Physikalische Chemie (Modul PCI)

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Prof. Dr. Thomas Wolff
Physikalische Chemie
"Physikalische Chemie (Modul PCI)"
Sommersemester 2009 - Teil II Kap. 1:
Gase
2
Reale Gase
SUTHERLAND Konstante
JOULE-THOMSON-Effekt
Transportgrößen
Kap. 2:
Flüssigkeiten
8
Zustandsgleichung
Transportgrößen
Viskosität
Flüssige Kristalle
Kap. 3:
Thermodynamik
3. Hauptsatz
maximale Arbeit
Mischphasen
Grenzflächen
12
Kap. 4:
Kinetik
30
Bimolekulare Reaktionen
Monomolekulare Reaktionen
EYRING-Theorie
Zusammengesetzte Reaktionen
Kap. 5:
Elektrochemie
38
Elektrolytlösungen
Gleichgewichte
Primärer Salzeffekt
Überführungszahlen
Elektrodenpotenziale
Elektroden
Galvanische Ketten
Anhang
Kapillarascension
GIBBS-DUHEM-Gleichung
1
52
Kap. 1
Gase
1.1 Reale Gase
Man erinnere sich an Isothermen realer Gase,
die im p-V-Diagramm wie nebenstehend aussehen. Das reale Verhalten wird – außer im
Zwei-Phasen-Gebiet - von der VAN-DERWAALS-Gleichung leidlich gut beschrieben,
welche Abweichungen realer Gase vom Verhalten idealer Gase mit den Konstanten a und
b korrigiert, die attraktive Wechselwirkungen
(Binnendruck) einerseits und Eigenvolumen
der Gasteilchen andererseits berücksichtigen:

RT  2 a
ab
V + V −
V 3 −  b +
=0
p 
p
p

(V3 sorgt für Artefakte der Kurve im Zweiphasengebiet)
(p + a/V2) (V – b) = RT
bzw.
(1-1).
1.1.2 Theorem der übereinstimmenden Zustände
Das Verhältnis
z=
pv
nRT
(1-2)
heißt Realfaktor. Für ideale Gase sollte z = 1 sein. Für reale Gase zeigen sich bei Messungen
allerdings Abweichungen, die in den folgenden Abbildungen illustriert ist.
Bei kleinen Drücken (Abb. links) wird näherungsweise lineares Verhalten beobachtet, so dass
man
z=1+Bp
(1-3a)
schreiben kann. Bei höheren Drücken krümmen sich die Kurven (Abb. rechts). Man muss dann
zur Anpassung von einer Reihenentwicklung, dem sog. Virialansatz, ausgehen:
z = 1 + B p + C p2 + D p3 + ...
(1-3b).
2
B, C, D usw. heißen 2., 3., 4., ... Virialkoeffizient. Sie hängen nicht vom Druck, jedoch von der
Temperatur und von der Art des Gases ab. Meist hat der Koeffizient B, der zur Korrektur bei
kleinen Drücken genügt, einen umso größeren Zahlenwert, je niedriger die Temperatur ist.
Kurven ähnlicher Gestalt erhält man für ein und dasselbe Gas, wenn man die Temperatur variiert. Man hat daraus den Schluss gezogen, dass es auch
für reale Gase eine universelle Zustandsgleichung geben sollte, die man erhält, wenn man Volumen, Druck
und Temperatur in einem geeigneten Bezugssystem
angibt. Ein geeigneter Bezugspunkt ist der kritische
Punkt, den alle realen Gase aufweisen. Die kritische
Isotherme (für Tk) hat dort (bei vk) einen Wendepunkt
mit der Steigung 0, so dass durch diese zwei Bedingungen auch die dritte Zustandsgröße pk festgelegt ist. Mit
den Werten pk, vk, Tk kann man reduzierte Zustandsgrößen definieren, die dann dimensionslos sind:
π = p/ pk ;
ϕ = v/vk;
ϑ = T/Tk, so dass z =
πϕ p k v k πϕ p kVk
=
nRϑ Tk
Rϑ Tk
(1-4).
Am kritischen Punkt sind die erste und die zweite Ableitung der VAN-DER-WAALS-Gleichung
Null (vgl. Teil I). Setzt man die Ableitungen gleich und die kritischen Werte ein, so erhält man
a =3 p kVk2 ;
b = vk / 3
bzw. für die kritischen Größen
a
8a
p kVk 3
pk =
;
Tk =
;
= .
2
27b
27bR
RTk 8
(1-5),
d.h. pkVk/(RTk) = 3/8 = 0,375 sollte eine universelle Konstante sein. In der Realität findet man
für Ne, Kr, H2, N2, O2 pkVk/(RTk) = 0,3 + 0,014. Bei größeren und stärker wechselwirkenden
Molekülen sinkt der Wert noch weiter ab.
Analoge Überlegungen, die vom Siedepunkt TS oder vom Gefriepunkt TG als Bezugspunkt
ausgehen, haben gezeigt, dass für viele Substantzen TS ≈ 0,64 Tk und TG ≈ 0,44 Tk. Eine Konsequenz ist die aus Teil I bekannte PICTET-TROUTON-Regel: ∆Hfl-g/TS ≈ 88 J/(mol K).
Mit den reduzierten Größen nimmt die VAN-DER-WAALS-Gleichung eine universelle Form an:
π=
8ϑ
3
− 2
3ϕ − 1 ϕ
und
z=
pV πϕ p kVk 3 πϕ
3ϕ
9
=
=
=
−
RT
ϑ RTk 8 ϑ 3ϕ − 1 8ϑϕ
(1-6).
Experimentell zeigt sich, dass (1-6) den Zusammenhang zwischen p, V und T besser beschreibt
als (1-1).
Alternativ kann man bei nicht zu hohen Drücken die Zustandsgleichung (1-2) in eine Virialform überführen, d.h. eine Reihenentwicklung durchführen
3
z=
pV
V
a
1
=
−
=
RT V − b VRT 1 − b
−
V
a
VRT


b b
a
B C
D
= 1 + +
+ ...  −
=1+ + 2 + 3
V V
V
 V V
 VRT
2
(1-7)
[mit p = RT/(V-b) – a/V2], wobei vorausgesetzt wurde, dass b << V ist. Die Koeffizienten sind
dann
B = b – a/(RT); C = b2; D = b3; usw.
(1-8).
Neben der VAN-DER-WAALS-Gleichung gibt es zahlreiche andere Gleichungen, die das Verhalten realer Gase genauer beschreiben sollen. Diese sind meist mathematisch unhandlicher, weil
sie entweder eine kompliziertere Form oder mehr Parameter haben. Ein relativ einfaches Beispiel ist die Zustandsgleichung von DITERICI:

RT
a 

p=
exp −
V −b
V
RT


(1-9).
Durch Bilden der ersten und zweiten Ableitung von (1-9) und Gleichsetzen der beiden erhält
man hier von (1-5) verschiedene Ausdrücke für die kritischen Größen, die genauere Zahlenwerte liefern. Man beachte, dass a hier eine andere Dimension hat als in (1-1).
1.1.3 SUTHERLAND-Konstante
In den Ausdrücken für die Stoßfrequenzen (Teil I, 2-46 bis 2-49) und die mittlere freie Weglänge wird ein Stoßdurchmesser d gebraucht (dAA, dAB). Dieser berücksichtigt zwar das Eigenvolumen der Teilchen A und B, nicht jedoch Wechselwirkungen zwischen beiden. Diese macht
sich durch eine Temperaturabhängigkeit des Stoßdurchmessers d bemerkbar und lässt sich
nach Sutherland entsprechend empirisch berücksichtigen:
 C 
d 2 = d ∞2 1 + S  ,
T 

(1-10),
wobei CS als SUTHERLAND-Konstante bezeichnet wird. Diese ist eine stoffspezifische Größe.
Werte für CS betragen 111 K für Stickstoff, 127 K für Sauerstoff, 72 K für Wasserstoff, 240 K
für Kohlendioxid, 370 K für Ammoniak und 416 K für Schwefeldioxid.
1.1.4 JOULE-THOMSON-Effekt
Im Teil I wurde für reale Gase mit der Gleichung (2-5) ein Binnendruck π definiert, der sich
nach VAN-DER-WAALS zu π = a/V2 ergibt und ein Maß für die Anziehungskräfte (Kohäsionskräfte) ist. In der Regel ist sowohl π als auch (∂v / ∂T ) p = αv positiv (und cp ist dann größer als
 ∂u 
cv). Für ideale Gase ist allerdings π =   = 0 , d.h. u hängt nur von T ab. Dies folgt aus der
 ∂v T
kinetischen Gastheorie und dem JOULE-Experiment (auch 2. GAY-LUSSAC-Versuch genannt):
4
Bei der adiabatischen Expansion eines idealen Gases ins Vakuum1 findet man dT = 0 . Hierbei
ist dv > 0, dq = 0 und π = 0, so dass du = 0 = cvdT + pdv, also π = 0. Bei realen Gasen findet
man jedoch dT ≠ 0, wie das JOULE-THOMSON-Experiment zeigt.
Hierbei wird ein Gas von links nach rechts (s. Skizze) unter adiabatischen Bedingungen durch
eine poröse Membran gedrückt. Dabei wird dem Gas eine Nettoarbeit a = p1v1 – p2v 2 zugeführt, während dq = 0. Entsprechend ist ∆u = u2 – u1 = a und u2 + p2v2 = u1 + p1v1, so dass der
Prozess isenthalpisch ist: h2 = h1. Als Maß für den beobachteten Temperatureffekt (JOULETHOMSON-Effekt) definiert man einen JOULE-THOMSON-Koeffizienten µ
 ∂T 
1   ∂v 

v
µ =   = T   − v  = (αT − 1)
 ∂p  h c p   ∂T  p
 cp
(1-11)
Herleitung mit Hilfe DER MAXWELL-Relationen dh = Tds + vdp und
dg = –sdT + vdp (siehe Kapitel 3.2):
dh =0 = c p dT +  ∂h  dp
 ∂p  T
 ∂T 
1

 = −  ∂h 
c p  ∂p  T
 ∂p  h
 ∂h  = T  ∂s  + v = T  − ∂v  + v
 ∂p 
 ∂p  T
 ∂T  p
 T
(1-12).
Entsprechend ist µ > 0, wenn dT < 0 für dp < 0. Als Konsequenz kühlt sich das reale Gas beim
Entspannen ab, was bei Raumtemperatur für fast alle Gase gilt (nicht z.B. für H2 und He) und
zur Verflüssigung von Luft, N2, O2 und vielen anderen Gasen ausgenutzt wird (Gegenstromprinzip, LINDE-Verfahren: Abwechselnd adiabatisch ausdehnen und isotherm komprimieren).
Bei einer für das betreffende Gas spezifischen Inversionstemperatur TI ändert sich das Vorzeichen von µ, d.h. bei höheren Temperaturen erwärmt sich das Gas beim Entspannen. Zur Erklärung des Vorzeichenwechsels müssen zwei Effekte mit gegenläufiger Wirkung herangezogen
werden: Einmal kostet die Erhöhung des mittleren Abstands der Gasteilchen beim Entspannen
Arbeit (gegen die Anziehungskräfte), das Gas kühlt sich dadurch ab. Andererseits wird bei
Zusammenstößen von Gasmolekülen kinetische Energie zeitweise in potentielle Energie umgewandelt. Die Zusammenstöße werden mit größer werdendem mittleren Abstand unwahrscheinlicher, es liegt jetzt ein größerer Anteil von der Gesamtenergie als kinetische Energie
vor, d.h. das Gas erwärmt sich (vgl. Teil I, Kap. 2.3.1). Der zweite Einfluss überwiegt oberhalb
der Inversionstemperatur TI, die mit Hilfe der VAN-DER-WAALS-Konstanten a und b (für nicht
zu hohe Drücke) abzuschätzen ist (vgl. Lehrbücher):
1
Achtung: Bei der adiabatischen Expansion gegen einen Außendruck – wie beim Carnot-Prozess – ist dT ≠ 0
5
TI = 2a/Rb
(1-13).
Beispiele: He: TI = 35 K; H2: TI = 224 K; N2: TI = 886 K; O2: TI = 1041 K; CO: TI = 908 K. Zur
Verflüssigung von Helium oder Wasserstoff muss also vorgekühlt werden (permanente Gase).
1.1.5 Transportgrößen
In einem inhomogenen System haben die intensiven Zustandsgrößen Dichte ρ, Druck p und
Temperatur T auch in Abwesenheit von Potenzialfeldern ortsabhängige Zahlenwerte. Dies
führt zu Ausgleichsprozessen, mittels welcher das System versucht, durch Transport von extensiven Größen den stabilen homogenen Zustand zu erreichen. Als Diffusion bezeichnet man
den Transport von Teilchen (Masse), der durch Gradienten von ρ ausgelöst wird. T-Gradienten
bewirken Wärmeleitung (Energietransport) und Gradienten des Drucks erzeugen eine Strömung, d.h. einen Impulstransport. Quantitativ wird der Transport stets durch einen Netto-Fluss
ausgedrückt. Dieser ist um so größer je größer die Transportgeschwindigkeit und der auszugleichende Unterschied der intensiven Zustandsgrößen ist.
Bei Gasen lässt sich der Transport in einfacher Weise auf Moleküleigenschaften zurückzuführen: Zwischen je zwei Zusammenstößen, im Mittel also auf einer Strecke von der Größe der
mittleren freien Weglänge λ (vgl. 2-49 im Teil I)
λ = wA / Z A = ( 2πd A2 N vA ) −1
(1-14),
bewegen sich alle Moleküle mit
der gleichen mittleren Geschwin-
z
Nv-
Nv+
Nv0
digkeit w = 8kT parallel zu den
πm
λ
λ
x
Koordinatenachsen x, y und z. Die
Teilchenzahldichten Nv+ und Nvlassen sich dann durch die Teilchenzahldichte Nv0 und den Gradienten der Teilchenzahl-dichte
ausdrücken
y
N v− = N v0 − λ
dN v
;
dx
N v+ = N v0 + λ
dN v
dx
(1-15).
Die eine Hälfte der Moleküle bewegt sich jeweils in +-Richtung und die andere Hälfte in
–-Richtung, also 1/6 der Moleküle in die +x-Richtung. Daher ist der Diffusionsstrom
1
dN v
dN
jD = 1 w( N v − − N v + ) = − wλ
= −D v ,
6
3
dx
dx
wobei D als Diffusionskoeffizient bezeichnet wird.
6
(1-16),
Ganz analog ist die Wärmeleitung zu beschreiben, indem man anstelle der Teilchendichte die
Energiedichte N v ⋅ ε der Moleküle einsetzt. Die mittlere Energie der Moleküle ε = Cv ' T ist mit
der Temperatur durch die spezifische Wärme pro Molekül Cv’ verknüpft (2-27 im Teil I). Damit wird der Wärmestrom
1
dT
dT
jW = − wλN v Cv'
= −κ
.
3
dx
dx
(1-17)
κ heißt Wärmeleitfähigkeitskoeffizient und kann z.B. zur Klassifizierung von Isolierglasfensterscheiben genutzt werden.
Etwas mehr gedanklichen Aufwand erfordert der Impulstransport. Wir müssen uns eine Gasströmung in –z-Richtung in einem zylindrischen Gefäß vorstellen, das bei Nv+ und Nv- Wände
hat. Die Strömung habe an der Stelle x = 0 eine Geschwindigkeit wz. Wegen der Haftung an der
Gefäßwand (wz = 0) existiert jedoch ein Gradient der Geschwindigkeit wz (bzw. des Impulses
mwz) in x-Richtung Das Produkt Nv m wz beschreibt daher eine von x abhängende Impulsdichte, die sich durch Stöße in x-Richtung auszugleichen sucht. Es kommt daher zu einem Impulstransport der Größe
jP = − 1 3 wλN v m
dw z
dw
= −η z
dx
dx
(1-18)
η ist der Viskositätskoeffizient, oft einfach Viskosität genannt.
Genauere Beziehungen erhält man, wenn die Verteilung von Richtung und Größe der
Molekülgeschwindigkeiten berücksichtigt wird. Damit werden (mit d = Moleküldurchmesser)
2
3 RT kT
3π
T 
−9 m
D=
wλ =
=
2
,
663
⋅
10
 
2
16
8 πM pd
s K
κ=
3
25π
25π
ρCv 25 RT Cv
wλN vCv' =
wλ
=
64
64
M
32 πM Ld 2
J
C
 T  g/mol  
 nm 
= 6,637 ⋅ 10 − 2
 
  -1 v


msK  K  M   K kJ/mol  d 
η=
2
 g/mol   bar  nm 



 (1-19),
 M   p  d 
5π
5
wλN v m =
32
16
(1-20),
2
2
MRT 1
kg  T  M   nm 
= 2,669 ⋅ 10 −8

 
 (1-21).
2
π Ld
ms  K  g/mol   d 
Die Transportkoeffizienten sind entsprechend miteinander verknüpft:
η
D
=
5
ρ
6
;
κ 5 Cv
=
η 2M
;
κD 3C v
=
η 2 Mρ
(1-22).
Diese Beziehungen sind wie gesagt für Gase entwickelt und gelten streng genommen nur für
harte Kugeln. Bei mehratomigen Molekülen wird die Wärmeleitfähigkeit dadurch vergrößert,
dass auch Rotations- und Schwingungsenergie übertragen werden kann.
7
He
Ar
N2
CO2
Beispiele für Transportkoeffizienten für Gase bei 1 atm und 273,15 K
D (in Luft) / cm2 s-1
κ / mJ cm-1 s-1 K-1
η / mPa s
0,617
1,442
0,0196
0,167
0,163
0,0223
ca. 0,2
0,240
0,0170
ca. 0,1
0,145
0,0136
2. Flüssigkeiten
2.1 Zustandgleichung
a) Die VAN-DER-WAALS-Gleichung (1-1) lässt sich als kubische Gleichung für V schreiben.

