Ranges der Koeffizientenmatrix eines linearen Gleichungssystems Aussagen über die Lösbarkeit des Systems
machen kann. Insbesondere gilt für quadratische Gleichungssysteme von n Gleichungen
mit n Unbekannten folgender
Satz 6 Ein lineares Gleichungssystem mit m = n ist genau dann eindeutig lösbar, wenn
r = m = n gilt.
Frage: Wann ist für ein quadratisches Gleichungssystem m = n = r?
Beispiel 15 (Lineares Gleichungssystem in zwei Dimensionen)
a11 x1 + a12 x2 = b1
a21 x1 + a22 x2 = b2
In den Übungen wurde gezeigt, dass das zugehörige homogene System genau dann nur die
triviale Lösung besitzt, falls
a11 a22 − a21 a12 6= 0
a11 a12
= 2, denn die Matrix läßt sich mittels
ist. Ist das der Fall, so ist Rang
a21 a22
elementarer Umformungen transformieren zu
−→
a11
a12
a11 a12
0 a22 − a12 aa21
a21 a22
− aa21 · Z1 + Z2
11
11


a11
a12
 0 a11 a22 − a12 a21  .
|
{z
}
−→
a11 · Z2
6=0
a11 a12
= 2, so folgt, dass a11 a22 − a12 a21 6=
a21 a22
0. Wir haben also eine Größe gefunden, die genau dann nicht Null ist, wenn
a11 a12
r = Rang
= 2 = n.
a21 a22
Umgekehrt lässt sich zeigen: Falls Rang
Wir bezeichnen
det A = det
a11 a12
a21 a22
a
a
= 11 12
a21 a22
:= a11 a22 − a12 a21
und nennen det A die Determinante von A. Eine andere wichtige Eigenschaft der Determinante ist folgende: Die Lösung des Systems lässt sich (im Falle detA 6= 0) angeben
42
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
als x =
x1
x2
mit:
b1
det
b2
x1 =
a11
det
a21
a11
det
a21
x2 =
a11
det
a21
a12
a22
a12
a22
b1
b2
.
a12
a22
(2.19)
Unser Ziel ist es nun, für beliebiges n jeder quadratischen Matrix A ∈ Rn×n eine Determinante mit den obigen Eigenschaften zuzuordnen.
Definition
Sei A = (aij ) i=1,...,n . Sei Aij die Teilmatrix von A, welche aus A durch Streichen der Zeile
j=1,...,n
i und Spalte j erhalten wird. Definiere nun die Determinante von A durch:
det A =
=
n
X
j=1
n
X
aij (−1)i+j det (Aij ) Entwicklung nach der i − ten Zeile
aij (−1)i+j det (Aij ) Entwicklung nach der j − ten Spalte
i=1
Das Element (−1)i+j det (Aij ) wird Minor zu aij genannt. Das bedeutet, dass man die
Determinante einer Matrix dadurch berechnen kann, dass man für alle Elemente einer Zeile
(Spalte) die Elemente mit ihren Minoren multipliziert und diese Produkte aufsummiert.
Das lässt sich am besten anwenden, wenn in der entsprechenden Zeile (Spalte) schon viele
Nullen stehen!
Beispiel 16 Gegeben sei die Matrix:


a11 a12 a13
A =  a21 a22 a23  .
a31 a32 a33
Um det A zu berechnen, entwickeln wir nach der ersten Zeile:


a11 a12 a13
det  a21 a22 a23  =
a31 a32 a33
a22 a23
a21 a23
a21 a22
1+1
1+2
1+3
(−1) a11 det
+(−1) a12 det
+(−1) a13 det
=
a32 a33
a31 a33
a31 a32
a11 a22 a33 + a12 a23 a31 + a13 a21 a32 − a11 a23 a32 − a12 a21 a33 − a13 a22 a31 .
2.6. CRAMER’SCHE REGEL
43
Wir bemerken, dass man den letzten Ausdruck mit folgender Regel erhält: Wir schreiben
unter die Matrix noch einmal die erste und die zweite Zeile. Danach addieren wir die
Produkte mit den in Abb.2.3 angezeigten Vorzeichen auf. Diese Regel nennt man SarrusRegel. Sie gilt nur für 3 × 3 Matrizen!
a11
a21
a
−
−
−
31
a 12
a13
a22
a23
a
a
32
33
a11
a
12
a 13
+
a21
a22
a 23
+
+
Abbildung 2.3: Die Sarrus-Regel
Rechenregeln für Determinanten
• Die Determinante ist linear in jeder Komponente, d.h.
det(v1 , . . . , αvj + βwj , . . . , vn ) = αdet(v1 , . . . , vj , . . . , vn ) + βdet(v1 , . . . , wj , . . . , vn )
• Die Determinante ändert ihren Wert nicht, wenn das Vielfache einer Zeile (Spalte)
zu einer anderen Zeile (Spalte) addiert wird, d.h.
det(v1 , . . . , vj , . . . , vk , . . . , vn ) = det(v1 , . . . , vj , . . . , αvj + vk , . . . , vn )
• Die Determinante ändert ihr Vorzeichen, wenn zwei Zeilen oder zwei Spalten vertauscht werden, d.h.
det(v1 , . . . , vj , . . . , vk , . . . , vn ) = −det(v1 , . . . , vk , . . . , vj , . . . , vn )
2.6.2
Die Cramer’sche Regel zur Lösung von quadratischen linearen Gleichungssystemen
Sei A = (aij ) i=1,...,n . Wir definieren die adjunkte Matrix A = (aij ) i=1,...,n durch
j=1,...,n
j=1,...,n
aij = (−1)i+j det (Aji ).
Mithilfe der adjunkten Matrix können wir nun die Inverse von A konstruieren, denn es
gilt folgender Satz:
44
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
Satz 7 Sei A die adjunkte Matrix zu A. Dann gilt:

1 0 ... 0
 0 1 ... 0

A · A = A · A = detA  ..
..
 .
.
0 0 ... 1





(2.20)
Folgerung 3 Ein lineares Gleichungssystem Ax = b mit m = n ist genau dann eindeutig
lösbar, falls detA 6= 0. Ist dieses der Fall, dann ist A die Inverse von A und die
det A
eindeutige Lösung des Gleichungssystems ist gegeben durch
x=
Ab
.
det A
Beweis 1 Die erste Aussage beweisen wir nicht. Dies würde Kenntnisse über die Theorie
der Vektorräume voraussetzen, die wir im Rahmen dieser Vorlesung nicht durchgenommen
haben. Unter der Annahme, dass detA 6= 0, gehen wir nun folgendermaßen vor: Wir
multiplizieren (2.20) mit 1 und erhalten
det A


1 0 ... 0
 0 1 ... 0 
1
1


A =
A · A =  ..
A·

...
det A
det A
 .

0 0 ... 1
d.h.
1
A.
det A
Nun multiplizieren wir das System Ax = b mit A−1 und erhalten
A−1 =
A−1 · (Ax) = A−1 · b
−1
−1
(A
| {z· A})x = A · b
I
x = A−1 b =
1
Ab.
det A
(2.21)
Die Cramer’sche Regel
Bezeichnen wir nun die
! Spalten von A mit v1 , . . . , vn und den Spaltenvektor der rechten
b1
..
Seiten mit b =
, so ergibt sich aus (2.21) folgende Formel für die Berechnung des
.
bn
!
x1
.
..
Lösungsvektors x =
:
xn
n
xj
1 X
1
(Ab)j =
ajk bk
=
det A
det A k=1
=
det (v1 , v2 , . . . , vj−1 , b, vj+1 , . . . , vn )
, j = 1, . . . , n.
det A
2.7. EIGENWERTE UND EIGENVEKTOREN
45
Bemerkung 4 Diese Formel haben wir für 2 × 2 Gleichungssysteme auf gewöhnlichem
Rechenweg erhalten, siehe (2.19).
Beispiel 17 Wir betrachten folgendes

 3x1 +
2x1 −

x1 +
Gleichungssystem:
2x2 − x3 = 18
5x2 − 7x3 = −5
4x2 + x3 = 2


3 2 −1
det 2 −5 −7 = −15 − 14 − 8 − 5 + 84 − 4 = 84 − 46 = 38
1 4
1
Durch Verwenden der Cramer’schen Regel erhalten wir:
18
2
−1
−5 −5 −7 2
4
1 1
406
= (18 · 23 + 5 · 6 − 2 · 19) =
x1 =
38
38
38
3 18 −1 2 −5 −7 1
2
1 144
x2 =
=−
38
38
3
2 18 2 −5 −5 1
4
2 246
=
x3 =
38
38
2.7
Eigenwerte und Eigenvektoren
Beispiel 18 (Populationsdynamik)
Bei der Beschreibung von Populationen ist es oft notwendig, deren Altersstruktur zu
berücksichtigen: sowohl die Geburten- als auch die Sterberaten sind altersabhängig. Die
Altersstruktur kann durch eine Einteilung in Altersklassen modelliert werden:
[0, ∆t[,
[∆t, 2∆t[,
...,
[m∆t, (m + 1)∆t[.
Wir wählen die Zeiteinheiten so, dass ∆t = 1 ist, und haben die Altersklassen
[0, 1[,
[1, 2[,
...,
[m, m + 1[.
Die Entwicklung wird in den gleichen Zeitabständen verfolgt, nach denen auch die Altersklassen gebildet sind, also zu den Zeiten tj = j · ∆t = j (da ∆t = 1 angenommen). Für
j = 0, . . . , m bezeichnet
xnj = die Anzahl der Individuen der Altersklasse j zum Zeitpunkt n.
46
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME



