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Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Dompredigerin Dr. Petra Zimmermann
Misericordias Domini, 8. Mai 2011, 10 Uhr
Predigt über Ezechiel, 34, 1-2(3-9)10-16.31
Gnade sei mit euch und Frieden von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen
Der Predigttext für diesen Sonntag steht beim Propheten Ezechiel.
Und des Herrn Wort geschah zu mir:
2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott
der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen
fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst
weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.
12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe
suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zurzeit, als es trüb und finster
war.
13 Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land
bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da
werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15 Ich selbst will meine
Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR.
16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden
und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der
HERR.
Liebe Gemeinde,
Schafe und Hirten, die grünen Auen und das frische Wasser, fette Weiden und hohe Berge. Eine
anrührende, idyllische Bilderwelt prägt diesen Sonntag. Sie findet sich wieder in Liedern, Gebeten und
manchem Bild des bärtigen Hirten, der über seine Schäfchen wacht. Das passt zu Kindertaufe und
Sonnenschein. Diese Bilder füttern unsere Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Schutz und Bewahrung,
nach einem friedlichen Ort, an dem niemand verloren gehen soll. Was sich verirrt hat, findet heim, was
verwundet ist, wird geheilt. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Als man den alten Karl Barth einmal fragte, wie er seinen persönlichen Glauben zusammenfassen würde,
zitierte er dieses Kinderlied:
„Weil ich Jesu Schäflein bin,
Freu ich mich nun immerhin
über meinen guten Hirten
der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt
und bei meinem Namen nennt.“
Karl Barth, der berühmte Theologe, einer der ganz großen Denker seiner Zeit, der sein Leben lang über
Gott und den Menschen nach gesonnen und dicke Bücher darüber verfasst hat, er meinte am Ende
seines Lebens, dies sei die Quintessenz all dessen, was sich dazu sagen ließe: „Jesu Schäflein“. Und mag
ja sein, er hat Recht und niemand bringt es als Christ weiter als bis zum Schaf.
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Aber das Bild vom Schäflein wirft doch auch einen eigentümlichen Schatten. Man merkt es spätestens
dann, wenn man sich selbst fragt, ob man gerne Schäflein sein möchte. Niedlich aber abhängig vom
Mutterschaf, der Herde, dem Hirten. Im besten Fall behütet und gut geweidet. Aber doch immer auch
getrieben und bewacht. Kein Zweifel, wer das Sagen hat, wer bestimmt, wo es lang geht. Auf welchen
Weidegründen sich das Schaf bedienen darf, wo es nichts zu suchen hat und wann ihm das Fell über die
Ohren gezogen wird. Reduziert auf die Rolle des Schafes fühlt man sich schnell ziemlich belämmert.
In dem Bild vom Schaf und Hirten steckt eben auch eine subtile Machtkonstellation. (Foucault) Und
deshalb ist dieses Bild ambivalent. Es beschreibt den Menschen als abhängiges Wesen, das vielerlei
Machteinflüssen unterworfen ist. Von Geburt an auf Hilfe angewiesen, von einer Abhängigkeit in die
nächste stolpernd, ist der Mensch ein Wesen, das sich vorzüglich dazu eignet, sich seiner zu
bemächtigen. Eltern und Kinder, Schüler und Lehrer, Angestellte und Chefin, Mann und Frau. Noch gar
nicht zu reden von all dem anderen, das sich unser bemächtigen möchten, das uns haben will, als
Konsument und Konsumentin von Dingen, die niemand braucht, von Ideen, die unser Hirn vernebeln,
von diesem Daueralarm der Nachrichten, die über nichts informieren und schon gar nicht erhellen. Die
neuen Hirten brauchen keine Hunde mehr, sie können auf Gatter und Pflöcke verzichten, die Schafe
fressen ihnen auch so aus der Hand. Geschoren und geschröpft werden sie dennoch und tragen ihre
Haut zu Markte.
Die Konstellationen der Macht sind vielfältig, und wo Macht ist, lauert der Missbrauch von Macht an
jeder Ecke. Zwänge, in die wir geraten, Abhängigkeiten, in denen wir ausbluten, Kräfte, die uns
einschüchtern, sodass einem selbst das leiseste Blöken im Halse stecken bleibt. Das Schweigen der
Lämmer. Was ist der Mensch? Ein ausgeliefertes Wesen, an dem andere sich weiden.
In einer solchen Situation hat beim Propheten Ezechiel ein neuer Hirte seinen Auftritt. Von den Bergen,
auf denen Gott wohnt, braust ein gewaltiger Sturm über das Land, tobt durch die Wüste, heult in den
Straßen der Städte. „Du, Menschenkind, weissage!“ Hirten und Schafe werden verwirbelt. Ein
Bildersturm, in dem den Mächtigen Hören und Sehen vergeht. Ich lese die Verse 3-9, die unser
Predigttext auslässt.