RT  2 a
ab
V 3 −  b +
=0
V + V −
p 
p
p

(2-1)
Kubische Gleichungen können eine oder drei reelle Lösungen haben. Deshalb führt (1-1) zu
einer physikalisch nicht interpretierbaren Situation im Zweiphasengebiet zwischen den Punkten A und B in nebenstehendem Diagramm. Man kann
jedoch Geraden, die konstantem Druck (Dampfdruck!)
entsprechen, so legen, dass durch sie gleiche Flächen unterund oberhalb der VAN-DER-WAALS-Isothermen entstehen,
was dem experimentellen Verlauf entspricht. Dadurch
werden Schnittpunkte, z.B. C und D, festgelegt, deren
Verbindungslinie das Koexistenzgebiet von Flüssigkeit und
Dampf im Gleichgewicht definiert (Die Stücke A-B und CD entsprechen ggf. übersättigtem Dampf bzw. überhitzter
Flüssigkeit). Somit gilt die VAN-DER-WAALS-Gleichung auch für Flüssigkeiten, wenn auch
nicht sehr genau. Aus obigem Diagramm ergibt sich jedoch, dass man vom flüssigen Zustand
in den Gaszustand ohne Verdampfung (ohne Phasenübergang) gelangen kann (auf dem Weg
CEFG), also ohne abrupte Äderung einer physikalischen Größe (Kontinuität der Zustände).
b) Im Vergleich zu Gasen sind Flüssigkeiten sehr wenig kompressibel. Für beschränkte Temperatur- und Druckbereiche kann man daher Ausdehnungs- und Kompressibilitätskoeffizienten
(α und χ, vgl. (1-1, 1-2) in Teil I) als konstante Größen ansehen. Dann ergibt sich für die Zustandsgleichung von Flüssigkeiten die einfache (auch für Festkörper geltende) Form
V ( p, T ) = V0 [1 − χ ( p − p 0 )][(1 + α (T − T0 )]
mit χ = −
1  dV 


V  d p T
und
α=
1  dV 


V  dT p
(2-2)
V0(p0,T0) ist ein molares Bezugsvolumen (z. B. unter Standardbedingungen).
c) Besondere Formen der Zustandsgleichung gehen von der Dichte der Flüssigkeit bzw. von
dem freien Volumen aus, das zwischen den (keineswegs dicht gepackten) Molekülen in der
8
Flüssigkeit existiert: Kondensiert man in ein geschlossenes Rohr gerade soviel
Flüssigkeit, wie der kritischen Dichte entspricht, und heizt auf, so verändert sich die Lage
der Grenzfläche nicht, solange die Temperatur unterhalb der kritischen bleibt. Am
kritischen Punkt verschwindet die Grenzfläche. Während des Aufheizens wird, da die
Gesamtdichte gleich bleibt, die Dichte des Gases ρg immer höher und die der Flüssigkeit
ρfl immer kleiner. Es folgt für die mittlere Dichte
1
2
ρ = ( ρ fl + ρ g ) ≈ ρ k
(2-3).
d) Genauer ist die CAILLETET-MATHIAS-Regel
T − Tk = C ( ρ − ρ k )
(2-4),
die eine recht exakte Bestimmung der kritischen Dichte
ermöglicht.
2.2 Transportvorgänge in kondensierter Materie
Transportkoeffizienten haben in Flüssigkeiten und Feststoffen um Größenordnungen andere
Werte als in Gasen. Die Richtung der Temperaturabhängigkeit der Koeffizienten kehrt sich
gegenüber der Gasphase um: Die Prozesse werden mit steigender Temperatur schneller. Die
folgende Tabelle gibt Beispiele für T = 298 K und p = 1 atm.
D / 10-5 cm2 s-1
Glucose in Wasser 0,521
H+ in Wasser
9,31
Na+ in Wasser
1,33
I2 in Hexan
4,05
κ / mJ cm-1 s-1 K-1
Wasser
Eis (273 K)
Cu
Graphit
Sandstein
Glas
Holz
Strohballen
PU-Dämmstoff
6,1
22
3930
1190-1650
23
7,6
0,9-1,9
0,4-0,7
0,24-0,35
2.2.1 Definition der Viskosität von Flüssigkeiten
Man stelle sich eine Flüssigkeit zwischen
zwei parallelen Platten der Fläche F vor,
von denen die eine mit der Kraft K in xRichtung bewegt wird (Scherung der Flüssigkeit). Dadurch erfährt die Flüssigkeit
eine Deformation γ = dx/dy. Die zeitliche
Änderung dieser Deformation bei konstanter Kraft K äußert sich in einem Gefälle
der Geschwindigkeit w = dx/dt für Flüs9
η / mPa s
Wasser
Aceton
Hexan
Hexanol
Hexanon
Benzen (Benzol)
C6F6
Blut
Motorenöl
Glycerol (Glycerin)
Honig
0,89
0,294
0,1944
0,202
57
0,604
0,279
2-5
150-400
1480
~104
sigkeitsschichten im Abstand dy. Dieses Schergefälle (Scherrate, Geschwindigkeitsgefälle)
wird mit γ& = dγ/dt = dw/dy symbolisiert. Die untere, nicht bewegte Platte spürt eine Schubspannung σ, die bei einfachen Newtonschen Flüssigkeiten proportional zum Geschwindigkeitsgefälle γ& = dγ/dt ist:
σ = ηγ&
(2-5).
Der Proportionalitätsfaktor heißt Viskositätskoeffizient oder Viskosität; er wird mit 0 symbolisiert Im allgemeineren und häufigeren Fall der nicht-NEWTONschen Flüssigkeit (Blut, Ketchup, Anstrichfarbe) ist die Geschwindigkeit der Flüssigkeitsschichten nicht proportional zur
Kraft K und der Viskositätskoeffizient wird abhängig von der Scherrate:
σ = η (γ& ) γ&
(2-6).
Messung der Viskosität:
Die Viskosität Newtonscher Flüssigkeiten ist in Kapillarviskosimetern oder Kugelfallviskosimetern leicht zu bestimmen. Wegen des nicht-linearen Geschwindigkeitsgefälles in solchen Geräten können nicht-Newtonsche Flüssigkeiten damit nicht charakterisiert werden. Man versucht deshalb, weitgehend entsprechend der obigen Definition zu messen. Die zwei Platten werden dabei zu konzentrischen Zylindern, deren innerer einen nur
wenig kleineren Außendurchmesser im Vergleich zum Innendurchmesser des äußeren Zylinders hat. Der dadurch entstehende Spalt entspricht jetzt dem Plattenabstand dy. Bei solchen Rotationsviskosimetern wird der äußere Zylinder mit einer Drehfrequenz ω, die die Scherrate γ& vorgibt, rotiert. Auf die Oberfläche des inneren Zylinders wird
durch die Flüssigkeit im Spalt ein Drehmoment M übertragen, das der
Schubspannung σ entspricht, wenn es auf die Zylinderoberfläche bezogen wird. Jetzt kann σ
bei vorgegebenen Scherraten γ& gemessen werden2, wobei γ& durch Anpassen der Drehfrequenz variiert wird. Im Ergebnis entstehen Fließkurven σ = f( γ& ), die im Newtonschen Fall
linear ansteigen, ansonsten positiv (dilatant) oder negativ (strukturviskos) von der Linearität
abweichen.
Bestimmte Messprogramme lassen Rückschlüsse auf die Struktur der Flüssigkeiten zu:
Zyklische Fließkurven (links) geben Aufschluss über zeitliche Veränderungen unter Scherung,
zeigen z-B. Thixotropie (Scherverflüssigung) oder Rheopexie (Scherverdickung) an. Unten
links sind zwei Beispiele für thixotropes Verhalten (z.B. Ketch-up) gezeigt:
2
Sog. „Cuette-System“. Kostengünstigere Geräte rotieren den inneren Zylinder („Searl-System“), wobei gleichzeitig die Schubspannung gemessen wird
10
Die aktuelle Viskosität ist jeweils die momentane Steigung der Kurven, die Anfangssteigung
entspricht der Ruheviskosität der Flüssigkeit. Das rechte Bild ist das Ergebnis des Spann- oder
Relaxationsversuchs, bei dem nach einer gewissen Zeit konstanter Scherung tspann die Rotation
plötzlich angehalten wird. Nach dem Ende der Scherung würde σ bei einer Newtonschen Flüssigkeit sofort verschwinden, bei nicht-Newtonschen Flüssigkeiten erhält man exponentielle
Abklingkurven, deren Zeitkonstanten u.a. die Länge von Aggregaten in der Lösung zu ermitteln ermöglicht.
2.2.2 Diffusion in Flüssigkeiten
Die regellose BROWNsche Bewegung eines Teilchens in
Lösung lässt sich unter einem Mikroskop (ggf. Fluoreszenzmikroskop) beobachten und durch eine mittlere Verschiebung ∆x während der Zeit τ charakterisieren, die in
isotropen Systemen (Systemen ohne Vorzugsrichtung) in
allen Richtungen gleich ist. Besteht jedoch ein Gradient der
Teilchenzahldichte Nv2 > Nv1 in benachbarten Volumenelementen
−
dN v N v 2 − N v 1
=
dx
∆x
(2-8),
dann bewegen sich mehr Teilchen von links nach rechts, und zwar jeweils nur die Hälfte der
Teilchen eines Volumenelements in die vorgegebene Richtung. Die Differenz
2
1
∆xF
∆x F dN v
∆N = ( N v 2 ∆xF − N v1 ∆xF ) =
( N v 2 − N v1 ) = −
2
2
2
dx
(2-9)
sorgt daher für einen Diffusionsstrom in x-Richtung.
2
dN v
1 dN v 1 ∆ N
∆ x dN v
jx =
=
=−
= −D
F dt
F τ
2τ dx
dx
(2-10)
(1. FICKsches Gesetz). Der Diffusionskoeffizient lässt sich demnach experimentell aus dem
sog. mittleren Verschiebungsquadrat ermitteln
2
∆x
kT
D=
=
2τ
3πdη L
(2-11)
11
(vgl. (6-6) im Teil I) und eröffnet eine Möglichkeit, (effektive) Teilchendurchmesser d zu
bestimmen, z.B. von Kolloidteilchen, oder es lässt sich umgekehrt bei bekanntem D die
BOLTZMANNkonstante k bestimmen und damit auch die LOSCHMIDT-Zahl L = R/k = NA.
2.3 Flüssige Kristalle
Bestimmte Substanzen bilden oberhalb vom Schmelzpunkt zunächst trübe Flüssigkeiten aus,
die erst bei deutlich höheren Temperaturen klar werden (Klärpunkt). Die trüben Flüssigkeiten
sind Flüssigkristalle, in welchen die Moleküle eine gewisse Ordnung ausweisen. Es sind zumeist Moleküle mit einem stäbchenförmigen, starren Mittelteil (z. B. Biphenyle), die an einem
oder beiden Enden flexible Gruppen tragen (z.B. aliphatische Ketten). Aus der festen Phase
kommend gelangt man bei steigender Temperatur zunächst zu vergleichsweise hochgeordneten
smektischenPhasen, die Schichten parallel angeordneter solcher Moleküle enthalten. Cholesterische Phasen entstehen aus Schichten, die Moleküle mit einer Vorzugsrichtung aufweisen,
wobei sich diese Vorzugsrichtung mit jeder Schicht um einen bestimmten Winkel verschiebt.
Nach einer von diesen Winkel abhängigen Zahl von Schichten liegt wieder die Vorzugsrichtung der untersten Schicht vor (Ganghöhe). Die geringste Ordnung liegt bei nematischen Phasen vor, in denen die länglichen Moleküle zwar eine Vorzugsrichtung aber keine Ordnung
senkrecht zu dieser Vorzugsrichtung zeigen. Man kann sich vorstellen, dass in solchen Systemen verschiedene Viskositäten in den drei Raumrichtungen auftreten, die nur mit speziellen
Messgeräten gemessen werden können, aber für bestimmte Anwendungen bekannt sein sollten.
smektisch
cholesterisch
nematisch
(Abb. aus Wikipedia)
Wenn die Moleküle eine gewisse Polarität oder Polarisierbarkeit aufweisen, lassen sich die
flüssigen Kristalle im elektrischen Feld ausrichten. So wird bei angelegtem Feld aus einem
cholesterischen ein nematischer Flüssigkristall (SCHADT-HELFRICH-Effekt), der dadurch für
(linear polarisiertes) Licht durchlässig wird – dieser Effekt ist die Basis für moderne, preiswerte Anzeigegeräte aller Art (Displays).
3. Thermodynamik
3.1 Entropie in der Nähe des absoluten Nullpunkts (3. Hauptsatz)
Man erinnere sich an die Definition der Entropie ds = dqrev/T (mit Hilfe des Carnot-Prozesses
im Teil I), wobei dqrev in praktischen Fällen der Wärmekapazität cp oder cv des untersuchten
Stoffes entspricht.
NERNST fand Anfang des 20. Jahrhunderts, dass die Differenzen der molaren Wärmekapaziäten
(Cp oder Cv) zwischen Edukten und Produkten einer Reaktion mit fallender Temperatur immer
12
kleiner wurden. Entsprechend geringer wurden die zugehörigen Reaktionsentropien ∆RS. Er
folgerte daraus (insbesondere für die Reaktionen reiner kristalliner Festkörper), dass
lim ∆S = 0
(3-1),
T →0
dass also die Reaktionsentropie bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt gegen Null strebt.
Diese Folgerung ist als NERNSTsches Wärmetheorem bekannt. PLANCK formulierte dann noch
schärfer
lim S = 0
(3-2),
T →0
also dass die Entropie selbst beim absoluten Nullpunkt (für ideale Festkörper) verschwindet.
Dies wird als 3. Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnet.3
Dieser Hauptsatz ist problematischer als die ersten beiden. Streng genommen kann die Entropie nur bei ideal kristallisierten Festkörpern verschwinden, bei welchen jedes Atom seinen festen Platz hat. Zahlreiche Stoffe kristallisieren aber nicht ideal (wechselnde Molekülorientierung, Glaszustand) und in der statistischen Thermodynamik verschwindet die Entropie bei kristallisierten Mischelementen wegen unterschiedlicher Anordnungen der Isotope nicht.
Der Hauptsatz ermöglicht jedoch die Ermittlung absoluter Entropien nach
T
T
Cp
C
S (T ) = S (T = 0) + ∫
dT ( bzw. S (T ) = S (T = 0) + ∫ v dT )
(3-3),
T
T
0
0
weil wir mit dem 3. Hauptsatz S(T=0) = 0 setzen können. Dazu sind – wie im Teil I gesagt –
ggf. Phasenumwandlungsentropien und unterschiedliche Werte der Molwärmen (spezifischen
Wärmen) Cp und Cv in den verschiedenen Aggregatzuständen zu berücksichtigen. Da Cp und
Cv auch innerhalb von Phasenbereichen nicht konstant sind, gelten obige Beziehungen entweder nur für einen eingeschränkten Temperaturbereich oder es muss bei der Integration die
Temperaturabhängigkeit der Molwärmen berücksichtigt werden. Bei hinreichend tiefen Temperaturen folgt die Molwärme Cv von perfekten Kristallen (nach einer Theorie von DEBYE)
dem folgenden Grenzgesetz (T3-Gesetz)
3
12 π 4  T 
lim Cv =
⋅  ⋅R.
(3-4).
T →0
5 Θ
Θ heißt charakteristische Temperatur oder Debye-Temperatur und hat z. B. für Silber 225 K,
für Eisen den Wert 462 K, und für Diamant 1800 K. Damit lassen sich innere Energie U, Entropie S und in der Folge die Freie Enthalpie F bei tiefen Temperaturen berechnen:
T
T
U = ∫ C v dT ;
0
3.2
S=∫
0
T
Cv
dT ;
T
F = − ∫ SdT
(3-5)
0
Gleichgewichtsbedingungen und maximale Arbeit
3
Nernst erhielt 1920 den Nobelpreis für Chemie in Anerkennung seiner „Arbeiten in der Thermochemie“; Planck
war bereits 1918/19 für seine Quantentheorie mit dem NP für Physik ausgezeichnet worden.
13
3.2.1 Gleichgewichtskonstanten
Während ein Prozess (oder eine Reaktion) abläuft, vermindert sich die zur Verfügung stehende
Freie Enthalpie ∆G (Triebkraft)
 ∂g 
 ∂g 
dn

∆G =   = ∑ 
⋅ i = ∑ν i µi
dξ
i  ∂ni  p ,T . n
i
 ∂ξ  p ,T
j
(3-6)
ständig, bis der Gleichgewichtszustand erreicht ist (∆G = 0, bekannt aus Teil I). Dann hat die
Freie Enthalpie bezüglich der Umsatzvariablen (Reaktionslaufzahl) ξ einen Minimalwert erreicht. Infolgedessen ist dort (∂g ∂ξ ) p ,T = 0 und daher auch die Freie Enthalpie ∆G = 0. Die
Mengenanteile der Komponenten nehmen dabei feste Gleichgewichtswerte xG,i an. Die entsprechende, in Mengenanteilen geschriebene Gleichgewichtskonstante ist
K x ( p, T ) = ∏ (xG,i ) i
ν
(3-7).
Sie ist dimensionslos und hängt von p und T ab. Nur noch von T hängt hingegen die in Gleichgewichtspartialdrücken geschriebene Gleichgewichtskonstante Kp ab:
νi
νi
∑ν i

 pG,i 
 p 
p 
K p (T ) = ∏  xG, i Θ  = ∏  Θ  =K x  Θ 
(3-8),
p 

 p 
p 
die - wie aus Teil I bekannt - mit ∆G Θ direkt verknüpft ist (vgl. 5-19, Teil I):
∆G Θ = ∑ν i µiΘ (T ) = − RT ln K x − RT ∑ν i ln p Θ
p
i
i
(3-9).
νi

p 
Θ
Θ
= − RT ln ∏  xG,i Θ  = − RT ln K p (T ) = ∆H − T∆S
p 

Entsprechend ist auch die in Gleichgewichtskonzentrationen cG,i = pG, i RT (in der Gasphase)
ausgedrückte Konstante Kc nur von der Temperatur abhängig und kann dimensionslos definiert
werden:
ν
i
 pΘ 
c 