Der Vektor x = 

xn0
xn1
..
.
xnm



 = (xn0 , xn1 , . . . , xnm )T beschreibt die Altersstruktur der Population

zum Zeitpunkt n.
Die Population entwickelt sich wie folgt: Von den Individuen xnj im Alter j zum Zeitpunkt n wird ein Anteil Pj · xnj im nächsten Zeitpunkt n + 1 in der Altersklasse j + 1
sein. Pj ∈ [0, 1], j = 0, 1, . . . , m, heißt Überlebensfaktor oder Vitalitätskoeffizient der Altersklasse j. Dabei nehmen wir an, dass Pm = 0, d.h. die Individuen überleben die Klasse
m nicht. Dann ist also
n
xn+1
j+1 = Pj · xj ,
j = 0, 1, . . . , m − 1
Um xn+1
zu bestimmen, müssen wir die Geburten im Zeitraum [n, n + 1[ berücksichtigen.
0
Es sei Fj ≥ 0, j = 0, . . . , m, die Anzahl der Nachkommen eines Individuums vom Alter j
im Zeitraum [n, n + 1[, die mindestens bis zum Zeitpunkt n + 1 überleben. (Fj hängt also
nicht von n ab und bleibt für jedes Zeitintervall ∆t = 1 unverändert). In die Altersklasse
0 gehören also zum Zeitpunkt n + 1
xn+1
= F0 xn0 + F1 xn1 + . . . + Fm xnm
0
Individuen. Aus diesen Annahmen ergibt sich für den Übergang von einer Generation zur
nächsten folgendes System von linearen Rekursionsgleichungen:
xn+1
0
xn+1
1
xn+1
2
...
n+1
xm
oder mithilfe von Matrizen
 n+1
x0
 xn+1
 1n+1
 x2

n+1
x
=  ..
 .
 .
 ..
xn+1
m

= F0 xn0 + F1 xn1 + . . . + Fm xnm
= P0 xn0
= P1 xn1
= Pm−1 xnm−1 ,

 
 
 
 
=
 
 
 
F0 F1 F2 . . .
P0 0 0 . . .
0 P1 0 . . .
..
.. . .
.
.
.
...
0
0
0
. . . Pm−1
Fm
0
0
0









