Gesundheit | Niereninsuffizienz Niereninsuffizienz | Gesundheit Interview mit Dr. Pascal Meier: Gesundheit! — Niereninsuffizienz NEPHROLOGIE ­— Chronische Niereninsuffizienz kommt in unserer Gesellschaft immer häufiger vor. Wird diese «stille Krankheit» aber frühzeitig erkannt und entsprechend behandelt, kann ihr Verlauf positiv beeinflusst werden. Bernard-Oliver Schneider (dt. Text Karin Gruber) Die Spezialisten in den industrialisierten Ländern läuten alle dieselbe Alarmglocke. Chronische Niereninsuffizienz nimmt mittlerweile mehr oder weniger den Charakter einer Pandemie an – im Durchschnitt leiden fünf von hundert Personen an dieser stillen Krankheit, die lange Zeit unbemerkt bleiben kann! Im Endstadium sind die Nieren nahezu vollständig zerstört. Die einzige Überlebenschance liegt dann nur noch in einer Dialyse (künstliche Blutwäsche) oder in einer Transplantation. Durch eine frühzeitige Erkennung der Krankheit und eine angepasste Behandlung kann die schrittweise Zerstörung des Nierengewebes jedoch verlangsamt werden. Besser noch – eine erfolgreiche Behandlung senkt indirekt sogar das Risiko von Kreislaufkollapsen. Dr. Pascal Meier, Chef der Abteilung Nephrologie des Spitalzentrums Mittelwallis (CHCVs) in Sitten, informiert über das Thema Niereninsuffizienz. Welche Rolle spielen die Nieren? Die Nieren sind zwei unauffällige Organe in der Grösse einer Faust, die mehrere Aufgaben erfüllen. In erster Linie filtrieren sie das Blut. Mit jedem Herzschlag fliessen 25% des Blutes zu den Nieren hin – das ist eine unglaubliche Menge! Jede Niere hat zwischen ein bis vier Millionen «Mini-Filter», die sogenannten Nephrone. Jeden Tag filtrieren diese Nephrone rund 180 Liter Blut. Die Giftstoffe des Organismus werden so täglich in Form von ein bis eineinhalb Litern Urin ausgeschieden. Was für andere Aufgaben haben die Nieren? Die Nieren spielen beispielsweise in der Bildung des Erythropoetins, auch als EPO bekannt, eine wichtige Rolle. Dieses Hormon stimuliert die Bildung roter Blutkörperchen und sorgt dafür, dass der Hämoglobin-Gehalt, d.h. der Gehalt an eisenhaltigem rotem Blutfarbstoff in den roten Blutkörperchen, im Blut 28 | W B E XT RA 5.1 0 konstant bleibt, damit es nicht zu einer Anämie (Blutmangel) kommt. Eine weitere Aufgabe spielen die Nieren bei der Bildung von Vitamin D, welches für die Festigkeit unserer Knochen zuständig ist. Nierenkranke haben daher vermehrt Probleme mit Osteoporose, wodurch sie auch anfälliger für Knochenbrüche sind. Was haben die Nieren mit dem Blutdruck zu tun? Die Nieren spielen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Blutdrucks. Sie produzieren das Enzym Renin. Renin wandelt das Protein Angiotensin I in Angiotensin II um, welches für die Generierung und Aufrechterhaltung des Blutdrucks notwendig ist. Wenn dieser Mechanismus – das ReninAngiotensin-System (RAS) – ins Stocken gerät, sinkt der Blutdruck. Was ist mit dem Salzhaushalt des Körpers? Die Nieren sind dafür zuständig, das überschüssige Salz, das wir jeden Tag mit unserer Nahrung aufnehmen, auszuscheiden. Ziel ist es, die Salzkonzentration im Blut konstant zu halten. Salz erhöht das Blutvolumen. Je mehr Blut aber durch unsere Blutgefässe fliessen muss, desto höher wird auch der Blutdruck. Kurz: zu viel Salz, zu hoher Blutdruck! Die Nieren sorgen auch für das Gleichgewicht der anderen Elektrolyte: unter anderem regulieren sie die Kalzium- und Magnesium-Konzentration in den Zellen. Wie definieren Sie chronische Niereninsuffizienz? Es handelt sich um eine dauerhafte Funktionsverschlechterung beider Nieren. Diese kann durch verschiedene Faktoren ausgelöst werden, z.B. durch schlechte Blutversorgung der Niere, durch die Niere selbst (Nierenkrankheiten, durch Diabetes bestehender Bluthochdruck), durch Medikamente und Drogen, Nierenentzündung, Blutvergiftung oder durch Faktoren ausserhalb der Niere wie z.B. ein Stein oder Tumor im Harnleiter. Wie wird die Nierenfunktion gemessen? Die Nephrologen messen den Kreatininwert im Blut. Kreatinin ist ein Stoffwechselprodukt, ein Protein, das in den Muskeln gebildet und über die Nieren mit dem Urin ausgeschieden wird. Da die Nieren das Blut reinigen, weist also ein hoher Kreatininwert im Blut auf ein schlechtes Funktionieren der Nieren hin. Auf der Grundlage