K c (T ) = ∏  G,Θi  = K p  Θ
c 
 c RT 
∑ν i
∑
 p 
= Kx  Θ

 c RT 
νi
(3-10)
Achtung: p⊝ und c⊝ sind hier nicht thermodynamische Standardbedingungen sondern dienen
der Korrektur der Dimensionen (also jeweils 1 · Dimension).
3.2.2 Systeme im Gleichgewicht
Für die Betrachtung nicht isolierter Systeme ist es zweckmäßig, zwischen einem inneren System (Index i) und einem äußeren System (Index a) zu unterscheiden, die zusammen ein Gesamtsystem (ohne Index) bilden.
Ein System ist im Gleichgewicht, wenn keine irreversiblen Prozesse mehr ablaufen. In einem
isolierten System ist du = dq – pdv = 0, ferner dq = 0 und deshalb auch pdv = 0, also i.a. kon14
stantes Volumen. Darüber hinaus ist dq/T = dsa = 0 bezogen auf den Wärmeaustausch mit der
Umgebung. Andererseits ist für einen Prozess, also wenn das System noch nicht im Gleichgewicht ist, ds = dq/T + dsi ≥ 0 und deshalb dsi ≥ 0. Damit wird der erste Hauptsatz zu
du = 0 = Tds – Tdsi – pdv ≤ Tds – pdv,
(3-11)
(für isolierte Systeme) wobei sich das Gleichheitszeichen auf den thermodynamischen Gleichgewichtszustand bezieht.
Im Gleichgewicht laufen keine irreversiblen Prozesse mehr ab, d.h. dsi = 0 und auch ds = 0. Da
dsi generell nur positiv sein kann, bedeutet dies, dass im Gleichgewicht die Entropie s einen
Maximalwert und die innere Energie u ein Minimum hat. Letzteres gilt auch für die Enthalpie
wegen dh = Tds – Tdsi + vdp. Natürlich vorkommende Prozesse im isolierten System werden
also immer von einer Entropie-Erhöhung und einer Energie- bzw. Enthalpie-Erniedrigung begleitet.
Wie oben gezeigt, treten hier u und h als Funktionen von s und v bzw. s und p auf, was für
Anwendungen auf adiabatische Prozesse praktisch ist, weil dann (im Gleichgewicht) ds = 04.
Für isotherme Prozess ist es hingegen zweckmäßiger, die Größen Freie Energie f (HELMHOLTZEnergie) und Freie Enthalpie g zu definieren als
f = u – Ts;
g = h – Ts;
df = Tds – Tdsi – pdv – Tds – sdT = – sdT – pdv – Tdsi
dg = Tds – Tdsi + vdp – Tds –sdT = – sdT + vdp – Tdsi
(3-12)
Damit erhält man Gleichgewichtsbedingungen für isotherme, isochore und isobare Systeme, in
denen die freie Enthalpie g bzw. die freie Energie f ein Minimum annimmt. Sinnvoll ist die
Verwendung von g für Festkörper oder Flüssigkeiten bei isothermen und isobaren Prozessen,
die Verwendung von f für Gase (in geschlossenem Gefäß) bei isothermen und isochoren Prozessen.
3.2.3 Maximale Nutzarbeit
Bei isothermen Prozessen ist df = – pdv – Tdsi = da – Tdsi ≤ da. Im Fall des reversiblen isothermen Prozesses ist dsi = 0 und df = darev. Die Größe ∆f = – arev bezeichnet daher den Maximalwert der Arbeit, die ein System überhaupt abgeben kann (Maximale Nutzarbeit, engl.
„work function“, „maximum work function“).
Diese maximale Nutzarbeit kann größer sein als du, wenn ds positiv ist wie bei chemischen
Reaktionen, die unter Volumenvergrößerung ablaufen. Ein Beispiel ist die Verbrennung von
Isooctan (2,2,4-Trimethylpentan)
C8H18(gas) + 12,5 O2 → 8 CO2 + 9 H2O (gas).
Bei 298 K und 1 bar ist ∆U = –5108 kJ/mol und ∆S = 0,422 kJ/(mol K), so dass ∆F(298 K) =
(–5109 – 298·0,422 = –5235) kJ/mol.
∆F gibt den Maximalwert der zu erhaltenden Nutzarbeit an. Tatsächlich aber ist bei der
Verbrennung von Isooctan in einer Kalorimeterbombe die Nutzarbeit Null (Volumen konstant).
In einem gängigen Verbrennungsmotor erhält man etwa 1000 kJ/mol und in einer Brennstoffzelle ca. 3000 kJ/mol. Der Gesamtbetrag der Erniedrigung der Freien Energie ist jedoch nicht
in praktischer Weise aus der Benzinverbrennung zu erhalten, da hierbei 1. alle Reibungsverlus4
Man mache sich klar, dass z.B. beim Carnot-Kreisprozess die adiabatischen Teilschritte bei konstanter Entropie
ablaufen.)
15
te in Getrieben usw. ausgeschaltet werden müssten und 2. die Verbrennung unendlich langsam
zu erfolgen hätte (reversibler Prozess).
3.2.4 Zusammenhang zwischen thermodynamischen Potenzialen
Für reversible Prozesse gilt (wegen dsi = 0) allgemein
du = Tds – pdv = (∂u/∂s)v ds + (∂u/∂v)s dv
dh = Tds + vdp = (∂h/∂s)v ds + (∂h/∂p)s dp
df = –sdT– pdv = (∂f/∂T)v dT + (∂f/∂v)T dv
dg = –sdT + vdp = (∂g/∂T)p dT + (∂g/∂p)T dp
(3-13)
(3-14)
(3-15)
(3-16)
Diese Beziehungen (vgl. MAXWELLsche Gleichungen) kann man sich entweder jeweils klarmachen oder ihre Aufstellung mit Hilfe eines Merkschemas vornehmen:
+
–
s u v
h
f
p g T
Hierzu ein Merkvers:
schöne und vornehme frauen Tragen große prächtige
hüte
Das Prinzip des Merkschemas ist, dass die Energiegrößen jeweils zwischen den Variablen stehen, von denen sie abhängen, und die dann noch mit den diagonal dazu stehenden Größen zu
multiplizieren sind, z.B. du = + Tds –pdv (wie 3-13).
Alle thermodynamischen Potenziale sind Zustandsfunktionen, so dass die gemischten 2. Ablei ∂T   ∂v 
tungen gleich sind, etwa für h nach (3-14):   =   . Für solche Beziehungen gibt es
 ∂p  s  ∂s  p
zahlreiche Anwendungen, etwa die Beschreibung des JOULE-THOMSON-Effekts bzw. –Koeffizienten (s. oben und Lehrbücher). Entsprechend ergeben sich die in den Ecken des Merkschemas stehenden Größen als partielle Ableitung des jeweils schräg gegenüberstehenden thermodynamischen Potenzials nach der diagonal gegenüberstehenden Größe:
 ∂u 
 ∂h 
 ∂f 
 ∂g 
T =   =   ; s = −   = − 
 ∂s  v  ∂s  p
 ∂T  v
 ∂T  p
vgl. 3-13 bis 3-16.
 ∂h   ∂g 
 ∂u 
 ∂f 
p = −  = −  ; v =   =  
 ∂v  s
 ∂v  T
 ∂p  s  ∂p  T
3.3
Mischphasen
3.3.1 Partielle molare Größen
Die Erfahrung zeigt, dass extensive Zustandsgrößen nicht immer additiv sind. Z.B. machen ca.
20-%-ige Schnäpse immer einen öligen Eindruck. Hier liegt ein Dichtemaximum für Mischungen aus Ethanol und Wasser vor. Deren Mischungen weisen in diesem Zusammensetzungsbereich immer ein Volumen auf, das kleiner ist als die Summe der Einzelvolumina. Es ist daher
zweckmäßig, partielle molare Größen zu definieren, etwa
 ∂v 

Vi = 
(3-17)
 ∂ni  p ,T , n
j
16
Partielle Volumina können sogar negativ (MgSO4 in Wasser) oder Null (Eier im Eierkarton)
sein.
Hält man die Zusammensetzung konstant, so folgt wegen der Extensivität von v aus
dv = ΣVi dni
(3-18),
v = ΣVi ni
(3-19).
dass
Bildet man das Differential, so ergibt sich jedoch dv = ΣVi dni + Σni dVi. Das kann nur richtig
sein, wenn
Σni dVi = 0
(3-20)
(vgl. GIBBS-DUHEM-Gleichung, Anhang 2). Hieraus folgt, dass die partiellen Volumina nicht
alle unabhängig voneinander sind: Im binären System (Zweistoff-System) ist
n1 dV1 = –n2 dV2
(3-21).
Zur experimentellen Bestimmung von Partialvolumina kann allgemein die Definitionsgleichung (3-17) dienen. Für binäre Mischungen existiert eine genauere Methode, die von dem
mittleren Molvolumen
V =
v
= x1V1 + x 2V2 = (1 − x 2 )V1 + x 2V2
n1 + n 2
(3-22)
ausgeht, woraus folgt, dass
 ∂v 
 ∂V 
 = V + (n1 + n 2 )

V1 = 
 ∂n1  n2
 ∂n1  n2
(3-23).
Da
 ∂V  dV

 =
n
∂
 1  dx 2
 ∂x 2 
dV

 =
 ∂n1  n2 dx 2

n2
−
 (n + n ) 2
1
2





erhält man aus (3-23)
dV
V1 = V − x 2
dx 2
das ist die Gleichung einer Geraden.
(3-24),
(3-25),
Bestimmt man also das mittlere Molvolumen als
Funktion von x2, so erhält man die Partialmolvolumina als Achsenabschnitte einer Tangente an die Kurve
(s. Skizze).
3.3.2 Mischungsentropie
Das chemische Potenzial eines reinen (Index 0) idealen Gases ist gegeben durch
17
µ 0i = µiΘ (T ) + RT ln
p
pΘ
(3-26)
(zum ln-Term vergl.Teil I, Gl. (5-12)).
In einer Mischung von idealen Gasen sind die Mengenanteile xi der Komponenten mit dem
Partialdrücken pi und dem Gesamtdruck p durch pi = xi p ((2-5) in Teil I) verknüpft, und das
chemische Potenzial der Komponente i in der Mischung ist
µ i ( p, T , x i ) = µ iΘ (T ) + RT ln
pi
= µ 0i ( p, T ) + RT ln x i
pΘ
(3-27)
Für xi = 1 ergibt sich das chemische Potenzial des reinen Stoffs. Bei sich nicht ideal verhaltenden Gasen führt man die Aktivität ai ein (vgl. Teil I, Kap. 5.2). Sie bezeichnet einen um die
Abweichung von der Idealität korrigierten Stoffmengenanteil: ai = ϕi · xi (ϕi : Aktivitäts- oder
Fugazitätskoeffizient5). Damit wird
µ i = µ 0i + RT ln ai
(3-28)
(Erinnerung: So definiert ist die Aktivität dimensionslos und ohne Trick zu logarithmieren.)
Entfernt man in einem System mit zunächst getrennten Gasen A und B die Trennwand, so tritt
spontane Durchmischung ein, verbunden mit einer Erhöhung der Entropie und einer Erniedrigung der Freien Enthalpie. Es gilt im System mit getrennten Gasen g0 = nA µ 0A + nBµ 0B und
nach der Durchmischung gm = nA µ A + nBµ B. Entsprechend ist die Freie Mischungsenthalpie
∆g m = g m − g 0 = n A ( µ A − µ 0 A ) + n B ( µ B − µ 0 B )
= n A RT ln x A + n B RT ln x B = (n A + n B ) RT ( x A ln x A + x B ln x B )
(3-29)
Wegen 0 ≤ xi ≤ 1 ist ∆gm < 0.
Allgemein lässt sich der Effekt der Mischung von idealen Gasen auf den Zahlenwert der Freien
Enthalpie wie folgt ausdrücken
∆g m = (∑ ni )RT ∑ xi ln xi
(3-30)
Daraus folgt für die Mischungsentropie
 ∂∆g m 
(3-31)
∆sm = −
 = − (∑ ni )R ∑ xi ln xi > 0
 ∂T  p , ni
Für binäre Mischungen (idealer Gase) durchlaufen ∆gm ein Minimum und T∆sm ein Maximum
als Funktion von x, jeweils bei xi = 0,5. ihre Summe ist jeweils = 0. Deshalb verschwindet die
Mischungsenthalpie ∆hm für ideale Mischungen:
∆hm = ∆gm + T∆sm = 0
(3-32),
5
In diesem Text wird unterschieden fi: Aktivitätskoeffizient bei kondensierten Mischungen, ϕi: Fugazitäts- oder
Aktivitätskoeffizient bei Gasen (Dämpfen); γi: Ionenaktivitätskoeffizient; Aktivitäten immer a1.
18
im realen Fall erhält man jedoch
∆gm = (Σni) RT Σxi ln ai = (Σni) RT Σxi ln ϕixi
(3-33).
Die Differenzen zwischen diesen Größen und denen für die idealen Systeme werden als Exzess-(Zusatz-, Überschuss-)Größen bezeichnet; z.B. ist die Freie Exzess-Enthalpie
∆gE = ∆gm – id∆gm = (Σni) RT Σxi ln ϕi
(3-34).
Die Exzess-Enthalpie ist identisch mit der experimentell bestimmbaren Mischungsenthalpie
(Mischungs- bzw. ggf. Lösungswärme)
 ∂∆g E 
∆hE = ∆g E + T∆sE = ∆g E − T 

 ∂T  p , ni
 ∂ ln ϕ i 
= − (∑ ni )RT 2 ∑ xi 

 ∂T  p , ni
(3-35).
= ∆g m + T∆sm = ∆hm
3.4 Grenzflächen
3.4.1 Thermodynamische Größen der Grenzflächenchemie
An der Grenzfläche zwischen zwei Phasen unterliegen die Moleküle einseitigen Anziehungskräften und haben daher eine andere Energie als die Moleküle innerhalb der Phase. Bei
makroskopischen Körpern ist die Zahl der Grenzflächenmoleküle klein gegenüber der Gesamtzahl der Moleküle des Körpers und man kann die Energieunterschiede meist vernachlässigen.
Oberfläche O und Volumen stehen jedoch nicht in einem festen Verhältnis. Wird bei konstanter Gesamtmasse der Körper immer mehr zerkleinert, so vergrößert sich die Oberfläche gewaltig. Beispiel: Kubischer Kristall mit 1 cm Kantenlänge bestehe aus Atomen von 0,2 nm
Durchmesser; entlang einer Kante befinden sich 5·107 Atome, insgesamt sind 125·1021 Atome
im System. An der Oberfläche befinden sich dann 6·25·1014 = 1,5 1016 Atome entsprechend
1,2·10-5 % der Gesamtzahl. Zerkleinert man den Kristall in Würfelchen von 0,1 µm = 10-5 cm
Kantenlänge, so ist die Zahl der Atome an der Oberfläche aller 1015 Kristallite nunmehr 6 5002
1015 = 1,5·1021 entsprechend 1,2 %.
Das Zerkleinern eines solchen Kristalls erfordert die Zufuhr von mechanischer Arbeit. Allgemein wird die Energie eines Systems erhöht, wenn die Oberfläche um den Betrag dO vergrößert wird, so dass man schreiben muss
dg = vdp − sdT + γdO
dh = Tds + vdp + γ dO
du = Tds – pdv + γ dO
df = –sdT – pdv + γ dO
Die Größe
 ∂g 
 ∂u 
 ∂h 
 ∂f 
 =
 =
 =

 ∂O  p ,T  ∂O  s ,v  ∂O  s , p  ∂O  T ,v
γ =
19
(3-37)
(3-36)
heißt Oberflächenspannung oder Oberflächenarbeit und ist immer positiv. Sie wird in J/cm2
angegeben.
K
dx
l
Dass die Oberflächenarbeit ein reversibler Arbeitsbetrag ist, ergibt sich
aus dem Bügelversuch. Um eine Flüssigkeitslamelle im Gleichgewicht
zu halten, muss eine Kraft K aufgewendet werden. Zur Verschiebung des
Bügels um eine Strecke dx muss die reversible Arbeit
da = Kdx = γdO = γ·2·ldx
(3-38)
aufgewendet werden, d.h.
γ = K / (2 l).
(3-39)
Für die nachfolgende Betrachtung, bei der p und v konstant gehalten werden, ist es zweckmäßig, die freie Energie f = u – Ts (auch Helmholtzenergie genannt) zu verwenden.
Gleichzeitige Änderung von Volumen und Oberfläche
Wird ein Dampf kondensiert (Tröpfchenbildung) bzw. in ein Gefäß mit gekrümmten Grenzflächen (Kapillarsystem) einkondensiert, so treten Oberflächen und Volumenänderungen gleichzeitig auf. Hierzu das skizzierte Gedankenexperiment: Zufuhr
der Arbeit da durch Bewegung des Kolbens im linken Zylinder
nach rechts bewirkt eine reversible Änderung der Oberfläche
und der beiden Volumina vg und vfl, dann ist
da= – pfldvfl – pgdvg + γdO
(3-40).
Aus dem ersten Hauptsatz du = dq + da und der Definition der Freien Energie f erhält man
df = – sdT – pfldvfl – pgdvg + γdO
(3-41)
(und entsprechende Beziehungen für dh und dg).
Im Gleichgewicht fl ⇌ g hat die Freie Energie ein Minimum und bei konstanter Temperatur ist
df = 0 = – pfldvfl – pgdvg + γdO
(3-42).
Bei konstantem Gesamtvolumen ist dvg = – dvfl und daher
(pfl –pg)dvfl = γdO
(3-43)
Bei Flüssigkeiten mit ebenen Oberflächen, die sich in zylindrischen Gefäßen befinden, bewirkt
eine Ausdehnung dvfl der flüssigen Phase auf Kosten der Gasphase keine Veränderung der Oberfläche O; d.h. dO = 0 und daher ist auch pfl = pg.
Ist jedoch die Flüssigkeit ein kugelförmiges Tröpfchen vom Radius r, so gilt dvfl = 4πr2dr und
dO = 8πrdr, so dass
pfl − pg = γ
dO 2γ
=
dvfl
r
(3-44)
20
d.h. der Druck im Tropfen ist größer als in der Gasphase und der Tropfen ist nur existent, weil
die Oberflächenspannung wie eine Membran um den Tropfen wirkt.
Für den Stoffaustausch zwischen den Phasen (Verdampfung bzw. Kondensation) gilt im
Gleichgewicht µfl = µg und dµfl = dµg . Wegen
dµ = − SdT + Vdp
(3-45)
ist bei konstanter Temperatur
Vfl dpfl = Vg dpg
(3-46)
und aus (3-44)) folgt
 Vg