xn0
xn1
xn2
..
.
..
.
xnm









oder kurz
xn+1 = Lxn .
L heißt Leslie-Matrix und das ganze Modell heißt Leslie-Modell nach P.H. Leslie (1945).
Wenn wir nun die Anfangspopulation x0 kennen, so können wir die Anzahl der Individuen und die Altersstruktur zum Zeitpunkt n berechnen durch
xn = Lxn−1 = L(Lxn−2 ) = . . . = Ln x0 .
2.7. EIGENWERTE UND EIGENVEKTOREN
47
Wir sind nun an folgender Frage interessiert: Gibt es Altersverteilungen, die im Laufe der
Zeit konstant bleiben? Konstante Altersverteilung bedeutet, dass für alle j gilt
xn+1
xnj
j
Pm n+1 = Pm n ,
j=0 xj
j=0 xj
für alle n,
Pm n+1
j=0 xj
= Pm n xnj ,
j=0 xj
für alle n.
d.h.
xn+1
j
Eine solche Altersverteilung existiert, falls es eine Zahl λ ∈ R, λ > 0 gibt, mit
Pm n+1
xj
Pj=0
=λ
m
n
j=0 xj
und entsprechend
xn+1
= λ xnj , j = 0, . . . , m,
j
oder
xn+1 = λ xn
gilt. Die Entwicklung einer Population mit konstanter Altersverteilung dann durch die
Gleichung
Lxn = λ xn
(2.22)
beschrieben.
Um die Struktur dieser Population zu finden, müssen wir nun das System (2.22) lösen.
Zunächst schreiben wir es mithilfe der Regeln der Matrizenrechnung folgendermaßen um:
Lxn = λ xn
Lxn − λ xn = O
Lxn − λIxn = O
(L − λI) xn = O
(2.23)
Definition Sei A ∈ Rn×n eine Matrix. Eine Zahl λ, für welche es ein x ∈ Rn , x 6= O, gibt
mit der Eigenschaft, dass
(A − λI) x = O,
(2.24)
heißt Eigenwert der Matrix A. x ist dann ein zum Eigenwert λ gehöriger Eigenvektor.
Bemerkung 5 Ein Eigenvektor ist immer nur bis auf eine multiplikative Konstante bestimmt, d.h. ist x ein Eigenvektor zum Eigenwert λ, so ist auch cx ein Eigenvektor zum
Eigenwert λ, für alle c 6= 0.
Eigenwerte und Eigenvektoren existieren genau dann, wenn das System (2.24) nichttriviale Lösungen besitzt. Dieses System ist ein lineares homogenes Gleichungssystem mit
48
KAPITEL 2. LINEARE GLEICHUNGSSYSTEME
n Gleichungen und n Unbekannten. Ein solches System besitzt nach Folgerung 3 genau
dann nichttriviale Lösungen, wenn
det(A − λI) = 0.
(2.25)
Die Gleichung (2.25) heißt charakteristische Gleichung. Ihre linke Seite ist ein Polynom n−ten Grades. Dieses heißt charakteristisches Polynom von A. Die Eigenwerte
sind also die Nullstellen des charakteristischen Polynoms. Daher gibt es höchstens n verschiedene Eigenwerte, von denen manche komplex sein können! Hat man einen Eigenwert
λ gefunden, so erhält man alle Eigenvektoren zu λ durch Auflösen des homogenen linearen
Gleichungssystems
(A − λI) x = 0.
Wir können nun zu unserem Beispiel zurückkehren und die Antwort auf die Frage nach
konstanten Altersverteilungen folgendermaßen geben: Eine konstante Alterverteilung entspricht einem Eigenvektor der Leslie-Matrix L und existiert, falls ein positiver Eigenwert
λ der Matrix L existiert. In den Übungen wird ein Zahlenbeispiel zu diesem Modell behandelt.
Weitere Anwendungen zu Eigenwerten und Eigenvektoren von Matrizen werden wir
im nächsten Kapitel über gewöhnliche Differentialgleichungen antreffen.
Kapitel 3
Gewöhnliche Differentialgleichungen
und kontinuierliche, räumlich
homogene Prozesse
3.1
Wachstumsraten
Im folgenden werden wir den Begriff der Wachstumsrate (Reaktionsrate, Zufallsrate) oder
allgemein der Änderungsrate anhand von Beispielen erläutern.
Beispiel 19 (Wachstum einer Zelle)
Eine Zelle habe zum Zeitpunkt t = 0 die Masse m0 . In einer idealen Umgebung wächst
die Zelle. Ihre Masse ist also eine Funktion der Zeit, und wir können schreiben
m = m(t)
m = m0 , zur Zeit t = 0.
Es seien nun 0 < t1 < t2 zwei verschiedene Zeitmomente. Dann sind m(t1 ), m(t2 ) die
entsprechenden Massen. Die Differenz
∆m = m(t2 ) − m(t1 )
ist die totale Änderung der Masse im Zeitintervall von t1 nach t2 . Um entscheiden zu
können, wie stark sich die Masse im entsprechenden Zeitintervall verändert hat, müssen
wir die Länge des Intervalls
∆t = t2 − t1
berücksichtigen. Das Verhältnis
m(t2 ) − m(t1 )
∆m
=
∆t
t2 − t1
(3.1)
gibt an, um wieviel sich die Masse bezogen auf die Zeit geändert hat. Genauer ausgedrückt
ist es die mittlere Änderung der Masse pro Zeiteinheit im Zeitintervall von t1 nach t2 .
Diese Größe wird mittlere Änderungsrate oder im Falle unseres Beispiels mittlere
Wachstumsrate genannt.
49
50
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Es ist jedoch nicht immer befriedigend, nur die mittlere Änderungsrate einer Funktion
zu betrachten. Man hätte gern einen Begriff, der die aktuelle“ Änderungsrate beschreibt.
”
Zu diesem Zweck müssen wir das Zeitintervall zu einem Punkt verkleinern. Dazu lassen
wir x1 fest und x2 gegen x1 streben. Wir erhalten
m(t2 ) − m(t1 )
dm
(t1 ) = m0 (t1 ) = lim
.
t2 →t1
dt
t2 − t1
(3.2)
m0 (t1 ) ist die momentane Änderungsrate oder in unserem Beispiel die momentane
Wachstumsrate von m zur Zeit t1 . Gemäß Paragraph 1.3.1 ist die momentane Änderungsrate zur Zeit t = t1 genau die Ableitung der Funktion m an der Stelle t = t1 . Haben
wir nun zu einem Zeitpunkt t die momentane Wachstumsrate gegeben, so können wir uns
fragen, ob die Wachstumsrate groß oder klein ist. Die Antwort hängt sehr stark von der
gegenwärtigen Masse m(t) der Zelle ab. Den Quotienten
m0 (t)
m(t)
nennen wir spezifische oder relative Wachstumsrate.
Um eine Vorstellung von der spezifischen Wachstumsrate zu bekommen, betrachten
wir folgendes Beispiel:
Eine momentane Wachstumsrate von m0 (t) = 0, 5 g/h wäre für eine Pflanze mit einer
Masse von m(t) = 10 g gewaltig.
0, 5
m0 (t)
=
= 0, 5 · 10−1 [h−1 ].
m(t)
10
Für einen Baum mit einer Masse von m(t) = 1000 kg hingegen wäre eine solche Wachstumsrate winzig
0, 5
m0 (t)
=
= 0, 5 · 10−6 [h−1 ].
m(t)
1000 · 103
Beispiel 20 (Reaktionsrate)
Beim Stoffwechsel interessieren wir uns für die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion. M (t) sei die Menge eines Nährstoffs als Funktion der Zeit. Wir setzen voraus, dass
sich der Nährstoff chemisch zersetzt und M somit abnimmt. Der Quotient
∆M
M (t2 ) − M (t1 )
=
∆t
t2 − t1
wird als mittlere Reaktionsrate im Zeitintervall von t1 bis t2 bezeichnet. Unter unseren
Voraussetzungen ist ∆M
negativ.
∆t
Beispiel 21 (Zerfallsrate) Sei N (t) die Anzahl radioaktiver Atome in einer Probe zur
Zeit t, dann ist
∆N
N (t2 ) − N (t1 )
=
∆t
t2 − t1
die mittlere Zerfallsrate im Zeitintervall von t1 nach t2 .
3.2. GEWÖHNLICHE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN. GRUNDBEGRIFFE
51
Bemerkung 6 Für das Beispiel aus der Kernphysik scheint es anfangs unmöglich, eine
momentane Zufallsrate zu definieren, da die Kernspaltung spontan und nicht kontinuierlich verläuft. Jedoch ist die Anzahl radioaktiver Atome in einer Probe im allgemeinen so
groß, dass wir den Graphen des unstetigen Zerfalls durch eine glatte“ Kurve gut appro”
ximieren können.
Bemerkung 7 Die Bedeutung der Änderungsrate in der Biologie liegt darin, dass man
die Änderungsrate einer gesuchten Größe mit der Größe selbst in Beziehung setzen kann
und dadurch Gesetze erhält, die die Berechnung der gesuchten Größe ermöglichen.
3.2
Gewöhnliche Differentialgleichungen. Grundbegriffe
Beginnen wir wieder mit dem Beispiel 19. Wir nehmen an, dass das Wachstum der Zelle
nur durch die Geschwindigkeit des inneren Stoffwechsels bestimmt wird. Da die Masse
der Endprodukte des Stoffwechsels von der Masse der beteiligten Moleküle abhängt, ist
zu erwarten, dass die Wachstumsrate proportional zur Masse in jedem Zeitpunkt ist, d.h.
dm
= am
dt
(3.3)
mit einer gewissen positiven Konstante a.
Wir haben also eine Gleichung erhalten, welche neben der unbekannten Funktion
auch deren Ableitung enthält. Eine derartige Gleichung nennt man eine Differentialgleichung. Das Problem besteht nun darin, eine geeignete Funktion zu finden, welche die
Differentialgleichung erfüllt. Eine solche Funktion heißt Lösung der Differentialgleichung.
Graphische Konstruktion einer Lösung. Richtungsfelder
Betrachten wir die Gleichung
y 0 = y − t3 .
(3.4)
In jedem Punkt (t, y) ∈ R2 ist durch (3.4) eine Steigung y 0 definiert. Folglich können wir
in jedem Punkt (t, y) eine Gerade mit der Steigung y 0 = y − t3 zeichnen. Auf diese Weise
erhalten wir ein Gebiet der Ebene voller Steigungen oder Richtungen. Ein solches Gebiet
nennen wir Richtungsfeld. Abb. 3.1 zeigt das Richtungsfeld der Gleichung (3.4). Für
(t, y) = (0, 0) erhalten wir y 0 = 0
(t, y) = (0, 1) ist die Steigung y 0 = 1 − 0 = 1
(t, y) = (1.5, 1) ist die Steigung y 0 = 1 − 1.53 = −2.375.
Zeichnen wir nun ausgehend von einem Punkt (t0 , y0 ) die Kurve deren Steigung in
jedem Punkt durch das Richtunsfeld gegeben ist, so heißt diese Kurve Integralkurve