„Ihr fresst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt
ihr nicht weiden. 4 Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete
verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber
tretet ihr nieder mit Gewalt. 5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind
allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. 6 Sie irren umher ... und niemand ist da, der
nach ihnen fragt oder auf sie achtet.“
Gott selbst tritt auf. Mit Schärfe prangert er die Zustände an. Von wegen diplomatisches Geschick, von
wegen 'abholen bei dem, was gelungen ist'. Von wegen Sandwich-Methoden der Kritik: erst sagen, was
gut läuft, dann eine Scheibe Donnerwetter und am Schluss wieder etwas Positives. Das mögen in
unserer Kommunikation erfolgversprechende Strategien sein, Gott hält sich nicht an Strategien. Er
sagt, was Sache ist, und die Sache ist nicht schön.
Aber! - und nun wird es subversiv - anstatt nun seinerseits diese Hirten zur Hölle zu jagen, erkennt er
ihnen kurzerhand ihre Zuständigkeit ab. „Ich selbst“ will meine Schafe weiden. Ich selbst schreite ein,
eben weil die Welt so ist wie sie ist. Weil das Schwache unter die Räder gerät, der Starke sich
durchsetzt ohne Rücksicht auf Verluste und am Ende das Schaf über die Klinge springt. Ist doch alles
gar nicht so schlimm, mögen die alten Hirten sagen. Ist doch alles gar nicht so schlimm, mag sich auch
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manches Schaf beruhigen lassen. Er aber lässt sich nicht beruhigen. Er sieht das einzelne Schaf, das
verloren geht, das eine, das verwundet ist, abgehängt und den wilden Tieren zum Fraß überlassen. Er
lässt sich nicht beruhigen und setzt neue Maßstäbe. Gott selbst ist der neue Maßstab. Er tritt erklärter
maßen in Konkurrenz zu allem und allen, die Gewalt über andere haben. Die Gewalt über uns haben. Die
Zugriff haben, Interessen haben. Die Mächtigen mögen es hören oder nicht. Die Zuständigkeit über uns
wird ihnen aberkannt.
Ein neuer Hirte tritt auf den Plan, und seine dringendste Aufgabe, so hören wir, ist die Suche. Er lässt
Herde Herde sein und macht sich auf. Steigt durchs Gestrüpp, steigt in die finsteren Täler, klettert in
Schluchten. Er streift durch die Straßen unserer Städte, drängt sich in dunkle Hinterhöfe, tritt an die
Betten, in denen Menschen keinen Schlaf finden können. Er stöbert nach den Verlorenen in den
dunklen Parks, in den Zimmern der Kliniken und den Flüchtlingslagern. Er stöbert die Verlorenen auf in
der Trostlosigkeit ihrer Paläste. Er stöbert uns auf, wo wir glauben, verloren zu gehen. Uns, ersoffen in
Arbeit oder ersoffen im Gefühl, nutzlos zu sein. Uns, die wir abseits stehen und die Herde zieht weiter.
Uns, die wir uns erschöpft zusammenkauern und nicht mehr weiter können. Uns, die wir manches Mal
dieses Schafsleben so satt haben und uns fragen, ob denn wirklich niemand nach uns sucht.
Der neue Hirte spürt alles auf, was sich quält und seufzt. Ich werde der Hirte sein, den du brauchst. Ich
erkläre mich für zuständig. Man hat dich verletzt? Ich versorge deine Wunde. Du betrachtest dein Leben
als verloren? Ich zeige es dir neu.
Und dann wird den Verlorenen ein Bild vor Augen gestellt. So wird es sein: „Aus allen Ländern will ich
sie sammeln und will sie weiden. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in
Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben.“ Das muss
man sich vorstellen, die Augen schließen und träumen. Die abgemagerten Schafe dürfen essen, bis sie
satt werden, die Versprengten finden zusammen, die mit den hängenden Köpfen springen munter
umher. Die verstörten Schafe wissen, wo sie hingehören und die angestrengten liegen faul im Gras und
genießen die Sonne. Die einsamen reiben die Nasen aneinander und das Gebundene springt von der
Schlachtbank und ist frei.
Liebe Gemeinde, wir hören die Geschichte vom neuen Hirten nach Ostern. Der Hirte ist selbst Lamm
geworden und auf die Schlachtbank gegangen. Er hat die Machtkonstellationen zwischen Hirten und
Lämmern gründlich durchkreuzt. Hat alles auf den Kopf gestellt und außer Kraft gesetzt, was wir von
den alten und dem neuen Hirten zu wissen glaubten. Er hat die Schafe dem Rachen der Hirten entrissen
und seinen eigenen Kopf hineingesteckt. Und die haben sich die Zähne an ihm ausgebissen.
Die Suche nach dem Verlorenen geht weiter. Es ist noch nicht die fette Weide auf den Bergen Israels,
auf der wir lagern – die steht noch aus. Aber er hat den Bann gebrochen. Und er hat das Brot
gebrochen. Er bereitet vor uns einen Tisch und schenkt uns voll ein. Verteilt es an alle, die hungrig und
durstig sind, verteilt es an die, die Stärkung brauchen, Vergebung und Wahrheit, Gemeinschaft und
Liebe. Er verteilt es an uns, damit wir satt werden. Vorgeschmack der grünen Auen, Vorgeschmack
einer neuen Welt.
Amen.
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