1
d( pfl − pg ) =  − 1dpg = 2γd 
(3-47)
r
 Vfl

Da Vg >> Vfl, folgt bei Gültigkeit des idealen Gasgesetzes für die Gasphase:
RT
 1  Vg
2γd   =
dp g =
dp g
Vfl pg
 r  Vfl
(3-48).
Integration von p0 (Dampfdruck bei ebener Oberfläche, d.h. 1/r → 0) bis p ergibt
2γ RT
p
=
ln
r
Vfl
p0
bzw.
ln
p 2γ Vfl
=
⋅
p0
r RT
(3-49)
d.h. der Dampfdruck p eines kleinen Tröpfchens ist größer als der über einer ebenen Flüssigkeitsoberfläche und sehr kleine Tröpfchen sind unstabil (s. Kap. 3.4.5).
Ähnliches gilt für die Löslichkeit kleiner Festkörperteilchen.
Temperaturabhängigkeit der Oberflächenspannung γ
Als Funktion der Temperatur muss die Oberflächenspannung beim kritischen Punkt verschwinden. Empirisch gilt im linearen Teil untenstehender Skizze bis zu Temperaturen, die nur
wenig unter der kritischen Temperatur Tk liegen, die EÖTVÖSRegel
2
γVfl 3 = k E (Tk − 6K - T )
(3-50),
wobei kE als EÖTVÖS-Konstante bezeichnet wird. Etwa 6 K
unterhalb von Tk geht der lineare Abfall der Kurve in einen
gekrümmten über (s. Abb..
Nach dem Theorem der übereinstimmenden Zustände (s. Kap.
1.1.2) sollte kE eine universelle Konstante vom Betrag ca. 230 nJ·K–1 mol–2/3 sein. Praktisch
findet man jedoch nur bei einigen unpolaren Substanzen übereinstimmende kE-Werte, die sich
sonst als sehr individuell erweisen (s. Tabelle).
21
-6 3
γ/ mJ/m2 Vfl /10 m /mol
Substanz
T /°C
He
–270.7
0.308
32.792
77.9
N2
–200
9.85
17.34
152.4
H2 O
20
72.75
18.016
101.7
CCl4
20
26.95
96.499
254.8 ←
C2H5OH
20
22.75
58.368
129.4
CH3COCH3
20
23.70
73.528
220.3 ←
C 6 H6
20
28.85
88.909
265
←
Hg
25
483.5
14.808
204
←
Na
110
205.7
24.496
Ag
1100
907
11.763
 d  γV 2 3 

  fl 

nJ
= kE  /
−
2
dT

 Kmol 3


42.5
160
3.4.2 Mehrkomponentensysteme (GIBBS-Adsorptionsisotherme)
Bei jedem Zweiphasensystem kann man drei Bereiche unterscheiden: zwei homogene Phasen
α und β und eine Zwischenphase, in der die Eigenschaften der einen Phase kontinuierlich in
die der anderen übergehen. Um die Eigenschaften der Zwischenphase genau zu beschreiben,
müsste ihre Zusammensetzung bekannt sein.
Im allgemeinen hängen die Konzentrationen der Komponenten in der Zwischenphase empfindlich von der Lage der Begrenzungen der Zwischenphase gegenüber den beiden homogenen
Phasen ab. Da es unmöglich ist, diese Begrenzungen mit der erforderlichen Genauigkeit
(Bruchteile von nm) festzulegen, geht man in der Thermodynamik von einem phänomenologischen Modell aus, nach dem eine streng 2-dimensionale Fläche das gesamte Volumen in zwei
Anteile unterteilt:
v = vα + vβ
(3-51)
Für jede Komponente i definiert man Mengen
nαi = cαi vα ;
nβi = cβi vβ
(3-52)
durch die Konzentrationen cαi und cβi im Inneren der homogenen Phasen α und ß. Damit das
Modellsystem mit dem realen übereinstimmt, muss die Gesamtmenge der Komponente i durch
ni = nαi + nβi + nOi
(3-53)
22
gegeben sein, wobei nOi eine Überschussgröße bezeichnet, die der Fläche O zugeordnet ist. Je
nachdem, ob in der Zwischenphase eine Anreicherung oder Verarmung der betreffenden Komponente stattfindet, ist nOi positiv oder negativ (seltener = 0).
Davon abgeleitet ist die Oberflächenkonzentration (auch„Adsorption“ genannt)
Γ i = nOi / O (in mol/cm2)
(3-54)
die ebenfalls eine Überschussgröße bezeichnet.
Analog definiert man Oberflächenenergie, -entropie, usw. durch
uO = u − uα − u β
;
u β = U β v β usw.
(3-55)
sO = s − sα − s β
usw.; daher folgt für dp = 0
dgO = − sO dT + γdO + ∑ µi dnOi
(3-56)
(3-57)
(Im Gleichgewicht ist µ Oi = µ αi = µ βi = µ i). Bei konstanter Temperatur ist
dg O = γ dO + ∑ µ i dnOi
und
g O = γO + ∑ µi nOi
Differentialbildung führt zu
dgO = γ dO + O dγ + ∑ µ i dnOi + ∑ nOi dµ i
bzw. (analog zur GIBBS-DUHEM-Gleichung6)
O dγ + ∑ nOi dµi = 0 = O dγ + ∑ O Γ i dµi
Dividiert man durch O, so wird
dγ = − ∑ Γ i dµ i
GIBBSsche Adsorptionsgleichung
(3-58)
(3-59)
(3-60)
(3-61)
(3-62)
bzw. für zwei Komponenten
dγ = − Γ 1 dµ1 − Γ 2 dµ 2
(3-63).
Wegen der Gibbs-Duhem-Gleichung
∑
ni dµ i = 0
(3-64)
können µ 1 und µ 2 nicht unabhängig voneinander variiert werden ( dµ1n1 = −dµ2 n2 ). Man
schreibt daher
dµ1 = −dµ2 n2 / n1 ≈ −dµ2 c2 / c1
(3-65),
so dass nach (3-63)

c 
dγ = − Γ 2 − Γ 1 2  dµ 2
c1 

(3-66)
Der Ausdruck
Γ 2,1 = Γ 2 − Γ 1
 ∂γ 
c2

= −
c1
 ∂µ 2  T
(3-67)
bezeichnet daher eine relative Oberflächenkonzentration. Für ideale Lösungen gilt
µ 2 = µ 2o + RT ln c2 / c Θ
6
(3-68)
Siehe Anhang 2
23
und man kann relative Oberflächenkonzentrationen aus der Konzentrationsabhängigkeit der
Oberflächenspannung bestimmen nach

1 
∂γ


(3-69).
o 
RT  ∂ ln c2 / c T
Es folgt unmittelbar, dass Substanzen, die die Oberflächenspannung herabsetzen (oberflächenaktive Substanzen) in der Grenzschicht angereichert sind (Γ2,1 > 0). Hierbei ist die Dimension
der Konzentration unerheblich, da in jedem Falle proportional zur Stoffmenge. In praktischen
Fällen ist die Komponente 1 das Lösemittel und die Komponente 2 ein gelöster Stoff, z.B. ein
Spülmittel (Tensid) in Wasser. Die Phasengrenzfläche zwischen Lösung und Luft ist in guter
Näherung so zu definieren, dass sich für Wasser keine Überschusskonzentration ergibt. Dann
ist Γ1 = 0 und Γ2,1 = Γ2.
Γ 2,1 = −
Gl. (3-57) ist eine rein thermodynamische Beziehung und gilt daher streng. Dennoch ist eine
Überprüfung reizvoll, und die dazu angestellten Experimente haben wesentlich zum Verständnis der Anreicherung von oberflächenaktiven Substanzen in Grenzschichten beigetragen. Drei
brauchbare Methoden:
– Abscheren von Grenzschichten mit Mikrotomen und Analyse
– Ellipsometrie (Änderung des Polarisationszustands von Licht bei Refexion oder Transmission)
– Verwendung von Substanzen, die mit Atomen wie 14C, 35S usw. markiert sind, deren weiche β-Strahlung eine Reichweite von der Größenordnung der Grenzschichtdicke hat, z.B.
3.4.3 Adhäsion und Kohäsion von Flüssigkeiten, Spreitprozesse
Ein quantitatives Maß für die Adhäsion einer Flüssigkeit B an
einer Flüssigkeit A ist die Oberflächenarbeit ∆aBA, die verrichtet werden muss, um die Flüssigkeiten von einander zu trennen.
Dabei entstehen zwei neue, gleich große Oberflächen ∆O der
Flüssigkeiten gegen Luft:
∆a BA = (γ A + γ B − γ BA ) ∆O
(3-70)
(∆aBA ist die Adhäsionsarbeit, γ jeweils gegen Luft gemessen)
Ist B = A, so erhält man wegen γ AA = 0 die Kohäsionsarbeit:
∆a AA = 2γ A ∆O
(3-71),
die bei der Trennung eines Flüssigkeitsvolumens in zwei Teile aufzubringen ist.
Beim Spreiten von B auf A findet eine spontane Ausbreitung eines
zunächst aufgebrachten dicken Tropfens statt. Bei konstanten Werten
von Druck und Temperatur gilt für die mit dem Spreiten verbundene
Änderung der freien Enthalpie des Gesamtsystems
dg = γ A dOA + γ B dOB + γ BA dOBA
24
(3-72).
Da sich die Oberfläche von B gegenüber Luft und gegenüber A auf Kosten der Oberfläche von
A (gegenüber Luft) vergrößert, gilt
dOB = dOBA = −dOA = dO
(3-73)
und
− ∆g = (γ A − γ B − γ BA ) ∆O = SBA ∆O
(s. A. W. Adamson, Physical Chemistry of Surfaces, Kap. IV).
(3-74)
Der Spreitungskoeffizient SBA ist daher positiv, wenn Spreiten spontan erfolgt. In diesem Fall
ist die Adhäsion von B und A größer als die Kohäsion von B:
SBA = (∆aBA – ∆aBB)/∆O
(3-75)
Die Spreitung unterscheidet sich prinzipiell von der Anreicherung einer oberflächenaktiven
Substanz in der Grenzfläche (siehe oben), weil sich B in der unteren Phase A nicht löst oder
nur in einer sehr kleinen aber konstanten Konzentration vorliegt. Wenn sich B und A etwas
ineinander lösen, ist im allgemeinen SB(A)A(B) ≠ SBA. So findet man, dass Benzol auf Wasser zunächst spreitet, weil SBA > 0; anschließend zieht sich das aufgetropfte Benzol zu einer Linse an
der Wasseroberfläche zusammen, weil SB(A)A(B) < 0.
3.4.3.1 Monoschichten
Die Spreitung tritt bei schwer löslichen Substanzen auf, die einen dünnen Film auf der Oberfläche einer Flüssigkeit (oder einer anderen Unterphase) bilden. Die Oberflächenkonzentration
ist hier unmittelbar durch die auf die Flächeneinheit aufgegebene Substanzmenge definiert und
daher nicht besonders interessant. Wichtiger ist die Herabsetzung der Oberflächenspannung
durch die bedeckende Schicht, die bei Destillationsvorgängen, bei der Flotation und bei
Waschprozessen (Verhinderung der Schaumbildung!) eine praktische Rolle spielt. Auch die
Bildung eines Flüssigkeitsfilms auf Schleimhäuten gehört hierher.
Typischer Vertreter dieser Substanzklassen sind die höheren Fettsäuren und -alkohole, die sich
über eine beliebig große Wasseroberfläche spontan ausbreiten („Spreiten“, s.o.), aber auch
durch bewegliche Barrieren zusammengeschoben werden können. Es hat sich gezeigt, dass sich die Oberflächenspannung
solcher Schichten drastisch ändert, wenn der Substanz weniger
als etwa 0.2 nm2/Molekül zur Verfügung steht („POCKELSPunkt7“). Dieser Wert wird als Platzbedarf eines Moleküls in
einem monomolekularen Film gedeutet. Da der Platzbedarf
unabhängig von der Kettenlänge ist (zwischen C16 und C26 geprüft), ergibt sich, dass die Moleküle am Pockels-Punkt senkrecht zur Oberfläche angeordnet
sein müssen.
Die beim Spreiten auftretenden Kräfte lassen sich in einem LANGMUIR-Trog messen: der Trog
wird zunächst bis zum Rand mit reinem Lösungsmittel (meist Wasser) gefüllt. Zwischen Barriere und Schwimmer wird ein Tropfen einer Lösung aufgetragen, die den Schichtbildner enthält (z.B. Stearinsäure in Benzol). Nach dem Verdunsten des Lösemittels kann man die Eigenschaften der Schicht durch Verschieben der Barriere und Messen der dabei am Schwimmer
auftretenden Kräfte untersuchen.
7
Nach AGNES POCKELS, 1862-1935, Braunschweig
25
Als Oberflächendruck bezeichnet man die Größe
π = γ0 −γ
(3-76),
wobei γ0 und γ die Oberflächenspannung von
reiner Unterphase und von der Unterphase mit
gespreiteter Schicht bezeichnen. Die Verschiebung
des
Schwimmers
erfordert
einen
Arbeitsbetrag ( da = −π ⋅ l ⋅ dx = −π ⋅ dO ).
Trägt man π gegen O bei verschiedenen Temperaturen auf, so erhält man Isothermen, die für
verschiedene Substanzen sehr unterschiedlich sein können. Wenn die Wechselwirkung zwischen den Molekülen gering ist (oder die Verdünnung hinreichend hoch), verhält sich die Substanz wie ein zweidimensionales Gas:
RT
πO = nO RT = mO
(3-77) bzw.
M
π = Γ RT
(3-78)
Andere Substanzen verhalten sich wie ein zweidimensionales VAN-DER-WAALS-Gas.
Es besteht eine zweidimensionale Analogie zu idealem Gas
ideales Gas
p=
gespreitete Moleküle (ideal)
n RT
v
nO ⋅ RT
= Γ ⋅ RT [Hyperbel π = f(O)]
O
RT
π ⋅ O = nO ⋅ RT = mO
M
π=
[Hyperbel p= f(v)]
RT
M
Aus kinetischer Gastheorie:
pv = nRT = m
2
↓
1
2
↓
1
L m w2
3
L: Loschmidtzahl
2
( RT = ) pV = L ⋅ ε kin
3
(εkin) = kinetische Energie
= Translationsenergie εt
pv =
1
N O m w2
2
NO = Teilchenzahl / Fläche
für 1 Teilchen:
1
kT = π ⋅ σ = m w 2 = ε kin = ε t
2
σ : Fläche, die ein Molekül beansprucht
π=
3
3
2
2
3 Freiheitsgrade
ε t = RT / L = kT
εt = kT
2 Freiheitsgrade
Entsprechend ergibt sich eine zweidimensionale Analogie zu realem Gas
reales Gas:
a 

 p + 2 (V − b) = RT
V 

gespreitete Schicht (real):