oder Stromlinie der Differentialgleichung. Wird eine Stromlinie durch die Funktion
y = y(t) dargestellt, so gilt
y 0 (t) = y(t) − t3 ,
52
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Abbildung 3.1: Das Richtungsfeld für die Gleichung y 0 = y − t3 .
woraus folgt, dass die Stromlinie eine Lösung der Differentialgleichung ist. Somit haben
wir auf graphischem Wege eine Lösung erhalten. In den nächsten Paragraphen werden
wir für spezielle Typen von gewöhnlichen Differentialgleichungen, explizite, analytische
Lösungen berechnen.
3.3
Differentialgleichungen der Form y 0 = ay + b
Die homogene Gleichung y 0 = ay
Eine Differentialgleichung dieser Art haben wir bei der Beschreibung des Wachstumsprozesses einer Zelle, siehe (3.3), schon angetroffen. Weitere Beispiele werden wir im Folgenden noch behandeln. Zuerst wollen wir aber eine Lösungsmethode für diese Gleichung
lernen, welche auch in vielen anderen Situationen sehr nützlich ist. Diese Methode heißt
Separation der Variablen und beruht darauf, dass wir die Gleichung so umformen, dass
3.3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN DER FORM Y 0 = AY + B
53
auf der linken Seite nur die Variable y, auf der rechten Seite nur die Variable t erscheint.
dy
= ay.
dt
(3.5)
Die Multiplikation der Gleichung mit dt ergibt
dy = ay dt.
Nach Division durch y wird die Gleichung zu
dy
= a dt
y
(y 6= 0).
Jetzt sind die Variablen separiert. Integration ergibt
Z
Z
dy
= a dt,
y
oder
ln |y| = at + c.
Auf diese Gleichung wenden wir nun die Exponentialfunktion an:
|y| = eat+c = eat · ec = C · eat .
Ist C ∈ R eine beliebige Konstante können wir die Betragsstriche weglassen und erhalten
als allgemeine Lösung der Gleichung (3.5)
y(t) = C · eat ,
C ∈ R.
Wenn der Wert der Lösung zum Zeitpunkt t = 0 gegeben ist, y(0) = y0 , dann können wir
die Konstante C so bestimmen, dass die Lösung diese Anfangsbedingung erfüllt
y0 = y(0) = C · ea·0 = C.
Die Lösung zum Anfangswert y0 ist also
y(t) = y0 · eat .
Für y0 = 5 und a = 1, 5, a = −1, 5 sind die Lösungen
y(t) = 5e1,5t ,
y(t) = 5e−1,5t
(3.6)
in der Abbildung 3.2 dargestellt. Das Verhalten der Lösung hängt vom Vorzeichen von a
ab. Für a > 0 erhalten wir ein normales (d.h. positives) Wachstum. Für a < 0 ergibt sich
ein negatives“ Wachstum (Abnahme, Zerfall).
”
Kommen wir nun zurück zu dem Beispiel des Zellenwachstums, so hat also die Gleichung (3.3) zum Anfangswert m0 die Lösung
m(t) = m0 · eat .
54
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Abbildung 3.2: Die Lösungen y(t) = 5e1,5t und y(t) = 5e−1,5t aus (3.6).
Beispiel 22 (Radioaktiver Zerfall)
Nehmen wir an, eine Substanz enthalte eine bestimmte Sorte radioaktiver Atome. Die einfachste Annahme für den Zerfall besagt, dass es keine bevorzugte Zeit für den Zerfall gibt
und dass die Atome die gleiche Zerfallswahrscheinlichkeit besitzen, und zwar unabhängig
voneinander. Das heißt also, dass wir doppelt so viele Szintillationen (spontane Zerfälle)
pro Zeiteinheit erwarten können, wenn wir doppelt so viele Atome zur Verfügung stellen.
Deshalb können wir annehmen, dass die Zerfallsrate zur Anzahl N radioaktiver Atome
proportional ist, d.h. wir erhalten folgende Gleichung
dN
= −λN,
dt
(3.7)
mit einer gewissen positiven Konstante λ, Zerfallskonstante genannt. Da λ nach Definition positiv ist und dN
negativ sein muss, schreibt man in (3.7) ein Minuszeichen. Die
dt
Lösung der Gleichung zum Anfangswert N0 ist gegeben durch N (t) = N0 · e−λt .
3.3. DIFFERENTIALGLEICHUNGEN DER FORM Y 0 = AY + B
55
Die inhomogene Gleichung y 0 = ay + b
Wir lösen wieder durch Separation der Variablen
dy
= ay + b
dt
dy
b
= a y+
dt
a
dy
= a dt
y + ab
Integration ergibt
Z
dy
=
a dt
y + ab
b
ln y + = at + c
a
Z
y+
b
= C · eat
a
y = Ceat −
b
a
Für einen gegebenen Anfangswert y(0) = y0 erhalten wir die Lösung:
b
b
y(t) = y0 +
eat −
a
a
(3.8)
Beispiel 23 (Beschränktes Wachstum)
Kein Organismus und keine Population wächst unbeschränkt, so wie es z.B. die Lösung
der Gleichung (3.5) für a > 1 tut. Futterknappheit, Raumnot oder irgendwelche Kontrollmechanismen setzen dem Wachstum Grenzen.
Nehmen wir an, es existiert eine feste obere Grenze für die Größe y eines Individuums,
einer Population o.ä. Wir bezeichnen diese obere Grenze mit B. Dann nähert sich, mit
gegen
fortschreitender Zeit, die Größe y dem Wert B. Dabei strebt die Wachstumsrate dy
dt
Null, während B − y kleiner und kleiner wird. Ein plausibles mathematisches Modell dafür
ist durch folgende Differentialgleichung gegeben
y 0 = k(B − y).
(3.9)
Die Wachstumsrate ist also proportional zur Differenz B − y, mit einer festgelegten positiven Konstanten k. Die Gleichung (3.9) kann man in die Form
y 0 = −ky + kB
(3.10)
schreiben und hat laut (3.8) die Lösung
y(t) = (y0 − B)e−kt + B.
(3.11)
Als konkretes Beispiel für ein beschränktes Wachstum betrachten wir folgende Anwendung
aus der Elektrophyiologie.
56
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Abbildung 3.3: Die Lösung der Gleichung y 0 = 0.6(5 − y) zum Anfangswert y(0) = 0.
3.3.1
Die Elektrische Aufladung einer Zellmembran. (Prof. Dr.
Stephan Frings, IZ)
Injiziert man einen Strom I in eine Zelle, ändert sich das Membranpotential V von Null
auf den Wert V = I · R, wobei R = der elektrische Widerstand der Zellmembran ist. Diese
Änderung geschieht nicht sofort sondern mit einer Verzögerung, die durch die Membrankapazität bestimmt ist. Die Änderungsrate V 0 (t) für das Membranpotential ist proportional
zu I · R − V (t), mit einer Proportionalitätskonstanten τ1m , mit
τm = Cm · Rm .
Hierbei ist Cm die spezifische Membrankapazität (typischer Wert Cm = 1µF cm−2 ) und
Rm der spezifische Widerstand der Membran (typischer Wert Rm = 1000 Ωcm2 ). Der
Widerstand der Zellmembran R ist gegeben durch R = Rm /A, wobei A die Fläche der
Zellmembran ist. (Der Index m kommt von Membran.)
3.4. SYSTEME VON LINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
57
Die elektrische Aufladung der Zellmembran kann also mithilfe folgender Differentialgleichung beschrieben werden
1
dV
=
(IR − V ).
(3.12)
dt
τm
Der Zeitverlauf des Membranpotentials für V (0) = 0 ist, gemäß (3.11), gegeben durch
− τt
m
V (t) = IR 1 − e
.
(3.13)
Bemerkung 8 Die Zeitkonstante τm ist ein zentraler Parameter bei der Funktion neuronaler Netzwerke. Viele Leistungen solcher Netzwerke (Rückkopplungshemmung, oszillierende Aktivität, etc.) beruhen darauf, dass Nervenzellen mit zeitlicher Verzögerung auf
einen aktivierenden Stimulus (injizierten Strom) reagieren. Die Konstante τm stellt die
Zeit dar, für die gilt
IR
.
V (τm · ln 2) =
2
D.h. nach t = τm · ln 2 hat das Membranpotential die Hälfte seines maximalen Wertes IR
erreicht.
3.4
Systeme von linearen Differentialgleichungen
In physiologischen Systemen wie auch bei Populationen betrachtet man gewöhnlich zwei
oder mehrere zeitabhängige Größen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Die Evolution solcher Größen in der Zeit wird mithilfe von Systemen von Differentialgleichungen
beschrieben.
Beispiel 24 (Aufnahme eines Medikaments) Die Aufnahmerate von Medikamenten
in Geweben und Organen ist für die Festlegung des medikamentösen Regimes von großer
Bedeutung. Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang wichtig:
• Mit welcher Rate werden Substanzen von den Geweben aufgenommen?
• Mit welchen Raten werden Substanzen aus dem Blutkreislauf (z.B. durch die Niere)
oder aus den Geweben (z.B. durch biochemischen Zerfall) ausgeschieden?
Im allgemeinen ist es aber nicht möglich, Konzentrationen von Substanzen in Geweben
zu messen. Der einzige Ort, wo man Messungen durchführen kann, ist der Blutkreislauf.
Anhand dieser Messungen kann man dann, mithilfe eines mathematischen Modells, Rückschlüsse auf die Prozesse in den Geweben ziehen.
Sei also D (engl. drug) ein Medikament, von dem zum Zeitpunkt t = 0 die Masse
Q0 in den Blutkreislauf eines Patienten eingespritzt wird. Das Medikament diffundiert
dann aus dem Blut in die Gewebe und wird außerdem auch durch die Niere in den Urin
ausgeschieden. Wir betrachten das Blut und das Gewebe als zwei miteinander verbundene
Kompartimente, siehe Abb. 3.4. Seien
Q1 (t)
Q2 (t)
Masse von D in Gewebe
Masse von D in Blutplasma.
58
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Q1
Q2
Gewebe
Blut
Urin
Abbildung 3.4: Ein System von zwei Kompartimenten für die Aufnahme und Ausscheidung
eines Medikaments
Während eines gegebenen Zeitintervalls ∆t können wir den Austauschprozess folgendermaßen beschreiben:

