Türkei: Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei Themenpapier Adrian Schuster und Magali Mores Bern, 23. Oktober 2013 Impressum HE R AU SG EB E R IN Schweizerische Flüchtlingshilf e SFH Postfach 8154, 3001 Bern Tel. 031 370 75 75 Fax 031 370 75 00 E-Mail: info@fluechtlingshilfe. ch Internet: www.fluechtlingshilfe. ch Spendenkonto: PC 30-1085-7 AUT O R Adrian Schuster S PR AC HV E RS I O NE N deutsch, französisch CO PY R I G HT © 2013 Schweizerische Flücht lingshilfe SFH, Bern Kopieren und Abdruck unte r Quellenangabe erlaubt. Inhaltsverzeichnis 1 2 Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei 1 1.1 Häusliche und sexuelle Gewalt ............................................................. 1 1.1.1 Frauenhäuser ........................................................................... 7 1.1.2 Weitere Unterstützungsdienste ............................................... 10 1.2 Zwangsheirat/Kinderheirat .................................................................. 11 1.3 Ehrenmorde ....................................................................................... 14 Sozioökonomische Situation der Kurdinnen im Südosten der Türkei ..... 17 2.1 Gesellschaftliche Stellung der Kurdinnen ............................................ 17 2.2 Wirtschaftliche Stellung von Kurdinnen ............................................... 18 1 Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Kurdinnen im Südosten der Türkei 1.1 Häusliche und sexuelle Gewalt 1 Weite Verbreitung häuslicher Gewalt im Südosten der Türkei. Nach Angaben des US Departement of State ist Gewalt gegen Frauen ein schwerwiegendes und 2 weitverbreitetes Problem in ländlichen und städtischen Gebieten der Türkei. Die verlässlichsten Zahlen zur Verbreitung der häuslichen Gewalt liefert eine umfasse nde und landesweite Studie der Universität Hacettepe in Ankara aus dem Jahr 2009. Gemäss dieser waren landesweit rund 42 Prozent der jemals verheirateten Frauen physischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Die drei anatolischen Provinzen in der Osttürkei liegen deutlich über dem türkischen Durchschnitt: In der Südosttürke i liegt 3 der Anteil in der Region Zentralostanatolien bei 51,5 Prozent, respektive 51 Prozent 4 5 in Südostanatolien . In der Region Nordostanatolien liegt der Anteil gar bei 57 Pro6 zent. Besonders besorgniserregend sind diesbezüglich die Zahlen von geschiedenen oder getrennt lebenden Frauen: 73 Prozent dieser Frauen geben an , physische 7 Gewalt erlebt zu haben, 44 Prozent berichten von sexueller Gewalt. Gemäss dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission von 2011 gibt es Anzeichen für 8 einen Anstieg an geschlechterspezifischer Gewalt gegen Frauen in der Türkei. Ein Bericht der parlamentarischen Menschenrechtskommission vom März 2012 kommt zum Schluss, dass sich die gemeldeten Fälle häuslicher Gewalt sowie die allgeme ine Gewalt gegen Frauen seit 2008 verdoppelt haben soll. Der Bericht stützt sich auf Zahlen der Polizei und der Gendarmerie. 2008 waren es demnach 48‘264 Fälle. 9 2011 wurden 80‘398 Fälle registriert. Gemäss der Turkish Women’s Association Federation wurden im Jahr 2012 von Januar bis November 256 Frauen durch häusli10 che Gewalt getötet. Bianet, ein unabhängiges türkisches Nachrichtenmedium, hat Berichte in nationalen und lokalen Medien zu Gewalt gegen Frauen gesammelt: 1 In der Türkei beinhaltet die Definition von häuslicher G ewalt physische Gewalt, sexuelle Gewalt verbale und wirtschaftlicher Missbrauch sowie psychologische Gewalt. Die Definition bezieht sich des Weiteren nicht nur auf tatsächliche Gewalt, sondern auch auf die Androhung der verschieden Arten von Gewalt. Economic Policy research Foundation of Turkey (TEPAV), Domestic Violence – An Issue for International or Domestic Legislation, 1. Au gust 2012, S. 5: www.tepav.org.tr/upload/files/1375360275 6.Domestic_Violence___An_Issue_For_International_or_Domestic_Legislation .pdf. 2 US Department of State (USDOS), Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013: www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2012&dlid=204348. 3 Mit den Provinzen Bingöl, Bitlis, Elaziğ, Hakkari, Malatya, Mus, Tunceli und Van. 4 Adiyaman, Diyarbakir, Gaziantep, MArdin, Siirt, Sanliurfa, Batman, Sirmak und Kilis. 5 Mit den Provinzen Ağrı, Erzincan, Erzurum, Kars, Bayburt, Ardahan und Iğdur. 6 Turkish Republic Prime Ministry – Directorate General on the Status of Women, Domestic Vio lence against Women in Turkey, 2009, S. 47: www.hips.hacettepe.edu.tr/eng/dokumanlar/2008 TDVAW_Main_Report.pdf. 7 Ebenda, S. 52. 8 Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32: www.ecoi.net/file_upload/1788_1318854965_tr -rapport-2011-en.pdf. 9 Today’s Zaman, Parliamentary Report: Gender Based Violence D oubled in the Last Four Years, 13. März 2012: www.todayszaman.com/news-274200-parliamentary-report-gender-based-violencedoubled-in-4-years.html. 10 USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 1 von 20 Nach dieser Dokumentation wurden 2012 mindestens 165 Frauen durch häusliche 11 Gewalt getötet und rund 150 Frauen vergewaltigt. Im Jahr 2013 wurden nach derselben Quelle von Januar bis August 122 Tötungen und 118 Vergewaltigungen von 12 Frauen dokumentiert. Dunkelziffer und gesellschaftliche Akzeptanz häuslicher Gewalt. Laut mehreren Quellen sind die offiziellen Statistiken zu häuslicher Gewalt unvollständig. Die Za hlen zu Gewalt sind des Weiteren problematisch, da Gewalt gegen Frauen häufig nicht als ein gesellschaftliches Problem angesehen wird. Diese Akzeptanz häusl icher Gewalt führt dazu, dass Frauen ihre Gewalterfahrung häufig verschweigen und 13 diese nur lückenhaft dokumentiert wird. Weitere Hinweise auf die öffentliche W ahrnehmung der Gewalt gegen Frauen geben verschiedene Stellungnahmen von öffentlichen Personen, aber auch Gerichtsentscheide, die Frauen aufgrund ihres Verhaltens oder ihrer Kleidung für Belästigungen, Gewalt oder Vergewaltigungen mitve r14 antwortlich machen. Ein Artikel der Hürriyet Daily News vom 16. April 2013 berichtet von den Ergebnissen einer aktuellen nationalen Studie über die Wahrnehmung der Gewalt in der Türkei. Obwohl in solchen Umfragen generell von tieferen Zustim15 mungswerten auszugehen ist, befürworten 34 Prozent der befragten Männer, dass Gewalt manchmal notwendig sei. Rund 28 Prozent der Männer bejahen, dass man Gewalt anwenden könne, um Frauen zu «disziplinieren». Rund 18 Prozent der Mä nner sehen sich als Familienoberhaupt, das – wenn nötig – auf Gewalt zurückgreifen dürfe. 23,4 Prozent der Männer finden, dass Gewalt akzeptabel sei, wenn Frauen «provozierten». Fast 38 Prozent der befragten Männer sagen, dass die Durchsetzung von Prinzipien wie Ehre, Anstand und Disziplin Gewalt notwendig machen kö n16 ne. Rechtlicher Rahmen zum Schutz der Frauen. In der Türkei ist häusliche Gewalt und Vergewaltigung verboten. Das im März 2012 in Kraft getretene Gesetz Nr. 6284 zum Schutz der Familie und zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen verbietet se17 xuelle Gewalt, darunter auch Vergewaltigung. Das Strafgesetzbuch verbietet häusliche Gewalt («spousal abuse») nicht explizit, sondern bezieht sich für solche Ver18 brechen auf Körperverletzung, Freiheitsberaubung oder Bedrohung. Sexualdelikte werden erst seit dem neuen Strafgesetz von 2004 als Straftat gegen die Person und ihre sexuelle Integrität eingestuft. Davor wurden di ese Straftaten als Delikte gegen 11 12 13 14 15 16 17 18 Bianet, Men Killed 12 W omen in December, Male Violence Index December 2012, 9. Januar 2013: www.bianet.org/english/gender/143415-12-women-murdered-14-raped-by-men-in-december; USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013.. Bianet, Male Violence August 2013, 16. September 2013: www.bianet.org/english/women/149962male-violence-august-2013. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013; Konrad Adenauer Stiftung (KAS), Auslandsinformationen – Türkische Frauen in Politik, Wirtschaft und Gesel lschaft, 19. März 2013, S. 77: www.kas.de/wf/doc/ kas_33789-544-1-30.pdf?130403122144. Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 33. Die sogenannte «Soziale Erwünschtheit» kann das Ergebnis von Umfragen zu heiklen Themen beeinflussen. Dabei geben Befragte eine Antwort, von welcher sie denken, dass sie eher auf Z ustimmung trifft, anstelle der korrekten Antwort, bei welcher sie soziale Ablehnung befürchten. Im konkreten Fall kann man demzufolge annehmen, dass die Zustimmung zu Gewalt in der Reali tät noch höher liegt. Hürriyet Daily News, Domestic Violence OK sometimes: 34 Percent of Turkish Men, 16. April 2013: www.hurriyetdailynews.com/domestic -violence-sometimes-necessary-34-percent-turkishmen.aspx?PageID=238&NID=44974&NewsCatID=341 . USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Ebenda. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 2 von 20 19 die Gesellschaft, die Familie oder die öffentliche Moral gesehen. Gegen sexuelle Belästigung sieht das Gesetz eine Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und zwei Jahren und eine Geldstrafe vor. Sexuelle Gewalt, darunter Vergewaltigung, kann mit 20 zwei bis sieben Jahren Gefängnis bestraft werden. Durch das neue Strafgesetzbuch von 2005 ist Vergewaltigung in der Ehe nun auch strafbar. Eine Vorschrift, w onach ein Vergewaltiger straffrei ausgeht , indem er sein Opfer heiratet, wurde gestri21 chen. Mit dem neuen Gesetz vom März 2012 sollen neu alle Frauen geschützt werden, unabhängig ihres Zivilstandes. Unter dem alten Gesetz wurden nur Frauen geschützt, die verheiratet waren. Das neue Gesetz erlaubt es der Polizei und lokalen Verwaltungen, verschiedene Sicherheits- und Unterstützungsmassnahmen für be22 troffene Personen zu treffen. Wenn das zuständige Gericht oder die Staatsanwaltschaft nicht verfügbar sind, kann die Polizei eine Schutz verfügung festlegen. Zuständige Familiengerichte k önnen unter dem neuen Gesetz W ohneigentum als «F amilienhäuser» deklarieren. In solchen Fällen darf der Gewalttäter, in der Regel der 23 Ehemann, das Haus nicht ohne die Zustimmung der Frau verkaufen. Nach dem neuen Gesetz sollten staatliche Institutionen Unterkünfte, sowie temporäre finanziel24 le, aber auch psychologische und rechtliche Hilfe gewährleisten. Das Ministry of Family and Social Policy sollte zudem betroffene Opfer, die arbeiten, bis zu zwei 25 Monaten die Kinderbetreuung finanzieren. Auch sollte es durch das neue Gesetz möglich sein, dass Richter Frauen, welche sich in konkreter Gefahr befinden, die Annahme einer neuen Identität erlauben. Frauen, welche vor ihren Männern oder Verwandten auf der Flucht sind, haben keine Möglichkeit , ein normales Leben zu leben. Denn aus Angst, dass man sie finden könnte, unterschreiben sie keine offiziellen Dokumente. Es ist verfolgten Frauen somit unmöglich, eine Arbeit zu finden, 26 eine W ohnung zu mieten oder einen Arzt zu besuchen. Trotz rechtlichen Reformen mangelhafter Schutz durch ungenügende Umsetzung. Das neue Gesetz vom März 2012 wurde allgemein als Meilenstein zum Schutz von Frauen betrachtet. Die Umsetzung des Gesetzes wird allerdings aus verschiedenen Gründen scharf kritisiert. So gibt es nach Auskunft einer Kontaktperson einer Frauenrechtsorganisation im Südosten der Türkei vom Oktober 2013 aufgrund ihrer Erfahrung in jüngsten Fällen eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem gesetzlich 27 vorgesehenen und dem tatsächlich verfügbaren Schutz. 19 20 21 22 23 24 25 26 27 Stop Violence Against Women, Violence Against Women in Turkey, Aktualisiert Januar 2011, www.stopvaw.org/turkey; KAS, Auslandsinformationen – Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, 10. Mai 2005, S. 87: www.kas.de/wf/doc/kas_6625-544-1-30.pdf. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewäh lten Herkunftsländern, April 2010, S. 210: https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe?func=ll&objId=13824414&objAction=Open&nexturl=/milop/liv elink.exe?func=ll&objId=14019403&objAction=browse&sort=name . USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Today’s Zaman, Domestic Violence No Longer a Family Matter, 25. März 2012: www.todayszaman.com/news-275348-domestic-violence-no-longer-a-family-matter-by-dilekkaral*.html. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013.; Today’s Zaman, New Regulation Boosts Protection of Women Against Domestic Violence, 16. April 2012: www.todayszaman.com/news-277657-new-regulation-boosts-protection-of-women-againstdomestic-violence.html; TEPAV, Domestic Violence, 1. August 2012, S. 6. Today’s Zaman, Domestic Violence No Longer a Family Matter, 25. März 2012. Deutsche Welle, Domestic Violence in Turkey Rife Despite New Law, 8. Juni 2012, www.dw.de/domestic-violence-in-turkey-rife-despite-new-law/a-15999006. E-Mail-Auskunft einer Kontaktperson einer Frauenrechtsorganisation im Südosten der Türkei vom 19. Oktober 2013. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 3 von 20 Verweigerung des Zugangs zu staatlichem Schutz und milde Strafen. Christof Heyns, der UN Special Rapporteur on Extrajudicial, Summary and Arbitrary Execut ions, kritisiert in seinem Bericht vom März 2013, dass Polizeibeamte Fälle von häuslicher Gewalt nicht genügend ernst nehmen, da sie diese als Familienangelegenhe iten betrachten. Stattdessen schicken sie die Frauen nach Hause, um sich mit dem 28 Täter zu versöhnen. Eine Reihe von weiteren Berichten bestätigt diesen eklatanten 29 Missstand. Human Rights Watch hat verschiedene Fälle dokumentiert, bei denen 30 Polizei und Gendarmerie Opfern die Hilfe verweigert haben. ROJ, eine kurdische und türkische Frauenrechtsorganisation hält ebenfalls fest, dass sich Polizeibeamte weigern, Anschuldigungen häuslicher Gewalt nachzugehen. Zudem wür den Staats31 anwälte die strafrechtliche Verfolgung von Tätern verweigern. Frauenorganisationen werfen Behördenvertretern vor, Frauen dazu zu ermuntern, in von Gewalt geprägten Ehen zu bleiben. So wurde zum Beispiel im Dezember 2011 eine Frau durch ihren früheren Partner umgebracht. Eine darauffolgende Untersuchung hatte erg eben, dass sie sich an das Büro des Gouverneurs von Van in Ostanatolien gewandt hatte, um Schutz zu suchen. Dort hatte man ihr jeglichen Schutz verweigert und ihr 32 gesagt, dass sie «im schlimmsten Fall sterben würde». Im Mai 2012 wurde eine Frau von ihrem Ex-Mann zu Tode gestochen, nachdem die Gerichte ihr jeglichen 33 Schutz verweigert hatten, weil die beiden nicht mehr verheiratet gewesen seien. Sogar in Istanbul bekommen Frauen nicht den nötigen Schutz: 2011 wurde eine Frau auf offener Strasse von ihrem Ehemann erschossen, nachdem sie insgesamt 34 über zehn Rechtschutzgesuche gestellt hatte. Des W eiteren kommt es immer noch vor, dass Richter mildere Strafen verhängen, weil sie die Frauen dafür verantwort35 lich machen, die Männer provoziert zu haben. Die Europäische Kommission kritisiert, dass die gerichtlichen Verfahren langwierig sind und die Erstellung forensi36 scher Berichte die gerichtlichen Prozesse erheblich verlangsamt. Schutzverfügungen nur erschwert zugänglich und nicht effektiv. Schutzverfügungen können nach neuem Gesetz vom März 2012 von Gerichten, Staatsanwälten und Polizei als Notfallmassnahme für eine maximale Dauer von sechs Monaten an37 geordnet werden. Sie sollen die Betroffenen vor weiteren Übergriffen schützen. Zwar wurden 2012 nach Angaben der türkischen Behörden in Gebieten mit Zustän- 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 UN Human Rights Council (formerly UN Commission on Human Rights) (HRC), Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arb itrary executions, Christof Heyns; Addendum; Mi ssion to Turkey [A/HRC/23/47/Add.2], 18. März 2013, S. 9: www.ecoi.net/file_upload/1930_1368619365_g1312289.pdf. Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32; Deutsche Welle, Domestic Violence in Turkey Rife Despite New Law, 8. Juni 2012; Human Rights Watch (HRW), «He Loves You, he Beats You» - Family Violence in Turkey and Access to Protection, Mai 2011, S. 31ff.: www.hrw.org/sites/default/files/reports/turkey0511webwcover.p df. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 31ff. Roj, NGO Shadow Report for the Review of the Turkish Government Under the UN International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights Submitted by Roj Women’s Association, März 2011, S. 11: www.ecoi.net/file_upload/1788_1321529915_roj -womens-association-cescr46turkey.pdf. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Ebenda. New York Times, Women See Worrisome Shift in Turkey, 25. April 2012, www.nytimes.com/2012/04/26/world/europe/women -see-worrisome-shift-in-turkey.html?_r=0. Deutsche Welle, Domestic Violence in Turkey Rife Despite New Law, 8. Juni 2012. Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32. Stop Violence Against Women, Law to Protect Family and Prevent Violence Against Women, 2012, Section 2, Artikel : www.stopvaw.org/uploads/law_to_protect_family_and_prevent_violence_against_women.doc . Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 4 von 20 digkeit der Gendarmerie 5897 Schutzverfügungen für Frauen erlassen . Dennoch sei der Zugang Betroffener zu diesen weiterhin erschwert, wie der UN Special Rapporteur on Extrajudicial, Summary and Arbitrary Executions im März 2013 festhielt. Staatsanwälte und Richter würden diese nur zurückhaltend ausstellen und seien 38 zudem langsam in der Bearbeitung der Schutzverfügungen. Human Rights Watch hat Fälle dokumentiert, bei welchen es trotz akuter Gefahr der Betroffenen bis zu 39 sechs Monaten gedauert hat, bis die Schutzverfügungen angeordnet wurden. Zudem verlangten die Behörden oft unnötige zusätzliche Beweise (medizinische Gut40 achten, Zeugenaussagen), obwohl diese nach Gesetz nicht nötig sind. Der Zugang zu den zuständigen Familiengerichten ist eingeschränkt, da diese nur zwischen 9 und 17 Uhr werktags geöffnet haben. Zudem verfügen sie nicht über genügend Fachkräfte und konnten in vielen Fällen den Betroffenen keine Hilfe zukommen las41 sen. Selbst wenn Schutzverfügungen schliesslich angeordnet werden, garantiert dies nicht, dass die Betroffenen sicher sind. So bleiben diese weiterhin in grosser Gefahr, da die Schutzverfügungen von der Polizei nicht in genü gender Weise durch42 gesetzt und kontrolliert werden. In einem besonders dramatischen Fall wurde eine Frau im November 2008 in Diyabarkir trotz bestehender Schutzverfügung von ihrem Ehemann getötet. Die Polizei hatte die Einhaltung der Verfügung nie kontroll iert. Gemäss Human Rights Watch wurde bis 2011 nur in 17 Fällen die Nichteinhaltung der Schutzverfügungen tatsächlich bestraft. Meist beschränke sich die Polizei auf 43 Verwarnungen. Mangel an spezialisierten Fachkräften und ungenügende und nicht effektive Schulung der Polizeikräfte. Obwohl häusliche Gewalt in der Türkei ein grosses Problem ist, gibt es bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Familiengerichten einen massiven Mangel an spezialisiertem Fachpersonal. In vielen Polizeistationen gibt es keine spezifisch für diesen Bereich zuständige Person. Auch gibt es nicht in allen 44 Regionen dafür spezialisierte Staatsanwälte. Das neue Gesetz hat der Polizei erhebliche Verantwortung zum Schutz von Frauen zugesprochen. Diese Verantwo r45 tung benötigt Schulung der Polizeibeamten. Gemäss verschiedenen Quellen werden Vertreter der Regierung sowie Polizeibeamte bezüglich geschlechterspezif ischer Gewalt ausgebildet. 