α 
 π + 2 (σ − β ) = k ⋅ T
FM 

„VAN-DER-WAALS-Gleichung“
FM: Flächenbedarf eines Moleküls (bzw.
26
seiner Kopfgruppe)
schwer zu messen, Barriere sehr langsam bewegen!
I = gasanalog, II = Koexistenz gasanalog / flüssiganalog (Filmbildung),
III = flüssig-ausgedehnt, IV = Koexistenz flüssigausgedehnt / flüssig-kondensiert
(Folie)
V = flüssig-kondensiert, VI = fest-kondensiert, VII
= kollabierte Phase
Monoschichten behindern die Verdampfung der Flüssigkeit, die sie bedecken. Sie setzen dem
Übertritt der Flüssigkeitsmoleküle in die Gasphase einen vom Oberflächendruck π abhängigen Widerstand entgegen. Bei Vergrößerung des Oberflächendrucks geht der Widerstand
gegen einen konstanten Grenzwert, der der dicht gepackten fest-kondensierten Phase entspricht und deshalb die Ermittlung des Platzbedarfs der Kopfgruppe bzw. des Molekülsquerschnitts ermöglicht. Von besonderem Interesse sind reaktionskinetische Studien an Monoschichten, da hier die Möglichkeit besteht, Moleküle in bestimmter Orientierung zueinander
reagieren zu lassen.
3.4.4 Benetzung
Wenn sich ein Flüssigkeitstropfen L in der Atmosphäre eines Gases G auf der festen Unterlage S befindet,
dann treten die drei Grenzflächenspannungen γGS, γGL,
und γLS auf, und es bildet sich ein für die Benetzung
der Oberfläche charakteristischer Randwinkel θ aus. Im Gleichgewicht ist
27
γ GS = γ LS + γ GL ⋅ cos θ
(YOUNG-Gleichung)
(3-79).
γGS und γLS sind nicht unabhängig voneinander meßbar; ihre Differenz ist die Haftspannung
γH= γGS – γLS, die positive und negative Werte annehmen kann. Für θ < 90° ist γH > 0.
Dagegen ist γH < 0, wenn 90° < θ < 180 °.
Im ersteren Fall spricht man davon, dass die
Flüssigkeit den Festkörper benetzt (z.B.
Wasser an Glas), im letzteren, dass sie ihn
nicht benetzt (z.B. Wasser auf Paraffin oder
Quecksilber auf Glas).
Proportional zur Haftspannung ist die Steighöhe h von Flüssigkeiten in Kapillaren (vgl.
aber Anhang). Ist r der Radius der Kapillare,
so kann man näherungsweise8 die Oberfläche des Flüssigkeitsspiegels in der Kapillare als Teil einer Kugeloberfläche mit demselben
Radius auffassen. Im Gleichgewicht halten sich der hydrostatische Druck ρgh der Flüssig2γ
keitssäule und der durch (3-49) gegebene Kapillardruck pfl − pg =
die Waage:
r
2γ H
2γ cos θ
h=
= GL
(3-80)
ρ gr
ρ gr
(ρ ist die Dichte der Flüssigkeit und g die Erdbeschleunigung). Bei benetzenden Flüssigkeiten (θ ≈ 0) ist die Bestimmung der Steighöhe eine bequeme Methode zur Messung von Oberflächenspannungen γGL. Komplizierte Apparaturen ermöglichen die Bestimmung des Randwinkels θ.
3.4.5 Keimbildung
Die Bildung einer neuen Phase, z.B. beim Kristallisieren von Festkörpern aus Flüssigkeiten,
Kondensieren von Flüssigkeiten aus Dämpfen usw., verläuft über kleine Molekülaggregate
(„Keime“). Erfahrungsgemäß findet Keimbildung nur statt, wenn eine gewisse Übersättigung
vorliegt. Sehr reines Wasser kann z.B. ohne weiteres auf –40 °C unterkühlt werden, bevor
spontane Kristallisation einsetzt. Die Ursache für dieses Verhalten ist die geringe Stabilität
der kleinen Molekülaggregate.
Die Aggregation von Molekülen eines übersättigten Dampfes D zu einem Keim K (Flüssigkeitströpfchen) D ⇌ K ist mit einer Änderung der Freien Enthalpie verbunden, die sich bei
konstanter Temperatur durch
dg = vdp + ( v K dpK ) + γdO
(3-81)
ausdrücken lässt, wobei v und vK die Volumina von Dampf und Keim bezeichnen und vK
gegenüber v vernachlässigt werden kann. Entsprechend sind p und pk die (im allgemeinen
verschiedenen) Drücke im Dampf und im Keim. O ist die Oberfläche des Keims und γ die
Oberflächenspannung. Wenn sich der Dampf ideal verhält, und wenn der Keim die Form
8
Siehe Anhang 1
28
eines kugelförmigen Tröpfchens vom Radius r hat, gilt für die Kondensation von n Mol
Dampf
p
∆g = − n RT ln
+ 4 πr 2γ
(3-82)
pK
wobei der zweite Term in (3-81) wegen vK << v vernachlässigt wurde. Drückt man n durch
das Molvolumen V der Keimphase aus, so wird
4 πr 3
p
∆g = −
RT ln
+ 4 πr 2γ
(3-83)
3 V
pK
=n
Im Fall der Übersättigung ist p > pk und ∆g(r) durchläuft ein Maximum, das zu einem kritischen Tröpfchenradius rc gehört, und zwar erhält man aus (3-63) für d∆g = 0 die Beziehung
rc =
mit
2γ V
RT ln( p / pK )
∆g max =
4 2
π rc γ
3
(3-84)
(3.85).
Das Maximum in der Kurve ∆g = f(r) folgt auch, wenn man die Gibbs-Helmholtz-Gleichung
∆g = ∆h – T ∆s + γ∆O (mit Berücksichtigung der Oberflächenänderung) ansetzt. ∆O ist zu
Beginn der Kondensation so groß, dass ∆g positiv ist; wird dann bei wachsendem r kleiner
und verschwindet schließlich bei sehr großen r entsprechend einer (praktisch) ebenen Grenzfläche. Die Kurve schwenkt dann in einen negativen konstanten ∆g-Wert für die Kondensation ein.
Beispielsweise wird für Wasserdampf von 0 °C und p/pK = 4 mit Hilfe von (3-84) ein kritischer Wert rc = 0.83 nm berechnet, der einem Keim von 90 Wassermolekülen entspricht.
Für r < 3rc/2 ergibt sich aus (3-81) mit (3-82) dass ∆g > 0. Keime dieser Größe sind daher
nicht stabil und können unter Erniedrigung der Freien Enthalpie wieder zerfallen; an größeren Keimen, für die < 0 ist (d.h. r > r0 = 3rc/2), verläuft die Kondensation dagegen spontan,
bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Setzt man (3-84) in (3-85) ein
16π γ 3 V 2
∆g max =
(3-86),
3 [ RT ln( p / pK )]2
so ergibt sich, dass ∆gmax durch Erhöhung der Übersättigung p/pK herabgesetzt werden kann.
Damit erhöht sich auch die Geschwindigkeit der Keimbildung, die insbesondere von der
thermischen Wahrscheinlichkeit der kritischen Keime abhängt (und mit der statistischen
Theorie von Becker und Döring berechnet werden kann; Ann. Phys. 24 (1935) 719; s. auch
Bradley, Quart.Rev. 5 (1951) 315).
Der Grundgedanke dieser Theorie ist, dass sich beim Aufbau von Keimen ein stationärer
Zustand einstellt, in dem die Konzentration eines Keims bestimmter Größe (d.h. Molekülzahl) einen von der Zeit jeweils unabhängigen Wert annimmt. Die Aggregation hängt dann
wesentlich von der Zweierstoßfrequenz ZAA (vgl. Teil I, Kap. 2) ab, so dass man für die
Keimbildungsrate vereinfacht schreiben kann
29
 ∆Gmax 
(3-87)
gas → flüssig
RK = Z AA exp −

RT 

(In der vollständigen Theorie tritt anstelle von ZAA ein anderer Zahlenfaktor auf, der jedoch
etwa die gleiche Größenordnung hat. Die Keimbildungsrate RK wird allerdings nicht so sehr
von ZAA sondern mehr vom Zahlenwert von ∆Gmax bestimmt.)
Auch bei anderen Keimbildungsvorgängen, wie dem Erstarren aus der unterkühlten Schmelze, dem Kristallisieren aus der übersättigten Lösung usw., lässt sich eine ähnliche Theorie
formulieren. Unterschiede treten hierbei insbesondere bei der Berechnung des Frequenzfaktors auf. Beispielsweise ist der Häufigkeitsfaktor bei der Erstarrung aus der unterkühlten
Schmelze durch den Ausdruck für die aktivierte Diffusion gegeben. Ist ∆GD die Freie Aktivierungsenthalpie der Diffusion und Nv die Molekülzahldichte in der Schmelze, so erhält man
für die Keimbildungsrate (Lösung/Schmelze→ Kristallisation)
kT
 ∆GD 
 ∆Gmax 
(3-88)
RK = N v
exp −
 exp −

h
RT 
 RT 

=ˆ Z in der Gasphase
Mit zunehmender Unterkühlung wächst zwar die Wahrscheinlichkeit der Keime, die Diffusion von Molekülen zu den Keimen wird jedoch erschwert. Es lässt sich zeigen, dass diese
Situation dazu führt, dass die Keimbildungsrate einen Maximalwert erreicht, der bei weiterer
Abkühlung wieder unterschritten wird. Viele Flüssigkeiten erstarren daher zu Gläsern, z. B.
Ethanol oder Gemische aus Methylcyclohexan und etwas Isopentan. Solche glasartig erstarrten Gläser sind als Lösemittel für optische Untersuchungen bei tiefen Temperaturen brauchbar.
4. Kinetik
4.1 Bimolekulare Reaktionen
Gasphase
Ganz allgemein lässt sich die Geschwindigkeit einer Reaktion mit Hilfe der im Teil I bereits definierten Reaktionslaufzahl9 ξ = dni/νi als Umsatzgeschwindigkeit ω
ω = dξ / dt
(4-1)
formulieren. Die Reaktionsgeschwindigkeit r ist dann
r = ω / v = (1/νi)(dci /dt);
(4-2)
r wird meist in mol dm-3 s-1 angegeben. Falls sich das Volumen bei der Reaktion nicht ändert,
sind Umsatzgeschwindigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit proportional zueinander.
Einfachster Typ einer bimolekularen chemischen Elementarreaktion ist A + B → P (P:
allgemein Produkte). Nach diesem Schema laufen viele Atom- und Radikalreaktionen in der
9
dξ = 1 mol bedeutet, dass ein Formelumsatz durchlaufen wurde
30
Gasphase ab, wie z.B. Na + Cl2 → NaCl + Cl. Die Wahrscheinlichkeit der Bildung von Produkten ist proportional zu den Teilchendichten Ni und zur Zeit t. Für Gasreaktionen bei konstantem Volumen schreibt man zweckmäßigerweise
r = dNP/dt = kr NA NB = kr L2 cA cB
(4-3)
wobei die ci Konzentrationen und L die AVOGADRO-Konstante (oder LOSCHMIDT-Zahl) bezeichnen; die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante kr hat die Bedeutung einer spezifischen
Reaktionswahrscheinlichkeit pro Zeit, die für Gasreaktionen meist in cm3/s angegeben wird
(jetzt nicht mehr molar!). Sie lässt sich nach der kinetischen Gastheorie als ein Produkt aus
der mittleren Relativgeschwindigkeit w der Edukt-Moleküle und einem Reaktionsquerschnitt Q ausdrücken
kr = Q w
(bzw. kr = Q w L)
(4-4),
wobei w = (8 k T / π µ)1/2
und
µ = mAmB / (mA + mB).
Wenn die Moleküle A und B bei jedem Zusammenstoß reagieren, d.h. bei sehr schnellen
Reaktionen (ohne Aktivierungsenergie), ist Q gleich dem gaskinetischen Querschnitt Qg, der
nach
(4-5)
Qg = π d 2
berechnet werden kann; d ist ein Stoßdurchmesser, der aus der VAN-DER-WAALS-Konstanten
b = 2/3 π d3 L oder aus Messungen der Gasviskosität zu entnehmen ist. Bei Reaktionen unterschiedlich großer Moleküle A und B miteinander muss anstelle von d für den Stoßdurchmesser dAB = 1/2 (dA + dB) gesetzt werden. Mit Q = Qg ergibt (4-4) die maximal für bimolekulare
Gasreaktionen mögliche Geschwindigkeitskonstante an, d.h. jeder Stoß führt zur Reaktion
und die Reaktionsgeschwindigkeit ist entsprechend direkt proportional zur Stoßfrequenz in
der Volumeneinheit ZAB (vgl. Teil I, Kap 2, dort (2-46a) und (2-47)). Daher gilt
ZAB = Q w NA NB = Q w L2 cA cB ~ r
(4-6).
ZAB entspricht zugleich der maximal mögliche Geschwindigkeitskonstante für bimolekulare
Reaktionen in der Gasphase. Dabei ist im allgemeinen Q erheblich kleiner als Qg, weil Zusammenstöße der Edukte nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zur Produktbildung führen. Im thermischen Mittel ist Q durch
Q = P Qg exp (- E’a / kT)
(4-7)
gegeben. Hierin ist E’a ein Maß für die relative Mindest-Stoßenergie, die zur Reaktion führt,
und P bezeichnet einen sterischen Faktor, der ggf. die Wahrscheinlichkeit einer für den Reaktionsablauf günstigen Orientierung der zusammenstoßenden Moleküle angibt. Einsetzen
von (4-7) und (4-5) in (4-4) ergibt
kr = P Qg w exp (– E’a / kT) = k∞ exp (– EA / kT)
(„ARRHENIUS-Gleichung“)
(4-8).
(vgl. (4-10) in Teil I; E’a und EA sind nicht gleich, da in w eine zusätzliche Temperaturabhängigkeit steckt.)
Wenn eine Reaktion A + B → P mit der Geschwindigkeit kr NA NB verläuft, so folgt daraus
keineswegs zwingend, dass die Reaktion ein bimolekularer Elementarprozess ist. Beispiels-
31
weise gilt für die Reaktionsgeschwindigkeit der Reaktion H2 + I2 → 2 HI durchaus das Geschwindigkeit-Zeit-Gesetz r = k ·p(H2) · p(I2). Mechanistisch spielt sich jedoch folgendes ab:
Zunächst wird das Dissoziationsgleichgewicht eingestellt
I2 ⇌ 2 I
(Geschw.-Konstanten khin und krück)
(4-9)
mit der Gleichgewichtskonstante
K = khin/ krück = p2(I) / p(I2),
(4-10).
Anschließend folgt eine langsame Weiterreaktion nach
2 I + H2 → 2 HI
(Geschw.-Konstante k2)
(wahrscheinlich aufgeteilt in weitere zwei bimolekulare Schritte). Für die Reaktionsgeschwindigkeit erhält man zusammengefasst
r = ½ dp(HI)/ dt = k2 p2(I) · p(H2) = k2 K ·p(H2) · p(I2),
(4-11).
Also ergibt sich insgesamt ein Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz zweiter Ordnung.
Kondensierte Phasen
In Lösung muss berücksichtigt werden, dass die Reaktionspartner solvatisiert vorliegen, d.h.
von einer mehr oder weniger dicken Hülle aus Lösemittelmolekülen umgeben sind. Diese
Hülle behindert das Zusammenstoßen der Reaktionspartner.
Sind die Partner erst einmal in einer gemeinsamen Lösemittelhülle vereint, ist die Wahrscheinlichkeit für zahlreiche aufeinander folgende Stöße groß, so dass die Stoßfrequenz hier
nicht die maximal mögliche Reaktionsgeschwindigkeit charakterisieren kann. Vielmehr benötigen Moleküle in Lösung, die zueinander diffundieren sollen, zum Aufbrechen der Käfigwände eine gewisse Aktivierungsenergie. Der Maximalwert der Geschwindigkeit(skonstante) ist daher durch die Begegnungshäufigkeit bedingt, die vom Diffusionskoeffizienten D abhängt. Die Theorie dieses Effekts (M. VON SMOLUCHOWSKY 1917, P. DEBYE
1942) liefert den Maximalwert
kmax = 4 π dAB L (DA + DB)
(4-12)
für „diffusionskontrollierte“ Reaktionen A + B → P. Wenn die miteinander reagierenden
Moleküle Ladungen zie tragen, gilt der allgemeine Ausdruck
k max = 4 πd AB L( DA + DB )
mit
δ
eδ −1
δ = (zAzB e2)/(4 π ε ε0 dAB kT).
(4-13).
Wegen der für die Reaktion nötigen Aktivierungsenergie wird der Maximalwert der Geschwindigkeitskonstanten in den meisten Fällen nicht erreicht. Die Temperaturabhängigkeit
der Geschwindigkeitskonstanten ist durch die ARRHENIUS-Gleichung gegeben.
4.2 Molekülzerfälle (monomolekulare Reaktionen)
32
Bei bimolekularen Reaktionen kann man sich leicht vorstellen, dass
die Aktivierungsenergie durch die Stoßenergie zweier Teilchen aufgebracht werden kann. An monomolekularen Reaktionen, z.B. dem
thermischen Zerfall des Diazomethans CH2N2 → CH2 + N2, ist nach der früher gegebenen
Definition nur ein Teilchen beteiligt. Streng genommen ist das falsch, weil die Reaktion Aktivierungsenergie erfordert, die dem zerfallenden Molekül nur durch Stöße zugeführt werden
kann, also durch bimolekulare Prozesse, die eigentlich eine Kinetik zweiter Ordnung erwarten lassen. Stoßpartner können weitere Eduktmoleküle A oder inerte (nicht reagierende)
Stoßpartner M sein, z.B. Argon oder N2. Nach LINDEMANN verlaufen monomolekulare Reaktionen nach obenstehendem Schema, in welchem A* ein A-Molekül ist, das die nötige Aktivierungsenergie besitzt. Die Reaktionsgeschwindigkeit r, mit der die Produkte (P) entstehen,
ist gegeben als
r = dp(P)/dt = k2 p(A*)
(4-14),
gleichzeitig muss gelten
r = – dp(A)/dt = k1 p(A)p(M) – k–1p(A*)p(M)
(4-15)
(4-15) zeigt, wie ein Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz für eine Gleichgewichtsreaktion aufzustellen ist: Terme für Reaktionsschritte, die dem Differentialquotienten folgen, werden positiv (k1), umgekehrt wirkende (k-1) negativ angesetzt. Für die Änderung des Drucks von A*
sind sogar drei Reaktionsschritte zu berücksichtigen.
dp(A*) / dt = k1 p(A)p(M) – k–1p(A*)p(M) – k2 p(A*)
(4-16)
Zur Bestimmung der Drücke (oder Konzentrationen bei Lösungsreaktionen) von A, A* und P müsste man drei nicht-lineare Differentialgleichungen lösen. Um das zu vermeiden, wird mit den
Vereinfachungen p(A) >> p(A*) und dp(A)/dt >> dp(A*)/dt gearbeitet. Die aktivierten A-Moleküle (A*) sind als quasistationär
zu betrachten (wichtiges Prinzip in der Kinetik), d.h. ihre Konzentration ändert sich im Vergleich zu allen anderen Konzentrationen praktisch nicht. Voraussetzung dafür ist, dass p(A*) während der gesamten Reaktion immer sehr klein bleibt. Das bedeutet u.a., dass die Konstante k-1
die größte im Reaktionsschema sein muss.
Für dp(A*) gilt dann
dp(A*) / dt = k1 p(A)p(M) –k–1p(A*)p(M) – k2 p(A*) = 0
(4-17).
Daraus wird
p( A*) =
k1 p ( A ) p ( M )
k 2 + k −1 p ( M )
(4-18)
und
r=
k k p( M )
dp ( P )
= 1 2
· p ( A ) = kr p(A)
dt
k 2 + k −1 p ( M )
(4-19).
Für große Drücke (Konzentrationen) der Stoßpartner p(M) (z.B. bei allen Lösungsreaktionen)
wird k2 << k–1p(M), so dass man k2 in (4-19) vernachlässigen kann:
33
r=
dp( P) k1
=
k 2 · p( A)
dt
k −1
(4-20),
also ist wegen der Abhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit von nur einer Konzentration
eine Reaktion erster Ordnung zu beobachten.
Für kleine Konzentrationen der Stoßpartner dagegen (in verdünnten Gasen) wird
k2 >> k–1p(M), so dass
r = k1 p(A)p(M)
(4-21).
Die Reaktion folgt dann einem GeschwindigkeitsZeit-Gesetz zweiter Ordnung. Wenn die
LINDEMANN-Theorie richtig ist, muss der Zerfall
von Diazomethan (in der Gasphase) bei hohen
Drücken nach einer Kinetik erster Ordnung, bei
niedrigen Drücken einem Geschwindigkeits-ZeitGesetz zweiter Ordnung folgen. Die Daten der
nebenstehenden Graphik bestätigen das, zeigen
aber auch, dass die Lindemann-Theorie nur
qualitativ richtig ist: 1. Der Übergang von der
ersten zur zweiten Ordnung erfolgt im Experiment
bei niedrigeren Drücken als nach Lindemann zu
erwarten, s. Abb.; 2. eine leichte Umformung von
(4-19) liefert
1
1
k
=
+ −1
k r k1 p ( M ) k1k 2
(4-19a).
Demnach sollte 1/kr linear von 1/p(M) (bzw. von 1/p(A), wenn A = M) abhängen. Experimente zeigen eine mehr oder weniger starke Krümmung der Funktion. Die Theorie konnte
später verbessert werden.
4.3 EYRING-Theorie des Übergangszustands
Die empirisch gefundene ARRHENIUS-Gleichung beschreibt experimentelle Befunde normalerweise gut. Es ist jedoch wünschenswert, die der Gleichung zu Grunde liegenden Phänomene zu verstehen. Ein oft erfolgreiches Verfahren
dazu ist, eine Theorie aufzustellen, die dann experimentell zu überprüfen ist. Am Ende sollte sich ein möglichst detailliertes Verständnis des molekularen Ablaufs
chemischer Reaktionen einstellen.
EYRING nahm an, dass der Übergangszustand auf dem
Gipfel des Energieprofils einer Reaktion A + BC →
AB + C eine Art aktivierten Komplex ABC≠ darstellt, den die Eduktmoleküle bilden (khin)
und der im Gleichgewicht mit den Eduktmolekülen steht. Der Komplex zerfällt also entweder zu den Produkten (vorwärts, kvor) oder zu den Edukten (zurück, krück).
A + BC ⇌ ABC≠ → AB + C
34
(4-22)
Für das Gleichgewicht aus aktiviertem Komplex und Edukten in einer Lösung lässt sich das
Massenwirkungsgesetz formulieren
≠
K =
cABC ≠ c Θ
(4-23)
c A c BC
Das vorgelagerte Gleichgewicht in (4-22) kann nur eingestellt sein, wenn für die Konzentration von ABC≠ Quasistationarität herrscht. Das bedeutet (analog zu 4.17), dass cABC≠ immer
sehr klein ist, und dass die Rückreaktion (krück) der schnellste Schritt in dem kinetischen System sein muss. Man mache sich klar, dass man anderenfalls entweder ABC≠ anhäuft oder
ABC≠ schneller zerfällt als es gebildet wird, was die Gleichgewichtseinstellung unmöglich
macht.
Die gesamte Reaktionsgeschwindigkeit r ist identisch mit der Zerfallsgeschwindigkeit des
Komplexes zu den Produkten. Mit (4-23) gilt
r=−
dcABC ≠
dt
=
dcAB
= k vor cABC ≠ = k vor K ≠ cA cBC / c Θ = k r cA cBC / c Θ
dt
(4-24)
kvor kann nicht direkt gemessen, jedoch mit folgender Überlegung substantiiert werden: Im Maximum des Energieprofils
bzw. im Sattelpunkt des nebenstehenden dreidimensionalen
Diagramms (Fähnchen) sind die Molekülteile A, B und C im
aktivierten Komplex ABC≠ (lose) miteinander verbunden.
Für ein konkretes Beispiel, etwa Na + Cl2 → NaCl + Cl (in
der Gasphase), stellt der Komplex ein dreiatomiges Molekül
Na···Cl···Cl dar, das entsprechende Schwingungsfreiheitsgrade aufweist (vgl. Teil I).
Für den Fortgang der Reaktion ist die Schwingung AB gegen
C (NaCl gegen Cl) bedeutsam. Im Verlauf der Schwingung durchlaufen die Molekülteile
eine kleine Strecke δ im Maximum des Energieprofils mit einer Geschwindigkeit wRK. Da es
sich um eine Schwingung handelt, führt nur die Bewegung in Richtung der Reaktionskoordinate zur Produktbildung. kvor lässt sich also mittels der Frequenz ½ · wRK/δ ausdrücken
r=
wRK
w
cABC ≠ = RK K ≠ cA cBC / c Θ = kr cA cBC / c Θ
2δ
2δ
(4-25)
und verständlich machen. Die Frequenz muss (multipliziert mit der Planck-Konstante h) der
Dissoziationsenergie zur Trennung von AB und C entsprechen, wenn die Reaktion vollendet
wird. Mit kvor wird ein Schwingungsfreiheitsgrad in einen Translationsfreiheitsgrad umgewandelt. Mit Hilfe der statistischen Thermodynamik (deren Grundlage Thema höherer Module ist) lassen sich Gleichgewichtskonstanten und damit auch Freie Reaktionsenthalpien
nach ∆RG = – RT lnK berechnen, näherungsweise ist dadurch auch der Zugang zur Freien
Reaktionsenthalpie ∆RG≠ für die Teilreaktion A + BC → ABC≠ zu erhalten. Damit und mit
Hilfe entsprechender (hier nicht erläuterter) Schwingungsgleichungen ergibt sich
35
k BT
k T
cABC ≠ = B Θ K ≠ cA cBC ; also
h
hc
(4-26),
 − ∆H ≠ Θ 
 − ∆ R G ≠ Θ  k BT
 ∆S ≠ Θ 
k BT ≠ k BT
 = Θ exp
 exp 
k r ( p, T ) = Θ K = Θ exp