 

 Zuwachs durch Eintreten   Abnahme durch Eintreten 
von D-Molekülen aus dem
von D-Molekülen aus dem
∆Q1 =
+

 

Blut ins Gewebe
Gewebe ins Blut


 
 Zuwachs durch Eintreten   Abnahme durch Eintreten 
von D-Molekülen aus dem
von D-Molekülen aus dem
+
∆Q2 =


 
Blut ins Gewebe
Gewebe ins Blut
Abnahme durch Ausscheidung
+
durch die Niere
Wir dividieren beide Gleichungen durch ∆t und lassen anschließend ∆t gegen Null gehen.
dQ1
= Zuwachsrate + Abnahmerate
dt
dQ2
= Zuwachsrate + Abnahmerate + Ausscheidungsrate.
dt
Unter vereinfachenden Annahmen werden nun die Änderungsraten proportional zu Q1
bzw. Q2 angenommen. Man erhält dann folgendes System von Differentialgleichungen:
dQ1
= k2 Q2 − k1 Q1
dt
dQ2
= k1 Q1 − k2 Q2 − k3 Q2 = k1 Q1 − (k2 + k3 )Q2
dt
(3.14)
mit positiven Konstanten k1 , k2 und k3 . Es gilt Q1 (0) = 0 und Q2 (0) = Q0 .
Das obige System gehört zu der Klasse der linearen, homogenen Systeme von Differentialgleichungen der Form:
dy1
= a11 y1 + a12 y2
dt
dy2
= a21 y1 + a22 y2 .
dt
3.4. SYSTEME VON LINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
59
Das System kann auch in der Form
dy
= Ay
dt
(3.15)
geschrieben werden, wobei
dy
=
dt
dy1 dy2
,
dt dt
T
a11 a12
a21 a22
, A=
, y=
y1
y2
.
In Anlehnung an die Gestalt der Lösung der linearen homogenen Differentialgleichungen suchen wir die Lösung des Systems (3.15) in der Gestalt
y(t) = veλt , λ ∈ C, v = (v1 , v2 )T ∈ C2
(3.16)
oder ausgeschrieben
y1 (t)
y2 (t)
=
v1
v2
λt
e =
v1 eλt
v2 eλt
.
Einsetzen in (3.15) ergibt
λv1 eλt
λv2 eλt
=A
v1 eλt
v2 eλt
= Aveλt
oder
λveλt = Aveλt .
Nach Kürzen durch eλt ergibt sich für die unbekannte Zahl λ und dem unbekannten Vektor
v folgende Beziehung
Av = λv.
Damit also y(t) der Gestalt (3.16) eine Lösung des Differntialgleichungssystems (3.15) ist,
muss λ ein Eigenwert und v ein zugehöriger Eigenvektor der Matrix A sein.
Um die Eigenwerte und Eigenvektoren der Matrix A zu bestimmen gehen wir wie im
Paragraph 2.5 vor, d.h. wir lösen die charakteristische Gleichung
det(A − λI) = 0.
Wir erhalten zwei Eigenwerte λ1 , λ2 (welche auch komplex sein können).
Fall 1. λ1 , λ2 ∈ R, λ1 6= λ2 .
Die Eigenvektoren sind für a12 6= 0 gegeben als (sh. Übungsaufgabe)
1
v1
Eigenvektor zu λ1
v=
=
λ1 −a11
v2
a12
0
v =
v10
v20
=
1
λ2 −a11
a12
Eigenvektor zu λ2 .
Damit können wir nun zwei Lösungen für das System (3.15) angeben:
z(t) = veλ1 t und z 0 (t) = v 0 eλ2 t .
60
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Man kann aber allgemein zeigen, dass alle Lösungen des Systems (3.15) durch Linearkombinationen der Lösungen z und z 0 erhalten werden. D.h.
y(t) = c1 veλ1 t + c2 v 0 eλ2 t ,
c 1 , c2 ∈ R
(3.17)
ist die allgemeine Lösung des Systems (3.15). Das qualitative Verhalten der Lösungen
für verschiedene Vorzeichen von λ1 und λ2 ist in Abb.3.5 skizziert.
Sind
wir
nun an einer Lösung interessiert, welche zum Zeitpunkt t = 0 den Wert
0
y1
y0 =
annimt, so kann man in der Darstellung (3.17) die Konstanten c1 und c2
y20
ausrechnen und erhällt somit die Lösung zu den Anfangsbedingung y(0) = y 0 .
Kommen wir nun zurück auf unser Modellsystem (3.14) für die Aufnahme eines Medikaments. Wir setzen
5
3
3
, k2 =
, k3 =
.
k1 =
400
400
100
Zur Zeit t = 0 seien Q0 = 10 mg eines Medikaments ins Blut gespritzt worden. Wir wollen
nun den zeitlichen Verlauf der Medikamentenmenge im Blut und im Gewebe berechnen.
Die Matrix A des Systems ist
3
5
1
− 400
−3 5
400
A=
=
.
3
17
− 400
3 −17
400
400
Die Eigenwerte bestimmen wir aus der charakteristischen Gleichung
det(A − λI) = 0
3
−λ
d.h. − 400
17
− 400
−λ −
15
160000
= 0.
Wir erhalten
1
200
9
= −
.
200
λ1 = −
λ2
Wir sehen also, dass beide Eigenwerte negativ sind und folglich gehen sowohl die Konzentration von D im Blut als auch im Gewebe gegen Null (was man ja auch erwartet!).
Die Eigenvektoren berechnen sich aus
1
5
v1
5
−
v1 +
v2 = 0, v =
=
v2
1
400
400
0 15 0
5 0
v1
1
0
v +
v = 0, v =
=
.
v20
−3
400 1 400 2
Die allgemeine Lösung ergibt sich also als
1
9
1
5
− 200
t
Q(t) = c1
e
+ c2
e− 200 t .
1
−3
3.4. SYSTEME VON LINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
61
Zwei reelle negative
Eigenwerte
Zwei reelle Eigenwerte, davon einer negativ und der
andere positiv
Zwei reelle positive Eigenwerte
Abbildung 3.5: Qualitatives Verhalten der Lösungen von (3.15) im Falle zweier reeller,
verschiedener Eigenwerte.
62
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Wenn wir nun verlangen, dass
erhalten wir
Daraus folgt c1 =
10
,c
16 2
Q1 (0)
Q2 (0)
=
0
10
5c1 + c2 = 0
c1 − 3c2 = 10
= − 50
. Die Lösung unseres Problems ist also (sh. auch Abb.3.6)
16
50 − 1 t
e 200 −
16
10 − 1 t
Q2 (t) =
e 200 +
16
Q1 (t) =
50 − 9 t
e 200
16
150 − 9 t
e 200
16
Abbildung 3.6: Der zeitliche Verlauf der Medikamentenmenge im Blut und im Gewebe
Fall 2. λ1 , λ2 ∈ R, λ1 = λ2 .
Dieser Fall wird im Rahmen dieser Vorlesung nicht behandelt, da grundlegende Begriffe
über Vektorräume nicht vorausgesetzt werden können.
3.4. SYSTEME VON LINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
63
Fall 3. λ1 , λ2 ∈ C.
In diesem Fall sind λ1 und λ2 konjugiert komplexe Zahlen λ1,2 = a±b i. Diesen Eigenwerten
entsprechen konjugiert komplexe Eigenvektoren (sh. Übungsaufgabe), d.h.
v1
w1
v =
+i
Eigenvektor zu λ1
v2
w2
v1
w1
0
v = v̄ =
−i
Eigenvektor zu λ2 .
v2
w2
Analog zu Fall 1 kann die allgemeine Lösung des Systems (3.15) folgendermaßen dargestellt werden:
y(t) = c1 ve(a+bi)t + c2 v 0 e(a−bi)t .
Benutzen wir nun die Relation
e(a+bi)t = eat (cos(bt) + i sin(bt))
so erhalten wir:
y(t) =
+
=
+
=
+
c1 (Re v + i Im v)eat (cos(bt) + i sin(bt))
(3.18)
at
c2 (Re v − i Im v)e (cos(−bt) + i sin(−bt))
c1 eat (Re v cos(bt) − Im v sin(bt) + i(Im v cos(bt) + Re v sin(bt)))
c2 eat (Re v cos(bt) − Im v sin(bt) − i(Im v cos(bt) + Re v sin(bt)))
(c1 + c2 )eat (Re v cos(bt) − Im v sin(bt))
i(c1 − c2 )eat (Im v cos(bt) + Re v sin(bt))
Im allgemeinen ist der obige Ausdruck für y(t) eine komplexe Zahl. Für unser System
(3.15) erwarten wir aber im Falle von reellen Anfangswerten auch eine reellwertige Lösung.
Diese ist gegeben im folgenden
Satz 8 Die allgemeine Form einer reellen Lösung des Systems (3.15) ist gegeben durch
y(t) = c1 eat (Re v cos(bt) − Im v sin(bt)) + c2 eat (Im v cos(bt) + Re v sin(bt))
(3.19)
mit reellen Konstanten c1 , c2 ∈ R.
Beweis Um zu zeigen, dass die Summe aus dem Realteil und dem Imaginärteil der allgemein komplexen Lösung (3.18) eine reelle Lösung von (3.15) ist, benutzen wir die Eigenschaft, dass v 0 = v̄. Daraus folgt, dass
A(Re v) = aRe v − bIm v
A(Im v) = bRe v + aIm v
(3.20)
ist. Einsetzen von (3.19) in (3.15) und Ausnutzen von (3.20) liefert den Beweis.
Wir sehen also, dass komplexe Eigenwerte auch im Falle von Systemen von gewöhnlichen Differentialgleichungen mit oszillierenden Lösungen verbunden sind. Dabei bestimmt
der Realteil des Eigenwertes das Verhalten der Amplitude der Oszillationen (a > 0 Amplitude wächst, a < 0 Amplitude fällt, a = 0 Amplitude bleibt konstant), während der
64
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Imaginärteil die Frequenz der Oszillation angibt. Dieses qualitative Verhalten der Lösungen ist auch im Abb. 3.7 dargestellt.
