Claudio Caduff • Nachteilsausgleich in der beruflichen Bildung Nachteilsausgleich in der beruflichen Bildung Claudio Caduff In der Schweiz absolvieren rund zwei Drittel der Jugendlichen nach der obligatorischen Schule eine Berufslehre. Doch es gibt auch junge Menschen, die nicht alle Voraussetzungen für eine reguläre zwei-, drei- oder vierjährige Lehre mitbringen. Nachteilsausgleich Damit auch Jugendliche mit Behinderungen, psychischen Störungen usw. den Weg in einen Beruf finden, wurde für das schweizerische Berufsbildungssystem der «Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung» geschaffen. Darunter werden «spezifische Massnahmen verstanden, die zum Ziel haben, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen. Leistungsanforderungen werden dem individuellen, behinderungsbedingten Förderbedarf entsprechend differenziert gestaltet.»1 Die Anpassungen beschränken sich auf jene Bereiche, die aufgrund der Behinderung nicht oder nur teilweise erfüllt werden können, zudem müssen die kognitiven und fachlichen Anforderungen beim Qualifikationsverfahren2 denjenigen der nichtbehinderten Lernenden entsprechen und den Berufsanforderungen genügen.3 Rechtliche Grundlagen und Gewährung Der Nachteilsausgleich ist in verschiedenen Gesetzen der Eidgenossenschaft gut verankert, wie folgende Übersicht zeigt: – BV: Chancengleichheit4, Diskriminierungsverbot5, Gleichbehandlungsgebot6 – BehiG: Benachteiligung von Menschen mit Behinderung7 – BBG: Beseitigung von Benachteiligung von Behinderten8, Massnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 SDBB, Lexikon (online), Darunter sind alle Verfahren gemeint, mit denen überprüft wird, ob der oder die Lernende die Kompetenzanforderungen erfüllt. Vgl. SDBB, Lexikon (online). BV, Art. 2.1. A.a.O., Art. 8.2. A.a.O., Art. 8.4. BehiG, Art. 2.5. BBG, Art 3c. BBG, Art 7. Claudio Caduff • Nachteilsausgleich in der beruflichen Bildung Das Recht auf Nachteilsausgleich in der Berufsbildung besteht, wenn Lernende auf behinderungsbedingte Anpassungen am Arbeitsplatz, in der Berufsfachschule, im überbetrieblichen Kurs und im Qualifikationsverfahren angewiesen sind. Die jungen Lernenden können bereits mit dem Lehrvertrag ihre Einschränkung oder Behinderung auf einem Formular festhalten, damit von allem Anfang an alle an der Ausbildung beteiligen Personen diese jungen Menschen zielgerichtet unterstützen und ihnen somit einen erfolgreichen Lehrabschluss ermöglichen. Als Einschränkungen gelten unter anderem: Seh- und Hörbehinderungen, Dyslexie, Dyskalkulie, körperliche psychische oder geistige Behinderungen, Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Störung. Die Vorgehensweise, wie ein Nachteilsausgleich gewährt wird, ist kantonal geregelt, für die Ausführung sind die entsprechenden Berufsbildungsämter zuständig. So bestimmt z. B. die Dienststelle Berufs- und Weiterbildung des Kantons Luzern (DBW)10, dass Gesuche um Nachteilsausgleich im ersten Ausbildungsjahr (bis Ende des ersten Semesters) eingereicht werden müssen. Darin muss die Behinderung und/oder die psychische Störung fachärztlich oder fachpsychologisch dokumentiert und diagnostiziert sein. Die Beurteilung des Gesuchs und die Gewährung individuell zugeschnittener Massnahmen erfolgt durch die kantonale Schulberatung für Berufsbildung und Gymnasien. Massnahmen Der Nachteilsausgleich wird in der Regel in folgenden Bereichen gewährt:11 technische und andere Hilfsmittel, persönliche Hilfe (Assistenzperson), räumliche Massnahmen, Arbeitsplatzorganisation, zeitliche Modifikation, Anpassung der Aufgabenstellung bzw. der Prüfungsformen. Tabelle 1 auf Seite 3 zeigt beispielhaft welche konkreten