2009 und 2010 wurden gemäss Human Rights Watch 270 hochrangige Vertreter ausgebildet, die wiederum 40‘000 Pol izeibeamte weitergebildet haben sollen. Nach Aussagen verschiedener NGOs sollen diese Ausbildungen allerdings entweder gar nicht stattfinden beziehungsweise soll das Gelernte in der Praxis nicht umgesetzt werden. Letzteres wird zum Beispiel über Diyarbakir im Süd46 osten der Türkei berichtet. Formulare werden von der Polizei nicht adäquat ausgefüllt. Eine Studie des nationalen Polizeidirektorats, welche alle Polizeidirektorate der 81 Provinzen befragt 38 39 40 41 42 43 44 45 46 HRC, Report of the Special Rapporteur on extrajudicial , summary or arbitrary executions , 18. März 2013, S. 9. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 34. Ebenda, S. 35ff. Ebenda; Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32. HRC, Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions , 18. März 2013, S. 9; USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013; Roj, NGO Shadow Report, März 2011, S. 11. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 37ff. Ebenda, S. 40. Today’s Zaman, Domestic Violence No Longer a Family Matter, 25. März 2012. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 41. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 5 von 20 hat, hat ergeben, dass die Formulare, welche bei Fällen von häuslicher Gewalt verwendet werden, nur sehr nachlässig ausgefüllt werden. Ferner wurden nur 7078 der 78‘488 Fälle von häuslicher Gewalt mit dem konformen Formular Domestic Violence 47 Incident Registration Form dokumentiert. Gemäss dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission von 2011 ist die Verwendung von standardisierten Formul a48 ren für die Aufnahme von Fällen häuslicher Gewalt noch immer nicht die Regel. Mangelhafte Privatsphäre in Polizeistationen und Familiengerichten. Frauen suchen oft keine staatliche Hilfe auf, weil eigene negative Erfahrungen oder ihr U m49 feld ihnen vermittelt, dass die Polizei nicht hilft. Polizeistationen und Familiengerichte verfügen zudem oft nicht über angemessene Möglichkeiten, den Betroffenen bei der Schilderung ihrer traumatischen Erlebnisse die nötige Privatsphäre zu gewähren. Für häusliche Gewalt zuständige Schalter befinden sich zum Teil in viel benutzten Gängen oder in Grossraumbüros. Für die Betroffenen ist es beschämend und erniedrigend, in einem solchen Rahmen über die erfahrene Gewalt zu sprechen. 50 Dies führt dazu, dass Fälle nicht gemeldet werden. Misstrauen und Sprachbarriere als zusätzliche Hindernisse im Südosten. Im kurdisch dominierten Südosten der Türkei herrscht nach jahrelangem Konflikt Mis strauen gegenüber den Behörden und der Polizei. Nach Angaben des Bürgermeisters einer Gemeinde in Diyarbakir ist die Polizeistation aus Sicht der kurdischen Frauen kein sicherer Ort. Dies führt dazu, dass Frauen im Südosten ihre Gewalterlebnisse 51 noch seltener den staatlichen Behörden melden. Ein weiteres Problem, welches im Südosten des Landes für Kurdinnen erheblich ist, ist die sprachliche Barriere: In einigen Regionen sprechen oder schreiben Kurdinnen kein Türkisch. Dies erschwert es Ihnen, Anträge für Schutzverfügungen zu stellen. Dies ist trotz gegenteiliger Behauptung der Behörden laut Angaben von Human Rights Watch im Südosten des 52 Landes der Fall. Grosser psychischer, physischer und wirtschaftlicher Druck als Hindernis. Human Rights Watch hat dokumentiert, dass sich von häuslicher Gewalt betroffene Frauen nur selten an Behörden oder NGOs wenden, da ihre Familien oder Ehemän53 ner grossen physischen, psychischen oder wirtschaftlichen Druck a uf sie ausüben. Gemäss den Recherchen von Human Rights Watch ist es in einigen Regionen der Türkei aussichtlos, bei den Behörden Schutz vor Formen der Gewalt zu suchen, die nicht dem klassischen Muster physischer Gewalt entspricht. Die Behörden würden nicht aktiv, wenn Frauen zum Beispiel Schutz vor psychischer oder ökonomisch er 54 Gewalt suchten. Viele Frauen sind zum Beispiel wirtschaftlich von ihren Ehemä nnern abhängig und haben keine anderen Möglichkeiten , sich selber und ihre Kinder 55 zu finanzieren. Um der wirtschaftlichen Abhängigkeit der von Gewalt Betroffenen entgegenzuwirken, können Gerichte zwar zum Beispiel anordnen, dass die Täter 47 48 49 50 51 52 53 54 55 Bianet, 1 Case of Domestic Violence Every 10 Minutes, 10. November 2011: http://bianet.org/english/children/133928-1-case-of-domestic-violence-every-10-minutes. Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 25. Ebenda, S. 42. Ebenda, S. 28f. Ebenda, S. 25f. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 27. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 6 von 20 den Betroffenen Unterhalt zahlen müssen. Doch wird die Unterhaltszahlung kaum kontrolliert und durch die Behörden durchgesetzt. So berichtet Human Rights Watch, dass in keinem der von ihnen dokumentierten Fälle die Unterhaltszahlung tatsäc h56 lich erfolgte. Gemäss US Department of State warten Opfer aus Scham oder aus Furcht vor Vergeltung oft tage- oder wochenlang, bis sie Vorfälle melden. Dies führe 57 dazu, dass Gewaltverbrecher nicht effektiv s trafrechtlich verfolgt werden können. Hindernisse führen dazu, dass nur wenige Frauen staatlichen oder nicht staatlichen Schutz suchen. Die Ergebnisse der Forschungsstudie zu häuslicher Gewalt gegen Frauen in der Türkei der Uni versität Hacettepe in Ankara belegen, dass landesweit nur sehr wenige Frauen Hilfe bei staatlichen oder nicht-staatlichen Institutionen suchen. 92 Prozent der Frauen, die physische oder sexuelle Gewalt 58 erlebt haben, haben sich weder an offizielle Institutionen noch an NGOs gewendet. Im Südosten der Türkei sind die Zahlen noch dramatischer: In Nordost - und Südostanatolien wenden sich nach solchen Erlebnissen nur fünf Prozent, in Zentr a59 lostanatolien sogar nur drei Prozent an offizielle Institutionen oder an NGOs. Der Bericht der parlamentarischen Menschenrechtskommission von 2012 scheint zu belegen, dass den Behörden in der Südosttürkei immer weniger Fälle gemeldet we rden: 2008 wurden in Batman und Diyarbakir 163 respektive 581 Fälle von Gewalt gegen Frauen bei der Polizei oder Gendarm erie gemeldet. 2011 waren es nur noch 60 51 respektive 279 Fälle. Es ist daher von einer hohen Dunkelziffer an nicht geme ldeten Fällen auszugehen. Psychische Auswirkungen sexueller und häuslicher Gewalt . Die Ergebnisse der eingangs zitierten Forschungsstudie zu häuslicher Gewalt gegen Frauen in der Türkei der Universität Hacettepe (2009) geben eine Vielzahl von Hinweisen auf die gra61 vierenden psychischen Folgen der erlittenen Gewaltereignisse. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies gemäss der Studie im Südosten des Landes, was auf die ausgesprochen schwierige Situation der von Gewalt betroffenen Frauen in dieser Region hindeutet. So haben vier von zehn Frauen in Südosten der Türkei Selbstmordg edanken nach erlebter Gewalt. Fünfzehn Prozent der betroffenen Frauen in Süd62 ostanatolien haben bereits einen Suizidversuch hinter sich. 1.1.1 Frauenhäuser Ungenügende Verfügbarkeit von Frauenhäusern. Die türkischen Frauenhäuser für von Gewalt betroffene Frauen, manchmal auch « Guest House» genannt, variieren in Grösse, angebotenen Leistungen und Qualität. Sie werden von NGOs, Gemeinden, 63 Gouverneursämtern und den staatlichen Sozialdiensten betrieben. In den staatli56 57 58 59 60 61 62 63 HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 27. USDOS Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Turkish Republic Prime Ministry – Directorate General on the Status of Women, Domestic Violence against Women in Turkey, 2009, S. 91: www.hips.hacettepe.edu.tr/eng/dokumanlar/2008 TDVAW_Main_Report.pdf. Ebenda. Today’s Zaman, Parliamentary Report: Gender Based Violence D oubled in the Last Four Years, 13. März 2012: www.todayszaman.com/news -274200-parliamentary-report-gender-based-violencedoubled-in-4-years.html. Turkish Republic Prime Ministry, Domestic Violence against Women in Turkey, 20 09, S. 79. In Zentralanatolien liegt der Anteil bei zwölf in Zen tralostanatolien bei elf Prozent. Ebenda, S. 80. Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey: A Qualitative Study on Shortcomings of Policy Making and Implementation, Violence Against Women 2013 (19:338), 14. Mai 2013 , S. 340: Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 7 von 20 chen Frauenhäusern sollen psychologische Unterstützung, rechtliche Hilfe sowie 64 Unterstützung bei der Arbeitssuche gebot en werden. Angaben zur genauen Anzahl der bestehenden Zentren variieren: Gemäss US Department of State hat die Institution for Social Services and Orphanages 2012 insgesamt 71 Frauenhäuser mit einer Kapazität für 1723 Personen betrieben. Gemeinden führten 32 Frauenhäuser mit 65 einer Kapazität für 668 Personen. NGOs betrieben zwei Frauenhäuser. Nach Angaben von Amnesty International und Women Against Violence Europe soll es inge66 samt 103 Frauenhäuser mit einer Kapazität für etwa 1968 Personen geben. 77 der Frauenhäuser seien für von häuslicher Gewalt Betroffene, zwei für Opfer von Me nschenhandel und eines für von häuslicher Gewalt betroffene Migrantinnen. Zu den 67 übrigen Frauenhäusern fehlten Angaben über die Zielgruppen. Nach Angaben der Kontaktperson einer Frauenorganisation soll es insgesamt aber nur rund 89 Frauen68 häuser geben. Gemäss eines Artikels der New York Times soll es 2012 nur 79 69 Frauenhäuser gegeben haben. Generell lässt sich sagen, dass die Zahl der Einrichtungen ungenügend ist und es in vielen Städten sogar überhaupt keine Anlauf70 stelle gibt. Das Gesetz schlägt zwar vor, dass jede Stadt mit einer Bevölkerung von über 50‘000 Menschen ein Frauenhaus zur Verfügung stellen sollte. Dabei handelt es sich aber lediglich um einen Vorschlag. Sanktionen gegen Gemeinden, die keine 71 Zentren zum Schutz von Frauen zur Verfügung stellen, sind nicht möglich. Würde der Vorschlag des Gesetzes umgesetzt, bräuchte es mindestens 1400 Frauenhä u72 ser. Um die tatsächlichen Bedürfnisse zu decken, benötig e die Türkei nach den Empfehlungen der Taskforce des Europarats Frauenhäuser mit einer Gesamtkapazi73 tät für 7190 Personen, was bei weitem nicht erreicht wird. Eine aktuelle Studie kritisiert, dass die mangelnde Zahl der Frauenhäuser das Resultat des fehlenden W illens von Politikern und Beamten sei, entsprechende Gesetze und Regulierungen 74 zum Schutz der von Gewalt Betroffenen umzusetzen. Das Gesetz sieht zudem ebenfalls die Entstehung von Gewaltpräventions - und Monitoring-Zentren in 14 Pilotstädten vor. In diesen Zentren sollen wirtschaftliche, psychologische, rechtliche 75 und soziale Dienstleistungen angeboten werden. Nur eingeschränkter Zugang zu Frauenhäusern. Die ungenügende Verfügbarkeit von Frauenhäusern führt dazu, dass Frauen in Not abgewiesen werden müssen. So 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 www.academia.edu/3596014/Womens_Shelters_in_Turkey_A_Qualitative_Study_on_Shortcomings_ of_Policy_Making_and_Implementation; HRW, «He loves you, he beats you», Mai 2011, S. 43. Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Turkey – Domestic Violence, Including Legisl ation, State Protection and Support Services, 28. Mai 2012, www.irbcisr.gc.ca/Eng/ResRec/RirRdi/Pages/index.a spx?doc=454016. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Amnesty International, Amnesty International Annual Report 2013 - Turkey, 23. Mai 2013: www.refworld.org/docid/519f516263.html; Women Against Violence Europe (WAVE), Country Report 2012, Reality Check on Data Collection and European Services for Women and Children Surv ivors of Violence, A Right for Protection and Support? März 2013, S. 270: www.wavenetwork.org/sites/default/files/02%20WAVE%20COUNTRY%20REPOR T%202012_0.pdf. WAVE, Country Report 2012, März 2013, S. 270. E-Mail-Auskunft einer Kontaktperson einer Frauenrechtsorganisation vom 19. Oktober 2013. New York Times, Women See Worrisome Shift in Turkey, 25. April 2012, www.nytimes.com/2012/04/26/world/europe/women-see-worrisome-shift-in-turkey.html?_r=0. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013; Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 20 11, S. 32. Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32. Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey, 14. Mai 2013, S. 340. WAVE, Country Report 2012, März 2013, S. 271. Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey, 14. Mai 2013, S. 344. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 8 von 20 geben Betreiber von Frauenhäusern Auskunft, dass sie wegen mangelnder Kapazität nur die «allerschlimmsten Fälle» aufnehmen können. Der Bedarf überschreite die 76 vorhandenen Möglichkeiten bei W eitem. Ausserdem gibt es in der ganzen Türkei nur ein einziges Frauenhaus, welches 24 Stunden geöffnet hat. Frauen suchen je77 doch gerade nachts oder an Wochenenden Schutz vor Gewalt. Zugang von Kindern zu Frauenhäusern. Kinder von Müttern, die von Gewalt betroffen sind, können zwar oft gemeinsam mit ihnen in den Frauenhäusern wohnen. Allerdings gibt es meist ein Alterslimit von 12 Jahren. Wenn die Mutter über längere Zeit im Frauenhaus bleiben muss, kann das Kind von der Mutter getrennt und in ei78 ner speziellen Unterkunft für Kinder untergebracht werden. Kein Zugang für gewisse Personengruppen. Human Rights Watch schildert, dass bestimmte Personengruppen aufgrund staatlicher Regeln oder der üblichen Praxis der Frauenhäuser keinen Zugang erhalten würden. So seien Frauen mit Infektion skrankheiten, psychischen Problemen und Drog ensucht nicht zugelassen. Des Weite79 ren würden in der Praxis Opfer von Menschenhandel und Prostituierte ausgeschlossen. Schliesslich finden Frauen ohne Identitätspapiere, darunter auch Asylsuchende, keinen Zugang. Auch Personen mit körperlicher oder geistiger Behinderung 80 haben kaum Zugang zu Frauenhäusern. Beschränkte Aufenthaltsdauer. Die Aufenthaltsdauer soll in staatlichen Frauenhäusern auf vier bis sechs Monate beschränkt sein, in solchen, welche durch NGOs betrieben werden, seien in Notsituationen auc h Aufenthalte von mehr als zwölf Mo81 naten möglich. Nach Angaben zweier weiterer Quellen dürfen Frauen in der Regel aber nur bis zu drei Monaten in den Unterkünften bleiben. Danach würden 70 Pr o82 zent der Frauen nach Hause zurückkehren, weil es keine weiteren Optionen gibt. Mangel an Finanzierung, Nachhaltigkeit, Koordination und Fachpersonal beeinträchtigen Arbeit und Qualität der Frauenhäuser. Die Finanzierung der Frauenhäuser stellt ein grosses Problem dar. Von staatlicher Seite fehlt die Bereitschaft zu 83 mehr Unterstützung und es sind keine spezifischen Budgets dafür vor gesehen. Weiter ist es problematisch, dass der Betrieb der Frauenhäuser der Gemeinden und Gouverneursämter sowie derjenigen, die durch diese finanziert und von NGOs betrieben werden, nicht institutionalisiert ist. Stattdessen hängt der Betrieb von der Unterstützung der jeweiligen Entscheidungsträger ab und kann jederzeit beendet 76 77 78 79 80 81 82 83 HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 44. Kurdish Human Rights Project (KHRP), NGO Shadow Report fort he Review of the Turkish Gover nment Under the UN International Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against W omen (CEDAW) Submitted by Kurdish Human Rights project May 2010, Mai 2010, S. 13f: www.ecoi.net/file_upload/470_1278668759_khrp.pdf . HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 20 11, S. 45; WAVE, Country Report 2012, März 2013, S. 270. Für diese gibt es spezifische Frauenhäuser. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 46. WAVE, Country Report 2012, März 2013, S. 271. Hürriyet Daily News, Women’s Shelters to be s et in 250 Municipalities, 9. August 2012: www.hurriyetdailynews.com/Default.aspx?pageID=238&nid=27389 ; Kurdish Human Rights Project, NGO Shadow Report fort he Review of the Turkish Government Under the UN International Conve ntion on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women (CEDAW) Submitted by Kur dish Human Rights project May 2010, Mai 2010, S. 13f: www.ecoi.net/file_upload/470_1278668759_khrp.pdf . Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey, 14. Mai 2013, S. 346. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 9 von 20 84 werden. Verschiedene Quellen bemängeln, dass es keine gemeinsame Kooperat ion und Koordination der Frauenhäuser gibt. So wird ihre Arbeit nicht genügend be85 aufsichtigt und es kommt zu Missmanagement. Schliesslich ist in den Institutionen ein grosser Mangel an gut ausgebildet en Fachkräften zu konstatieren, die eigentlich nötig wären. Dies ist laut den Quellen ein Resultat der Sparmassnahmen des türkischen Staats. Viele Frauenhäuser müssen sich deswegen zum Teil auf den Einsatz Freiwilliger verlassen, welche aber über zu wenige Fachkenntnisse und nur über beschränkte Zeit verfügen. Die Betreuung der Betroffenen kann des wegen oft nicht 86 in gewünschter Qualität und Professionalität gewährleistet werden. Sicherheit der Frauen in Frauenhäusern oft nicht gewährleistet. Die Sicherheit der Frauenhäuser ist eines der grössten Probleme und wird durch den Staat nicht genügend sichergestellt. Verschiedene Quellen belegen, dass Polizeibeamte Mä nnern, die ihre geflüchteten Frauen suchen, den Standort der entsprechenden Frauenhäuser verraten und damit die Frauen und die Fachkräfte dieser Institutionen in Gefahr bringen. Auch Männer in der Nachbarschaft der Frauenhäuser helfen Mä n87 nern, die ihre Frauen in den Frauenhäusern suchen. Auch Schulakten der Kinder von Personen in Frauenhäusern verraten nach Angaben von Human Rights Watch den Standort der Frauen. Um die Sicherheit zu erhöhen, würden die Freiheiten der Betroffenen zum Teil stark eingeschränkt, wodurch sie teilweise unter «gefängni s88 ähnlichen» Bedingungen leben müssten. Fehlende Unterstützung der Betroffenen nach Verlassen der Frauenhäuser. Nach übereinstimmenden Angaben fehlen genügende Unterstützung oder soziale Leistungen für von Gewalt betroffene Frauen, nachdem sie die Frauenhäuser verlassen haben. Insbesondere NGOs können keinerlei Übergangsunterstützung g e89 währleisten. 1.1.2 Weitere Unterstützungsdienste Telefon-Hotlines für Betroffene. In der Türkei gibt es nach Angaben von Violence Against Women Europe vom März 2013 zwei Notfall-Telefon-Hotlines, welche 24 Stunden an sieben Tagen kostenlos erreichbar sein sollten. Eine staatliche Hotline (183) ist die «Social Service Counselling Line for Family, Women, Children and Dis90 abled». Sie wird seit 2007 vom Ministry of Family and Social Policies betrieben. In einem Zeitungsartikel heisst es, dass dieselbe Hotline neu seit September 2012 die Behörden über Personen informieren sollte, die in akuter Gefahr vor einem Verbre91 chen im Nahmen der Ehre sind. Im Jahr 2012 wurden von Januar bis Oktober 9889 Telefonanrufe bei der nationalen behördlichen Hotline für häusliche Gewalt regi s- 84 85 86 87 88 89 90 91 Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey, 14. Mai 2013, S. 344f. Ebenda, S. 347; Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32. Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey, 14. Mai 2013, S. 349f. Ebenda, S. 347f. und 352:; HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 44. HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 44. HRC, Report of the Special Rapporteur on extrajudicial, s ummary or arbitrary executions , 18. März 2013, S. 10; Europäische Kommission, Turkey 2011 Progress Report, 12. Oktober 2011, S. 32; HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 46f. WAVE, Country Report 2012, März 2013, S. 270. SES Turkiye, Increase in Honor Killings Spurs Call for Action, 16. Januar 2013: www.turkey.setimes.com/en_GB/articles/ses/articles/reportage/2013/01/16/reportage -01. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 10 von 20 92 triert. Die zweite Hotline, die «Hürriyet Emergency Domestic Violence Hotline» (0212 656 9696) wird durch eine unabhängigen NGO für Frauen betrieben. Beide Hotlines bieten aber nach Angaben von Violence Against Women Europe keine 93 mehrsprachige Unterstützung an. Die NGO Kamer bietet nach eigenen Angaben für von Gewalt betroffene Frauen ebenfalls eine Notfall-Telefon-Hotline (0530 664 94 44 10) an, die 24 Stunden und jeden Tag erreichbar sei. Unterstützung durch nichtstaatliche Organisationen kann staatlichen Schutz 95 nicht ersetzen. Eine Reihe von NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure versuchen, verschiedene Unterstützungsleistungen für von Gewalt Betroffene zu bieten. Zum Beispiel unterhält die NGO Kamer nach eigenen Angaben im Südosten des Landes in 23 Provinzen sogenannte «Women Assistance Centers» für Gewaltbetroffene und durch Ehrenmord Gefährdete. In den Zentren erhalten betroffene Frau96 en psychologische und rechtliche Unterstützung und Beratung. Oft sind die in diesem Bereich tätigen NGOs ungenügend finanziert und müssen auf Freiwilligenarbeit zurückgreifen, was die Möglichkeiten ihrer Dienstleistungen stark einschränkt. Entsprechend können NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure zwar eine wichtige unterstützende Funktion einnehmen, doch meistens können sie alleine keinen ausreichenden Schutz für Betroffene leisten, wenn die staatlichen Akteure diesen nicht 97 gewährleisten. 1.2 Zwangsheirat/Kinderheirat 98 Zwangs- und Kinderheirat weit verbreitet. Gemäss UNFPA kommen Kindesheiraten in der ganzen Türkei vor und stehen unter anderem mit den patriarchalen Ei n99 stellungen gegenüber Mädchen in Verbindung. Das US Department of State berichtet, dass Kinderheirat vor allem in den armen, ländlich geprägten Regionen der 100 Türkei vorkommt. Kinderheirat bleibt nach wie vor wirtschaftlich attraktiv, da der Landbesitz in der Familie bleibt und die Töchter nicht länger «versorgt» werden müssen. Die Praxis der Mitgift ist nach wie vor üblich und stellt einen weiteren wirtschaftlichen Faktor für arme Familien dar. Gemäss Statistiken des Turkey Demogra- 92 93 94 95 96 97 98 99 100 USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. WAVE, Country Report 2012, März 2013, S. 270. KAMER, W omen's Human Rights Programs, Webseite, ohne Datum (Zugriff am 22. Oktober 2013): www.kamer.org.tr/english/2-1.php. Dazu gehören KAMER, Flying Broom, Association for the Support and Training of Women Cand idates (KADER), Van Women’s Association (VAKAD), Women's Soildarity Foundation (KADAV), Purple Roof (Mor Cati) W omen’s Shelter Foundation , Lambda Istanbul, Kaos GL, Center for Legal Support to Women (Kahdem), Filmmor Women's Cooperative, Capital City Women's Platform (Baskent Kadin Platformu Dernegi) , Foundation for Women's Solidarity (Kadin Dayanisma Vakfi) , Amargi Feminist Kitabevi, Human Resources Development Foundation (Insan Kaynagini Gelistirme Vakfi), Foundation for the Support of Women's Work , Amnesty International Turkey, Human Rights Association, Kadin2000, Women for Women's Human Rights - New Ways. KAMER, W omen's Human Rights Programs, Webseite, ohne Datu m (Zugriff am 22. Oktober 2013). Cagla Diner und Sule Toktas, Women’s Shelters in Turkey, 14. Mai 2013, S. 346ff.; HRW, «He Loves You, he Beats You», Mai 2011, S. 44. Die Problematik der Zwangsheiraten wird von Nichtregierungsorganisationen sowie den Vereinten Nationen grundsätzlich nicht gesondert, sondern immer in Verbindung mit Früh- beziehungsweise Kindesheiraten betrachtet. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunft sländern, April 2010, S. 213. United Nations Population Fund (UNFPA), Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 3: http://unfpa.org/webdav/site/eeca/shared/documents/publications/Turkey%20English.pdf. USDOS, Country Report on Human Rights P ractices 2012 – Turkey, 19. April 2013. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 11 von 20 phic and Health Survey von 2008 haben fast 15 Prozent der Familien aller verheira101 teten Frauen eine Mitgift erhalten. Das Risiko, dass die Tochter durch eine voreheliche sexuelle Beziehung ihre Jungfräulichkeit verliert und damit die Familiene h102 re befleckt, verringert sich ebenfalls durch eine frühe Heirat. Statistiken über Zwangs- beziehungsweise Kinderheiraten weisen unterschiedliche Zahlen auf. Gemäss der Chefin der Kommission weiblicher Juristinnen der Verein igung der Türkischen Anwaltskammer soll in der Türkei jede vierte Braut ein Kind 103 sein. Das Amt für den Frauenstatus gab im Aktionsplan 2008 bis 2013 den nationalen Prozentsatz der Zwangsverheiratungen von 2006 mit 37 Prozent an. Nach 104 einer Studie von 2011 wurde jede dritte Frau in der Türkei als Kind verheiratet. Die lokale nichtstaatliche Frauenorganisation Urfa Yasam Evi Kadin Dayanisma Dernegi gibt in ihrer Statistik aus dem Jahre 2008 an, dass in Sanliurfa und Umgebung 67 Prozent der Frauen zwangs- beziehungsweise frühverheiratet seien. In e iner anderen Provinz im Südosten der Türkei so llen gemäss dem Verein Van Kadin Dernegi 33,4 Prozent der Frauen im Alter zwischen 11 bis 17 Jahren geheiratet ha105 ben. Eine weitere Quelle berichtete 2012, dass eine von fünf Ehen unter 18 Jah106 ren vollzogen wird. Nach einer Studie zur Demografie und Volksgesundheit der Universität Hacettepe beträgt der Anteil der Eheschliessenden unter 18 Jahren landesweit gar 28 Prozent. In Zentralanatolien beträgt er 37 und in Ost- und Süd107 ostanatolien sogar 40 bis 42 Prozent. Religiöse (Zwangs-)Heirat. Religiöse Heiraten sind in der Türkei weitverbreitet und 108 viele Kinderheiraten finden auf diese Weise statt. Gemäss US Department of State 109 kommt es vor, dass 12-jährige Kinder religiös verheiratet werden. Nach Angaben der NGO Flying Broom werden Mädchen zum Teil für 3000 bis 5000 US-Dollar an viel ältere Männer verkauft und religiös verheiratet. Manchmal müssen sie auch mit 110 ihnen zusammen leben, ohne dass eine Heirat stattgefunden hat. Die durch Imame vollzogenen religiösen Heiraten haben keine offizielle Anerkennung un d die Frauen somit oft nur wenige Rechte: Eine religiös verheiratete Witwe und ihre Kinder können zum Beispiel das Land des Ehemannes nicht erben. Im Falle einer Trennung 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 UNFPA, Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 3. Ebenda; BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 213. Hurriyet Daily News, One in Every four Marriages in Turkey Involves Child Bride: NGO, 4. Mai 2013: www.hurriyetdailynews.com/one-in-every-four-marriages-in-turkey-involves-child-bridengo.aspx?pageID=238&nid=46232. Today’s Zaman, Turkish Women Face Discrimination, Violence, Illiteracy despite small Gains, 7. März 2012: www.todayszaman.com/news -273620-turkish-women-face-discrimination-violenceilliteracy-despite-small-gains.html. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 213 . 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September 2013: www.vocativ.com/09-2013/your-daughter-committed-suicide-comequick-the-growing-scourge-of-child-brides-in-turkey/. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 12 von 20 111 haben die Frauen kein Anrecht auf Unterhaltszahlungen. In der Türkei sind laut Angaben des staatlichen Statistikamts 3,7 Prozent der über 18 -Jährigen nur durch 112 eine religiöse Trauung verheiratet. In Südostanatolien sind es über 16 Prozent. Folgen der Kinder- und Zwangsheirat. Nach Angaben der UNFPA haben ältere Männer häufiger sexuell übertragbare Krankheiten wie zum Beispiel HIV. Zwang sverheiratete Mädchen haben keine Verhandlungsmacht, ihre viel älteren Ehemänner davon zu überzeugen, nur geschützt Geschlechtsverkehr zu haben oder empfän gnisverhütende Mittel einzusetzen. Jung verheiratete Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren sind als Folge dieser zwei Faktoren besonders gefährdet, sich mit HIV anz u113 stecken. Verheiratete Mädchen sind vermehrt häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Bei einer Schwangerschaft und der Geburt erleb en die Mäd114 chen oft Komplikationen, da ihre Körper zum Gebären noch nicht bereit sind. Besonders im Südosten der Türkei kommen Geburten bei unter 18-jährigen Mädchen häufig vor: Die End Violence Against Women Platform hat 2012 über 825 Geburten bei unter 18-jährigen Mädchen im Diyarbakir Women and Children State Hospital 115 dokumentiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwangsverheiratete Mädchen weiter116 hin die Schule besuchen können, ist äusserst gering. Normalerweise leben die Mädchen in der Familie des Ehemann es und ihre Freiheit ist stark eingeschränkt. Entscheidungen werden üblicherweise durch die Schwiegereltern getroffen, ohne 117 dass die Mädchen eine Einflussmöglichkeit haben. Keine Strafen und mangelhafter staatlicher Schutz vor Kinderheirat. Das Zivilgesetz von 2002 hat das legale Mindestalter für eine Heirat auf 17 Jahre für Jungen und Mädchen erhöht. Das Zivilgesetzbuch erlaubt allerdings in konkreten Fällen eine Heirat ab 16 Jahren. Dafür ist ein richterlicher Beschluss nötig, welcher im Falle von 118 aussergewöhnlichen Umständen gegeben werden kann. Die Vorschrift des Mindestalters von 17 Jahren wird allerdings oft durch einen Antrag auf Änderung des 119 Geburtsdatums der Töchter oder durch eine religiöse Heirat umgangen . Zwar ist die Durchführung einer religiösen Heirat ohne eine offiziell anerkannte Heirat verb oten und kann mit zwei bis sechs Monaten Gefängnis bestraft werden, doch wird di e120 se gesetzliche Vorgabe nach Angaben von UNICEF nicht umgesetzt. Das Zivilgesetzbuch sieht vor, dass eine Frau Strafanzeige machen und eine Annullierung der Ehe beantragen kann, wenn sie gegen ihren W illen verheiratet wurde. Während der ersten fünf Jahre nach der Heirat haben Frauen zwar das Recht , die Auflösung der 121 Heirat zu beantragen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Betroffene davon absehen, da sie durch Ehemann, Familie und das soziale Umfeld unter erheblichem 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 UNFPA, Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 2. Turkish Statistical Institute, Statistics by Theme, Social Structure and Gender Statistics, Type of Wedding, 2006, www.turkstat.gov.tr/PreTablo.do?alt_id=1068 . UNFPA, Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 3. Ebenda. USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2012 – Turkey, 19. April 2013. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 213 . UNFPA, Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 4. Ebenda, S. 2. Hurriyet Daily News, One in Every four Marriages in Turkey Involves Child Bride: NGO, 4. Mai 2013: www.hurriyetdailynews.com/one-in-every-four-marriages-in-turkey-involves-child-bridengo.aspx?pageID=238&nid=46232. UNICEF Turkey, Child Marriage, Webseite, kein Datum (Zugriff am 22 . Oktober 2013): www.unicef.org.tr/en/content/detail/73/child -marriage-2.html. UNFPA, Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 2. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 13 von 20 psychischem und wirtschaftlichem Druck stehen. Das Strafrecht sieht zudem keine 122 spezifischen Strafen gegen Kinderheirat vor. Wie bereits zuvor erwähnt, ist d er staatliche aber auch der nicht-staatliche Schutz für von Gewalt betroffene Frauen mangelhaft. Auch für von Zwangs- und Kinderheirat bedrohte Personen sind diese 123 Institutionen Anlaufstellen und können nur beschränkt Schutz bieten. 1.3 Ehrenmorde Ehrenmorde vor allem unter kurdischer Bevölkerung verbreitet. Nach Angaben des Menschenrechtsberichts des US Department of State vom April 2013 sind Eh124 renmorde in der Türkei weiterhin ein schwerwiegendes Problem. So sind in der Türkei Verbrechen im Namen der Ehre häufig. Die männliche Ehre «namus» definiert sich durch die Frau. W enn eine Frau gegen die Ehre verstösst, bringt sie 125 Schande über die ganze Familie. Das sogenannte «schamlose Verhalten» au fgrund einer sexuellen Beziehung vor der Eheschliessung beziehungswe ise in der 126 Ehe führt dazu, dass Frauen Opfer von Ehrenmorden werden. Gemäss dem BAMF werden Ehrenmorde vor allem in semi-feudalen Strukturen kurdischer Familienclans 127 verübt. Mit der Landflucht und der Binnenmigration werden diese traditionellen 128 Lebensformen auch in die Städte getragen. Die sogenannten Ehrenmorde kommen insbesondere im kurdisch dominierten Südosten oder unter den aus dem Sü d129 osten stammenden Migranten in den Städten vor. Verschiedene Quellen gehen davon aus, dass Frauen, welche sich weige rn eine arrangierte Heirat, respektive 130 eine Zwangsheirat einzugehen, Opfer eines Ehrenmords werden können. Das australische Refugee Review Tribunal schildert, dass eine durch die Frau angestre bte Scheidung von kurdischen Männern als Ver letzung der Ehre wahrgenommen wird. Kurdinnen würden zudem auch nach bereits erfolgter Scheidung von ihren Ex131 Ehemännern der Untreue beschuldigt und Opfer von Ehrenmorden. Ein aktueller Fall zeigt die Problematik rund um Ehrenmorde auf: Im Dezember 2012 wurde ein 15-jähriges Mädchen, welches im vierten Monat schwanger war, in der im Südosten der Türkei liegenden Stadt Batman tot aufgefunden. Ermittlungen ergaben, dass sie von ihren zwei Cousins vergewaltigt wurde, nachdem sie aus einer Zwangsheirat 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 UNFPA, Turkey - Child Marriage, Oktober 2012, S. 2. Siehe auch 1.1; MRT-RRT – Australian Government – Migration Review Tribunal & Refugee Review Tribunal, Country Advice Turkey – TUR39341 – Arranged Marriage – Honour Killings – Kurdish Community – Istanbul – Legal Provisions – Police Protection – Community Attitudes – Women’s Organisations – Relocation, 17. Oktober 2011, S. 8: www.ecoi.net/file_upload/1788_1339521232_tur39341.pdf USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2012 – Turkey, 19. April 2013. The Guardian, Turkey: Looking for Honour in all the wrong Places, 21. März 2011, www.theguardian.com/commentisfree/2011/mar/21/turkish-honour-seriously-misguided/print. Es kommt auch vor, dass Männer betroffen sind. Dies kann im Rahmen der sogenannten Blutrache der Fall sein. In solchen Fällen werden Männer verdächtigt, «schamlose Beziehungen» zu Frauen eingegangen zu sein, Frauen vergewaltigt oder sich geweigert zu haben, die Ehre der Familie wi eder herzustellen. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, A pril 2010, S. 211f. Ebenda. Ebenda. USDOS, Country Report on Hum an Rights Practices 2012 – Turkey, 19. April 2013. MRT-RRT, Country Advice Turkey, 17. Oktober 2011, S. 2ff.; RRT - Refugee Review Tribunal (Australia), RRT - Research Response TUR33276 - Turkey – Women – Kurdish women – Divorce – Honour killings – Polygamy – Domestic violence – State protection , 28 April 2008: www.ecoi.net/file_upload/2016_1297689335_tur33276.pdf . RRT, Research Response TUR33276, 28 April 2008. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 14 von 20 geflohen war. Ihr Onkel und ihr Grossvater wurden festgenommen, da sie des Mo r132 des an dem Mädchen beschuldigt werden. Keine zuverlässigen Statistiken. Zuverlässige Statistiken zu Ehrenmorden gibt es keine. Dies liegt einerseits an einer fehlenden Definition im türkischen Strafgese tzbuch, andererseits an der Schwierigkeit, Ehrenmorde verlässlich zu ermitteln. Des Weiteren werden Ehrenmorde oft als Selbstmorde getarnt. Klassische Morde an Frauen werden zudem manchmal vermeintlich verharmlosend als Ehrenmorde ang e133 geben. Ein 2007 veröffentlichter Bericht der Ehrenmordkommission des türkischen Parlaments zählt 1‘190 Ehrenmorde und Blutrachedelikte in den Jahren zwischen 2001 bis 2006. Diese Statistik bezieht allerdings auch Vergewaltigung und sexuelle Belästigung sowie Familienfehden mit ein: Letzteres erklärt die hohe Zahl an männlichen Opfern in der Statistik. Von den 1‘190 Opfern waren 710 männlich und 480 134 weiblich. Gemäss der türkischen Gendarmerie gab es im Jahr 2012 von Januar bis Oktober 19 Ehrenmorde, nach Angaben des Innenministeriums jedoch 35 in den 135 ersten neun Monaten. Anderen Quellen zufolge gab es einen starken Anstieg der registrierten Ehrenmorde. Zwischen 2002 und 2009 soll sich die Zahl der Ehrenmorde um ein vierzehnfaches erhöht haben. Von 66 im Jahr 2002 auf 953 im Jahr 136 2009. In Istanbul hat sich die Zahl der Ehrenmorde zwischen 2006 und 2007 ve rdoppelt. Mit einem Anteil von 15 Prozent aller Ehrenmorde landesweit, liegt die Hauptstadt an der Spitze. Demnach wird in Istanbul jede W oche ein Mensch Opfer 137 eines Ehrenmordes. Statistiken zu Ehrenmorden in ländlichen und abgelegenen 138 Gebieten sind kaum vorhanden. Ein durch die Federation of Women’s Associations veröffentlichter Bericht zeigt, dass sich die Zahlen der Selbstmorde bei Frauen in der Stadt Sanliurfa in den letzten zwei Jahren deutlich erhöht haben. 2009 wurden fünf Selbstmorde gemeldet, 2010 waren es 124 und im ersten Halbjahr 2011 waren es bereits 149. Gemäss Menschenrechtsorganisationen sind viele dieser Selbstmor139 de versteckte Ehrenmorde. Die meisten zeigen Fälle häuslicher Gewalt auf. Erzwungene Suizide immer häufiger. Um Strafen zu umgehen kommt es häufig 140 auch zu sogenannten «erzwungenen Suiziden». Verschiedene Quellen berichten, dass Mädchen von der Familie dazu gezwungen werden sich selber das Leben zu nehmen. Somit kann eine Strafverfolgung der männlichen Familienmitglieder sowie 141 ein Schaden des Rufes der Familie umgangen werden. Dabei werden Frauen 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2012 – Turkey, 19. April 2013. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 212. Ebenda, S. 210f. HRC, Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions, 18. März 2013, S. 9; USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2012 – Turkey, 19. April 2013. The Christian Science Monitor, Turkey grapples with spike in «honor» killings, 14. April 2011, www.csmonitor.com/World/2011/0414/Turkey-grapples-with-spike-in-honor-killings. 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Oktober 2013 Seite 15 von 20 meistens mit verschiedenen Objekten wie Pistolen, Rattengift oder Schlingen in e inen Raum eingeschlossen, bis sie sich selber umgebracht haben. Gemäss dem Bericht einer Frauenrechtsorganisation werden in der kurdisch dominierten Stadt Ba t142 man im Südosten der Türkei drei Viertel aller Selbstmorde von Frauen begangen. Unklarheiten im Strafgesetzbuch und milde Strafen. Nach Artikel 82 des neuen Strafgesetzbuchs von 2005, wird vorsätzliche Tötung aus Gründen des Brauch143 tums («töre saiki») explizit mit erschwerter lebenslanger Haft bestraft. Eine Fre i144 lassung ist bei einer «erschwerten« Haft frühestens nach 30 Jahren möglich. Zuvor konnten Straftäter mit einer Strafmilderung auf bis zu einem Achtel rechnen, 145 wenn das Verbrechen durch eine «ungerechtfertigte Aufreizung» ausgelöst wurde. Seit es zu härteren Strafen kommt, werden oft Jugendliche mit der Tat beauftragt, 146 da sie eine geringere Strafe zu erwarten haben. Verschiedene Beobachter, darunter der UN Special Rapporteur on Extrajudicial, Summary and Arbitrary Executions , kritisieren Mängel bei der Überarbeitung des Strafgesetzbuchs bezüglich der Eh147 renmorde: In der Praxis würden Ehrenmorde noch immer zu milde bestraft. In dem überarbeiteten Strafgesetzbuch ist die Rede von Tötung aus Gründen des Brauchtums («töre saiki») und nicht aufgrund der Ehre («namus»). Dies führt zu Verwirrung, was genau unter Brauchtum verstanden wird und ob Ehrenmorde dazugehö148 ren. Das Gesetz erfasst nur gewisse Ehrenmorde, welche zum Beispiel durch e inen Familienrat in Auftrag gegeben wurden oder in Regionen durchgeführt werden, 149 in denen das Brauchtum eine grosse Rolle spielt. Entscheide von Familienräten sind für Ehrenmorde aber nicht immer notwendig und zudem vor Gericht kaum nac hzuweisen. Das Gesetz hat so eine sehr enge Auslegung und wird auch der Verbrei150 tung der Ehrenmorde im ganzen Land nicht gerecht. Gerichte haben so zum Teil entschieden, dass Ehrenmorde nicht als Tötungen aus Gründen des Brauchtums zu 151 behandeln sind, weswegen Artikel 82 nicht zur Anwendung kommt. Human Rights Watch kritisiert zudem, dass unter Artikel 29 die Möglichkeit eine Strafminderung im 152 Falle von «ungerechtfertigte Aufreizung» immer noch besteht. 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 Kurdish Human Rights Project, NGO Shadow Report for the Review of the Turkish Government Under the UN International Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women (CEDAW), Mai 2010, S. 32: www2.ohchr.org/english/bodies/cedaw/docs/ngo/KHRP.pdf . «Custom Killings». BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2 010, S. 212f. KAS, Auslandsinformationen – Zum neuen türkischen Strafgesetzbuch, 10. Mai 2005, S. 87: www.kas.de/wf/doc/kas_6625-544-1-30.pdf. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 212. HRC, Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions, 18. März 2013, S. 10; NGO Forum on CEDAW and Women's Platform on the Turkish Penal Code, Shadow NGO Report on Turkey’s Sixth Periodic Report to the Committee on the Elimination of Discriminati on against Women, Juli 2010, S. 7: www.ecoi.net/file_upload/470_1278669688_wptpc -turkey46.pdf. International Business Times, Honor Killings, The Scourge of Turkey, 10.Juli 2011: www.ibtimes.com/honorkillings-scourge-turkey-part-1-297361. HRC, Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions, 18. März 2013, S. 10; HRW, «He loves you, he beats you», Mai 2011, S. 21. MRT-RRT, Country Advice Turkey, 17. Oktober 2011, S..4f.; NGO Forum on CEDAW and Women's Platform on the Turkish Penal Code, Shadow NGO Report, Juli 2010, S. 7. NGO Forum on CEDAW and Women's Platform on the Turkish Penal Code, Shadow NGO Report, Juli 2010, S. 7; International Business Times, Honor Killings, The Scourge of Turkey, 10.Juli 2011: www.ibtimes.com/honor-killings-scourge-turkey-part-1-297361. HRC, Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions, 18. März 2013, S. 10. HRW, «He loves you, he beats you», Mai 2011, S. 21. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 16 von 20 Mangelhafter staatlicher Schutz. Wie bereits zuvor erwähnt, ist der Zugang zu staatlichem Schutz für von Gewalt Betroffene in der Türkei bisher noch immer mangelhaft. Verschiedene Quellen belegen, dass Polizei und andere staatliche Akteure Frauen nicht genügend schützen, welche befürchten, Opfer von Ehrenmorden zu 153 werden. 2 Sozioökonomische Situation der Kurdinnen im Südosten der Türkei 2.1 Gesellschaftliche Stellung der Kurdinnen Patriarchische Gesellschaftsstruktur. In der Zentral-und Osttürkei ist die Gesellschaft noch traditionell streng patriarchalisch strukturiert. Vor allem in den ländlichkonservativen Gebieten der Türkei spielen Frauen keine gleichberechtigte Rolle. Durch die Landflucht leben m ittlerweile auch viele Familien in den Städten nach pat154 riarchalischen Traditionen. Die Identität der Frauen wird zudem oft durch eine von Männern dominierte Politik definiert. Der Körper der Frau und die Art und W eise wie sie sich kleidet, ihren Kopf verschleiert und welch er Art Bildung sie nachgehen soll, 155 sind Themen, welche oft unter Ausschluss der Frauen diskutiert werden. In der Türkei findet des W eiteren eine Zunahme des religiös en Konservatismus statt, wel156 che die erlangten Rechte der Frauen wieder bestreitet. In den Medien werden Frauen weiterhin negativ dargestellt und es herrscht nach wie vor ein von Männern 157 dominierter Diskurs. Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Gesetz. Die Gleichstellung vor dem Gesetz wurde in der Türkei schon 1926 durch Mustafa Kemal Atatürk eingeführt. Demnach sind sie gemäss Artikel 10 der Verfassung grundsätzlich gleichberechtigt. Das Zivilgesetzbuch von 2011 bestätigt diese Stellung. Die gesellschaftliche Realität bezüglich der Chancengleichheit und Gleichberechtigu ng von Frauen bleibt jedoch in den meisten Teilen der Türkei hinter dem theoretischen gesetzlichen Fortschritt 158 zurück. Gesellschaftliche Diskriminierung von Witwen und geschiedenen Frauen. Es gibt verschiedene Hinweise, dass W itwen und geschiedene Frauen in der Türkei diskriminiert werden. Gemäss einer Umfrage des World Public Opinion von 2008, welche in 18 Ländern durchgeführt wurde, glauben 70 beziehungsweise 72 Prozent der Befragten, dass in der Türkei Witwen und geschiedene Frauen diskriminiert we r- 153 154 155 156 157 158 MRT-RRT, Country Advice Turkey, 17. Oktober 2011, S. 6ff.; HRW, «He loves you, he beats you», Mai 2011. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 209. Selma Acuner, Gender and Development in Turkey , in Turkish Policy Quarterly, Winter 2013, Vo lume 11, Number 4, 25. Februar 2013, S. 78: www.turkishpolicy.com/dosyalar/files/vol_11 no_4%20acuner.pdf. Selma Acuner, Gender and Development in Turkey , S. 77. European Commission, Turkey 2012 P rogress Report, 10. Oktober 2012, S. 26: www.ecoi.net/file_upload/1226_1350307669_turkey-rapport-2012-en.pdf. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 208. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 17 von 20 159 160 den. In derselben Umfrage geben 52 beziehungsweise 51 Prozent der Befragten 161 an, dass in der Türkei Witwen und geschiedene Frauen stark diskriminiert werden. Bereits erwähnt wurden die rechtliche Diskriminierung von religiös verheirateten Witwen und geschiedenen Frauen und die Gefahr der Ehrenmorde für geschiedene Kurdinnen. Nach Recherchen des australischen Refugee Review Tribunal wird eine durch die Frau angestrebte Scheidung in traditionellen kurdischen Gemeinschaften 162 als Entehrung wahrgenommen und die Frau müsse bestraft we rden. Doppelte Diskriminierung der Kurdinnen. Das gesellschaftliche und wirtschaftl iche Leben von Kurdinnen wird durch die dominante Rolle der Männer in einer immer noch patriarchalischen Gesellschaft geprägt. Gemäss verschiedenen Quellen werden Kurdinnen doppelt diskriminiert. Neben ihrer Identität als Frau werden sie auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Minderheit benachteiligt – in einem Staat, welcher die Rechte der Kurden einschränkt. Kurdische Frauen werden in vielen Bereichen diskriminiert: Arbeit, Teilnahme an sozialem und politischem Leben sowie 163 beim Zugang zu Gesundheitsleistungen, da sie oft kein Türkisch sprechen. Angehörige der kurdischen Ethnie, welche in nicht -kurdischen Gebieten leben, werden nach Angaben des Immigration and Refugee Board of Canada von Gesellschaft und Behörden diskriminiert und sind teilweise auch ethnisch motivierter Gewalt ausg e164 setzt. 2.2 Wirtschaftliche Stellung von Kurdinnen Sichtlich schlechtere wirtschaftliche Bedingungen der Frauen. Gemäss BAMF haben Frauen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Entlöhnung, in Bildungsfragen und hinsichtlich ihrer Repräsentanz in der Politik sichtlich schlechtere Bedingungen. Die Mehrzahl der Frauen wird in der Gesellschaft und der Politik nicht gleichberechtigt 165 behandelt. Gemäss dem US Department of State ist Diskriminierung durch die Gesellschaft und öffentliche Institutionen trotz der gesetzlichen Gleichstellung weit 166 verbreitet. Frauen werden immer noch auf dem Arbeitsmarkt diskr iminiert. Im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission wird die Diskriminierung gegen167 über Frauen auf dem Arbeitsmarkt bestätigt. Benachteiligung der Frauen beim Lohn . Gemäss dem türkischen Statistikamt verdienen Frauen in einigen Sektoren deutlich weniger als Männer . Allerdings kommt dies sehr auf das Bildungsniveau an. Zum Beispiel haben 2012 Maschinenarbeite159 160 161 162 163 164 165 166 167 World Public Opinion, Poll: Across the World Many See Discrimination Against Widows and D ivorced W omen, März 2009: www.worldpublicopinion.org/pipa/pdf/jun08/WPO_Widows_Mar09_rpt.pdf . Dies ist die höchste Rate aller befragten Länder. Ebenda. RRT, Research Response TUR33276, 28 April 2008. Turkish Review, Kurdish W omen in Turkey – Double Discrimination, 1. März 2013, www.turkishreview.org/tr/newsDetail_getNewsById.action;jsessionid=7AC071A321072926B69056B0 EA4F002A?newsId=223283; Association für Women’s Rights in Development (AWID), Kurdish Women: Resilience in the Face of Double Discrimination, 12. April 2012: www.awid.org/NewsAnalysis/Friday-Files/Kurdish-Women-Resilience-in-the-face-of-double-discrimination. IRB, Turkey: Situation of Kurds in western cities such as Ankara, Istanbul, Izmir, Konya and Mersin; resettlement to these cities (2009 - May 2012, 14. Juni 2012. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 209. USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2012 – Turkey, 19. April 2013. European Commission, Turkey 2011 P rogress Report, 12. Oktober 2011, S. 30f. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 18 von 20 rinnen sowie Montiererinnen zirka einen Viertel weniger verdient als ihre männlichen Kollegen. W eitere Bereiche, in denen Frauen zwischen 13 bis 20 Prozent weniger verdienen sind: Fachkräfte, Handwerks-und verwandte Berufe sowie Hilfsarbeitskrä f168 te. Nach Angaben des World Economic Forum erhielten Frauen 2012 63 Prozent 169 von dem, was ihre männlichen Kollegen für dieselbe Arbeit verdient haben. Erwerbstätigkeit. Gemäss dem Türkischen Statistikamt betrug 2012 der Anteil der Frauen am Arbeitsmarkt 30,3 Prozent. Frauen leben oft in ärmlichen Verhältnissen in einem nicht registrierten, informellen und unbezahlten Familienarbeitsverhältnis. 170 Oft haben sie keine Sozialversicherung. 58 Prozent der Frauen befinden sich in 171 einem informellen Arbeitsverhältnis. Frauen müssen oft unter harten Bedingungen 172 arbeiten und zum Beispiel schwere Lasten tragen. Kurdinnen im Osten des Landes müssen im Vergleich zu nicht-kurdischen Frauen oft unter noch härteren Bedi n173 gungen arbeiten und schlecht bezahlten Tätigkeiten nachgehen . Die Finanzierungsmöglichkeiten für Frauen, die einer selbstständigen Arbeit nachgehen wollen , 174 sind inadäquat. Höhere Arbeitslosenquote. Trotz der geringen Zahl an weiblichen Arbeitssuche nden ist die Arbeitslosenquote von Frauen höher als die von Männern. Zudem sind zirka ein Drittel aller Frauen, die als unbezahlt mithelfende Familienangehörige betrachtet werden, im Landwirtschaftssektor tätig. Dies verringert den Prozentsatz der Frauen im arbeitsfähigen Alter, welche arbeiten und über ein Einkommen verfügen, auf weniger als 15 Prozent. Gemäss dem Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission ist die mangelhafte und wenig erschwingliche Kinderbetreuung eine der 175 Haupthürden für Frauen auf dem Arbe itsmarkt. Die Diskriminierung der Frauen beim Zugang zu Arbeit scheint insbesondere im Südosten des Landes ausgeprägt: 2009 hatten nur 65 von 1000 Frauen im Südostanatolien Zugang zum Arbeit s176 markt. Armut, Analphabetismus und Sprachbarriere betrifft insbesondere Kurdinnen. 177 Als Folge der Benachteiligungen sind Frauen besonders oft von Armut betroffen. Es sind so nicht nur die patriarchalischen Strukturen , welche Frauen und insbesondere Kurdinnen benachteiligen, sondern auch ökonomische Faktoren, die ihr Le ben beeinträchtigen. Der Osten und Südosten gelten als die ärmsten Regionen der Tü rkei, mit hohen Unterschieden hinsichtlich der Gehälter und wirtschaftlichen Möglic h178 keiten. Rund 3,8 Millionen von 4,7 Millionen türkischen Analphabeten sind Frau- 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 Turkish Statistical Institute, Main Statistics, Employment, Unemployment and Wages, Gender pay gap by Educational Attainment and Major Occupational G roup in 2010, www.turkstat.gov.tr/PreIstatistikTablo.do?istab_id=1533 . World Economic Forum, The Global Gender Gap Report 2012, S. 340: www3.weforum.org/docs/WEF_GenderGap_Report_2012.pdf . 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In Diyarbakir sind rund 44 Prozent der Frauen Analphabetinnen im Vergleich 180 zu einem nationalen Durchschnitt von 19 Prozent. Mit nur wenig Schulbildung sprechen die meisten Kurdinnen kein türkisch. Dadurch wird Kurdinnen der Zugang zu öffentlichen Diensten verweigert, da diese meist nur in Türkisch angeboten wer181 den. Diskriminierungen der Kurdinnen in anderen Regionen der Türkei beim Zugang zu Arbeit und Wohnraum. Zwar leben zum Beispiel in Istanbul rund zwei Millionen Kurdinnen und Kurden. Laut verschiedenen Quellen ist es jedoch gut möglich, dass Kurdinnen in Gebieten mit einer mehrheitlich nicht -kurdischen Bevölkerung diskriminiert werden. Insbesondere werden sie in Bezug auf Zugang zu Arbeit , Wohnraum aber auch im Bildungsbereich diskriminiert. Auch im Gesundheitsbereich kommt es 182 zu Diskriminierungen. In verschiedenen Städten der Türkei gibt es starke Ressentiments gegen Angehörige der kurdischen Ethnie. Oft versuchen Kurdinnen und Kurden, ihre kurdische Identität zu verbergen, sind aber aufgrund ihres kurdischen Ak183 zents leicht identifizierbar. . 179 180 181 182 183 Directorate General on the Status of Women, Status of Women in Turkey, 2010, S. 10: www.ksgm.gov.tr/Pdf/trde_kadinin_durumu_2011_subat.pdf; Hürriyet Daily News, Nearly 4 Million Turkish Women Illiterate, 2. Januar 2011: www.hurriyetdailynews.com/n.php?n=nearly -4-millionturkish-women-illiterate-2011-02-01. International Crisis Group, Turkey’s Kurdish Impasse: The View from Diyarbakır , 30. November 2012, S. 12: www.crisisgroup.org/~/media/Files/europe/turkey -cyprus/turkey/222-turkeys-kurdishimpasse-the-view-from-diyarbakir.pdf. Turkish Review, Kurdish W omen in Turkey – Double Discrimination, 1. März 2013; AWID), Kurdish Women, 12. April 2012. IRB, Turkey: Situation of Kurds in western cities such as Ankara, Istanbul, Izmir, Konya and Mersin; resettlement to these cities (2009 - May 2012), 14. Juni 2012; MRT-RRT, Country Advice, 17. Oktober 2011, S. 9f. Ebenda. Türkei – Gewalt gegen Kurdinnen – Themenpapier – 23. Oktober 2013 Seite 20 von 20