Zwei komplexe Eigenwerte
mit positivem Realteil
Zwei rein imaginäre Eigenwerte
Zwei komplexe Eigenwerte
mit negativem Realteil
Abbildung 3.7: Qualitatives Verhalten der Lösungen von (3.15) im Falle komplexer Eigenwerte
Nichthomogene lineare Systeme von Differentialgleichungen
Beispiel 25 (Ein Räuber-Beute-Modell) Wir betrachten ein mathematisches Modell
zur Populationsdynamik, in dem zwei Spezies vorkommen: die eine besteht aus den Räubern,
die andere aus den Beutetieren. Die Räuber ernähren sich von den Beutetieren.
Sei x(t) die Anzahl der Individuen der Beutepopulation und y(t) die Anzahl der Individuen der Räuberpopulation zum Zeitpunkt t. Wir nehmen an, dass sich die beiden
3.4. SYSTEME VON LINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
65
Populationen in einem bestimmten Lebensraum im Gleichgewicht befinden x(t) = x∗ und
y(t) = y ∗ . Wird nun die Räuberpopulation - etwa durch Jagd - verkleinert, so wird die
Beutepopulation beginnen zu wachsen, da die Beutetiere nicht mehr so häufig von den
Raubtieren gejagt werden. Die Beutepopulation wird um so mehr wachsen, je mehr Räuber
geschossen wurden. Die einfachste Modellierung hierfür ist, dass die Wachstumsrate der
Beutepopulation proportional zur Anzahl der erlegten Räuber gesetzt wird:
x0 = p(y ∗ − y),
p > 0.
Setzen wir andererseits zusätzliche Beutetiere aus, so wird die Räuberpopulation wegen des
erhöhten Nahrungsangebotes beginnen zu wachsen, und zwar um so schneller, je größer
das zusätzliche Nahrungsangebot ist. Die einfachste Modellierung hierfür ist, die Wachstumsgeschwindigkeit der Räuberpopulation proportional zum zusätzlichen Nahrungsangebot x − x∗ zu setzen:
y 0 = q(x − x∗ ), q > 0.
Dies legt nahe, jedenfalls für kleine Schwankungen von x um x∗ und y um y ∗ , das RäuberBeute-System durch das folgende System von inhomogenen linearen Differentialgleichungen zu modellieren:
x0 = −py + py ∗
y 0 = qx − qx∗ .
(3.21)
Satz 9 Die allgemeine Lösung eines inhomogenen Systems erhält man indem man zur
allgemeinen Lösung des zugehörigen homogenen Systems eine spezielle Lösung des inhomogenen Systems addiert.
Das zugehörige homegene System zu (3.21) ist
x0 = −py
y 0 = qx
(3.22)
Wir betrachten nun das System (3.21) für folgende Werte der Parameter
x∗ = 0, 8,
y ∗ = 0, 5,
p = 1,
q = 0, 5.
Die Anfangswerte seien
x(0) = 1, 4,
y(0) = 0, 5,
d.h. wir nehmen an, dass zum Zeitpunkt t = 0 eine zusätzliche Menge Beutetiere ausgesetzt werden. Um die Lösung des Systems zu bestimmen, lösen wir zuerst das homogene
System
x0 = −y
y 0 = 0, 5x
dessen Matrix durch
A=
0 −1
0, 5 0
66
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
gegeben ist. Die Eigenwerte von A sind die konjugiert komplexen Zahlen
p
p
λ1 = 0, 5 i, λ2 = − 0, 5 i.
Die dazugehörigen Eigenvektoren sind
1
√
v=
− 0, 5 i
0
v = v̄ =
√1
0, 5 i
Eigenvektor zu λ1 =
p
0, 5 i
p
Eigenvektor zu λ2 = − 0, 5 i.
Die Zerlegung in Realteil und Imaginärteil liefert
1
0
√
v=
+ i
0
− 0, 5
und nach Satz 8 ist die allgemeine Lösung des homogenen Systems gegeben durch
p
p
x(t)
0
1
√
sin( 0, 5 t) +
= c1
cos( 0, 5 t) −
y(t)
− 0, 5
0
p
p
1
0
√
c2
sin( 0, 5 t) +
cos( 0, 5 t)
0
− 0, 5
Als nächstes suchen wir eine spezielle Lösung des inhomogenen Systems. Die einfachste
Lösung wäre eine konstante. Da eine solche Lösung nicht von t abhängt, erfüllt sie das
System
0 = −y + 0, 5
0 = 0, 5x − 0, 4.
x
0, 8
D.h.
=
ist eine spezielle Lösung von (3.21) für unser Rechenbeispiel.
y
0, 5
Die allgemeine Lösung des inhomogenen Systems ist dann
p
p
x(t)
1
0
√
= c1
cos( 0, 5 t) −
sin( 0, 5 t)
y(t)
0
− 0, 5
p
p
1
0
√
+ c2
sin( 0, 5 t) +
cos( 0, 5 t)
0
− 0, 5
0, 8
+
.
0, 5
Nun müssen wir die Konstanten c1 und c2 aus den Anfangsbedingungen bestimmen. Es
gilt
x(0)
1
0
0,
8
1,
4
√
= c1
+ c2
+
=
.
y(0)
0
− 0, 5
0, 5
0, 5
3.4. SYSTEME VON LINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
67
Abbildung 3.8: Die zeitlichen Entwicklung der Populationsgröße der Räuber und der Beute
Daraus folgt c1 = 0, 6 und c2 = 0. Der zeitliche Verlauf der Anzahl der Individuen der
beiden Populationen ist also gegeben durch
x(t)
y(t)
=
√
0, 6√
cos( 0, 5√
t) + 0, 8
.
0, 6 0, 5 sin( 0, 5 t) + 0, 5
Die Populationsgrößen verändern sich also nach einem periodischen Muster, was auch in
Abb 3.8 zu sehen ist.
Bemerkung 9 Das klassische Räuber-Beute-Modell wurde von Volterra (1926) (italienischer Mathematiker) und Lotka (1925) (amerikanischer Biophysiker) aufgestellt. Dieses
ist ein nichtlineares System der Gestalt
x0 = ax − bxy
y 0 = cxy − dy.
Differentialgleichungen von diesem Typ werden wir im nächsten Paragraphen behandeln.
68
3.5
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Systeme von nichtlinearen Differentialgleichungen
Beispiel 26 (Bakterienwachstum in einem Chemostaten) Bei den Experimenten
über das Wachstum von Mikroorganismen unter verschiedenen Laborbedingungen ist es
oft nötig, einen Grundstock von der Kultur, die untersucht wird, vorrätig zu haben. Eine Möglichkeit dafür wäre eine latente Form der Mikroorganismen zu benutzen, die zum
Zeitpunkt eines Experiments aktiviert wird. Eine bessere Alternative ist es jedoch, eine
aktive Dauerkultur zu züchten, von der man zu jeder Zeit aktive Proben entnehmen kann.
Eine Vorrichtung, in der eine solche Kultur gezüchtet wird, ist der Chemostat.
Der Chemostat siehe Abb.3.9 besteht aus einer Wachstumskammer, in der die Mikroorganismen (z.B. Bakterien) kultiviert werden, einem Einfluss, durch den die Nährlösung
zugeführt wird und einem Abfluss, durch den Kultur entnommen wird. Die Einfluss- und
Abflussraten sind gleich, so dass das Volumen konstant bleibt. Um das Wachstum der
F
Einfluss
Wachstumskammer
F
Abfluss
Abbildung 3.9: Der Chemostat
Kultur kontrollieren zu können, müssen wir die Evolution der Bakteriendichte und der
Nährstoffkonzentration in der Zeit beschreiben.
Unbekannten des Modells:
N (t)
C(t)
Bakteriendichte [Anzahl Bakterien/Volumen]
die Nährstoffkonzetration [Masse/Volumen]
Charakteristische Größen des Chemostats:
C0
V
F
Nährstoffkonzentration, die zugeführt wird
Volumen der Wachstumskammer
Einfluss-/Abflussrate [Volumen/Zeit]
Die Änderungsraten für die Bakteriendichte N (t) und die Nährstoffkonzentration C(t)
sind gegeben durch
3.5. SYSTEME VON NICHTLINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
dN
dt
=
O
Änderungsrate
der Bakteriendichte
dC
dt
−αk(C)N
=
(3.23)
O
Reproduktionsrate
der Bakterien
Abnahmerate
wegen Entnahme
durch den Abfluss
FC
V
−
Änderungsrate
der Nährstoff
-konzentration
F
N
V
−
k(C) N
69
+
F C0
V
(3.24)
O
Abnahmerate
Abnahmerate
Zunahmerate
wegen Ernährung wegen Entnahme durch Zufluss
der Bakterien
durch den Abfluss
Die Reproduktionsrate der Bakterien hängt von der Nährstoffkonzentration in der
Wachstumskammer ab. Für eine niedrige Nährstoffkonzentration wächst die Reproduktionsrate mir wachsender Nährstoffkonzentration. Im Falle eines Überflusses an Nahrung
wird die Reprodunktionsrate aber nicht unbeschränkt wachsen, sondern es wird sich eine
maximale (limitierende) Rate einstellen. Eine Funktion k, mit welcher dieser Sätigungseffekt modelliert werden kann, ist gegeben durch