hc
hc
 RT 
 RT  hc
 R 
wobei h die PLANCK-Konstante ist, welche durch die Schwingungsstatistik in die Gleichung
gerät (Schwingungsenergie hν).
r=
≠
Der Ausdruck k BTΘ exp ∆S  , der die EYRINGsche Aktivierungsentropie ∆S≠ enthält, ist mit
hc
 R 


der Konstanten k∞ in der ARRHENIUS-Gleichung zu vergleichen, die Aktivierungsenthalpie
∆RH≠ entspricht der Aktivierungsenenergie EA, ist jedoch nicht ganz identisch wie ein Vergleich der Ableitungen nach T von (logarithmierter) EYRING- und ARRHENIUS-Gleichung
zeigt:
d ln k r 1 ∆H ≠  ∆H ≠ + RT  E A
= +
=
=
, d.h. E A = ∆H ≠ + RT
2
2
2
dT
T RT
 RT
 RT
Man diskutiere die in
 ∆S ≠ 
k BT

exp 
Θ
hc
 R 
(4.27)
enthaltene zusätzlichen Temperaturabhängigkeit von kr,
und die durch (4-27) suggerierte T-Abhängigkeit von EA, die beide von der ARRHENIUSGleichung nicht ausgewiesen werden. (Für Reaktionen in der Gasphase ergibt sich EA = ∆H≠
+ 2RT, vgl. Lehrbücher und Kap. 3.1)
4.4 Zusammengesetzte Reaktionen
4.4.1 Konkurrenzreaktionen
Die Geschwindigkeitskonstante kr für zwei parallel ablaufende Reaktionen derselben
Ausgangsverbindungen
A → B mit einer Konstante k1,
A → C mit einer Konstante k2
ist in der Regel kr = k1 + k2, da für zwei erster
lnk
Ordnungsprozesse gilt:
c A = cA 0 exp[− (k1 + k 2 )t ]
k1, EA1
(4-28).
Also wird man eine Kinetik erster Ordnung
messen. Wegen der Temperaturabhängigkeit
von Geschwindigkeitskonstanten sollten sich
jedoch die Konkurrenzprozesse separieren
1/T
lassen, da der Prozess mit der höheren Aktivierungsenergie zuerst „einfriert“. Im Arrheniusdiagramm ergibt sich dann entsprechend
k2, EA2
ln kr = ln k∞1 – EA1/RT + ln k∞2 – EA2/RT
(4-29)
36
das obenstehende Bild, welches aus den linearen Bereichen die Ermittlung der zwei unterschiedlichen Aktivierungsenergien und k∞ erlaubt. Zugleich ergibt sich eine Möglichkeit der
Steuerung der Reaktion, da bei hohen Temperaturen praktisch nur der Prozess 1 und bei
niedrigen nur der Prozess 2 abläuft.
Folgt die Reaktion 2 einer Kinetik 2. Ordnung A + M  C, so ist
cA = cA0 exp[-(k1 + k2cM)t] und kr = k1 + k2cM
(4-30).
Falls nicht cM >> cA, so dass sich cM während der Reaktion praktisch nicht ändert (pseudomonomolekurare Reaktion), ist cM eine Variable und somit kr nicht konstant. Entsprechend
ist dcA/dt nicht einfach zu integrieren (s. Teil III). Ggf. ergeben sich formal nicht ganzzahlige
Reaktionsordnungen.
4.4.2 Tunneleffekte
Durchgebogene Arrheniusdiagramme erhält man, wenn Tunneleffekte beteiligt sind.
Die Durchbiegung ist hier darauf zurückzuführen, dass bei hohen Temperaturen die normale
Reaktion (mit Aktivierungsenergie) abläuft, die jedoch bei tiefen Temperaturen nicht gänzlich einfriert sondern in die zum selben Produkt führende Tunnelreaktion übergeht. Solche
Tunneleffekte (Tunneln durch den Aktivierungsberg) sind auf Reaktionen unter Beteiligung
sehr leichter Teilchen (H, D, e-) beschränkt und mit ihrer Ortsunschärfe zu erklären. Liegt die
für das Teilchen bei der Reaktion zu überwindende Distanz im Bereich der Ortsunschärfe, so
ist ein Tunneleffekt möglich.
Einen Eindruck der durch Tunneln überwindbaren Strecken vermittelt die
DEBROGLIE-Wellenlänge
λΒ ,
die
H
D
T
C
Br
Materieteilchen
im
Bereich
des Teilchen e
1/1750 1
2
2
12
80
merklichen Einflusses des Welle- m/u
2690
63
45
36
18
7
Teilchen-Dualismus zugeordnet wird: λΒ λΒ/pm
= h/mc, wobei m die Masse und c die
digkeit
Geschwindigkeit
des Teilchens
des sind.
Teilchens
λΒ wird
sind.
mitλsteigender
Masse schnell unbedeutend. Über c hängt
Β
die deBroglie-Wellenlänge von der kinetischen Energie ab. Für 20 kJ mol-1 ergeben sich die
Werte in der Tabelle.
Für Atome, die schwerer als Tritium sind, liegen die
Werte in einem Längenbereich, der für die Über.
.
windung der Distanz von einer Bindungsstelle zur
nächsten kaum noch in Frage kommt, so dass
Tunneleffekte dann nicht mehr beobachtet werden.
Zu erkennen sind Tunneleffekte an zwei Erscheinungen, die beide geprüft werden müssen: 1)
Durchgebogenes ARRHHENIUS-Diagramm und 2)
Isotopeneffekte (H tunnelt schneller als D, siehe
Abbildung).
Beispiele: Raster-Tunnel-Mikroskop, Inversion des
Ammoniaks, Austausch von Protonen innerhalb
eines protonierten Porphyrinrings, H-Atom-Wanderung (Tri-tert.-Butylphenyl-→ tri-tert.Butylbenzyl-Radikal - siehe Abbildung -), sigmatrope Verschiebung, etc.
H
H
CH3
(H3C) 3
H
H
H
(H3C) 3
CH3
CH3
CH3
(CH3) 3
H
(CH3)3
37
4.4.3 Vorgelagertes Gleichgewicht
k1
k2
Kinetische Systeme wie
A
B
C wurden in Einzelfällen bereits in 4.1 und
k
4.2 behandelt.
Je nach Fragestellung kann man von der (Quasi-)Gleichgewichtskonstante K oder vom Quasistationaritätsprinzip (wie in 4.2) ausgehen. Im ersten Fall ist
r1 = r−1 = k1cA = k −1cB und
(4-31)
k1
c
=K= B
k −1
cA
(bei bimolekularer Hin- oder Rückreaktion sind weitere Konzentrationen zu berücksichtigen!).
Andererseits kann sich ein vorgelagertes Gleichgewicht nur einstellen, wenn k-1 >> k1 und
k-1 >> k2. Anderenfalls häuft man entweder B an oder man erhält keine stationäre Konzentration von B, weil es schneller zu C weiterreagiert als es gebildet wird. Wie im Lindemann-Fall
kann man deshalb nach dem Quasistationaritätsprinzip ansetzen
-1
dcB / dt = k1 cA – k–1cB – k2 cB = 0
(4-32)
cB = [k1/(k-1 +k2)]cA
(4-33)
Es folgt
Und für die Gesamtreaktion dcC/dt = k2cB kann man durch Einsetzen erhalten:
dc C
k k
= 2 1 cA
(4-34)
dt
k −1 + k 2
Nach Vernachlässigung von k2 und mit der ARRHENIUSbeziehung ergibt sich
−
k k 
dcA dcC
 − (E A1 − E A −1 + E A 2 ) 
=
= k r cA =  1 2  cA exp

dt
dt
RT


 k −1  ∞
(4-35)
Das ARRHENIUS-Diagramm kann jetzt nicht nur eine negative sondern eine beliebige Steigung haben, je nach der Summe der Aktivierungsenergien.
5. Elektrochemie
5.1 Elektrolytlösungen
5.1.1 Chemisches Potenzial und Aktivitätskoeffizienten
In Phasen, die verschiedene Mengen ni von Ionen mit den positiven oder negativen Ladungen
zi enthalten, gilt stets die Elektroneutralitätsbedingung
Σ z i ni = 0
(5-1)
38
Beispielsweise ist für Natriumsulfat in Wasser n(Na+) – 2 n(SO42-) = 0. Positive und negative
Ionen treten stets im Verhältnis fester stöchiometrischer Zahlen ν+ und ν- auf, d.h. Na+ und
SO4- bilden eine Komponente K der Phase. Daher kann man auch nur das chemische Potenzial von Komponenten und nicht das einzelner Ionensorten für sich bestimmen. In (wässriger) Lösung zerfällt ein Elektrolyt der Zusammensetzung Aν + Bν - nach
Aν + Bν - ⇌ ν + A z + + ν − B z −
(5-2)
- z.B. In2(SO4)3 ⇌ 2 In3+ + 3 SO42- -,
wobei wegen der Elektroneutralität gelten muss
ν+z+ + ν-z- = 0
(5-3).
Die Freie Enthalpie g des Elektrolyten kann daher entweder als die der Komponente oder die
der (Summe der) Teilchen ausgedrückt werden, in die der Elektrolyt zerfällt:
g = nKµK = n+µ+ + n-µ+ + nuµu
(5-4),
wobei der Index u die ungeladenen Teilchen bezeichnet. Wegen der Massenerhaltung ist
n+ = ν+(nK – nu)
und
n- = ν-(nK – nu)
(5-5)
Außerdem gilt im thermodynamischen Gleichgewicht (5-2)
µu = ν+µ+ + ν-µ-
(5-6),
so dass man allgemein für das chemische Potenzial des Elektrolyten erhält
µ = µK = ν+µ+ + ν-µ-
(5-7)
Ist b die Molalität und α der Dissoziationsgrad, so erhält man mit b+ = ν+αb, b- = ν-αb und
b⊝ = 1 mol/kg die Konzentrationsabhängigkeit der chemischen Potenziale aus
µ+ = µ+⊝ + RT ln (γ+ν+αb/b⊝) bzw. µ- = µ-⊝ + RT ln (γ-ν-αb/b⊝) (5-8),
wobei γ+ und γ- Ionenaktivitätskoeffizienten darstellen, die wegen der vergleichsweise weit
reichenden interionischen Wechselwirkungen bereits bei Konzentrationen unter 10-3 mol/kg
berücksichtigt werden müssen. Außerdem gilt
µu = µu⊝ + RT ln [γu(1-α)b/b⊝]
(5-9)
(5-7) und (5-8) lassen sich zusammenfassen
µ = ν+µ+⊝ + ν-µ-⊝ + RT ln [(γ+ν+αb/b⊝)ν+(γ-ν-αb/b⊝)ν-]
und mit den Abkürzungen
39
(5-10)
ν±(ν+ + ν-) = ν+ν+·ν-ν- , γ±(ν+ + ν-) = γ+ν+·γ-ν-, γ = αγ±, µ⊝ = ν+µ+⊝ + ν-µ-⊝
kann man schreiben
µ = µ⊝ + (ν+ + ν-) RT ln [γ±ν±b/b⊝]
(5-11)
γ± wird als mittlerer Ionenaktivitätskoeffizient bezeichnet; beipielsweise ist für In2(SO4)3:
γ± = [γ2(In2+) · γ3(SO42−)]1/5; entsprechend für z±, ν±, b±, usw.
In Lösungen, die mehrere Elektrolyte mit gemeinsamen Ionen enthalten, sind die Größen
nicht alle unabhängig von einander. Beispielsweise wird für Lösungen, die Na+, K+, Cl- und
Br- enthalten, definiert
γ±2(NaCl) = γ(Na+)γ(Cl-);
γ±2(KBr) = γ(K+)γ(Br-).
γ±2(KCl) = γ(K+)γ(Cl-);
γ±2(NaBr) = γ(Na+)γ(Br-);
Es muss daher gelten
γ ± ( NaCl ) γ ± ( NaBr )
=
γ ± ( KCl)
γ ± ( KBr )
(5-12)
5.1.2 Gleichgewichte in Elektrolytlösungen
Dissoziationskonstante. Für die Dissoziation AB ⇌ A+ + B- lässt sich die Gleichgewichts- bzw. Dissoziationskonstante aufstellen:
Kb =
γ + b+γ − b−
γ AB bAB b Θ
(5-13),
die im allgemeinen Fall lautet:
 b 
Kb =  Θ 
b 
(ν + +ν − −1)
(ν ± γ ±α ) (ν + +ν − )
(1 − α )γ u
(5-14).
Löslichkeitsprodukt. Die Löslichkeit von festen Elektrolyten f, die keine Mischkristalle bilden, wird durch die Gleichgewichtsbedingung
 b γ ν +  b γ ν − 
µ f = µ + RT ln  + Θ +   − −  
 b   bΘ  
Θ
(5-15)
beschrieben. Definiert man (wie oben)
b±(ν + +ν − ) = b+ + b−
ν
ν−
= (ν ±αb )
(ν + +ν − )
(5-16)
so folgt
40
 µ f − µ Θ   b±γ ± 
 =  Θ 
K = exp
 RT   b 
(ν + +ν − )
'
b
(5-17)
Kb’ heißt Löslichkeitsprodukt. (5-15) und (5-17) gelten nur, wenn die Lösung im Kontakt mit
dem festen Elektrolyten (Salz) steht. µ⊝ bezieht sich auf den reinen Feststoff. Da zwar γ±
nicht aber Kb’ von der Zusammensetzung der Lösung abhängt, kann man aus der unabhängigen Bestimmung der Löslichkeit b± die mittleren Aktivitätskoeffizienten γ± experimentell
bestimmen. Dabei, zeigt sich, dass γ± bei kleinen Molalitäten proportional zu I ist, wobei
I=1
2∑
zi2 bi
(5-18)
als „Ionenstärke“ bezeichnet wird und i die Ionensorte angibt. Andere Methoden zur Bestimmung von mittleren Aktivitätskoeffizienten benutzen die Messung der Gefrierpunktserniedrigung oder des osmotischen Drucks. In der Praxis verwendet man meist die Bestimmung von Zellspannungen (EMK). Die nachfolgende Tabelle listet einige mittlere Ionenaktivitätskoeffizienten in Abhängigkeit von der Konzentration auf. Man beachte, dass γ± bei hohen Konzentrationen Werte > 1 annehmen kann.
Tabelle mittlerer Ionen-Aktivitätskoeffizienten γ± in Wasser
b/b⊝
0,001
0,01
0,1
1
2
5
10
AgNO3
KCl
CaCl2
0,964
0,896
0,732
0,430
0,316
0,181
0,108
0,966
0,902
0,770
0,607
0,573
0,593
0,888
0,732
0,524
0,495
0,784
5,907
43,1
5.1.3 Theorie der Aktivitätskoeffizienten.
Die molekülstatistische DEBYE-HÜCKEL-Theorie der Aktivitätskoeffizienten geht von der (im
Vergleich zu anderen molekularen Wechselwirkungen) extrem langen Reichweite der elektrischen Felder von Ionen aus. Diese führt dazu, dass die Ionen nicht gleichmäßig verteilt
sind, sondern dass in der Umgebung eines Ions im Mittel mehr Gegenionen vorhanden sind
als Ionen der gleichen Ladung. Die Ionen sind daher von einer (Gegen-)Ionenatmosphäre
(Ionenwolke) umgeben, die eine Abschirmung der Ladung des Ions und eine Erniedrigung
der Freien Enthalpie bewirken. Quantitativ gilt für den Aktivitätskoeffizienten der Ions i
ln γ i = − Az i2
I
(5-19)
bΘ
3