dieses Wertes kann man mittels einer mathematischen Formel, in der das Alter und das Gewicht des Patienten mitberücksichtigt werden, die Funktionsfähigkeit der Nieren prozentual ausdrücken. Wir können einem Patienten durch diese Messung also sagen, dass seine Nieren beispielsweise noch zu 60% funktionieren. Doch Vorsicht, es handelt sich hierbei um einen Näherungswert! Die Nieren funktionieren nämlich sozusagen nie zu 100%. Sie behalten 20% ihrer Funktionstüchtigkeit in der Reserve, um für ausserordentliche Situationen gewappnet zu sein. Dies erklärt auch, weshalb Menschen mehrere Tage lang ohne zu trinken unter Trümmern überleben können, wie wir es vor Kurzem in Haiti gesehen haben. Wozu dient die Messung der Nierenfunktion? In erster Linie zeigt sie die Schwere der Nierenschädigung an. Man unterscheidet zwischen fünf Stadien von Niereninsuffizienz, die von 1 (schwach) bis 5 gehen. Im fünften Stadium, das gleichzeitig das Endstadium ist, funktionieren die Nieren nur noch zu 15% oder weniger. In diesem Fall muss auf eine Dialyse oder eine Transplantation zurückgegriffen werden, um das Überleben des Patienten zu sichern. An dieser Stelle muss auch darauf hingewiesen werden, dass es ab 50 Jahren zu einer ganz normalen Alterung der Nieren kommt. Jedes Jahr verlieren un- sere Nieren ungefähr ein Prozent ihrer Funktionsfähigkeit, unabhängig von unserer Lebensweise und unserem Gesundheitszustand. Wenn man an einem unbehandelten Diabetes leidet, steigt dieser Funktionsverlust auf 5%. Unkontrollierter Bluthochdruck (+135/85 mm Hg) kostet Sie jedes Jahr 3% Ihrer Nierenfunktion. Wenn Sie gleichzeitig an Diabetes und Bluthochdruck leiden, können Ihre Nieren bis zu 10% ihrer Funktionsfähigkeit pro Jahr verlieren! Welche Symptome hat eine chronische Niereninsuffizienz? Das Problem ist, dass es keine deutlichen Symptome gibt, weshalb Niereninsuffizienz auch zu den «stillen Krankheiten» gehört. Die Symptome treten erst in einem sehr fortgeschrittenen Stadium in Erscheinung, wenn das Nierengewebe stark und unumkehrbar geschädigt ist. Die klinischen Symptome (Müdigkeit, Appetitverlust, Atemnot, Juckreiz …) sind eher unspezifisch – das heisst, sofern sie überhaupt vorhanden sind! Und entgegen den gängigen Ideen lässt sich nur selten eine Veränderung am Urin feststellen, höchstens im Endstadium. Noch eine Bemerkung: Ungefähr die Hälfte aller Fälle von Niereninsuffizienz sind auf Bluthochdruck und auf Diabetes zurückzuführen. Leider aber gehören diese beiden Krankheiten auch zu den stillen Krankheiten. Sollte man die Patienten unter diesen Bedingungen nicht allgemein auf Niereninsuffizienz untersuchen? Im Bereich der Früherkennung sollten zwei kostspielige Wege vermieden werden: zu viel tun und zu wenig tun. Es ist schwierig, die goldene Mitte zu finden. Ich denke, dass die Früherkennung einer Niereninsuffizienz auf die Risikogruppen ausgerichtet sein sollte. Wer gehört zu den Risikogruppen? Diabetiker ab 30 Jahren, Personen mit Bluthochdruck oder in deren Familie es bereits Nierenkranke gibt, Patienten mit Kreislaufkollapsen (Infarkt, Angina pectoris, Hirnschlag), Personen, die eine Veränderung ihres Urins feststellen (z.B. Schaum oder Blut), sowie Personen mit Übergewicht. Wozu dient die Früherkennung? Wird eine Niereninsuffizienz frühzeitig entdeckt, kann man das Fortschreiten der Krankheit bremsen und die Dialyse oder eine Transplantation so weit wie möglich hinausschieben. Leider ist Niereninsuffizienz medizinisch noch nicht heilbar. Es gibt heute aber nephroprotektive Arzneimittel, welche die Nephrone «reinigen» und damit schützen. Je früher man sie einsetzt, desto bessere Resultate erzielt man. Im Wissen darum, dass Niereninsuffizienz ein wichtiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist, schützt man mit diesen Arzneimitteln gleichzeitig auch das Herz und das Hirn. Gibt es Ansätze zur Prävention? Ein gesunder Lebenswandel und gesunde Ernährung ohne zu viel Salz tragen gute Früchte. Personen, die an Diabetes leiden, sollten ihre Krankheit so gut wie möglich unter Kontrolle halten. Zudem sollte man auf einen guten Blutdruck achten, am besten bei 125/75. n Realisiert durch die Partner: Departement für Finanzen, Institutionen und Gesundheit Dienststelle für Gesundheitswesen W B E XT RA 5.1 0 | 29