k(C) = Kmax
C
Kn + C
(3.25)
Diese Funktion ist auch als Michaelis-Menten-Kinetik bekannt. Kmax stellt den maximalen Wert für k(C) dar, und für C = Kn erreicht die Funktion k(C) die Hälfte ihres maximalen Wertes, d.h. k(Kn ) = 21 Kmax . Der Verlauf von k(C) für Kmax = 4 und
Kn = 1, 5 ist in Abb.3.10 gegeben
k(C)
K max
3
K max
2
1
0
1 Kn 2
3
4
5
6
7
8
Abbildung 3.10: Der Verlauf der Funktion k(C) =
9
Kmax C
Kn +C
10
11
12
13
14
C
für Kmax = 4 und Kn = 1, 5
Für die Modellierung der Abnahmerate der Nährstoffe durch den Verzehr durch die
Bakterien gehen wir davon aus, dass α Einheiten des Nährstoffs gebraucht werden, um
einen Zuwachs der Bakterienpopulation um eine Einheit zu erzielen. Wenn sich also die
70
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Bakterien mit einer Rate k(C)N reproduzieren, so wird die Abnahmerate der Nährstoffe
infolge des Verzehrs durch die Bakterien gegeben sein durch
−α k(C) N.
Setzen wir nun für die Funktion k den Ausdruck (3.25) in (3.23) und (3.24) ein, so
erhalten wir folgendes Modell für das Bakterienwachstum und dem Nährstoffverzehr:
C
F
dN
= Kmax
N− N
dt
Kn + C
V
(3.26)
dC
C
F C F C0
= −αKmax
N−
+
(3.27)
dt
Kn + C
V
V
Dieses ist ein System von nichtlinearen Differentialgleichungen, da es nichtlineare Terme
wie C · N enthält. Dieses System enthält sechs Parameter: F, C0 , V, α, Kmax und Kn . Die
ersten drei Parameter können wir im Experiment einstellen, während die letzten drei von
dem Bakterien- und Nährstofftyp, der verwendet wird, abhängen. Es ist von Interesse,
zu verstehen in welcher Weise sich eine Änderung des Parametersatzes auf die Bakteriendichte und Nährstoffkonzentration auswirkt. Zum Beispiel könnte eine erhöhte Nährstoffkonzentration C0 für eine gefräßigere“ Bakteriensorte das ganze System unverändert
”
lassen, so dass also das System als ganzes weniger als 6 Freiheitsgrade hat. Um diese Idee
präziser darzustellen, werden wir als nächstes eine Dimensionsanalyse unseres Systems
durchführen.
Dimensionsanalyse der Gleichungen
Wie wir wissen, können die Größen, die in einem Experiment gemessen werden, in verschiedenen Maßeinheiten gemessen werden. Z.B. kann man eine Bakteriendichte von N = 105
Zellen pro Liter auch ausdrücken als:
N = 105 Zellen / Liter
= 1 (Einheit von 105 Zellen)/Liter
= 100 Zellen/Milliliter
b
= N ∗N
Im letzten Schritt haben wir die zu messende Größe in zwei Teile geteilt: eine Zahl N ∗ ,
b , welche die Maßeinheit enthält, und die phywelche dimensionslos ist, und eine Größe N
sikalische Dimension beinhaltet. Die Werte 105 , 1, 100, N ∗ aus dem obigen Beispiel beschreiben alle denselben Messwert, aber auf verschiedenen Mess-Skalen.
Seien nun im Beispiel des Chemostaten die Größen folgendermaßen gegeben:
b
N = N ∗N
b
C = C ∗C
t = t∗ τ.
Um zu sehen, welchen Vorteil diese Schreibweise bringt, setzen wir in den Gleichungen
b , C ∗ C,
b und t∗ τ ein und nutzen die
(3.26) und (3.27) anstatt N, C, t die Ausdrücke N ∗ N
3.5. SYSTEME VON NICHTLINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
71
b , C,
b τ zeitunabhängige Größen sind. Wir erhalten
Tatsache, dass N
b)
b Kmax
d(N ∗ N
C ∗C
b
b − F N ∗N
=
N ∗N
∗
b
d(t τ )
V
Kn + C ∗ C
b
b Kmax
b F C0
d(C ∗ C)
C ∗C
F C ∗C
∗ b
=
−α
−
N
−
N
b
d(t∗ τ )
V
V
Kn + C ∗ C
b,
Wir multiplizieren beide Gleichungen mit τ und dividieren die erste Gleichung durch N
b
die zweite durch C.
dN ∗
C∗
τF ∗
∗
N
=
τ
K
N
−
max Kn
∗
∗
dt
V
b +C
C
∗
dC
dt∗
=
b
−α τ Kmax N
·
b
C
C∗
τ F ∗ τ F C0
N∗ −
C −
Kn
∗
b
V
VC
b +C
C
An dieser Stelle können wir nun die Mess-Skalen so wählen, dass unser System von Differentialgleichungen einfacher aussieht. Wenn wir z.B.
τ=
V
,
F
b = Kn ,
C
b=
N
Kn
α τ Kmax
festlegen, so hat unser System folgende Form
dN
dt
dC
dt
C
N −N
1+C
C
= −
N − C + α2 ,
1+C
= α1
(3.28)
wobei wir aus Notationsgründen die Sternchen nun weggelassen haben. Die Gleichungen
enthalten jetzt nur noch zwei dimensionslose Parameter α1 und α2 (anstatt der anfänglichen 6). Diese sind gegeben durch
V Kmax
F
τ F C0
C0
=
=
.
b
Kn
VC
α1 = τ Kmax =
α2
(3.29)
Daraus folgt, dass es nur zwei Parameter gibt, welche den Chemostaten beinflussen, wir
sagen also: unser Modell für den Chemostaten hat zwei Freiheitsgrade.
Gleichgewichtslösungen
Da das Modell (3.28) nichtlinear ist, gibt es wenig Hoffnung die allgemeine Lösung explizit berechnen zu können. Man kann aber spezielle Lösungen suchen. Zum Beispiel ist
man beim Chemostaten daran interessiert eine Bakterienkultur zu erzeugen, welche stets
dieselbe Dichte aufweist. In mathematischen Termini bedeutet dies, dass man nach konstanten oder Gleichgewichtslösungen sucht.
72
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Eine Gleichgewichtslösung ist eine Lösung, die sich im Laufe der Zeit nicht ändert
(obwohl in dem System Prozesse wie Einfluss von Nährlösung, Abfluss von Bakterien oder
Verzehr der Nährstoffe durch die Bakterien stattfinden). Da Gleichgewichtslösungen nicht
von der Zeit abhängen, erfüllen Sie die Bedingungen:
dN
dt
dC
dt
= 0
(3.30)
= 0
(3.31)
Daher reduzieren sich die Gleichungen (3.28) zu:
C̄
α1
N̄ − N̄ = 0
1 + C̄
C̄
N̄ − C̄ + α2 = 0
−
1 + C̄
(3.32)
(3.33)
Diese zwei Gleichungen können wir nun lösen. (Achtung, dieses ist ein System von nichtlinearen Gleichungen!) Aus der ersten Gleichung folgt, dass
entweder N̄ = 0
C̄
1
oder
=
;
α1
1 + C̄
(3.34)
d.h. C =
1
α1 − 1
(3.35)
Falls N = 0, so folgt aus der zweiten Gleichung, dass C = α2 .
Falls N =
6 0, so folgt aus der zweiten Gleichung, dass
N̄ =
1 + C̄
1
(α2 − C̄) = α1 (α2 − C̄) = α1 (α2 −
)
α1 − 1
C̄
Die zwei möglichen Gleichgewichtslösungen sind also:
1
1
(N̄1 , C̄1 ) =
α1 α2 −
,
α1 − 1
α1 − 1
(N̄2 , C̄2 ) = (0, α2 )
(3.36)
(3.37)
(3.38)
Die zweite Lösung (N̄2 , C̄2 ) beschreibt eine Situation, welche für die Experimentatoren
nicht interessant ist: die Bakterien sind ausgestorben und die Nährstoffkonzentration ist
C0
gleich der Konzentration α2 = K
, welche durch den Einfluss zugeführt wird. (Beachte,
n
dass C jetzt in der Skala Ĉ = Kn gemessen wird.)
Die erste Gleichgewichtslösung (N̄1 , C̄1 ) ist interessanter, aber sie existiert nicht immer
aus biologischer Sicht. Falls z.B. α1 < 1, erhalten wir negative Werte für die Nährstoffkonzentration. Ein biologisch sinnvolles Gleichgewicht existiert also nur dann, wenn
α1 > 1 und α2 >
1
α1 − 1
(3.39)
3.5. SYSTEME VON NICHTLINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
73
Abbildung 3.11: Der zeitliche Verlauf der Bakteriendichte und der Nährstoffkonzentration
in dem Chemostat
Was bedeuten nun die Restriktionen (3.39) aus biologischer Sicht? Es gilt:
α1 > 1 ⇐⇒ Kmax >
F
V
1
Da beide Seiten der Ungleichung die Dimension Zeit
haben, ist es sinnvoller zu schreiben
1
Kmax
<
V
F
(3.40)
Kmax ist die maximale Ratenkonstante für die Reproduktionsrate der Bakterien. Daher
1
ist Kmax
ln2 die Zeit, die die Bakterienpopulation braucht, um sich zu verdoppeln (in der
Situation eines Überschusses an Nährstoff). VF ist die Zeit, die benötigt wird, um die
Wachstumskammer einmal zu leeren. Bedingung (3.40) sagt uns also, dass die Verdopplungszeit der Baktereriendichte kleiner sein muss als die Zeit die man braucht, um die