2
e2
 , wobei ρ die Dichte (ρ = 997,1 kg/m3 für H2O bei 298 K)
mit A = 2πLρb Θ 
 4 πεε 0 k B T 
und ε die Dielektrizitätszahl (ε = 78,36 für H2O bei 25 °C) des Lösemittels ist (ggf. sind in
Gl. 5-19 γi und zi durch γ± und z± zu ersetzen). In Konzentrationseinheiten schreibt man
41
3

2
e2
1
 ; I = ∑ zi2 ci
A = 2πL 
2
 4 πεε 0 k B T 
(5-20)
In beiden Fällen ist für Wasser bei 25 °C und 1 bar die Konstante A = 1,176. Das DEBYEHÜCKEL-Gesetz (5-19) stellt jedoch nur für hinreichend verdünnte Lösungen eine brauchbare
Näherung dar und ist bei Konzentrationen oberhalb von 0,001 mol/kg nicht mehr oder nur
noch näherungsweise verwendbar. Eine bessere Beschreibung der Abweichungen von der
Idealität liefert dann ein Modell, das die Lösung als einen durch das Lösemittel aufgeweiteten Kristall beschreibt.
5.1.4 Primärer Salzeffekt
In konzentrierten Lösungen, insbesondere in Elektrolytlösungen wird die EYRING-Konstante
des Aktivierungsgleichgewichts K≠ (siehe 4-23 – 4-26) konzentrationsabhängig
K ≠ = K id≠ K γ = K id≠ ∏ γ i
νi
(5-21)
Aus (4-26) wird dann
r=
k BT K ≠
cA cBC = kr cA cBC / c Θ
hc Θ Kγ
(5-22)
Im Konzentrationsbereich der Gültigkeit der Debye-Hückel-Theorie ist
(
γ i = exp − A( zi2 I / c Θ
)
entspricht
(5-19)
Somit erhält man
[
]
(
γ ABC = exp − A(z A + z BC )2 I ; und K γ = exp − 2 z A z BC I
≠
Entsprechend ergibt sich Für Reaktionen unter Beteiligung geladener Reaktionspartner eine Abhängigkeit der
Geschwindigkeitskonstante kr von der Ionenstärke: Bei
Reaktionen gegensinnig geladener Ionen erniedrigt die
Ionenstärke die Reaktionsgeschwindigkeitskonstante, bei
Reaktionen gleichsinnig geladener Ionen ist es umgekehrt.
ln
)
(5-23)
kr
k0r
zA zBC = 2
zA zBC = 1
I1/2
zA zBC = -1
k 
ln r  = 2 AzA z BC I
 k0 r 
zA zBC = -2
(5-24)
42
5.2 Leitfähigkeit und Überführung
Man rekapituliere die Ausführungen zu Wanderungsgeschwindigkeit und Beweglichkeit ui
von Ionen in einer wässrigen Elektrolytlösung im Kapitel 6.2 in Teil I und mache sich klar,
dass die elektrolytische Leitfähigkeit die Basis der Elektrolyse und der Abscheidungen (Galvanik) sowie analytischer Verfahren wie Konduktometrie ist.
Es ergibt sich für nach Aν+Bν- ⇌ ν+ Az+ + ν- Bz- in wässriger Lösung dissoziierende Salze
eine Äquivalentleitfähigkeit Λäq
Λäq =
κ
=
z+ c+ Λ+ äq + z− c− Λ− äq α (Λ+ äq + Λ− äq )
κ
=
=
cν ± z ±
cν ± z
z±
(5-25),
cäq
±
wobei c die Einwaagekonzentration des Elektrolyten darstellt und c+ = αν+c sowie c- = αν-c
ist. Im Allgemeinen ist Λäq eine Funktion des Einwaagekonzentration und zwar auch für starke Elektrolyte, für die α = 1 ist, wegen der konzentrationsabhängigen Aktivitätskoeffizienten (s.o.). Auf Grund unterschiedlicher Beweglichkeiten ui setzt sich die Gesamtleitfähigkeit aus unterschiedlichen Beiträgen der unterschiedlichen Ionensorten zusammen.
Die Anteile
Λ+ν +
Λν
u+
= + + =
Λ+ν + + Λ−ν −
Λ
u+ + u−
heißen Überführungszahlen t+ und t-.
t+ =
und t − =
Λ−ν −
u−
=
Λ+ + Λ− u + + u −
(5-26)
Überführungszahlen lassen sich mit verschiedenen Methoden experimentell bestimmen, z.B.
mit EMK-Messungen. Beim sog. HITTORF-Verfahren bestimmt man Verhältniszahlen Λ+/Λaus Konzentrationsänderungen im Kathoden- und Anodenraum einer Leitfähigkeits-zelle.
Neben der Ionenwanderung im elektrischen Feld findet die gewöhnliche Diffusion statt, die
die Konzentrationsunterschiede im Kathoden- und Anodenraum wieder verwischt. Diese
Diffusion ist jedoch vergleichsweise langsam und kann mit Hilfe von Fritten, die die Elektrodenräume in der Mitte der Zelle abtrennen, bedeutungslos gemacht werden. Bei der Analyse der Elektrodenräume ist allerdings die Abscheidung von Ionen ggf. zu berückschtigen.
Ergebnis der Überführungsmessungen sind Einzelwerte der Beweglichkeiten ui bzw. Ionenleitfähigkeiten Λi, die von der Konzentration abhängen. Nur bei hoher Verdünnung erhält
man Grenzwerte Λ∞i, die von der Konzentration unabhängig sind. Bei schwachen Elektrolyten kann man unmittelbar mit diesen Werten rechnen, was zur Bestimmung der Dissoziationskonstanten ausgenutzt werden kann. Der Dissoziationsgrad wird dann aus
α=
Λäq
Λ∞ + + Λ∞ −
(5-27)
ermittelt. Die folgende Tabelle für wässrige Lösungen bei 298 K zeigt, dass zwar Λ± nicht
aber die Überführungszahl t± die Ionensorte charakterisiert, da letztere vom Gegenion abhängt.
NaCl
KCl
KBr
t+
0,401
0,496
0,484
Λ∞+ /Ω-1cm2mol-1
50,1
73,5
73,5
43
t0,599
0,504
0,516
Λ∞- /Ω-1cm2mol-1
76,4
76,4
78,1
Bei Salzschmelzen fehlt ein Lösungsmittel, auf das man die Ionenbewegung beziehen kann.
In einem binären Elektrolyten gibt es dann nur noch eine unabhängige Ionenleitfähigkeit, so
dass man die andere darauf beziehen kann, indem man z.B. t- = 0 (oder t+ = 1) setzt. In dem
Fall ist Λ+ = Λäq.
Theorie der Leitfähigkeit
Für die konzentrationsunabhängigen Grenzwerte der Leitfähigkeit gilt
Λ∞i = FF ui =
FF e zi
6π riη
(5-28)
Das Produkt Λ∞iη sollte daher nur noch vom Ion aber nicht mehr vom Lösungsmittel abhängen. Tatsächlich ist die „WALDEN-Regel“ nur dann gut erfüllt, wenn die Ionensolvatation, die
in den effektiven Ionenradius ri eingeht, praktisch keine Rolle spielt, z.B. bei sehr großen
Ionen. Die Ionensolvatation wirkt sich aber auch auf die Konzentrationsabhängigkeit der
Leitfähigkeit aus. Die molekülkinetische, auf ONSAGER zurückgehende Theorie dieser Abhängigkeit liefert zwei Effekte, nämlich den elektrophoretischen Effekt ∆ΛE – Behinderung
der Ionenwanderung durch anziehende Kräfte zwischen den Solvathüllen – und den Relaxationseffekt ∆ΛR, der die Behinderung der Ionenwanderung durch elektrostatische Kräfte beschreibt, die sich aus der asymmetrischen Verteilung der wandernden positiven und negativen Ionen (vgl. Überführung) ergeben.
Beide Effekte bewirken, dass sich Äquivalentleitfähigkeiten von verdünnten Lösungen eines
in ν+ Kationen (der Ladung z+e) und ν- Anionen (der Ladung z-e) zerfallenden Elektrolyten
durch
Λäq = α (Λ+ äq + Λ− äq )/ z± = α (Λ∞ , äq − ∆ΛE − ∆ΛR )/ z±
(5-29)
darstellen lässt, und zwar ist
∆ΛE = A' α cäq c
Θ
und ∆ΛR = BΛ∞ , äq α cäq c Θ
mit
A' = (z + − z − )Za und
a=
e2 L
3πη
1
(ν + z+2 + ν − z−2 ) ,
2
e 2 Lc Θ
Acm 2  Pa s  K
= 4,1228
,


2εε 0 kT
Vmol  η  εT
B = z+ z− Z
Lc Θ
b=
3π
Z=
z z
λ∞ + + λ∞ −
r
b und r = + − ⋅
,
z + + z − z + λ∞ − + z − λ∞ +
1+ r
 e2

 2εε 0 kT



3
2
3
K 2
= 2,8010 ⋅ 10   .
 εT 
6
Für starke Elektrolyte erhält man daher das Grenzgesetz
44
(5-30)
Λäq = Λ∞ , äq − ( A'+ BΛ∞ , äq ) cäq c Θ
(5-31),
welches das empirisch gefundene KOHLRAUSCH-Gesetz (vgl. Teil I, (6-15)) theoretisch untermauert.
5.3 Elektrodenpotenziale
Ein System aus Elektroden, die sich in einem Medium befinden, ist ein heterogenes System,
in welchem ein Stoffaustausch über Phasengrenzen hinweg stattfindet. Allgemein ist der
Phasenübergang von Stoffen stets mit einem Energieumsatz verbunden, z.B. Verdampfungsenthalpie, Lösungsenthalpie, usw. In heterogenen elektrochemischen Systemen hat man es
mit dem Phasenübergang geladener Teilchen (Elektronen, Ionen) zu tun. Hierzu betrachten
wir zunächst ein Teilchen mit der Ladung zie, das sich in einem elektrischen Feld im Vakuum befindet. Wenn das elektrische Feld an dieser Stelle das Potenzial ψ hat, ist die Energie
des Teilchens zie ψ. Die Arbeit, die nötig ist, um das Teilchen (Ion) von dieser Stelle an eine
andere mit dem Potenzial ψ’ zu bringen, ist zie(ψ’ – ψ).
Im Vakuum ist dieser Betrag unabhängig von der Natur des Ions. In Materie kommen jedoch
chemische Wechselwirkungen des Ions mit seiner Umgebung hinzu, die für unterschiedliche
Ionen verschieden sind. Daher ist es zweckmäßig, das elektrochemische Potenzial (vgl. (6-2)
Teil I) zu verwenden
µ~ i = µ i + ziFFψ
(5−32).
Zur Erinnerung: µ i ist das gewöhnliche vom elektrischen Feld unabhängige chemische Potenzial des Ions und ziFFψ beschreibt den von der Natur des Teilchens unabhängigen elektrostatischen Anteil von µ~ i . Im thermodynamischen Gleichgewicht (d.h. wenn keine chemischen
Nettoreaktionen und kein Stromfluss stattfinden) haben µ i und ziFFψ im Inneren der Materie
konstante Werte.
An der Phasengrenze jedoch ändern sich beide Größen sprunghaft. Deshalb bilden alle Phasen an ihren Oberflächen elektrische Doppelschichten aus (siehe Kap. 6.1 in Teil I): Aus einem Metall im Vakuum treten energiereiche Elektronen aus, denen positive Ionen an der
Metalloberfläche gegenüberstehen; Wasserdipole orientieren sich mit ihren positiven Enden
nach außen; selbst unpolare Moleküle unterliegen einseitigen Anziehungskräften an der Oberflächen und bilden dabei (induzierte) Dipole aus.
Zudem befinden sich (durch von außen angelegte Spannung erzeugte) Überschussladungen
nach den Gesetzen der Elektrostatik stets an der Phasengrenzfläche. Außerhalb eines einheitlichen Materiebereichs überlagern sich daher die Potenziale der Doppelschicht (Oberflächenpotenzial χ) und Überschussladung (Voltapotenzial φ) zum elektrostatischen Gesamtpotenzial (Galvani-Potenzial ψ)
ψ=φ+χ
(5-33).
Das Oberflächenpotenzial χ lässt sich nicht getrennt bestimmen, weil hierzu eine Testladung
so nahe an die Oberfläche gebracht werden müsste, dass es zu einer Umordnung der Dipole
45
kommen würde. Für zwei unterschiedlich zusammengesetzte Phasen α und β gilt daher, dass
nur die Differenzen der äußeren (Volta-)Potenziale
φβ – φα = ∆φ = ∆ψ - ∆χ
(5-34)
aber weder ∆ψ noch ∆χ messbar sind.
Wenn sich zwei solche Phasen berühren, kommt es stets zum Übergang von Ionen (ggf. Elektronen) durch die gemeinsame Grenzfläche, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist, der
definitionsgemäß durch die Gleichheit der elektrochemischen Potenziale beschrieben wird:
µ~iβ = µ~iα
(5-35).
Im elektrochemischen Gleichgewicht hängt deshalb die Differenz ψβ – ψα (GleichgewichtsGalvani-Spannung) nur noch von dem gewöhnlichen, feldunabhängigen chemischen Potenzial des Ions in beiden Phasen ab:
ψ β −ψ α = ∆ψ =
−
µ iβ − µ iα
z i FF
=
µ~iβ − µ~iα − (µ iβ − µ iα )
z i FF
µ iΘβ − µ iΘα
z i FF
=
(5-36).
a iβ
RT
− ∆G Θ
−
=
ln
z i FF
a iα
z i FF
Dies entspricht der Nernst-Gleichung [(6-24)in Teil I] für eine Halbzelle.
Galvanische Ketten
Eine messbare elektrische Potenzialdifferenz tritt auf, wenn man (mindestens) zwei unterschiedliche Zweiphasensysteme miteinander kombiniert. Es entsteht dann eine galvanische
Kette. Im elektrochemischen Gleichgewicht misst man dann den Unterschied von zwei Galvani-Spannungen (als Differenz von Voltaspannungen, s.u.). Nicht messbare GalvaniSpannungen treten an der Phasengrenze zwischen zwei Metallen oder zwischen einem Metall
und einem Nichtmetall (z.B. Ag und AgCl) oder beim Eintauchen von festen Stoffen wie Pt,
Ag, AgCl, etc. in Wasser oder wässrige Lösungen. Zwischen identischen Pt-Endphasen der
folgenden galvanischen Kette
Phase
Komponenten
Austausch
α
Pt
e-
β
H2, H2O, HCl
Cl
γ
AgCl
δ
Ag
-
e-
ε
Pt
e-
(symbolisiert durch Pt | H2, H2O, HCl | AgCl | Ag | Pt) tritt jedoch eine messbare VoltaSpannung auf, die außer von der Temperatur und ggf. vom Druck von der Zusammensetzung
der Lösung (Phase β) abhängt. Im elektrochemischen Gleichgewicht wird diese VoltaSpannung als elektromotorische Kraft EMK bezeichnet:
EMK = ψε – ψα = φε – φα = (ψε – ψδ) + (ψδ – ψγ ) + (ψγ – ψβ ) + (ψβ – ψα )
Aus (5-36) erhält man mit zi = -1 für Elektronen und Chloridionen
46
(5−37).
EMK = 1/FF {[µε(e-) – µδ(e-)] + [µδ(e-) – µγ(e-)] + [µγ(Cl-) – µβ(Cl-)] + [µb(e-) – µα(e-)]
(5-38).
Definitionsgemäß ist das chemische Potenzial der Elektronen in den beiden Endphasen
gleich, µε(e-) = µα(e-). Sämtliche Gleichgewichte sind eingestellt, auch die homogenen
Gleichgewichte e- + H+ ⇌ ½ H2 und Cl– + H+ ⇌ HCl. Daher gilt
µβ(e-) + µβ(H+) = ½ µ(H2); µβ(Cl–) + µβ(H+) = µ(HCl).
(5-39).
Bei den neutralen Substanzen H2 und HCl kann man den Index β weglassen, da deren chemische Potenziale im Gleichgewicht in allen Phasen gleich sind. Entsprechend gilt für die γPhase
e- + AgCl ⇌ Ag + Cl–;
µγ(e-) + µ (AgCl) = µ(Ag) + µγ(Cl–).
(5-40).
Zusammenfasst erhält man
EMK = 1/FF [–µγ(e-) + µγ(Cl–) – µβ(Cl–) + µβ(e-)]
= 1/FF [µ(AgCl) – µ(Ag) - µγ(Cl–) + µγ(Cl–) – µ(HCl) + µβ(H+) – µβ(H+) + ½ µ(H2)]
(5-41).
= 1/FF [µ(AgCl) + ½ µ(H2) – µ(Ag) - µ(HCl)]
Multipliziert mit der Faraday-Konstanten ergibt die EMK unmittelbar einen Zahlenwert für
die Freie Reaktionsenthalpie (EMK FF = –∆RGΘ) der Reaktion AgCl(fest) + ½ H2 ⇌ Ag(fest)
+ HCl (Da die chemischen Potenziale von H2 und HCl in der Lösung und in der darüber befindlichen Gasphase übereinstimmen, muss bei diesen die Phase nicht spezifiziert werden).
Bei 298 K, einem Wasserstoff-Partialdruck von 1 bar und einer HCl-Molalität von 1 mol kg-1
misst man EMK = 0,3524 V entsprechend ∆RG⊝ = –34,0 kJ mol-1.
Im Teil I hatten wir uns um das Vorzeichen der EMK nicht viel gekümmert. Hier ist dieses
durch Zell-(Ketten-)symbol und Zellreaktion festgelegt. Man erhält also EMK = –0,3524 V
für die Kette
Pt | Ag | AgCl | H2, H2O, HCl | Pt
und die Zellreaktion
Ag(fest) + HCl ⇌ AgCl(fest) + ½ H2.
Für diese Reaktion ist entsprechend ∆RG⊝ positiv, sie läuft nicht freiwillig ab (Silber löst sich
nicht in Säuren: Edelmetall).
Die Zellreaktion wird zweckmäßigerweise immer für den Umsatz von 1 FF (=1 mol Ladungen) formuliert. Diese kann man bei gegebener galvanischer Kette immer als Summe der
beiden Elektrodenreaktionen schreiben. Die EMK ist dann jeweils durch die Freie Enthalpie
der Zellreaktion – ∆RG⊝/FF gegeben. Beispielkette:
In | In2(SO4)3, H2O | Hg2SO4 | Hg
Elektrodenreaktion links:
In → In3+ + 3 eElektrodenreaktion rechts
3 e- + 3/2 Hg22+ → 3 Hg
Zellreaktion für 3 mol:
In + 3/2 Hg22+ → 3 Hg + In3+
Zellreaktion für 1 mol:
1/3 In + ½ Hg22+→ Hg + 1/3 In3+
oder
1/3 In + ½ Hg2SO4 → Hg + 1/6 In2(SO4)3
47
Daraus folgt:
EMK = 1/FF [1/3 µ⊝(In) + 1/2 µ⊝(Hg2SO4) – µ⊝(Hg) – 1/6 µ⊝(In2(SO4)3)] = –∆RG⊝/FF
(5-42)
So geschrieben entsprechen Zellreaktionen einem Ladungsfluss von 1 FF.
Konzentrationsabhängigkeit der EMK
In (5-42) geht lediglich eine Aktivität in die EMK ein, die des gelösten Indiumsulfats. Alle
anderen Reaktanden befinden sich in ihren Standard-Zuständen. Ist b die Molalität des Indiumsulfats, so gilt (vgl. 5-11)10
µ = µ⊝ + (ν+ + ν-) RT ln [γν±b/b⊝]
(5-43),
wobei durch γ = αγ± bereits berücksichtigt ist, dass der Dissoziationsgrad α des Indiumsulfats in der Lösung kleiner als 1 sein kann. Definiert man für einen Elektrolyten, der in ν+
positive Ionen der Ladung z+ und ν– negative Ionen der Ladungen z– zerfällt, stöchiometrische Koeffizienten ν in der Zellreaktionsgleichung als
ν = 1/(ν-z-) bzw. –ν = 1/(ν+z+)
(da wegen der Elektroneutralitätsbedingung ν+/ν– = –z–/z+), so lässt sich die EMK in einer
allgemeinen Form schreiben:
RT 
b 
ln γν ± Θ 
FF 
b 
(5-44).
ν + +ν −
5 ν
1
1 1
1 1
=− = + +
=
−
=− −
ν − z−
6 ν − z− z− z− z+
2 3
(5-45).
EMK = EMK Θ + ν (ν + + ν − )
Wegen ν = 1/(ν- z-) gilt hier
ν (ν + + ν − ) =
EMK-Messungen als Funktion der Molalität liefern also hier und in allen anderen Fällen unmittelbar Zahlenwerte für den konventionellen (phänomenologischen) Aktivitätskoeffizienten γ für das betreffende Salz.
Konzentrationsabhängigkeiten der EMK spielen weiterhin eine Rolle, wenn Gase an der elektrochemischen Reaktion beteiligt sind, weil deren chemische Potenziale durch den Partialdruck pi über der Lösung festgelegt sind (falls sich die Gasphase ideal verhält):
µi = µι⊝ + RT ln (pi/pi⊝)
(5-46).
Auch Legierungselektroden zeigen eine charakteristische Konzentrationsabhängigkeit. Im
Fall der Kette
Hg,Pb (a’) | PbAc2, HAc, H2O | Pb(a),Hg
ist Pb(a’) → Pb(a) die Zellreaktion und da –∆RG⊝ = RT ln (a’/a) folgt für den Ladungsdurchtritt von 1 FF
10
Zur Erinnerung: ν±(ν+ + ν-) = ν+ν+·ν-ν-
48
EMK = (RT/2FF) ln (a’/a)
(5-47).
Dissoziationskonstanten aus EMK-Messungen
Schwache Säuren HS zerfallen in wässriger Lösung nur unvollständig in Ionen HS ⇌ H+ + S. Die Dissoziationskonstante
K=
a H + aS −
a HS
kann mit elektrochemischen Ketten bestimmt werden, die eine Pufferlösung enthalten, z.B.
Pt | H2, HS, Na2S, H2O, NaCl | AgCl | Ag,
wobei HS, Na2S und NaCl in den Molalitäten b1, b2 und b3 vorliegen. Die Zellreaktion ist
hier
½ H2 + AgCl → Ag + HCl.
Bei schwacher Dissoziation ist bHS ≈ b1, bS- ≈ b2 und bCl - = b3. Wählt man p H 2 = p⊝ = 1 bar,
so misst man
EMK = EMK Θ −