Massnahmen mit welchen Hilfsmitteln getroffen werden: 10 11 Vgl. DBW, Merkblatt (S. 1). Vgl. SDBB, Nachteilsausgleich (S. 13–63). Claudio Caduff • Nachteilsausgleich in der beruflichen Bildung Tätigkeit Zeitliche Massnahmen Hilfsmittel Praktische Arbeiten Individuelle Pausenregelung gemäss persönlicher Symptomatik (max. 30 Minuten pro Tag) Evtl. separater Raum mit ruhiger Atmosphäre Persönliche Kontaktperson Übersichtliche Prüfungsunterlagen Recht auf Erklärung des Prüfungsablaufes und -inhaltes Schriftliche Arbeiten Pro Prüfungsstunde Zeitzuschlag von 10 bis max. 20 Minuten Individuelle Pausenregelung von max. 30 Minuten Evtl. separater Raum mit ruhiger Atmosphäre Übersichtliche Prüfungsunterlagen Übersichtliche Darstellung, klare und verständliche Formulierungen der Aufgaben Prüfung mit dem Computer schreiben Prüfungsform anpassen, z.B. mündliche und/oder schriftliche Prüfung Vorlesen der schriftlichen Aufgaben (elektronisches) Wörterbuch Einsatz des Rechtschreibprogramms am Computer Verwendung eines Diktiergeräts Mündliche Prüfungen Zeitzuschlag in der Regel von 10 bis max. 20 Minuten Tabelle 1: Mögliche Massnahmen und Hilfsmittel bei AD(H)S12 Weitere Ausbildungsformen für Jugendliche mit Behinderung Neben dem Nachteilsausgleich gibt es noch weitere Angebote für Lernende mit Behinderung und Beeinträchtigung13: – Dauer der Ausbildung: Für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen besteht die Möglichkeit, die Dauer der beruflichen Grundbildung angemessen zu verlängern. – Supported Education: Diese Unterstützungsform orientiert sich am Konzept des Supported Employment, sie unterstützt Jugendliche mit Behinderung oder Beeinträchtigung bei der Absolvierung einer beruflichen Ausbildung im ersten Arbeitsmarkt. – Unterstützung der Invalidenversicherung (IV): Die IV unterstützt Jugendliche, die aufgrund einer (körperlichen) Behinderung besondere Unterstützung benötigen, damit sie eine reguläre berufliche Grundausbildung absolvieren können. 12 13 SBBK, Nachteilsausgleich, (S. 6) Vgl. Wettstein et al., Berufsbildung (S. 57-59) Claudio Caduff • Nachteilsausgleich in der beruflichen Bildung – Praktische Ausbildung nach Insos: Diese Ausbildungsform wendet sich an Jugendliche, die aufgrund ihrer Lern- und Leistungsschwäche nicht in der Lage sind, eine zweijährige berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) zu absolvieren. Sie sollen durch gezielte Fördermassnahmen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Literatur BBG (2002). Berufsbildungsgesetz über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz). BehiG (2002). Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichstellungsgesetz). BV. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. DBW (2013). Merkblatt Nachteilsausgleich. Luzern: Dienststelle Berufs- und Weiterbildung Kanton. https://beruf.lu.ch//media/Beruf/Dokumente/lehre_beruf/lehre_im_betrieb/Merkblatt _ und_Formular_NTA_2013.pdf?la=de-CH [1.6.2015]. SBBK (2014). Nachteilsausgleich. Empfehlung Nr. 7. Bern: Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenz. http://www.sbbk.ch/dyn/bin/20100-22307-1-empfehlung_layout_d-1.pdf [1.6.2015]. SDBB. Lexikon. Schweizerisches Dienstleistungszentrum für Berufsbildung sowie Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung. http://lex.berufsbildung.ch/dyn/11014.aspx?lang=DE&action=detail &value=538&lex=0 [1.6.2015]. SDBB (2013). Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung. Bern: Schweizerisches Dienstleistungszentrum für Berufsbildung sowie Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung. Wettstein, E., Schmid, E., & Gonon. P. (2014). Berufsbildung in der Schweiz. Bern: hep.