Wachstumskammer einmal zu leeren, damit die Bakterien nicht ausgewaschen werden,
bevor sie sich vermehren können.
Untersuchen wir die Bedingung α2 > α11−1 , so führt diese auf die Beziehung
C̄ <
C0
.
Kn
Diese spiegelt einen einleuchtenden Sachverhalt wider, und zwar, dass die Nährstoffkonzentration in der Wachstumskammer nicht höher sein kann, als die Nährstoffkonzentration
C0 /Kn (bezüglich der Skala Kn ) beim Einfluss.
74
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Für das System (3.28) mit α1 = 2 und α2 = 4 und Anfangsbedingungen N (0) =
C(0) = 1 ist der zeitliche Verlauf der Bakteriendichte und der Nährstoffkonzentration in
Abb. 3.11 dargestellt. In diesem Fall ist die Gleichgewichtslösung (N̄1 , C̄1 ) = (6, 1). Die
Abbildung zeigt, dass sich das System in den Gleichgewichtszustand einspielt.
3.5.1
Herleitung der Michaelis-Menten-Kinetik
Um die Abhängigkeit der Reproduktionsrate der Bakterien von der Nährstoffkonzentration zu verstehen, müssen wir den Prozess der Nahrungsaufnahme auf molekularer Ebene
betrachten.
Organische Substanzen, wie z.B. Glukose, können die hydrophobe Umgebung der Zellmembran nicht direkt durchdringen und müssen mithilfe von Rezeptoren, die in der Zellmembran eingebettet sind, durch die Membran transportiert werden. Diese Rezeptoren
verbinden sich mit den Molekülen des Nährstoffs zu einem losen Komplex, transportieren die Nährstoffmoleküle durch die Membran und geben sie im Innern der Zelle wieder
frei. Danach ist der Rezeptor wieder frei und kann ein neues Nährstoffmolekül transportieren. Sättigungseffekte treten wegen der beschränkten Anzahl der Rezeptoren und der
gebundener Rezeptor
freier
Rezeptor
Abbildung 3.12: Transport von Nährstoffen in eine Bakterienzelle mittels Rezeptoren.
beschränkten Geschwindigkeit, mit der sie Nährstoffmoleküle transportieren, auf.
Wir wollen nun die oben beschriebenen Prozesse in Form von chemischen Gleichungen
aufschreiben. Seien dazu
C
P
X0
X1
Nahrungsmittelmolekül außerhalb der Zelle
aufgenommenes Nahrungsmittelmolekül
freier Rezeptor
gebundener (besetzter) Rezeptor
Dann gilt folgende Reaktionsschema
k2
k1
C + X0 X1 → P + X0
k−1
3.5. SYSTEME VON NICHTLINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
75
Ein solches Schema kann in ein System von gewöhnlichen Differentialgleichungen übertragen werden, wenn wir z.B. die Annahme machen, dass die Reaktionsraten im Falle
zweier Reaktanten proportional sind zu dem Produkt der Konzentrationen der beiden
Reaktanten. Dabei sind k1 , k−1 , k2 die Ratenkonstanten.
Seien also c, x0 , x1 , p die Konzentrationen von C, X0 , X1 , P. Dann gilt
dc
= −k1 cx0 + k−1 x1
(3.41)
dt
dx0
= −k1 cx0 + k−1 x1 + k2 x1
dt
dx1
= k1 cx0 − k−1 x1 − k2 x1
dt
dp
= k2 x 1
dt
Bemerkung 10 Das System (3.41) erhält man auch bei der Beschreibung von enzymgesteuerten Reaktionen. Diese sind Reaktionen, bei denen ein Enzym an ein Substrat bindet
und einen Komplex bildet. Durch die Aktivität des Enzyms wird das Substrat in das Produkt P umgesetzt, und das Enzym wird wieder frei. Die Bedeutung der vier Größen c, x0 , x1
und p sind in dem Fall:
c
p
x0
x1
Konzentration
Konzentration
Konzentration
Konzentration
des
des
der
der
Substrats
Produktes
freien Enzyme
gebundenen Enzyme
(3.41) ist ein System von vier nichtlinearen Differentialgleichungen und daher sehr schwer
zu untersuchen. Allerdings kann dieses System folgendermaßen reduziert werden: Wenn
wir die Gleichungen für x0 und x1 addieren, so erhalten wir
dx0 dx1
+
= 0.
dt
dt
Dies bedeutet, dass die Summe aus freien und gebundenen Rezeptoren zeitlich konstant
ist. Dieses ist auch biologisch richtig, denn Rezeptoren werden während des Prozesses
weder erzeugt noch verbraucht. Falls wir also mit einer Anfangskonzentration r starten,
dann gilt während des gesamten Prozesses
x0 (t) + x1 (t) = r.
(3.42)
Der Erhaltungssatz (3.42) für die Rezeptoren erlaubt uns in dem System (3.41), die Gleichung für x0 zu eliminieren. Weiterhin können wir erstmal auch die Gleichung für p
beiseite lassen, da p in den Gleichungen für c und x1 nicht vorkommt. Die Gleichung für p
kann unabhängig von den anderen Gleichungen gelöst werden, sobald die Funktion x1 (t)
bekannt ist.
Das System (3.41) reduziert sich also zu
dc
= −k1 c (r − x1 ) + k−1 x1
dt
dx1
= k1 c (r − x1 ) − k−1 x1 − k2 x1
dt
76
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
oder
dc
= −k1 rc + (k−1 + k1 c)x1
dt
dx1
= k1 rc − (k−1 + k2 + k1 c)x1 .
dt
Um das System weiter reduzieren zu können, müssen wir es zuerst in dimensionslose
Form bringen. Dieses erfolgt nach dem gleichen Muster wie bei den Gleichungen für den
Chemostaten. Wenn wir also folgende Skalen festlegen
1
τ =
k1 r
x̂1 = r = Anfangskonzentration der freien Rezeptoren
ĉ = c0 = Anfangskonzentration des Nahrungsmittels
so erhalten wir die Gleichungen für die dimensionslosen Variablen c∗ , x∗1 , t∗ :
dc∗
k−1
∗
∗
= −c +
+ c x∗1
dt∗
k1 c 0
dx∗1
c0 ∗ c0 k−1 + k2
∗
=
c −
+ c x∗1 .
dt∗
r
r
k1 c0
Aus Notationsgründen verzichten wir nun auf die Sternchen. Außerdem bezeichnen wir
mit
k−1 + k2
k2
r
K=
,
λ=
.
ε= ,
c0
k1 c 0
k1 c 0
Die Gleichungen lauten nun
dc
= −c + (K − λ + c)x1
dt
dx1
ε
= c − (K + c)x1 .
dt
In dem Fall, in dem die Rezeptorkonzentration r viel kleiner ist als die Anfangskonzentration der Nährstoffe c0 , gilt
r
1.
ε=
c0
1
Daher kann man den Term ε dx
durch Null approximieren. Folglich wird auf der Zeitskala
dt
1
τ = k1 r der Prozess der Nahrungsaufnahme durch folgendes System beschrieben:
dc
= −c + (K − λ + c)x1
dt
0 = c − (K + c)x1 .
Daraus folgt
x1 =
c
K +c
dc
= −c + (K + c)x1 − λx1
dt
c
c
= −c + x1 − λ
x1
K +c
c
= −λ
K +c
3.5. SYSTEME VON NICHTLINEAREN DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
77
Wenn wir nun zu den dimensionsbehafteten Variablen c = c∗ ĉ, t = t∗ τ übergehen, so erhalten wir für die Änderungsrate der Nährstoffkonzentration die Michaelis-Menten-Kinetik:
c
dc
= −Kmax
,
dt
Kn + c
wobei Kmax =
k−1 +k2
k1
und Kn = k2 r ist.
78
KAPITEL 3. KONTINUIERLICHE PROZESSE
Formelsammlung
Komplexe Zahlen und Trigonometrie
sin2 ϕ + cos2 ϕ = 1
z = |z|(cos ϕ + i sin ϕ) =: |z|eiϕ
z · z 0 = |z · z 0 |(cos(ϕ + ϕ0 ) + i sin(ϕ + ϕ0 ))
Charakteristische Gleichung einer Matrix
det(A − λI) = 0
Allgemeine Form einer reellen Lösung von y 0 = A y
1. reelle Eigenwerte:
y(t) = c1 veλ1 t + c2 v 0 eλ2 t , c1 , c2 ∈ R
2. komplexe Eigenwerte:
y(t) = c1 eat (Re v cos(bt) − Im v sin(bt)) + c2 eat (Im v cos(bt) + Re v sin(bt)), c1 , c2 ∈ R
Spezielle Werte der trigonometrischen Funktionen
0
0◦
sin x
cos x
tan x
cot x
π
6
π
4
◦
30
7π
6
◦
60
2
√2
2
2
3
2
1
√2
1
1
5π
4
π
3
45
√
1
0
√2
3
1
√2
3
0
√3
±∞
3
◦
√
π
2
◦
90
2π
3
120
√
sin x
cos x
tan x
cot x
3π
4
◦
135
√
5π
6
π
150◦ 180◦
3
2
1
1
0
2
2√
2√
2
3
1
0
− 2 − 2 − √2
−1
√
3
3 ±∞ − √ 3 −1 − 3
0
√
√
3
3
0
−3
−1 − 3 ±∞
3
4π
3
3π
2
5π
3
210◦ 225◦ 240◦ 270◦ 300◦
√
◦
√
√
7π
4
315◦
√
11π
6
◦
330
2π
360◦
1
−√12 − √22 − 23 −1 − 23 −√ 22 −
0
√2
3
2
2
3
1
1
−√ 2 − 2
−2
0
1
2
2
2√
√
√
3
3
1
3 ±∞ − √ 3 −1 − 3
0
√
√
√3
3
3
3
1
0
−3
−1 − 3 ±∞
3
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