RT
RT
RT  Kb1γ HS b3

ln a HCl = EMK Θ −
ln (a H + a Cl- ) = EMK Θ −
ln
γ
FF
FF
FF  b2γ S- b Θ Cl 
(5-48),
wobei man zweckmäßigerweise verdünnte Lösungen vermisst und die Aktivitätskoeffizienten nach Debye und Hückel berechnet oder die experimentellen Daten bei verschiedenen
Konzentrationen für unendliche Verdünnung extrapoliert.
Druck- und Temperaturabhängigkeit der EMK
Die Druckabhängigkeit ist wegen der geringen Kompressibilität kondensierter System im
Allgemeinen zu vernachlässigen (Ausnahme bei Beteiligung gasförmiger Reakanden, siehe
(5-38)). Die Temperaturabhängigkeit setzt sich aus dem RT-Glied der Nernst-Gleichung und
einer gewissen T-Abhängigkeit der Normalpotenziale zusammen, ist jedoch insgesamt über
den KIRCHHOFF-Satz zu erfassen (vgl. Teil I, Kap. 6.3.3). Umgekehrt liefert die Messung der
EMK als Funktion der Temperatur die Reaktionsenthalpie und –entropie der Zellreaktion. Es
folgt aus ∆RG⊝ = ∆RH⊝ – T∆RS⊝, dass
 ∂ (∆ R G Θ ) 
 ∂EMK 

∆ R S Θ = ∑ν i SiΘ = −
= zi FF 

 ∂T ξ =1 mol
 ∂T ξ =1 mol
  ∂EMK 

∆ R H = ∑ν i ∆ B H = ∆ R G + ∆ R S = zi FF T 
− EMK 

  ∂T ξ =1 mol

Θ
Θ
i
Θ
Θ
Halbketten (Elektroden)
49
(5-49).
Aus der thermodynamischen Definition der Standard-EMK ergibt sich, dass diese stets als
Differenz von zwei Normalpotnzialen geschrieben werden kann, die der linken und der rechten Elektrode zuzuordnen sind. Die einzelnen Werte sind unabhängig von der jeweils anderen Elektrode (und bis auf eine additive Konstante) festgelegt. Man kann daher den Standardwert von einer bestimmten Elektrode willkürlich festsetzen und alle anderen darauf beziehen. Üblich ist, für die Halbkette H+, H2 | Pt unter Standardbedingungen ψ 0Θ = 0 festzulegen und diese als rechte Halbzelle mit der Elektrodenreaktion e- + H+ → ½ H2 einzusetzen
(Normal-Wasserstoffelektrode, NHE). Man gibt dann ψ 0Θ aller anderen (rechten) Halbketten
als Differenz zur NHE an und schreibt die Elektrodenreaktionen als Reduktionen, z.B.
Halbkette (Elektrode)
Elektrodenreaktion
ψ 0Θ (298 K) / V
Zn2+ | Zn
e- + ½ Zn2+ → ½ Zn
–0,7611
Cl- | AgCl | Ag
e- + AgCl → Ag + Cl0,2223
2+
2+
Cu | Cu
e + ½ Cu → ½ Cu
0,339
2+
2+
Hg2 | Hg2Cl2 | Hg
e + ½ Hg2 → ½ Hg2
0,62
O2, H+ | Pt
e- + 1/4 O2 +H+→ ½ H2O
1,23
Ce4+, Ce3+ | Pt
e- + Ce4+ → Ce3+
1,61
So lässt sich die im Teil I für Metalle gegebene Tabelle der Normalpotenziale (dort EΘ genannt) um Halbzellen für beliebige Redoxreaktionen erweitern.
Die ψ 0Θ -Werte (Normalpotenziale) einer Elektrode sind ein relatives Maß für die Freie Reaktionsenthalpie einer Reduktionsreaktion. Das Vorzeichen legt außerdem die elektrische Polarität der Elektrode in Bezug auf die Standard-Wasserstoffelektrode fest. So ist die StandardEMK der Kette11 Zn | Zn2+, H2O, || H2O, H+, H2 | Pt. Durch 0 – (–0,7611) V = 0,7611 V gegeben, wobei das positive Vorzeichen ausdrückt, dass die Zellreaktion ½ Zn + H+ ⇌ ½ Zn2+
+ ½ H2 spontan und freiwillig abläuft, also dass ∆RG⊝ negativ ist; außerdem ist die Zinkelektrode, deren Standard-EMK negativ ist, in Kombination mit der Wasserstoffelektrode
negativ polarisiert, fungiert also als Anode.
Aus dieser Vorzeichenkonvention ergibt sich allgemein, dass die EMK die Differenz der
Potenziale von rechter und linker Elektrode angibt, und dass die Zellreaktion stets als Differenz der Elektrodenreaktion geschrieben werden kann. Als Beispiel soll das Daniell-Element
dienen:
Zn | Zn2+, Cu2+ | Cu
(5-50).
Hierfür erhält man unter Standardbedingungen
EMK⊝ = ψ rΘ –ψ lΘ =[0,339 – (–0,7611) = 1,001] V.
Die Zellreaktion ist hier:
Elektrodenreaktion rechts
Elektrodenreaktion links
Differenz (rechts – links)
(5-51)
e- + ½ Cu2+ → ½ Cu
e- + 1/2 Zn2+ → ½ Zn
½ Cu2+ + ½ Zn → 1/2 Zn2+ + 1/2 Cu
Die Kette (5-50) ist als solche ein schlechtes Element, weil bereits beim Eintauchen der Elektroden in eine Lösung, die sowohl Zn- als auch Cu-Ionen enthält, eine chemische Reakti11
Der Doppelstrich symbolisiert ein Diaphragma, s. Gl. (5-52)
50
on ablaufen würde – Auflösung von Zink und Abscheidung von Kupfer - , so dass sich das
elektrochemische Gleichgewicht nicht einstellen könnte und keine konstante Spannung
messbar wäre. In solchen Fällen trennt man Anoden- und Kathodenraum durch ein sog. Diaphragma, das eine Durchmischung der Lösungen verhindert, jedoch einen Ladungsaustausch
erlaubt. Solche Phasengrenzen symbolisiert man mit einem Doppelstrich:
Zn | Zn2+ || Cu2+ | Cu
(5-52).
Am Diaphragma laufen irreversible Diffusionsprozesse zwischen den unterschiedlich zusammengesetzten Lösungen ab, so dass Galvani-Spannungen auftreten (Diffusionspotenziale), die zu (oft vernachlässigten) Messfehlern führen. Etwas besser in dieser Hinsicht sind
elektrolytisch leitende Salzbrücken zwischen den Lösungen anstelle des Diaphragmas.
Elektroden 1. und 2. Art
In der Elektrochemie wird häufig zwischen Elektroden 1. und 2. Art unterschieden. Erstere
bedürfen keiner besonderen Erläuterung. Beispiele sind alle Metalle, die in eine Lösung ihrer
Salze eintauchen.
Als Elektroden 2. Art bezeichnet man solche, an deren Potenzialbildung zwei feste Phasen
beteiligt sind. Solche sind oben bereits vorgekommen, z.B. die Ag/AgCl-Elektrode, bei der
das AgCl mit einer chloridhaltigen Lösung in Kontakt steht. Die Lösung ist dann zwangsläufig gesättigt bezüglich AgCl, und weitere Chloridionen bestimmen das Potenzial, da die
Konzentration der Silberionen durch das Löslichkeitsprodukt K b' = bAg + bCl − / b 2 Θ festgelegt
ist. Die Molalität der Silberionen bAg + = K b' / bCl − kann daher in den Wert der Standard-EMK
einbezogen werden.
RT
RT
RT
ln K b' −
ln bCl − = ψ 0Θ, Ag / AgCl −
ln bCl −
(5-53)
FF
FF
FF
Bei hoher Chloridionenkonzentration ist das Potenzial der Elektrode nahezu konstant, so dass
Ag/AgCl-Elektroden auch als Standard-Elektroden genutzt werden.
EMK = ψ 0Θ, Ag + / Ag +
51
Anhang
1. Exakte Behandlung der Kapillarascension
Die Krümmung einer Fläche lässt sich in jedem Punkt durch Angabe von zwei Krümmungsradien r1 und r2 in orthogonalen Richtungen charakterisieren. Legt man in diesen Punkt ein Koordinatensystem ξ, η, ζ, so erhält man dort ein Flächenelement
dO = (ξ + dξ )(η + dη ) − ξη = ξdη + ηdξ
(A1-1)
und ein Volumenelement
dv = ξηdζ
(A1-2)
Außerdem gilt
ξ + dξ ξ
ξdζ
=
bzw.
= dξ
(A1-3)
r1 + dζ r1
r1
und entsprechend
η + dη η
η
=
bzw.
dη = dζ
(A1-4)
r2 + dζ r2
r2
Im Gleichgewicht halten sich Oberflächenarbeit und Volumenarbeit die Waage
pd v = γ d O
und daher gilt
(A1-5)
1 1
p ⋅ ξηdζ = γ (ξdη + ηdξ ) = γξηdζ  + 
 r1 r2 
(A1-6)
bzw.
1 1
(A1-7)
p = γ  + 
 r1 r2 
(3-49) ergibt sich also aus (A1-7) für den Fall, dass r1 = r2.
Wenn man bei der Kapillarascension nicht voraussetzt, dass die Meniskusfläche eine Kugelscheibe bildet, sind die Krümmungsradien Funktionen von x und y, und für jeden Flächenpunkt gilt:
p=ρ g y
(A1-8)
Bezeichnet man mit r1 den Krümmungsradius der Meniskusfläche in der xy-Ebene (Papierebene), so folgt aus der analytischen Geometrie
d2 y
dy
1
y ′′
′
′
′
=
mit
y =
;
y = 2
(A1-9)
r1 [1 + ( y′) 2 ]3 / 2
dx
dx
r2 bezieht sich auf die Krümmung in einer dazu senkrechten Richtung. In dem hier realisierten Sonderfall einer rotationssymmetrischen Fläche ist r2 die Länge der Normalen. Für diese
gilt
x
tg ϕ
y′
= sin ϕ =
=
(A1-10)
r2
1 + tg 2 βϕ
1 + ( y ′) 2
Man erhält daher für die Funktion y(x) die Differentialgleichung
52


y ′′
y′

+
(A1-11)
 [1 + ( y ′) 2 ]3 / 2 x 1 + ( y ′) 2 


für die keine explizite Lösung bekannt ist. Für h >> r (Kapillarradius) und nahezu sphärischen Meniskus existiert eine angenäherte Lösung der Form

2γ
r
r2
r3 
(A1-12).
= r  h + − 0.1288 + 0.1312 2 
3
h
h 
ρg

(Vgl. Rayleigh, Proc. Roy. Soc. (London) A92 (1915) 184 sowie Adamson “Physical Chemistry of Surfaces” S. 12 ff.)
ρ g y =γ
2. Gibbs-Duhem-Gleichung
Irgendeine thermodynamische Zustandsfunktion φ ist bei Mischphasen stets die Summe partieller molarer Größen
k
k
i
i
 ∂φ 
 dni .
 ∂ni i ≠ j
φ = ∑ niΦi = ∑ 
(A2-1).
Andererseits hat die Zustandsfunktion ein (totales) Differential
k
k
1
1
dφ = ∑ ni dΦi + ∑ Φi dni
(A2-2)
(A2-1) und (A2-2) können nur beide richtig sein, wenn
k
∑ n dΦ = 0
i
i
Gibbs-Duhem-Gleichung.
(A2-3)
1
Nutzanwendung für zahlreiche Φi :
k
∑
ni dΦi = 0 = n1 dΦ1 + n2 dΦ2 + ... + nk dΦk = 0
(A2-4)
1
k
Division durch die Stoffmengen
∑
ni ergibt:
1
k
∑
xi dΦi = 0 = x1 dΦ1 + ...
(A2-5)
1
und für Zweistoffsysteme gilt:
x1 dΦ1 = − x2 dΦ2
(A2-6)
53
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